Kategorie: Sachbuch (Seite 1 von 6)

Alexander Hamilton – James Madison – John Jay: The Federalist Papers (1787/88)

Klassiker des demokratischen Denkens – moderner als die Gegenwart!

Jeder weiß, dass die Verfassung der USA ein Musterbild für einen demokratischen Staat ist, und ein Musterbild für einen Bundesstaat noch dazu. Aber warum eigentlich? Was sind die Ideen hinter den teilweise seltsam anmutenden Regelungen dieser Verfassung? Diese Frage wird nicht von der Verfassung selbst beantwortet, sondern von den sogenannten „Federalist Papers“, einer Reihe von Zeitungsartikeln von 1787/88, die das Volk des Staates New York davon überzeugen sollten, der vorgeschlagenen Verfassung zuzustimmen. Dieser Klassiker der politischen Philosophie ist auch heute noch lesenswert, weil er Weisheit und Einsicht des Lesers fördert, und weil er zu kritischem Nachdenken über die eigene, heutige Staatsverfassung herausfordert.

Wenn man die eigene Verfassung oder die derzeitige Verfassung der Europäischen Union mit den Ideen der US-Verfassung vergleicht, überkommt einen nicht selten der Zorn über so viel Unsinn und interessegeleiteten Polit-Traditionalismus in Europa, und der Neid auf so viel Klugheit und 200jährige Modernität in Amerika. Fast möchte man zum Revolutionär werden …

Zum Inhalt

Die „Federalist Papers“ sprechen die US-Verfassung thematisch Punkt für Punkt durch: Sinn des Bundesstaates, Zuständigkeiten von Bund und Einzelstaaten, Gewaltenteilung (Armee, Steuern, etc.), Zusammensetzung und Befugnisse von: Repräsentantenhaus, Senat, Präsident, Justiz. Da es sich um Zeitungsartikel handelt, gibt es manche Wiederholung und kein ganz allzu systematisches Inhaltsschema, aber für ein über 200 Jahre altes Buch liest es sich immer noch recht modern.

Es ist sehr interessant zu sehen, wie die Verfassungswirklichkeit hinter der geschriebenen Verfassung diskutiert wird. Häufig entwickeln sich Dinge nämlich ganz anders, als sie beabsichtigt waren. Eine Regelung wird vielleicht nie genutzt, weil sie Nachteile mit sich bringt, eine andere Regelung wird anders genutzt, als gedacht. Die Balance zwischen den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative kommt in Schieflage und eine Gewalt dominiert die beiden anderen Gewalten: Was mit guter Absicht in einer Verfassung geregelt wurde, kann trotzdem schiefgehen, weil es an der Wirklichkeit vorbeigeht.

Um dies zu erkennen, benötigt man Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Geschichtswissen und eine gesunde Skepsis. Das ist hier reichlich zu finden und man kann viel davon lernen. So heißt es z.B. in Nr. 71: „It is a just observation, that the people commonly intend the public good. This often applies to their very errors. But their good sense would despise the adulator who should pretend that they always reason right about the means of promoting it.“

Manchmal ist es besser, die Verfassungsorgane blockieren sich gegenseitig: Besser, ein gutes Gesetz wird abgelehnt, als dass ein schlechtes Gesetz angenommen wird. Andererseits wenden sich die Federalist Papers auch gegen eine zu große Skepsis und rät zur Akzeptanz von kleineren Übeln, um die Verfassung funktionsfähig zu halten. Besser, die Exekutive ist in einer starken Hand, als in der Hand eines Kollektivs, das vielleicht informell von einer Person beherrscht wird, und man nicht mehr weiß, welches Mitglied des Kollektvs man verantwortlich machen soll.

Die Gewaltenteilung wird hier ebenfalls anders diskutiert, als man es gemeinhin kennt. Die Gewalten sollen zwar getrennt voneinander sein, aber es werden ganz gezielt und mit voller Absicht diverse Überschneidungen der Gewalten in die Verfassung eingebaut. Der Sinn dahinter ist, dass sich die Gewalten gegenseitig in Schach halten können, um auf diese Weise ihre Trennung auch machttechnisch abzusichern. Denn nur weil es auf dem Papier steht, ist die Trennung der Gewalten noch lange nicht gesichert.

Die bundesstaatliche Ebene darf sich nicht auf den guten Willen der Einzelstaaten verlassen, dass diese einmal gemachte Zusagen schon einhalten werden – sie werden es nicht, und dann ist der Streit zwischen den Einzelstaaten da: „There is, perhaps, nothing more likely to disturb the tranquillity of nations than their being bound to mutual contributions for any common object that does not yield an equal and coincident benefit. For it is an observation, as true as it is trite, that there is nothing men differ so readily about as the payment of money.“ (Nr. 7). – Der Bundesstaat muss vielmehr unabhängig von der Zustimmung der Einzelstaaten handlungsfähig sein, indem er z.B. eigene Beamte hat und eigene Steuern direkt beim Bürger eintreibt. Die Einzelstaaten und der Bundesstaat wirtschaften völlig unabhängig voneinander. Dann können Gerechtigkeits- und Verteilungsprobleme gar nicht erst entstehen.

Antike

Es ist hochinteressant zu sehen, wie die „Federalist Papers“ das antike Erbe aufgreifen! Anders als man meinen könnte, wird nicht – praktisch überhaupt nicht! – auf die politische Philosophie der Antike zurückgegriffen. Was Platon, Aristoteles und Cicero über Demokratie und gemischte Verfassung, den Kreislauf der Staatsformen und die Vorzüge der römischen Republik geschrieben haben, wird nirgendwo als Argument herangezogen.

Den Grund erfährt man in Nr. 14 im Rahmen einer Lobrede auf das amerikanische politische Denken: „But why is the experiment of an extended republic to be rejected, merely because it may comprise what is new? Is it not the glory of the people of America, that, whilst they have paid a decent regard to the opinions of former times and other nations, they have not suffered a blind veneration for antiquity, for custom, or for names, to overrule the suggestions of their own good sense, the knowledge of their own situation, and the lessons of their own experience?“ – Nicht weil irgendeine Autorität einst irgend etwas sagte, sondern nur wenn es vernünftige Argumente gibt, soll etwas gelten. Obwohl dies auf den ersten Blick nach einer Ablehnung der Antike aussieht, ist es in Wahrheit die genaue Nachahmung des antiken Denkens. Denn wie Platon argumentieren sie ohne Gehorsam gegenüber Autoritäten und nur nach ihrer Vernunft.

In einem weiteren Punkt kommt eine Ähnlichkeit zu Platon zum Ausdruck: Die „Federalist Papers“ argumentieren ständig gegen die Argumente der Verfassungsgegner. Diese kommen zwar nicht zu Wort, aber dennoch gewinnen die „Federalist Papers“ dadurch einen deutlich dialogischen Charakter. Man hat an manchen Stellen das Gefühl, wie wenn Sokrates mit einem Sophisten spräche und dessen Ansichten zerlege, bis nichts mehr davon übrig ist.

Dass die Autoren der „Federalist Papers“ die antike politische Philosophie sehr wohl kannten, kommt an einigen wenigen Stellen zum Ausdruck. So heißt es in Nr. 49: „But a nation of philosophers is as little to be expected as the philosophical race of kings whished for by Plato.“ – In Nr. 51 heißt es: „But what is government itself, but the greatest of all reflections on human nature?“ und: „Justice is the end of government.“ („end“=Ziel) – Damit ist eine teils zustimmende Kenntnis von Platons politischer Philosophie klar belegt.

In expliziter Form kommt die Antike auf eine ganz andere Weise massiv zum Tragen: Nicht die Philosophen und ihre politischen Theorien, sondern die antiken Geschichtsschreiber und ihre Berichte über Zustände und Ereignisse in den antiken Staaten werden exzessiv als Beispiele in den „Federalist Papers“ herangezogen! Schon immer haben die Staatsphilosophen auf der Grundlage realer historischer Ereignisse argumentiert, und das geschieht natürlich auch hier. Einige wenige Beispiele mögen sein: Die Frage, ob ein Flächenstaat eine Demokratie sein kann; die Macht eines Einzelnen über eine Volksversammlung; das Amt des Dikators in der römischen Republik. Folgende Zitate aus Nr. 63 seien noch angeführt: „… that the position concerning the ignorance of the ancient governments on the subject of representation, is by no means precisely true in the latitude commonly given to it.“ und: „What bitter anguish would not the people of Athens have often escaped if their government had contained so provident a safeguard against the tyranny of their own passions?“ und: „… that history informs us of no long-lived republic which had not a senate. Sparta, Rome, and Carthage are, in fact, the only states to whom that character can be applied.“

Man darf auch nicht vergessen, dass hinter praktisch allen Ideen der US-Verfassung antike Ideen wie z.B. die Gewaltenteilung stehen, die über verschiedene Autoren wie z.B. Montesquieu weiterentwickelt wurden, so dass der antike Hintergrund nur indirekt erschließbar ist.

Nicht zuletzt ist die Wahl des Autoren-Pseudonyms „Publius“ in Anlehnung an den römischen Konsul Publius Valerius Publicola ein unabweisbarer Bezug zur Antike. Die Anti-Föderalisten nannten sich hingegen „Cato“ oder „Brutus“: Der geistige Streit fand ganz auf antiker Bühne statt.

Sonstiges

Das Thema „Parteien“ wird überhaupt nicht angesprochen. Diese spielen heute eine große Rolle, kommen aber nicht vor, was schade ist. – Die Frage, ob die Bürger denn überhaupt demokratisch gesinnt sind, wird ebenfalls nicht gestellt. Davon wird einfach ausgegangen. Immer wieder werden Sätze eingestreut wie dieser: „the people of this country, enlightened as they are with regard to the nature, and interested, as the great body of them are, in the effects of good government“ (Nr. 37). Wir nehmen die Botschaft mit: Die Qualität einer Demokratie entscheidet sich auch an der Aufgeklärtheit und demokratischen Gesinnung und Anteilnahme ihrer Bürger.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. November 2013)

Ludwig Erhard: Wohlstand für alle (1957)

Was soziale Marktwirtschaft wirklich ist – und was nicht

Das Buch „Wohlstand für Alle“ von Ludwig Erhard ist das Grundlagenwerk der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Hier gibt der Vater der sozialen Marktwirtschaft persönlich Auskunft, und jeder, der sich auf das Schlagwort der sozialen Marktwirtschaft berufen will, muss sich an diesem Buch messen lassen.

Die zentrale Botschaft lautet: Das Soziale an der sozialen Marktwirtschaft ist die Marktwirtschaft selbst. Wo immer ein echter Markt mit freiem Wettbewerb herrscht, werden die Ressourcen und kreativen Potentiale einer Volkswirtschaft optimal genutzt, und es entsteht größtmöglicher ökonomischer Nutzen. Deshalb hat für Ludwig Erhard das Kartellrecht eine zentrale Bedeutung, denn nur dadurch wird sichergestellt, dass tatsächlich Wettbewerb herrscht. Ein regelloser Kapitalismus mit Monopolbildungen wäre keine Marktwirtschaft; ein Nachtwächterstaat ist nicht das Ziel.

Die zweite Priorität ist die Stabilität der Preise. Die Stabilität der Preise ist sowohl für die Unternehmer wichtig, weil sie Planungssicherheit haben, aber auch für die ausländischen Kunden von Exportgütern, und schließlich auch für die Verbraucher, weil ihnen das Geld nicht durch Inflation aus der Tasche gezogen wird. Zur Erhaltung der Preise setzt Erhard auch auf staatliche Lenkungsmaßnahmen wie die Eindämmung einer überhitzten Konjunktur und im Idealfall auf die psychologische Wirkung seiner Aussagen.

Die dritte Komponente ist die Umverteilung des Wirtschaftswachstums an alle durch Lohnsteigerungen (oder durch Preissenkungen). Eine Umverteilung der Zuwächse ist politisch viel einfacher durchzusetzen als eine Umverteilung des bestehenden Vermögens, und setzt keine Fehlanreize. Ludwig Erhard spricht sich klar dagegen aus, die Sozialstruktur der Vorkriegszeit mit wenigen Reichen, einer breiten Unterschicht und einem schwachen Mittelstand fortzuführen. Lohnsteigerungen dürfen aber niemals die Produktivitätssteigerungen übertreffen, da es sonst zu Preissteigerungen kommt, die die Lohnerhöhung sinnlos sein lassen.

Vollbeschäftigung ist für Ludwig Erhard ein nachgeordnetes Ziel, das sich durch die höheren Ziele quasi von selbst erfüllen wird. Wichtig ist vor allem der Aufbau von Arbeitsplätzen, die sich ökonomisch selbst tragen. Einen Ausbau der sozialen Sicherungssysteme sieht Erhard skeptisch: Sie nehmen den Menschen die Freiheit und gaukeln eine Sicherheit vor, die es so nicht gibt.

Im Detail argumentiert Erhard, dass ein echtes Unternehmertum gar keine Kartelle wollen kann, will es nicht zur planwirtschaftlichen Bürokratenkaste verkommen. Auch Handwerksordnungen und andere bürokratische Regulierungen können Kartellcharakter annehmen, wenn sie den Markteintritt von Konkurrenten erschweren.

Der Export ist für Ludwig Erhard ein Schlüssel zum Erfolg. In diesem Zusammenhang äußert sich Erhard auch dazu, wie man Europa nicht integrieren darf, nämlich durch „Harmonisierung“ oder gar feste Wechselkurse zwischen den Staaten (erinnert an die heutige EU und das heutige Euro-System). Vielmehr wird sich die ökonomische Integration unterschiedlich leistungsfähiger Ökonomien durch eine freie Preisbildung und durch die Konvertibilität der Währungen ergeben. Alles andere würde zu einer schlimmen Desintegration führen, meint Erhard.

Stellenweise wird Ludwig Erhard philosophisch. So z.B., wenn er die These ablehnt, dass die Marktwirtschaft materialistisches Denken fördere. Vielmehr führe ein wachsender Wohlstand dazu, dass die Menschen durch die Marktwirtschaft mehr Freizeit für ihre geistig-seelische Erbauung haben, statt nur für ihren Broterwerb arbeiten zu müssen. Insoweit sei die Marktwirtschaft „ein Gott wohlgefälliges Beginnen“. Bedenken von Oberschichten, dass der Wohlstand die einfachen Menschen dekadent mache, weist er zurück: Man solle anderen gönnen, was man selbst hat. Eines Tages sei es sogar möglich, dass man bewusst auf Wirtschaftswachstum verzichte, um mehr Lebensqualität zu gewinnen – doch so weit sei man noch lange nicht. Ludwig Erhard warnt auch vor der Maßlosigkeit als einem typisch deutschen Charakterzug (S. 268). Freiheit und Demokratie sind für Ludwig Erhard untrennbar mit der Marktwirtschaft verknüpft. Hingegen lesen sich die zitierten Reden der SPD aus damaliger Zeit wie Honecker-Reden: Ihnen fehlt ganz offensichtlich jeder Glaube an die Kraft der Freiheit.

Die ersten 160 Seiten des Buches bilden eine Art politischer Autobiographie, die minutiös die politische Situation des ersten Jahrzehnts von Bizone und BRD durchgeht. Ludwig Erhard erklärt, warum er jeweils welche Entscheidung traf, und wie er mit der Militärbehörde bzw. der politischen Opposition um seine Ziele ringen musste. In diesem Teil bekommt der Leser allein durch die Praxis einen Begriff davon, was soziale Marktwirtschaft ist. Dabei schreibt Ludwig Erhard nicht lehrbuchmäßig, sondern präsentiert seine Maximen in Form von kurzen Faustregeln. Erhard wehrt sich gegen den Vorwurf, dass er amerikanische Befehle ausgeführt hätte (S. 194 f.).

Das erste Jahrzehnt von Bizone und BRD war geprägt von kriegsbedingten, großen Ungleichgewichten und Turbulenzen, von Kapitalmangel, Rohstoffmangel, Bevölkerungszuwachs durch Flüchtlinge und vielen anderen Problemen. Ludwig Erhard glaubte fest daran, dass eine wahrhaft freie Marktwirtschaft, beginnend mit der Einführung der Deutschen Mark in der Währungsreform von 1948, von ganz von selbst dazu führen würde, dass sich die Ungleichgewichte ausbalancieren würden. Und er hat Recht behalten. Auftauchende Probleme und Knappheiten überwand Erhard nicht durch ängstliches Zurückschrecken, sondern durch forsches Herauswachsen aus der Krise. Den Begriff „deutsches Wunder“ (heute: „Wirtschaftswunder“) lehnt Erhard ab, denn für ihn sei die Entwicklung alles andere als ein Wunder gewesen.

Das Buch ist leicht zu lesen, da es in lauter kleine Unterkapitel eingeteilt ist.

Fazit

Ein ökonomisch aufklärendes, fast schon weises Buch voller zeitloser Grundwahrheiten, das mit vielen seiner Aussagen gerade auch heute wieder verblüffend aktuell ist, nicht zuletzt mit seinen Warnungen, wie man es nicht machen sollte: Denn genau so wurde es in den letzten Jahrzehnten leider gemacht. Wir sind von dem vorgezeichneten, guten Weg Ludwig Erhards weit abgekommen, und alle warnenden Vorhersagen Ludwig Erhards haben sich bewahrheitet.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung ohne Fazit auf Amazon am 16. Mai 2016)

Anhang:
Zitate in Auszügen über richtige und falsche Arten der Integration Europas

Es scheint heute allenthalben eine gewisse Scheu vor dem Wettbewerb vorzuherrschen, der notwendigerweise mit der Schaffung von größeren Markteinheiten verbunden ist bzw. durch sie ausgelöst wird. Man wähnt, daß die Bedingungen für einen freien Wettbewerb bei einer derartigen Integration zu ungleich wären, als daß dieses Ordnungsprinzip der Marktwirtschaft gesetzt werden dürfte. Man sollte daher – so meinen manche Wirtschaftskonstrukteure – zuerst einmal alle diese Unterschiedlichkeiten ausgleichen bzw. sie alle auf ein gleiches Niveau bringen, ehe man den freien Wettbewerb eröffnet.

Solche Versuche könnten zwar in engen Grenzen zu einem bescheidenen Erfolg führen; es ist aber völlig illusionistisch, anzunehmen, daß man in dieser Welt, d.h. in einer konkurrierenden, in Wettbewerb stehenden Welt, in bezug auf die einzelnen Kostenfaktoren gleiche Startbedingungen herbeiführen könnte. Dieses Ziel auch nur anstreben zu wollen, müßte einen Dirigismus und Dilettantismus sondergleichen auslösen, der von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt wäre.

Nur der Preis, in welchem dann naturgemäß auch die Qualität Berücksichtigung und Ausdruck findet, ist der ökonomische Maßstab zur Beurteilung von Leistungen. … Integration bedeutet für jeden Einsichtigen daher freien und umfassenden Wettbewerb, bedeutet wirtschaftliche Zusammenarbeit auf einer funktionell höheren Ebene.

Diese kritische Anmerkung gilt natürlich auch gegenüber solchen Vorstellungen, die ebenso abwegige Gedanken unter einem anderen Motto, dem der „Harmonisierung“, verfolgen und unter dieser Flagge eine Gleichmacherei aller ökonomischen Verhältnisse betreiben wollen. Wollte man den Versuch unternehmen, alle betriebswirtschaftlichen Kostenelemente von Land zu Land und über einen größeren Bereich von Ländern hinaus so zu harmonisieren, d. h. auszugleichen, daß der Wettbewerb keine „störenden“ Wirkungen zeitigen kann, bedeutet dies nicht Integration, sondern eine Desintegration schlimmsten Ausmaßes.

Unter dem Stichwort „Harmonisierung“ ging das Ansinnen sogar so weit, daß am Ende der Übergangsperiode die Lohnniveaus der einzelnen Mitgliedsstaaten angeglichen und ihre Gesamtarbeitskosten „äquivalent“ sein müßten. Man könnte über diese Forderung hinweggehen, weil sie volkswirtschaftlich einfach nicht realisierbar ist, denn von Sizilien bis zum Ruhrgebiet kann es keine gleiche Produktivität und mithin auch keine gleichen Arbeitskosten geben. Die Praktizierung dieses Grundsatzes müßte gebietsweise sogar zu einem wirtschaftlichen Massensterben führen.

Niemand kann glauben wollen, daß es möglich sein könnte, in allen beteiligten Ländern quer durch alle Industriezweige einen gleichen Produktivitätsstandard zu setzen und einen gleichen Produktivitätsfortschritt zu erzielen. Selbst wenn durch künstliche Manipulationen an einem bestimmten Stichtag gleiche Startbedingungen gesetzt werden könnten, würden am Tage danach schon wieder Veränderungen Platz greifen, weil die Vorstellungen und das Verhalten der Menschen und auch der Völker hinsichtlich ihres Sparen-und-Verbrauchen-Wollens, des Leistungsstrebens, ihres Fleißes u.ä.m. auch in einem gemeinsamen Markt niemals auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können.

Jene Forderung beruht also auf einer völlig illusionären Verkennung ökonomischer Gesetze und Tatbestände, aber sie charakterisiert zugleich eine geistige Haltung, die sich in einem integrierten Europa unter keinen Umständen durchsetzen darf, wenn nicht menschliche Initiative und schöpferische Kraft, ja das Leben selbst, erstickt werden sollen.

Es ist also eine Illusion, die hinter diesen Vorstellungen steht, der Wahn, zu glauben, man könnte die natürlichen Gegebenheiten korrigieren und die strukturellen Bedingungen von Land zu Land mit künstlichen Mitteln so weit ausgleichen, daß jedes Land in jedem Bereich mit gleichen Kosten arbeitet. Ich halte dies – von der Unmöglichkeit, daß man dieses fragwürdige Ziel jemals wird erreichen können, einmal abgesehen – auch in keiner Weise für erstrebenswert.

Dann gäbe es auch keinen Hinderungsgrund mehr, wieder in die nationale Isolierung zurückzufallen, denn wenn jeder Mann jede Ware zu den gleichen Kosten anbieten kann, warum – so frage ich – soll ich sie dann anderwärts kaufen? Hier verliert der zwischenstaatliche Güteraustausch seinen letzten und eigentlichen Sinn. Das ist doch gerade der Witz, daß alle Länder unter verschiedenen Bedingungen arbeiten, daß bei dem einen die Gunst auf dieser, bei dem andern auf jener Seite liegt, daß der eine da und jener dort leistungsfähiger ist. Gerade hieraus erwächst ja die Notwendigkeit der gegenseitigen Ergänzung und die Fruchtbarkeit eines solchen Bemühens.

Wer dieser Harmonisierungstheorie folgt, darf nicht der Frage ausweichen, wer die Opfer bringen und womit die Zeche bezahlt werden soll. In der praktischen Konsequenz muß ein solcher Wahn naturnotwendig zur Begründung sogenannter „Töpfchen“ führen, d. h. von Fonds, aus denen alle diejenigen, die im Nachteil sind oder es zu sein glauben, entweder entschädigt oder künstlich hochgepäppelt werden. Das aber sind Prinzipien, die mit einer Marktwirtschaft nicht in Einklang stehen. Hier wird nicht die Leistung prämiiert, sondern das Gegenteil getan, es wird der Leistungsschwächere – aus welchen Gründen auch immer – subventioniert.

Gegenüber diesen Theorien habe ich zu wiederholten Malen darauf hingewiesen, daß ich jene „Sozialromantik“, die hier zum Ausdruck kommt, für außerordentlich gefährlich halte. Dagegen trete ich dafür ein, daß gemeinsame Mittel nach strukturellen und soziologischen Maßstäben einer echten Produktivitätssteigerung sowie für die Erhaltung lebensfähiger Wirtschaftszweige nutzbar gemacht werden. Die Geister scheiden sich nicht in der Fragestellung, ob ein gemeinsamer Markt sobald als möglich entstehen soll oder nicht; es geht ausschließlich um die Ordnungsprinzipien und die geistige Ausrichtung.

Ein bürokratisch manipuliertes Europa, das mehr gegenseitiges Mißtrauen als Gemeinsamkeit atmet und in seiner ganzen Anlage materialistisch anmutet, bringt für Europa mehr Gefahren als Nutzen mit sich.

Neben den politischen Gefahren, die mit der sogenannten sozialen Harmonisierung verbunden sind, ist diese Konzeption wissenschaftlich überhaupt nicht diskussionsfähig. Die soziale Harmonisierung steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Integration; sie ist nicht durch gequälte Konstruktionen zu verwirklichen, sondern durch eine Angleichung der Lebensformen und Lebensvorstellungen im Rhythmus der fortschreitenden Integration. Obwohl ich also einen gemeinsamen Markt bejahe, bin ich doch der Auffassung, daß auch in einem solcherart integrierten Europa die Lebens- und Produktionsbedingungen niemals einheitlich sein werden. In gewissem Sinne beruht die Funktion des Gemeinsamen Marktes ja gerade umgekehrt auf der Möglichkeit und Notwendigkeit einer fruchtbaren Ergänzung der einzelnen Länder nach Maßgabe ihrer besonderen und unterschiedlichen Leistungskraft und der Vielfältigkeit der naturgegebenen und strukturellen Bedingungen.

Es ist eine fast tragische Erkenntnis, glauben zu müssen, daß wir innerlich bereits derart verkrampft sind, Ordnung nur noch in der Vorstellung der „Organisation“ begreifen zu können. Wir haben den Sinn für echte Ordnung verloren, die gerade dort am stärksten ist und dort am reinsten obwaltet, wo sie als solche überhaupt nicht bemerkt und verzeichnet wird. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich europäischen Bindungen grundsätzlich widerstrebe. Ich möchte vielmehr die Voraussetzung hierfür schaffen, wenn ich zuvörderst die innere Ordnung der einzelnen Volkswirtschaften sichergestellt wissen will, weil sonst die Integration zwangsläufig zu einem übernationalen Dirigismus führen müßte.

Europa ist nicht mit kleinen Mittelchen zu bauen; es ist nur als eine komplexe, ökonomische und politische Funktion zu verstehen. Die Vorstellungen, daß fortschreitend einzelne Sachbereiche der nationalen Souveränität entzogen und supranationaler Verwaltung übergeben werden sollten und daß dann von einem bestimmten Augenblick an das Gewicht des supranationalen Einflusses automatisch zu einer totalen Überwindung nationaler Zuständigkeiten führen würde, erscheint mir wenig realistisch und hält einer wirtschaftstheoretischen Durchleuchtung nicht stand.

Die Ganzheit der volkswirtschaftlichen Funktion läßt sich nicht in Zuständigkeiten aufspalten. Jeder derartige Versuch müßte dahin führen, daß alle Volkswirtschaften zwischen den Stühlen sitzen, und niemand mehr weiß, wer Koch oder Kellner ist.

Meine Befürchtung bleibt deshalb bestehen, daß wir allzusehr geneigt sein könnten, die europäische Integration zu sehr auf die Schaffung von Institutionen abzustellen, d. h. also, daß wir das Institutionelle gegenüber dem Funktionellen überbewerten

In diesem Zusammenhang mag auch ein Wort zu der Hoffnung mancher Planwirtschaftler gesagt werden, sie könnten ihre Ideen und Ideologien, die sie im nationalen Raum nicht durchzusetzen vermochten, nunmehr auf der europäischen Ebene verwirklichen. Nach unseren Erfahrungen im nationalen Raum bedarf es keiner Erklärung mehr, warum die Prinzipien der Plan- und Lenkungswirtschaft nicht geeignet sind, nun etwa im weiteren Raum die Produktivkräfte Europas zu entwickeln. Diese Wirtschaftsauffassung ist nicht einmal geeignet, auch nur zu den primitivsten Formen einer Arbeitsteilung, geschweige denn zu einer fruchtbaren und reibungslosen Zusammenarbeit der Volkswirtschaften zu gelangen.

Meiner Auffassung nach steht uns gar kein anderer Weg offen, als in allen Fragen des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, des Geld- und Kapitalverkehrs, der Behandlung der Zollpolitik und hinsichtlich der Freizügigkeit der Menschen in raschem Fortschreiten zu immer umfassenderen Freiheiten zu gelangen und auf dem Wege dorthin auf alle staatlichen Manipulationen zu verzichten, die diesen Prinzipien zuwiderlaufen. Wo institutionelle Einrichtungen zur Durchsetzung dieser Prinzipien der Freiheit unvermeidlich sind, trete auch ich für sie ein. Mir will scheinen, daß derjenige ein wahrhaft guter Europäer ist, der diese Gemeinsamkeit des Handelns und Verhaltens zur Verpflichtung aller Beteiligten erhoben wissen will.

[Fußnote zur Ausgabe von 1964:] Die geistige Grundhaltung, die damals für die Beurteilung der Integrationsbemühungen ausschlaggebend war, muß aber auch in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen bestimmend sein und in Zukunft bestimmend bleiben.

[Gegen ein System starrer Wechselkurse in Europa:]

Ich muß immer wieder dieselbe Feststellung treffen: Es ist schon ein merkwürdiger, um nicht zu sagen grotesker Zustand, daß trotz der so unterschiedlichen Preisentwicklung in den einzelnen Volkswirtschaften die Wechselkurse dieser Länder starr geblieben sind, so als ob zwischen diesen beiden Größen überhaupt keine innere Beziehung bestünde. Aus einer derartigen widerspruchsvollen Politik müssen sich notwendigerweise erhebliche Verschiebungen der Exportchancen ergeben: Jedenfalls ist das ein wesentlicher Grund dafür, daß die Bundesrepublik immer größere Außenhandelsüberschüsse erzielt, die nach der negativen Seite hin die Bändigung der innerdeutschen Konjunktur erschweren.

Der Verzicht auf die von mir immer und immer wieder geforderte Konvertibilität mußte fast naturnotwendig zu dieser Entwicklung führen. Nur durch die freie Konvertierbarkeit der Währungen kann meines Erachtens die gedeihliche Grundlage für einen wirklich funktionsfähigen freien Weltmarkt geschaffen werden. Nur auf solche Weise wird nach aller praktischen Erfahrung eine einheitliche und auf Stabilität ausgerichtete Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Nationalwirtschaften erzwungen werden. Damit wäre aber auch den gegenwärtigen Verzerrungen wie den extremen Zahlungsbilanzpositionen der Boden entzogen.

Die umfassende Funktion konvertierbarer Währungen wird niemals in einer auch nur ähnlich vollendeten Weise durch andere Maßnahmen ersetzt werden können. Alle diesbezüglichen Versuche fahren sich meist schon in den Anfängen fest, immer bleiben sie Stückwerk.

Auszüge aus: Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle, 1957, letzte Fassung von 1964, S. 285-293, 322 f.

Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Dirk Oschmann: Der Osten – eine westdeutsche Erfindung (2023)

Leider der falsche Autor für dieses wichtige Thema – Was eigentlich hätte gesagt werden müssen

Der Grundgedanke dieses Buches ist genial, überaus legitim und längst überfällig: „Der Osten“, also das Gebiet der ehemaligen DDR mit ihren Bürgern, wird vom Westen völlig falsch wahrgenommen, deshalb fehlinterpretiert und außerdem systematisch benachteiligt. Eine innere Einheit Deutschlands ist heute so weit entfernt wie der Mond.

Besonders erschreckend sind die faktischen Benachteiligungen, unter denen der Osten bis heute zu leiden hat, von denen man in den von Wessis beherrschten Medien jedoch nie etwas erfährt: So rekrutiert sich das Führungspersonal in Universitäten, Behörden, aber auch in privatwirtschaftlichen Unternehmen bis heute weitgehend aus Wessis. Es ist leider nicht so, dass Wessis nur vorübergehend die Leitungsfunktionen übernahmen, um die neuen Bundesländer auf demokratischen Kurs zu bringen, sondern bis heute wird auch der Führungsnachwuchs weitgehend aus Wessis rekrutiert. Das ist ein ernstes Problem. Ebenso ein Problem ist natürlich, dass die Balance zwischen den Geschlechtern in manchen ostdeutschen Regionen ernsthaft aus dem Gleichgewicht gekommen ist, weil insbesondere viele junge Frauen in den Westen gegangen sind. Oder dass die Vermögensbildung im Osten nicht in Gang gekommen ist. Schließlich muss man auch lesen, dass es zwar einen Beschluss der Bundesregierung gab, Bundesbehörden bevorzugt im Osten anzusiedeln, aber anders als der naive Wessi denkt, wurde dieser Beschluss offenbar schlicht ignoriert: Ein Skandal von vielen.

Aber auch in der Wahrnehmung des Ostens durch westdeutsche Politiker, Journalisten und Intellektuelle hat dieses Buch eine lange Liste von erschreckenden Anekdoten zu bieten. Die Ossis seien dumm, faul, rechtsradikal und moralisch verdorben, und all das verdanke sich der sozialistischen Indoktrination, von der sich die Ossis innerlich nicht lösen könnten. Es ist niederdrückend, all diesen bestenfalls halbwahren Unsinn noch einmal in geballter Form vor Augen geführt zu bekommen.

Kritik

Leider bleibt Dirk Oschmann bei diesem Befund stehen. Er sagt nicht, welches denn die Lebenslügen des Westens sind. Er sagt fast nichts dazu, wie der Osten denn besser wahrgenommen werden sollte. Warum das so ist, und was zum Westen und zum Osten eigentlich hätte gesagt werden müssen, dazu jetzt mehr.

Kritik – Chaotische Polemik

Dirk Oschmann hat sein Werk als reine Polemik angelegt. Er macht gar keinen Hehl daraus, dass er die Sache einseitig betrachtet, er macht Polemik vielmehr zum Prinzip, sogar explizit mit dem biblischen Satz: „Auge um Auge.“ (S. 194). Das schadet aber der Glaubwürdigkeit des Unterfangens gewaltig, denn wer mit gleicher Münze heimzahlt, kann nicht mehr von sich behaupten, besser zu sein als der andere. Und der Leser ahnt, dass vieles einfach nur übertrieben, schief oder auch ganz falsch ist.

Hinzu kommt, dass Oschmann seine Polemik zuerst nur als Artikel in der FAZ veröffentlicht hatte. Diesen FAZ-Artikel hat er nun zu einem Buch angereichert, in dem er zahlreiche Vorworte und Vorbetrachtungen vorangestellt sowie zahlreiche Nachworte und Nachbetrachtungen nachgeschoben hat. Irgendwie geht der ursprüngliche Artikel in diesen vielen Nach- und Vorbauten etwas unter, und eine Systematik in der Ordnung der vorgebrachten Inhalte ist nicht mehr erkennbar. Das führt dazu, dass dem Leser im Laufe der Lektüre außer der ständigen Polemik wenig im Gedächtnis haften bleibt, weil ihm kein Ordnungsrahmen angeboten wird, anhand dessen er sein Gedächtnis hätte organisieren können.

Kritik – Ein linksgrüner Anywhere verteidigt den Osten?

Dankenswerterweise hat Dirk Oschmann zahlreiche Angaben zu seiner eigenen Biographie, seinen Lebensumständen und seinen Ansichten eingeflochten. Es wird deutlich, dass Dirk Oschmann, obwohl er als einer der wenigen Professoren mit Osthintergrund immer wieder zu diesem Thema befragt wird, eigentlich alles andere als ein typischer Ossi ist.

Dirk Oschmann hat in den USA studiert und lebt heute in Leipzig in der Innenstadt in einer Altbauwohnung und wählt – horribile est dictu – die Grüne Partei (S. 43 f.). Vermutlich besitzt er auch Windrad-Aktien, schickt seine Tochter auf eine teure Privatschule, wo alles ganz buntig ist, und fährt mit dem Lastenfahrrad bei Alnatura zum einkaufen (nein, das steht nicht in diesem Buch, aber dieser Gedanke sei eingeflochten, um zu demonstrieren, wie Polemik funktioniert, oder eben gerade nicht funktioniert). Ganz unverblümt bekennt sich der Autor dazu, ein Anywhere zu sein, er grüßt seine Freunde in der Danksagung als Anywheres, und verkündet das ewig falsche Dogma der Anywheres, dass die Herkunft einen Menschen nicht ausmache (S. 221).

Da staunt der Leser doch: Wie kann jemand, der die Grüne Partei wählt und daran glaubt, dass die Herkunft einen Menschen nicht ausmache, auch nur irgendetwas Kluges über den Westen und den Osten sagen? Denn Westen und Osten sind Herkünfte, und sie prägen uns stark. Darum geht es doch. Das und das Bekenntnis zum Anywhere ist schon sehr radikal. Hier ist Dirk Oschmann nun selbst Repräsentant eines völlig abgehobenen Milieus, eines nur allzu westdeutschen Milieus, dessen soziale Distinktionsmerkmale und Statussymbole er völlig ungeniert einflicht. Wie kann so jemand für den Osten sprechen?

Eine spezifisch linksgrüne Haltung zeigt sich auch bei vielen Polemiken und Kritiken, die Dirk Oschmann vorzubringen hat: So echauffiert er sich z.B. über unsere geliebte deutsche Nationalhymne, die bekanntlich aus der dritten Strophe des Deutschlandliedes besteht, und nur aus dieser, und eine lange, gesamtdeutsche Tradition hat. Aber Oschmann meint, dass die Hymne durch die erste und zweite Strophe „chauvinistisch verseucht“ sei (S. 52). Eine groteske Auffassung, wie man sie von einem westdeutschen Feuilletonisten erwarten würde.

Den Namen „Mitteldeutschland“ für den Raum Thüringen-Sachsen möchte Oschmann ebenfalls nicht akzeptieren, weil dies Polen missfallen könnte, zu dem heute das frühere Ostdeutschland gehört (S. 81). Doch warum sollte man diese historische Bezeichnung nicht beibehalten? Es ist ja bei geographischen Namen recht häufig so, dass sie historisch gewachsen und nicht wörtlich zu nehmen sind. Die Region Franken gehört schon lange nicht mehr zu einem „Frankenreich“ und auch Frankreich ist kein „Reich der Franken“ mehr. Zudem leben in Sachsen überhaupt keine Sachsen, denn der Name „Sachsen“ wurde nur durch die Herrscherfamilie auf dieses Land übertragen, ähnlich wie der Name „Preußen“ auf ganz Brandenburg-Preußen. Wo fängt man da an, wo hört man auf? Es ist kaum vorstellbar, dass die von Oschmann geplante Sprachbereinigung im Osten auf Akzeptanz stoßen würde. Bei manchen Besserwessis schon eher. Aber wollte sich Oschmann nicht für den Osten in die Bresche schlagen?

Auch der Wiederaufbau des Berliner Schlosses anstelle des „Palastes der Republik“ ist ihm ein Greuel (S. 54). Wie wenn das Kaiserreich mit der Diktatur der DDR auf einer Stufe stünde: Oschmann fragt allen Ernstes, ob denn nun dieses Kaiserreich die bessere deutsche Vergangenheit sei, an die es anzuschließen gilt? (S. 55) Selbstverständlich ja! Wie kann er es wagen, diese Frage auch nur zu stellen! An das Kaiserreich nicht anschließen zu wollen, das hieße ja nichts anderes, als dass man die Geschichte überhaupt und als solche abservieren will. Denn Dirk Oschmann wird wohl kaum plausibel machen können, warum man an das Kaiserreich nicht anschließen dürfen soll, an die Metternich-Ära oder das Heilige Römische Reich Deutscher Nation aber doch? Das wäre ja nur albern. Albern, wie es Westdeutsche oft sind, wenn es um die Nation geht.

Oschmann übersieht auch völlig, dass manches westdeutsche Unternehmen, das einst im Osten gegründet worden und wegen des Sozialismus in den Westen geflohen war, nach 1989 soziale Verantwortung bewies und wieder an seinem alten Standort im Osten investierte – doch für Oschmann gibt es von Seiten westdeutscher Unternehmen nur Profitgier und Ausbeutung (S. 114 ff.). Überhaupt sieht Oschmann unsere Gesellschaft heute als eine „pervers profitorientierte Konsum- und Freizeitgesellschaft“ (S. 190). Wie gestört muss die Wahrnehmung der Wirklichkeit sein, um solche maßlosen Sätze zu formulieren? Und wie westdeutsch?

Den regional pay gap zwischen Ost und West möchte Oschmann „endlich“ (!) schließen, genauso wie den sattsam bekannten gender pay gap (S. 116). Dass die Idee, diese Lohnunterschiede „endlich“ – also vollständig – zu schließen, eine radikale und unrealistische Forderung ist, weil es nämlich nicht nur Ungerechtigkeiten, sondern auch legitime und unüberwindbare Gründe für gewisse Lohnunterschiede gibt, scheint Oschmann nicht bewusst zu sein.

Das Lieferkettengesetz, ein weiteres völlig verfehltes Bürokratie-Monstrum aus der Mottenkiste der linksgrünen Utopie, begrüßt Oschmann naiv (S. 115). Hingegen verurteilt Oschmann, dass westliche Unternehmen in Bangladesch investieren (S. 115, 132). Dass er Ländern wie Bangladesch damit die Möglichkeit zur wirtschaftlichen – und sozialen! – Entwicklung abspricht, übersieht Oschmann geflissentlich.

Schließlich findet das ganze Buch hindurch ein ständiges namedropping linker und – oft genug – westdeutscher Autoren statt, von Jürgen Habermas bis Axel Honneth, und ganz abseitig und deshalb umso bezeichnender z.B. Per Leo.

Kritik – Keine Kritik an westdeutschen Lebenslügen

Dirk Oschmann wirft dem Westen eine völlig falsche Perspektive auf den Osten vor, aber in Wahrheit unterlässt Oschmann es vollständig, dem Westen seine eigenen, westdeutschen Lebenslügen vorzuhalten. Dabei hätte er dazu gerade als Germanist eine wunderbare Steilvorlage durch einen westdeutschen Literaten gehabt: Denn im Jahre 1988, nur ein Jahr vor dem Fall der Mauer, publizierte kein geringerer als Martin Walser sein Büchlein „Über Deutschland reden“. Darin formulierte Martin Walser gegen den Zeitgeist der alten BRD den Gedanken, dass er sich nicht mit der deutschen Teilung abfinden könne. Martin Walser hätte von Dirk Oschmann zwingend genannt werden müssen, wenn er hätte glaubwürdig über den Westen sprechen wollen. Er hat es nicht getan.

Denn das ist die zentrale Lebenslüge des Westens: Die Flucht aus der nationalen Identität hinein in eine utopische Überidentität von Europa oder der Welt, verkörpert in einem utopischen Glauben an das Gute in EU und UNO. Der Ungeist der alten BRD, der Ungeist der 1980er, der dann zum vorherrschenden gesamtdeutschen Geist wurde und bis heute ungebrochen scheint, ist der Ungeist der Anywheres, zu denen sich Dirk Oschmann selbst bekennt. Aber kein Mensch kann wirklich ein Anywhere sein, niemand kann seine Herkunft einfach abstreifen (und wer wollte das schon?). Wir alle haben unsere kulturellen Herkünfte und wir brauchen sie auch. Eine Befreundung mit der eigenen Lebensrealität, zu der die Nation ganz selbstverständlich dazu gehört, hat noch niemandem geschadet. (Und daran ändert sich überhaupt nichts, bloß weil ein Rechtsradikaler wie Björn Höcke dasselbe sagt, aber etwas anderes meint.)

Zwar spricht Oschmann das Phänomen, dass sich Westdeutsche gerne als Europäer sehen, kurz an, doch nur und ausschließlich als unzulässigen Versuch, die Schuld des Nationalsozialismus abzustreifen (S. 59). Dass es darüber hinaus auch andere gute, bodenständige, realistische Gründe geben könnte, an einer deutschen Identität festzuhalten, kommt Dirk Oschmann nicht in den Sinn. Dirk Oschmann reproduziert auf diese Weise die unsägliche Fixierung des Nationalgedankens auf den Nationalsozialismus. Deutscher ist man unter dieser Perspektive nur noch, wenn es um den Nationalsozialismus geht, sonst aber tunlichst nicht mehr. (Anders als Höcke muss man allerdings daran festhalten, dass der Holocaust als größter Makel unserer Nationalgeschichte sehr wohl einen bleibenden und besonderen Platz in unserer Erinnerungskultur einnehmen muss.)

Und dann packt Oschmann auch noch die olle Kamelle von den alten Nazis in der alten BRD aus (z.B. S. 21, 136 f.). Es war vielleicht einmal eine westdeutsche Lebenslüge, dass es in der BRD keine alten Nazis gab, doch seit ungefähr 1968 läuft die Lebenslüge andersrum: Dass nämlich die BRD praktisch von alten Nazis gegründet wurde. Oschmann steigt voll auf dieses Thema ein, wenn er sagt, dass Fremdenfeindlichkeit auch im Westen verbreitet wäre (S. 133). Nicht zufällig bringt Oschmann an dieser Stelle auch eine überempfindliche Kritik an Günther Oettinger vor (S. 133). Das ist kein Zufall. Denn bei Günther Oettinger geht es in Wahrheit gar nicht darum, dass er ein paar schräge Äußerungen über schlitzäugige Chinesen gemacht hatte, sondern natürlich darum, dass Günther Oettinger einst zu sagen wagte, dass Hans Filbinger, einer der Mitbegründer der Südwest-CDU, kein Nazi war. Denn damit hatte Oettinger an der Macht der westdeutschen Linken gekratzt, die sie über die öffentliche Meinung haben.

Zum Höhepunkt kommt Oschmanns Blindheit über die Lebenslügen des Westens, wo er den Grund für den Erfolg Angela Merkels in ihren „herausragenden machtpolitischenh Fähigkeiten“ sieht (S. 183 f.). Denn nichts könnte falscher sein. Angela Merkel hatte im Grunde nur eine einzige herausragende Fähigkeit, und die ist für unser Thema von höchster Relevanz: Angela Merkel war eine Meisterin darin, sich dem herrschenden westdeutschen juste milieu in Politik und Medien anzupassen. Das Regierungsprinzip von Angela Merkel lautete schlicht: Gehe den Weg des geringsten Widerstandes beim westdeutschen juste milieu aus Politikern, Journalisten und Intellektuellen. Angela Merkel hatte Macht, weil sie diesem Milieu gab, was es wollte. Das Milieu revanchierte sich dafür, indem es Angela Merkel zur Überkanzlerin stilisierte, jede Kritik kleinschrieb, und Merkel auf diese Weise unangreifbar machte. Eine Allianz des Unheils, bei dem das Wohl und der Wille des Volkes gefährlich unter die Räder geriet.

Was hatte man gehofft, als Merkel Kanzlerin wurde: Dass sie endlich so manche westdeutsche Lebenslüge abschneiden würde wie einen alten Zopf. Denn hier kam etwas völlig neues, nämlich eine Frau, noch dazu aus dem Osten. Doch Merkel enttäuschte diese Hoffnungen auf fast schon brutale Weise, indem sie gewissermaßen zur Inkarnation westdeutscher Lebenslügen wurde und den Ungeist der 1980er Jahre bis in die 2020er Jahre hinein konservieren half. Im Windschatten des Kalten Krieges vergaß man sich selbst und die Realität um sich herum, und gab sich Blütenträumen hin. Diese Enttäuschung wurde 2011 von der Autorin Cora Stephan in ihrem Buch „Angela Merkel: Ein Irrtum“ erstmals formuliert. Doch kein Wort davon bei Oschmann.

Kritik – Oschmann folgt westdeutschen Lebenslügen

Warum tut Dirk Oschmann das alles? Die Antwort ist einfach: Weil auch Dirk Oschmann sich, wie Angela Merkel, ganz den Erwartungen eines westdeutschen juste milieu angepasst hat. Er folgt selbst den Lebenslügen der Besserwessis, das ist doch ganz offensichtlich! Wie Dirk Oschmann richtig bemerkt hat, bekommen viele Ossis keine Führungspositionen, weil ihnen der westdeutsche Stallgeruch fehlt. Vielleicht sollte sich Dirk Oschmann in diesem Sinne einmal selbst befragen, warum er es als Ossi zum Professor geschafft hat? Wohl eben deshalb, weil er sich den Erwartungen des westdeutschen juste milieus völlig angepasst hat?

Dirk Oschmann hat keinen Sinn für die deutsche Nation und die deutsche Kultur, sondern für ihn ist Deutschland eher eine Art Verwaltungszone eines utopisch gedachten Weltstaates, oder wenigstens doch EU-Europas. Oschmann möchte, dass sich die Lebensverhältnisse in Ost und West angleichen, ja, aber nur „sozial“. Politisch und kulturhistorisch ist ihm der Osten genauso egal wie der Westen, denn er hat sich schon längst in das Niemandsland der Anywheres verabschiedet. Lokale Kultur ist für ihn vielleicht noch Folklore für Touristen, also Küche und bunte Trachten. Deshalb tun sich die Anywheres mit Multikulti so leicht, weil sie blind dafür sind, dass Kulturen mit wirkmächtigen Weltanschauungen verknüpft sind.

Und so spricht Oschmann auf der letzten Seite seines Büchleins (S. 200), im vorletzten Satz, wo er dann doch noch in radikaler Kürze auf die regionalen Kulturen zu sprechen kommt, nicht von Ländern. Denn Länder sind nicht einfach Regionen und Dialekte. Länder sind politisch bedeutsame weil historisch gewachsene Gegebenheiten, deren Kultur mehr ist als Küche und Trachten. Länder mit ihrer Geschichte und ihren Dialekten sind Identitäten und politische Macht und Nester des Widerstands gegen alle Überstülpungen, die von „oben“ kommen. Der Anywhere Oschmann hat dafür kein Verständnis, denn für ihn kommt das Gute von „oben“, von der EU und der UNO.

Was fehlt – Nation

Bei Dirk Oschmann fehlt jedes positive Nachdenken über Deutschland als Nation. Wie das westdeutsche juste milieu möchte auch Oschmann den Gedanken an eine deutsche Nation am liebsten töten: Deshalb kein Schloss, keine Hymne, keine Geschichte, kein „Mitteldeutschland“ usw. Doch damit tötet er jeden positiven Gedanken an und über sich selbst, bei allen Deutschen, in Ost und West. Damit wird jede Selbstermächtigung untergraben und eine Psychologie der Unterwerfung durch Identitätslosigkeit betrieben.

Oschmann meint, das vereinigte Deutschland hätte eine neue Verfassung gebraucht (S. 52). Was er damit gewiss nicht meint: Eine andere Verfassung. Denn das Entscheidende an einer neuen Verfassung wäre die Debatte darüber gewesen, wie man sich selbst als Nation versteht. Diese Debatte findet bei Oschmann nicht statt. Gar nicht. Deshalb nennt Oschmann als Gründe für eine neue Verfassung auch nur „Demokratietheorie“ und „Symbolik“.

Am Ende sind die Deutschen für Oschmann nur noch die Angestellten in einem Multikulti-Freizeitpark für deutsche Folklore in einem geschichtsvergessenen Disney-Stil (Oktoberfest in Brandenburg, französische Woche bei REWE, Ramadan in der Fußgängerzone), dessen Politik in Brüssel und anderswo von den Anywheres gemacht wird. Wen wundert’s, dass die Leute rebellieren? Man hat ihnen nie eine akzeptable, demokratische Vision von Nation gegeben. Man hat das Thema vollkommen und restlos den Rechtsradikalen überlassen. Und die greifen dankbar zu.

Was fehlt – Preußen

Dirk Oschmann hätte beim Thema Osten ganz zwingend auf den höchst seltsamen Umstand zu sprechen kommen müssen, dass die Länder im Osten vielfach nicht nach historischen Grenzen gebildet worden sind. Das muss doch jedem Betrachter gleich als erstes auffallen! Der aktuelle Zuschnitt der Länder reflektiert die Zerstückelung Preußens durch die Siegermacht Sowjetunion. Von Preußen ist nur noch Brandenburg übrig, mit einem riesigen Loch namens Berlin in der Mitte. Vorpommern gehört heute zu Mecklenburg, was völlig ahistorisch ist. Geradezu grotesk ist, dass der Restzipfel Schlesiens – die „Perle in der Krone Preußens“ – heute ausgerechnet zu Sachsen gehört. Und von einem „großen“ Bundesland namens Sachsen-Anhalt hat man in der ganzen deutschen Geschichte noch nie etwas gehört.

Man stelle sich vor: Ausgerechnet das Bundesland Preußen, ohne dass es Deutschland in seiner heutigen Form gar nicht gäbe, darf nicht existieren. Ob Friedrich der Große oder Immanuel Kant, ob Wilhelm von Humboldt oder Alexander von Humboldt, ob Bismarck oder Gustav Stresemann: Deutschland soll ohne ihr Land auskommen? Ohne preußischen Geist, ohne preußische Rationalität und ihre Beiträge zu Humanismus und Aufklärung? Undenkbar. Deutschland macht ohne Preußen gar kein Bild in der Seele: Hier ist erst der Schlüssel zu allem.

Die Genesung Deutschlands ist ohne die Wiedererrichtung Preußens nicht möglich. Alles, was diesen Schritt blockiert, markiert das Elend Deutschlands: Die irre Idee, man könne sich von der Geschichte verabschieden und zu einer No-Name-Nation werden. Die irre Idee, die ganze deutsche Geschichte wäre ein einziges Präludium zum Holocaust gewesen. Die irre Idee, dass Adolf Hitler der Inbegriff alles Deutschen gewesen wäre, das demzufolge logischerweise zu verfemen und komplett abzuräumen sei. Und last but not least die irre Idee, man könnte sich heute auch vom klassischen Humanismus verabschieden, der gleich im ersten Artikel unserer deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, mit dem humanistischen Schlüsselbegriff der „Würde des Menschen“ festgeschrieben ist, als doppelte Erinnerung daran, was Deutschland groß sein ließ, und was niemals verloren gehen darf – hin zu einer Welt, in der der Mensch nur noch eine beliebige, postmoderne Konstruktion ist, ohne Realismus, ohne Rationalität.

In der Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki finden wir das Wort „Preußen“ immer wieder. Und zwar positiv konnotiert. Insbesondere das preußische humanistische Gymnasium wird gelobt: Doch die Anywheres dieser Welt wollen das alles abräumen. Alles abservieren. Julian Nida-Rümelin hat Recht mit seinem Urteil über die Anywheres: „Ein antikommunitaristischer Kosmopolitismus hat weder politisch noch ethisch eine Zukunft“.

Nach seiner Wiederrichtung als ganz normalem Bundesland (als was denn sonst?), bestehend nur aus den ostdeutschen Landesteilen Preußens, kann Preußen dann noch einmal den Grenzvertrag mit Polen gegenzeichnen. Damit alle zufrieden sind. Dann wird ein Björn Höcke Preußen auch nicht mehr als beliebig formbare Projektionsfläche für seine kruden Ideen missbrauchen können. Und Deutschland kann endlich normal werden.

Was fehlt – Unterdrückte Wessis

Dirk Oschmann ist so fixiert auf das westdeutsche juste milieu, dass er völlig übersieht, dass es auch im Westen normale Menschen gibt. Normale Menschen, die unter den Lebenslügen und Utopien der Anywhere-Besserwessis ebenso leiden wie die Ossis.

Oschmann hätte sich z.B. fragen können, warum der Lokalpatriotismus im Westen so ausgeprägt ist. Oder der Fußballpatriotismus. Oder der Wirtschaftspatriotismus. Die Antwort ist ganz einfach: Es sind Ersatz- und Ausweichhandlungen der Wessis, die ihren Patriotismus nicht ausleben dürfen und deshalb auf diese Gelegenheiten ausweichen. Auch Militärkultur – allein dieses Wort! – und Pflichtbewusstsein ist den Besserwessis ein Greuel, nicht jedoch den Normalwessis.

Dirk Oschmann hätte sich auch unbedingt mit der westdeutschen Kritik am politischen System der BRD auseinandersetzen müssen, um zu verstehen, dass die Ossis mit mancher Kritik nicht allein sind. Hier wäre ganz zentral das Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ des Philosophen Karl Jaspers aus dem Jahr 1966 zu nennen gewesen. Denn hier findet sich alle Kritik am System und an der Parteienoligarchie und dem ganzen Ungeist der BRD aus berufenem Munde formuliert, gültig bis heute. Doch nichts davon, nichts, gar nichts, bei dem Anywhere Oschmann.

Und glaubt Dirk Oschmann etwa, dass die Westdeutschen komplett hinter Angela Merkel und ihrer irren Migrationspolitik standen?! Natürlich nicht! Es war eine rebellische Bürgerversammlung in Hessen, nicht in Sachsen, auf der Walter Lübcke seine unglückselige Rede hielt, in der er u.a. sagte, dass jeder, dem Merkels Migrationspolitik nicht passe, die Freiheit habe, das Land zu verlassen. (Dass er später von Rechtsextremisten kaltblütig ermordet wurde, macht daran nichts besser. Walter Lübcke ist kein Vorbild.) Und Hans-Georg Maaßen, der die Lebenslügen von Merkels Migrationspolitik hinterfragte („Hetzjagden“ in Chemnitz) und deshalb als Präsident des Verfassungsschutzes entlassen wurde, stammt aus NRW. Maaßen erzählt, wie er zu Wolfgang Schäuble ging, um Merkel zu stoppen. Schäuble hätte geantwortet: Dann zerreißt es die CDU. Worauf Maaßen gesagt haben soll: Deutschland ist mir wichtiger als die CDU. Schließlich wollen wir noch Boris Palmer nennen, den grünen Querdenker gegen den Zeitgeist und Oberbürgermeister in Tübingen in Baden-Württemberg.

Ja, Dirk Oschmann erwähnt tatsächlich die Tradition des Querdenkens aus dem deutschen Südwesten! Aber nicht im Sinne einer lobenden Anerkennung dieser Tradition, sondern abqualifizierend, wie es Besserwessis tun, denn er spricht vom deutschen Südwesten als dem „Eldorado für Verschwörungstheoretiker.“ (S. 100)

Was fehlt – Der Osten im Westen

Man hätte auch fragen können, ob nicht manches, was heute als westdeutsch gilt, womöglich gar nicht westdeutsch ist, sondern einfach nur gesamtdeutsch? Nur, dass der Osten diese Eigenschaft in der Zeit der DDR abgelegt hatte? Man könnte z.B. fragen, ob manche Traditionen der preußischen Verwaltung in NRW besser überdauerten als im Osten? Ostdeutsche würden sich sicher sehr viel leichter mit westdeutschen Gepflogenheiten anfreunden können, wenn sie wüssten, dass diese etwas zurückbringen, was einst auch im Osten so war. Die Demokratie als solche gehört ja auch zu diesen Dingen: Demokratie ist nichts westdeutsches, sondern etwas gesamtdeutsches.

Und dann hätte man noch fragen können, ob nicht so mancher Wessi in Wahrheit ein Ossi ist. Denn nicht wenige Ossis endeten nach 1945 im Westen. Eine weitere westdeutsche Lebenslüge lautet, dass sich alle Vertriebenen assimiliert hätten und gewissermaßen „verschwunden“ wären. Doch ist das so? Zweifel sind angebracht. Die Nachkommen der Vertriebenen tragen oft von ihnen selbst unerkannt ein geistiges Erbe in sich. Aber auch die Erfahrung der Vertreibung prägt sie, denn diese wirkt psychisch über Generationen hinweg, wie die Forschung zeigen konnte. Es wäre wert, nach dem Osten im Westen zu suchen: Gab und gibt es Ossis im Westen, die Westdeutschland auf eine Weise geprägt haben, die eher ostdeutsch ist?

In seiner Rede „Die Ehre Preußens“ von 1951 sagte Hans-Joachim Schoeps mit Bezug auf die westdeutsche BRD: „Wichtiger ist der große Bestand an preußischem Ethos und Pflichterfüllung, der in unserem Volke noch lebendig ist und nicht nur von den ostdeutschen Heimatvertriebenen gehütet wird. Wenn diese den nicht in sich hätten, dann stünden wir nämlich angesichts der Un­rechtsordnung in der Besitzgüterverteilung schon seit langem in einer blutigen Sozialrevolution. Ich kann nur sagen: Gott möge geben, daß unsere Bundesregierung diese Kräfte zu nutzen und diese Traditionen zu wahren und zu erneuern versteht.“

Und umgekehrt: Ist womöglich der Osten unvermutet von manchen westdeutschen Traditionen geprägt? Erich Honecker kam bekanntlich aus dem Saarland. Bertolt Brecht aus Bayern. Anna Seghers aus Mainz. Angela Merkel aus Hamburg. Und Karl Marx aus Trier.

Fazit

Dirk Oschmann hat eine notwendige Polemik lanciert, doch gelungen ist sie nicht. Denn Oschmann ist als bekennender Anywhere der falsche Autor für dieses Thema. Deutschland und seine Geschichte, seine Länder und die Nation als ganzes sind für Oschmann nichts, worüber er wirklich gerne reden würde. Und etwas chaotisch ist das Buch noch dazu. Wir Deutschen jedoch lieben die Ordnung.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

Heather De Lisle: Amiland – Streitschrift für die Weltmacht USA (2010)

Ein engagiertes Plädoyer für die konservative Seite der USA

Ein überfälliges und engagiert vorgetragenes Plädoyer für die konservative Seite der USA. Es ist schon ein Armutszeugnis für die deutsche Medienlandschaft, wie George W. Bush, die Republikaner und die USA insgesamt hierzulande nach Strich und Faden verleumdet wurden und werden. Und es ist ein intellektuelles Armutszeugnis, wie deutsche Politiker und Intellektuelle auf dieser Welle skrupellos mitschwimmen. Die Liebe zur Wahrheit regiert hierzulande nicht. Und jeder Deutsche, der da nicht mitmacht, sondern selber denkt, kämpft einen einsamen Kampf und hat bitter zu leiden.

Heather De Lisle klärt so manches festgefahrene Missverständnis auf, das sich in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit festgesetzt hat. Sie lässt auch kaum ein gutes Haar an Bill Clinton, der in seiner Amtszeit so manches Problem einfach liegen ließ. Obama ist bei ihr praktisch schon wieder abgewählt.

Köstlich, wie Heather De Lisle das Thema Folter abhandelt. Sie stellt hier Fragen, die in der deutschen Öffentlichkeit systematisch unter Tabu gestellt werden. Wir Deutschen sind vielleicht gar nicht so anders als die Amerikaner, wenn man uns nur ordentlich informieren und wirklich vor die Wahl stellen würde. Statt dessen bekommen wir Deutschen immer nur genau eine Meinung „alternativlos“ vorgesetzt. Der Unterschied zwischen den Parteien ist immer nur, dass die einen es schneller (SPD, Grüne), die anderen es langsamer (CDU, FDP) haben wollen. Aber links sind sie alle. Noch.

Über manche Argumentation muss man schmunzeln … da hat wohl weniger eine Rolle gespielt, dass Heather De Lisle eine Amerikanerin ist, sondern dass sie … nun, tja … also … eine Frau ist!

Bei der Erklärung des amerikanischen Wahlsystems hätte man auch auf die verrückten Missstände des deutschen Wahlsystems eingehen können, wo man ja manchmal den politischen Gegner (!) wählen muss, um die eigene Partei zu unterstützen. Und wie war das noch gleich mit jenen ominösen Wahlzetteln in Hamburg, als Ronald Schill (quasi ein deutscher Republikaner) final abgesägt wurde, bei denen die CDU schon „vorangekreuzt“ war? Lacht da noch jemand über das Wahldebakel von Florida?

Zum Irakkrieg hätte man noch sagen können, dass die Waffeninspekteure bis zuletzt behindert wurden und George W. Bush also keinesfalls so schlecht beraten war, wie Heather De Lisle meint. Auch hätte Saddam Hussein den Bau von Massenvernichtungswaffen angestrebt, hätte er gewusst, dass ihm nichts mehr droht. Deutschland hatte sich auf Seiten von Frankreich und Russland gestellt, die die Konzessionen für die Ölquellen im Irak hielten und die meisten Waffenverkäufe an den Irak getätigt hatten. Außerdem gab es im Irak keinen Guerillakrieg gegen die Amerikaner, sondern einen Bürgerkrieg der Volksgruppen untereinander, der nur deshalb auch gegen die Amerikaner ging, weil jede Volksgruppe meinte, die Amerikaner stünde auf Seiten der jeweils anderen Volksgruppe. Der Sieg kam, als es den Amerikanern unter Petraeus (und George W. Bush) gelang, den Volksgruppen klar zu machen, dass sie keine Seite bevorzugen, sondern Garant für einen fairen Ausgleich sind. Es ist übrigens auch nicht richtig, dass der Irak keine demokratische Vorbildung hatte. Der Irak war bereits einmal eine Demokratie, und nicht wenige der heutigen irakischen Politiker sind die Nachfahren der damaligen demokratischen Politiker. Inzwischen sind die Ölquellen im Irak versteigert worden – an den Meistbietenden. Zum ersten Mal könnten die Gewinne aus dem Öl dem irakischen Volk zugute kommen. Soviel noch zum Irakkrieg.

Man sieht: Als denkender Deutscher hat man eine Menge unterdrückter Gedanken auf dem Herzen, und dieses Buch gibt eine gute Gelegenheit, all das, was sich über viele Jahre in Verschwiegenheit aufgestaut hat, einmal auszusprechen. Danke Heather De Lisle! Danke für diese Labsal der Seele. Und zum Teufel mit unserer Journaille, die jeden Andersdenkenden in die gesellschaftliche Isolation treibt! Der Zorn der Gerechten möge über Euch kommen, Ihr %#?$*§!

PS 15.06.2024

Zum Abfassungszeitpunkt dieser Rezension war der Irak erfolgreich befriedet. Zwei Jahre später zog Obama die Truppen ab und entfesselte ein Inferno. Die Lizenzen für die Ölquellen gingen übrigens an Chinesen und Norweger, nicht an US Firmen. Inzwischen weiß man auch, dass die Regierung von George W. Bush zum Thema Massenvernichtungswaffen im Irak tatsächlich schlecht beraten wurde.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Februar 2012)

Francis Fukuyama: Identity – The Demand for Dignity and the Politics of Resentment (2018)

Reasonable analysis and clear advice: Diverse societies need strong common identities!

With „Identity“, the American political scientist Francis Fukuyama has taken up one of the most urgent problems of our time. Modern societies are in danger to fail by dissolving themselves into diversity, either by individualism, or especially by immigration without integration. On the one hand, the necessary cohesion of democratic societies is challenged. On the other hand, a dangerous uprise of right-wing populism is provoked. The political Left as well as the political Right often blockade each other to analyse and solve the problems. The political Left exaggerates the protection of individual identities, the political Right dreams of old days of national identities defined by biologist ethnicity.

Before giving advice how to tackle the problems, Fukuyama presents a thorough historical analysis, how the Western understanding of individiuality and identity evolved, then spreading world-wide. He begins with Plato’s theory of the soul and „thymos“ as its third part, representing ambition and pride, i.e. especially the need to be recognized by others. Via Martin Luther, Rousseau, Kant, Herder, Ferdinand Tönnis, and the Roy-Kepel debate about Islamism, finally he reaches modern ideas of human rights, diversity, radical equality, and multiculturalism.

While the romanticists of globalisation dream of the final dissolution of borders and nations, Fukuyama confronts them with a harsh landing on the ground of hard facts: Even if nations would become superfluous one day, the world is yet far from reaching such a state. At least for now, if not forever, nations are indispensible in order to make democracy possible, for democracy needs a common cultural sphere of a culturally integrated people. The awareness of a common cause and a common cultural sphere of communication form the very basis for democracy.

Fukuyama is very clear about the fact that it is not enough to have a common democratic culture, i.e., a mere constitutional patriotism which comprises solely democracy and human rights. The existence of deeper cultural bonds of an informal common culture is indispensible to make democracy work. His example is the Anglo-Protestant culture of the US which he calls „the common property of all Americans“. Although many Americans today are no longer protestants of Anglo-Saxon descent, they still have (or should have) become integrated into this informal culture. If the people of the US would loose this heritage of the founding fathers, then the US would no longer be the US and its democracy would stop to work.

So, Fukuyama gives a list of clear advice:

  • The Left has to reduce its minority identity politics to a reasonable level, and return to focus on broader identities and social categories, such as the poor, the working class, the nation, Europe, etc.
  • Nations have to redefine their national identity on a cultural basis in order to get rid off the outdated idea of biologist ethnicity as the basis for a nation. Nations have to introduce „ius soli“ for acquiring citizenship, yet with very strict rules.
  • A strong emphasis has to be put on the integration into the democratic culture as well as into the informal national culture. This is valid for immigrants as well as for „native“ citizens. For Germany, Fukuyama explicitly applaudes the idea of Bassam Tibi resp. of Friedrich Merz of a „Leitkultur“, i.e., a „leading culture“.
  • It is considered harmful to foster diversity by multi-lingual schools, or by schools separated by religions and the like, instead of fostering the common national identity.
  • A common military or social service for young men and women of all parts of society could serve well to foster a common identity and the awareness of a common cause.
  • Dual citizenship is considered harmful since it spoils loyalities and the awarness of a common cause.
  • It is important to keep a difference between being a citizen and not being a citizen of a state.
  • In order to make integration working, the sheer number of immigrants is of importance, too. If there are too many immigrants there are not enough „native“ residents to have contact with, and too many immigrants of one place of origin tend to form closed-up parallel societies. It is necessary to have a working border control, and it has to be recognized that moral obligations to support refugees, or poor people, have limits resp. can be performed by other and more intelligent means than by immigration.

Conclusion

Francis Fukuyama provides a good theoretical analysis of the problems, and good practical advice to solve them. Everybody interested in the topic should read this book to get a basic understanding to discuss the issues.

Missing

It is one thing to integrate into culture and cultural traditions, yet you cannot do this easily with a religion. Fukuyama has not talked about how to integrate religions which have not been subject to a similar process of reforms as the Christian religion, from Martin Luther, via the development of historical criticism, until the Second Vatican Council.

What is missing from a theoretical point of view are the concepts of „transculturalism“ and „integration“. Fukuyama does not talk about „integration“ but always about „assimilation“ of immigrants into a „diverse“ population. This sounds like a contradiction and reminds of a strictly monocultural society. But this is not what Fukuyama is talking about. The concepts of „transculturalism“ and „integration“ remove the contradiction: „Transculturalism“ means that one person can exercise more than one culture, in the same way as you learn another language without forgetting about your mother tongue. Thus, „integration“ is not about taking away the culture of origin from immigrants but rather about gaining the new national culture and making it the priority culture („Leitkultur“). Immigrants are free to exercise their original culture, too, but only in private and in parallel and with secondary priority. So, „integration“ is measure and centre between the extremes of either complete assimilation or no integration at all.

Minor mistakes

  • Bassam Tibi’s „Leitkultur“ had been originally meant for Europe, not for Germany alone. It was Friedrich Merz who coined the word for the national purpose.
  • It was not 9/11 which led to tensions with the Muslim minorities in Europe, yet it was the increase in number of Muslims which supported the formation of closed-up parallel societies, it was the establishment of mosques led by Islamic traditionalists, and it was the regression of certain countries of origin (e.g. Turkey) back into nationalism and islamism. All this made the European Muslim population less European than it had been in the 1980s.
  • Hitler and the Nazis were no nationalists, in a strict sense, because they were not interested in Germany as a nation with its historical and cultural development, but they were racists. For them, the German people and the Germanic race were absolutely not one and the same. This had been pointed out e.g. by Hannah Arendt.
  • Fukuyama interprets the reluctance of Germany to support Greece in the Euro crisis as a lack of common identity, but overlooks the economic futility to save foul credits with even more credits.
  • Fukuyama did not understand that the migration crisis of 2015 did not come about because Greece had not the means for an appropriate border control. It came about because in January 2015, the Greeks had elected the radical leftist Alexis Tsipras for Prime Minister, because of the Euro crisis. And Tsipras simply stopped any kind of border control, i.e., he intentionally opened the borders. It is as simple as that although you rarely read about it.

Indicators that Fukuyama starts from a rather left-wing point of view

  • While in some passages he very clearly states that more is required than only accepting democracy and human rights, when it comes to integration into the national culture, there are many passages where this picture is blurred.
  • Fukuyama erroneously thinks that the fear of the Right is „greatly exaggerated“, that the Left is redistributing advantages by identity minority politics in an unfair way.
  • In the Roy-Kepel debate about Islamism, Fukuyama first says that both approaches are legitimate, but then continues emphasizing the social backgrounds of the problem, downplaying the religious background.
  • For Europe, Fukuyama would prefer a European citizenship instead of national identites. At least he realizes that this is not a good idea for the moment.
  • Fukuyama always talks of „liberal democracy“, yet isn’t democracy necessarily liberal in its very essence, as well as necessarily open for less liberal politics within its liberal framework?

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 24. November 2019)

Yaşar Nuri Öztürk: Der verfälschte Islam – Eine Kritik der Geschichte islamischen Denkens (2007)

Islamreform im Sinne des Kemalismus

Yasar Nuri Öztürk ist einer der Hauptvertreter eines Reformislam im Sinne des Kemalismus. Er ist einer der schärfsten Kritiker des Islamisten Recep Tayyip Erdogan und engagiert sich auch als Parlamentarier im türkischen Parlament.

Problematisch ist, dass er sich einer bestimmten politischen Richtung verbunden fühlt, nämlich dem Kemalismus, und dass er den Islam etwas zu einfach und etwas zu holzschnittartig an die Erfordernisse einer modernen, säkularen Republik anpasst. Eine qualitativ hochwertige und dauerhafte Reform einer Religion erzielt man aber nur dann, wenn die Reform wahrhaftig und glaubwürdig ist, und über einen politischen Zeitgeist hinaus einer Prüfung stand hält. Eine Religion kann sich nicht allem anpassen. Im Zuge des Kemalismus kam es einerseits zu so zahlreichen theologische Anstößen, dass dieses Reformwirken eine dauerhafte Wirkung entfaltet hat. Eine Reform in der Breite des türkischen Islams ist aber offensichtlich nicht gelungen.

Manches ist wie gesagt zu einfach gedacht. Manches ist auch typisch türkischen und islamischen Ressentiments geschuldet. So wittert Öztürk z.B. die Quelle der Verfälschungen des Islam bei Juden, Christen oder den Arabern: Solche holzschnittartigen Zuschreibungen helfen nicht weiter.

Aber es sind auch einige interessante Punkte dabei.

So z.B. die Erkenntnis, dass das Wort „schlagen“ in dem Vers, der das Schlagen von Frauen erlaubt, möglicherweise gar nicht „schlagen“ bedeuten soll. Die arabische Sprache ist nämlich eine sehr polyseme Sprache, und so kann ein und dasselbe Wort viele verschiedene Bedeutungen annehmen. In Anlehnung an die Verwendung desselben Wortes an anderen Stellen des Koran will Öztürk lieber mit „wegschicken“ statt mit „schlagen“ übersetzen. Wenn das eine philologisch tragfähige Interpretation ist, wäre das eine kleine Sensation.

Öztürk überwindet auch die Trennung der Welt in „Haus des Krieges“ und „Haus des Islam“. Denn das „Haus des Islam“ sei überall dort, wo ein Rechtsstaat herrscht, auch wenn es kein islamischer Staat ist.

Generell will Öztürk die Koran-Auslegung von späteren arabischen Traditionen befreien und den Koran sprachlich und im historischen Kontext lesen. Die Richtung stimmt also, bei allen nicht zu leugnenden Schwierigkeiten.

PS: Öztürk ist kein Vertreter der „Schule von Ankara“. Diese Bezeichnung meint nur eine kleine Gruppe von Reformtheologen in der Türkei.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. April 2016, mit Korrektur vom 01.03.2017)

Gert Scobel: Weisheit – Über das, was uns fehlt (2008)

Ein abgrundtief törichtes Buch

Der Ansatz von Scobel ist vielversprechend: Ob es hinter den Religionen und Philosophien nicht eine tiefere Dimension der Weisheit gäbe. Doch das Buch enttäuscht fundamental.

Der Leser gerät bei der Lektüre in ein wahres Gewitter von wildesten Assoziationen zu Religion, Philosophie, Wissenschaft, Weisheiten und Plattitüden, die auf eine Art miteinander verquickt, verbunden und verwechselt werden, wie man es sonst nur von pseudo-wissenschaftlichen Publikationen her kennt. Solange etwas nur ähnlich klingt oder ähnlich aussieht wird es in einen Topf geworfen, Konsequenzen werden außer Acht gelassen. War man anfangs noch entschlossen, dem Buch wenigstens wegen seines Ansatzes und wegen der vielen Anregungen einen Gnadenpunkt zu geben, muss man am Ende eines sich steigernden Hexensabbates der Narreteien auf der niedrigsten Bewertung bestehen: So viele Irrtümer, so viel oberflächliches Denken, so viel Nichtverstehen und so viel fehlende Einsicht haben nichts anderes verdient. Dieses Buch kann höchstens als Übung zum Erkennen von Denkfehlern, Denkfallen und Irrtümern herhalten. Da wird die fernöstliche Dualität von Ying und Yang vermengt mit der coincidentia oppositorum von Cusanus, vermengt mit der Subjekt-Objekt-Beziehung von Kant, vermengt mit dem Binärkonzept der digitalen Rechenmaschine. Da wird der „Erste Beweger“ mit dem Hinweis auf spontante Umorganisationen in komplexen Systemen für überflüssig erklärt. Da wird das Gehirn als deterministisches System beschrieben, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Da werden die unhinterfragten Evidenzen menschlichen Denkens mit religiösem Glauben verwechselt. Auch die Himmelsscheibe von Nebra muss für wirre Thesen herhalten.

Eine halbwegs tragfähige Definition von Weisheit sucht man vergebens. Der Anspruch auf S. 9 des Vorwortes zur Taschenbuchausgabe, „Dieses Buch hilft Ihnen dabei, auf eine seriöse, gründliche Art und Weise zu verstehen, was gemeint ist, wenn man … von Weisheit spricht“, wird in keiner Weise eingelöst. Es kristallisiert sich im Laufe der Lektüre heraus, dass der Autor unter Weisheit offenbar vor allem die buddhistische Variante im Auge hat und die Meditation als Weg zur Weisheit ins Zentrum stellt. Es sei dem Autor zugestanden, dass er keine esoterische sondern eine nüchterne Wahrnehmung von Buddhismus pflegen will.

Das ganze Buch über springt der Autor zwischen zwei Grundkonzepten von Weisheit hin und her, ohne zu bemerken, dass sie nicht dasselbe sind. Das eine Konzept ist Weisheit durch Meditation, also vor allem auch durch Nichtdenken. Das andere Konzept ist Weisheit durch Bewältigung von Komplexität (das ohne Denken wohl kaum möglich ist). Es ist immer wieder atemberaubend, wie der Autor von dem Problem der Bewältigung von Komplexität nahtlos zum Thema Meditation übergeht, wie wenn das eine Lösung wäre. Wie wenn sich Komplexität durch Nichtdenken bewältigen ließe. Das scheint offenbar die Auffassung des Autors zu sein, wie wir gleich sehen werden.

Ganz übel mitgespielt wird der westlichen Weisheitstradition, also z.B. Platon oder dem Stoizismus. Diese werden nur selten einmal erwähnt und dann meist schief im Sinne des Autors interpretiert. Wenn es im Vorwort zur Taschenbuchausgabe S. 9 heißt, dass das Buch „auf die üblichen Zitate und Einführungen, beispielsweise der griechischen Philosophie, und somit auf gewisse Wiederholungen verzichtet“, dann ist das praktisch eine Ausrede dafür, dass der Autor ein Gegner der westlichen Weisheitstradition ist. So hart muss man es leider sagen, denn: S. 31 wird der Prozess der Aufklärung kurzerhand mit buddhistischer Erleuchtung gleichgesetzt (keuch!) und zugleich die Errungenschaft der Rationalität damit abgetan, dass „das Spüren eines Sonnenstrahls auf der Haut“ ja mit Rationalität nicht viel zu tun habe …

Dabei antwortet die westliche Weisheitstradition gerade auf das Problem der Bewältigung von Komplexität. Stark verkürzt könnte man die westliche Weisheitstradition so beschreiben: Hier steht die Rationalität im Zentrum als ordnende Kraft, die alle Erkenntnisse (Bücherwissen, Erfahrung, Gefühl, einfach alles) zu einem großen Erkenntnisgebäude zusammensetzt, und dabei Ordnungsmuster erkennt. Man könnte es eine individuelle (nicht kollektive!) Weltanschauung nennen. Auch das Wissen um die Grenzen des Wissens und des Machbaren wird in diese große Ordnung eingewoben, das Unbekannte abgeschätzt und eingehegt. Aus dieser ständig fortgestrickten Gesamtordnung ergibt sich immer mehr Überblick. Ein Überblick, der Gelassenheit verschafft. Man steht buchstäblich über den Dingen. Eine solche Ordnung aufzubauen leitet auch zum richtigen Handeln an: Zum Selberdenken. Zu Denkstrategien und Denkregeln (Dialektik, Heuristik, in Gegenseite versetzen, Logik, Wissenschaftstheorie). Zum Wissen und Erfahrungen sammeln. Zum praktischen Leben, gegen intellektuelle Abgehobenheit. Zur Annahme der Realität wie sie nun einmal ist. Zu einem geregelten Leben, in dem Fühlen, Mitfühlen, Triebe, Mühe und Entspannung in Balance sind. Glück kommt aus der Gelassenheit des geordneten Überblicks und dem geordneten Leben; besondere Glücksmomente sind Fortschritte in der Ordnung, wenn wieder ein Zusammenhang neu oder besser erkannt wurde, wenn wieder ein Puzzleteil richtig ins Gesamtbild eingesetzt werden konnte. Der stoische Weise ist das klassische Beispiel für westliche Weisheit.

Aber auch viele andere, nicht-westliche Weisheitskonzepte kommen in diesem Buch unter die Räder, sie werden von vornherein gar nicht systematisch erfasst. Denn viele von ihnen ähneln dem westlichen Konzept von Weisheit, so z.B. Konfuzius. Der „westliche“ Weg heißt ja nur deshalb „westlich“, weil er im Westen als erstes und am konsequentesten beschritten wurde, namentlich im alten Athen, dem Urbild aller vernünftigen und freien Gesellschaften. Aber eigentlich ist es ein universaler Ansatz, der für alle Menschen der beste Weg ist. Nur unweise Zyniker würden einwenden, dass dies die Weltherrschaft der Micky Maus bedeuten würde; doch vom Christentum würde auch keiner behaupten, dass es ihm geschadet hätte, durch die klärende Phase der Aufklärung hindurch gegangen zu sein, also kann es anderen Kulturen ebensowenig schaden, sondern im Gegenteil nur nützen.

Um eine Klärung des Verhältnisses von Religion und Weisheit drückt sich der Autor konsequent. Generell erweckt er den Eindruck, Religion und Weisheit gingen konform. Dass aber gerade westliche Weisheit ganz maßgeblich mit der Hinterfragung von Religion, z.B. des Buddhismus, zu tun hat, blendet er aus. Weisheit wird zudem als eine tiefere Dimension hinter den Religionen gedeutet. Dass aber Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen oft eine identitäre Einheit bilden, übersieht er. Die Frage, inwieweit Weisheit eine elitäre Angelegenheit ist, während für die Masse eine Religion notwendig bleibt, übergeht der Autor. Einzig bei seiner Kritik am Weltethos von Hans Küng liegt der Autor dann doch einmal richtig: Einerseits erkennt er darin zurecht den Versuch, die Vernunftreligion Kants zu verwirklichen; andererseits fällt ihm bei den Religionen auf, was ihm bei den Weisheitskonzepten verborgen bleibt: Dass sie nämlich nicht kompatibel sind.

Der Autor scheint ein Opfer linksliberalen Denkens zu sein, das dem Zeitgeist verhaftet ist. Linksliberales, dekadentes Denken lässt sich an vielen Punkten dieses Werkes belegen. So irritiert zunächst, dass Weisheit mit Werterelativismus und sozialer Kompetenz in Verbindung gebracht wird. Doch hat man sich einen weisen Menschen nicht bislang eher als einen prinzipientreuen Menschen gedacht, der mit der Gedankenlosigkeit seiner Mitmenschen eher Schwierigkeiten hat? Auch der typisch linke Alarmismus, mit dem die Kultivierung der Weisheit zu einer Überlebensfrage der Menschheit hochstilisiert wird, will wenig weise erscheinen.

Die Abneigung gegen die eigene Kultur, gegen das westliche Weisheitskonzept, fügt sich ebenso gut in das Gesamtbild linksliberalen Denkens wie das völlige Verkennen des Wesens anderer Kulturen, die romantisch verklärt werden. Dass Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen nicht so getrennt werden können, wie der Autor meint, erwähnten wir schon. Hinzu kommt eine schwärmerische Verklärung der Aristoteles-Rezeption in der islamischen Welt mit Averroes im Kalifat von Cordoba in Andalusien als Höhepunkt, das natürlich als ein Hort von Toleranz und Weltoffenheit beschrieben wird; wer es wissen will, weiß, dass es so nicht war. Insbesondere die Ideen des Averroes sind im islamischen Raum leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, es wäre zu schön gewesen. Hinzu kommt der Selbstwiderspruch, dass Aristoteles natürlich für die westliche, rationale Weisheitstradition steht, für die der Autor offenbar plötzlich doch etwas übrig hat, wenn sie sich im islamischen Raum entfaltet, und Europa seine damalige Ignoranz unter die Nase gerieben werden kann. Der Gipfel ist dann die Behauptung des Autors, die schöne Geschichte von Andalusien würde heute gerne übergangen – in Wahrheit kommt uns dieses Märchen aus 1001 Nacht schon zu den Ohren heraus!

Wie gesehen hat der Autor auch kein Problem damit, das Gehirn für ein deterministisches Organ zu halten; dass er damit den Weg des Materialismus beschreitet und jeglicher Religiosität und Metaphysik den Boden unter den Füßen entzieht, fällt ihm nicht als Problem auf. Das Buch bewegt sich völlig auf der Schiene eines oberflächlichen Zeitgeistes. Die Zeitgeistigkeit wird noch unterstrichen durch häufig eingestreute politsche Seitenhiebe, die alle in eine naive ökopaxe und linksliberale Richtung tendieren. Immer wieder zitierte Philosophen sind Heidegger und Habermas.

Oberflächliche Zeitgeistigkeit könnte einen weiteren Grund für die Ablehnung der westlichen Weisheitstradition liefern: Diese macht nämlich Mühe und Arbeit. Es gibt hier keinen „Königsweg“, also keine Abkürzung zur Weisheit. Weil nur wenige den mühevollen Weg des Ordnens gehen, und jeder verschieden weit auf dem Weg voran kommt, kann westliche Weisheit auch zu Kränkungen bei denen führen, die erkennen müssen, dass sie nicht weit gekommen sind. Meditation hingegen verspricht Weisheit gerade aus dem Nichtdenken, aus dem Abschalten, aus „Präsenz“ und „Achtsamkeit“. Das erscheint vergleichsweise einfach, und das ist wohl auch einer der Gründe, warum Meditation so in Mode ist. Meditation könnte als psychologisch nützliche Technik in das große Puzzle der westlichen Weisheitstradition integriert werden, aber ins Zentrum könnte sie dort niemals rücken.

In diesem Buch erfährt man wenig über Weisheit, aber viel über die Weltanschauung des Autors: Diese ist ungeordnet, schwärmerisch, flatterhaft und haltlos, und damit zutiefst unweise. Immerhin gibt er selbst zu, kein Weiser zu sein. Hätte er dann nicht besser über Weisheit geschwiegen?

Buchempfehlungen für alle, die an ihrer Weisheit arbeiten (!) wollen:

  • Platon, Die Apologie des Sokrates.
  • Cicero, Gespräche in Tusculum.
  • Edith Hamilton, The Greek Way.
  • Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (Kulturphilosophie Teil I und II).
  • Neil Postman, Die zweite Aufklärung.
  • Peter Prange, Die Philosophin.
  • Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon.
  • Walter Nutz: Vom Mythos der Freiheit.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Geschrieben September 2011)

Michael Köhlmeier: Wenn ich Wir sage (2019)

Kein gebildeter Essay sondern irrationale Orgie des utopischen linken Zeitgeistes

Zu Anfang gewinnt der Leser den Eindruck eines wunderbar gebildeten Essays: Köhlmeier kreist mit spielerischer Leichtigkeit um die beiden Geistesgrößen Ralph Waldo Emerson und Montaigne, und macht sich angenehm eigenwillige und durchaus originelle Gedanken zu Platon, Homer, Thomas Mann und Isaiah Berlin. Alles beginnt mit der Einsicht, dass auch in engeren Beziehungen wie Familie und Freundschaft nicht nur reine Zuneigung herrscht, sondern oft auch Motive wie z.B. Überlegenheit, Abhängigkeit und Wettkampf eine Rolle spielen.

Doch bereits bei folgenden groben Fehlern und Irrtümern beginnt man zu stutzen: Von Sokrates und den platonischen Dialogen heißt es, Sokrates wisse immer alles schon im Voraus, und seine Dialoge seien angeblich kein fairer Austausch von Argumenten. Sokrates sei doktrinär, und die Platonischen Mythen seien Erfindungen in diesem Sinne. (S. 28, 30) Hat Köhlmeier dieselben Dialoge gelesen wie wir? Hat er noch nie etwas davon gehört, dass manche Dialoge Platons in einer Aporie enden? Bei einem derart zynischen Sokrates- bzw. Platonbild muss man sich fragen, wieviel Köhlmeier von Philosophie verstanden haben kann? – Ärgerlich ist die offenbar wohlwollend gemeinte Erwähnung, dass die Religionsgemeinschaft der Unitarier sich für immer mehr Glaubensrichtungen öffnete, am Ende auch für Atheisten (S. 20). Ärgerlich deshalb, weil dieser Vorgang natürlich nicht bedeutet, dass die Unitarier tolerant geworden wären, sondern einfach nur bedeutet, dass die Unitarier ihre eigenen Überzeugungen aufgegeben haben. Wie naiv muss man sein, um an eine Weltverbrüderung durch die Selbstaufgabe der eigenen Überzeugungen zu glauben? Wie naiv muss man sein, die gegenseitige Tolerierung von gegensätzlichen Weltanschauungen durch deren Verwischung und Selbstaufgabe erreichen zu wollen? Was bei Köhlmeier hingegen fehlt, ist der Gedanke, dass die verschiedenen Weltanschauungen in einem klassisch verstandenen Humanismus (Vernunft, historische Kritik, Wesen des Menschen) eine Brücke zueinander haben könnten. – Dann vergleicht Köhlmeier das Stockholm-Syndrom mit dem Phänomen, dass manche Menschen ihren Daseinszweck in einer Feindbeziehung finden, d.h. ohne ihren Feind würde ihr Leben plötzlich sinnlos (S. 33). Das ist aber etwas ganz anderes als das Stockholm-Syndrom und deshalb ein ziemlich schiefer Vergleich. – Zu dem Umstand, dass Montaigne Latein lernte, fällt Köhlmeier nur ein, dass ihm das damals Türen geöffnet haben mag, auch zu Bibliotheken, und dass der lateinische Wortschatz zum Philosophieren besser geeignet war als das damalige Französisch (S. 56). Aber damit verkennt er den zentralen Wert des Lateinlernens: Die vertikale Horizonterweiterung hinein in die Tiefe der Geschichte! Am Verlauf der Geschichte der antiken Welt kann man viele Einsichten über die Welt der Gegenwart gewinnen. Und natürlich bekommt man einen unverfälschten Zugang zum Denken der antiken Philosophen, fernab von allen modischen Verfälschungen des Denkens der Gegenwart. Für Köhlmeier ist Latein aber offenbar nur ein höchst gegenwärtiges, schnödes Werkzeug, ja sogar ein Status Symbol, ein Türöffner zur Gesellschaft. – Bei Thomas Manns Zauberberg konzentriert sich Köhlmeier ganz auf den Gegensatz von Naphta und Settembrini, während er über Peeperkorn kein Wort verliert (S. 23, 25). Naphta ist für Köhlmeier der Repräsentant des verführerischen Charismas, der Inbegriff des Gefährlichen. Damit hat Köhlmeier den ganzen Roman missverstanden, denn es ist Peeperkorn, der der charismatische, gefährliche Typ ist. Mit Naphta hingegen kann man noch reden, und dies geschieht im Roman auch ausgiebig. Immerhin: Mit diesem völligen Missverstehen von Thomas Manns Zauberberg ist Köhlmeier nicht allein. – Schließlich wird auch die eingangs erwähnte Fragestellung nicht gut aufgelöst: Nur wer von der naiven Idee herkommt, dass das Gute in purer Selbstlosigkeit bestünde, wird von der Erkenntnis erschüttert, dass auch engere Beziehungen nicht nur reine Liebe sind. Köhlmeier leistet aber keine philosophisch akzeptable Lösung des Problems, weil er bei dem naiven Maßstab des selbstlos Guten verharrt, und damit das wahre Wesen des Menschen dauerhaft verkennt, in dem die Brücke zum Mitmenschen paradoxerweise gerade über den Egoismus geschlagen wird. Köhlmeier kommt zwar auf das Mitleid, das diese Brücke schlägt, erkennt aber dessen Bedeutung nicht, sondern sieht darin nur etwas mehr als ein „Minimalprogramm“ von Humanität (S. 38 f.). – Und gleich setzt Köhlmeier einen weiteren, entlarvenden Irrtum oben drauf: Die Aufforderung Jesu, den Nächsten zu lieben „wie sich selbst“, funktioniere noch weniger als das Mitleid, weil es schwierig sei, sich selbst zu lieben (S. 39): Aber nur diese Selbstliebe ist im Mitleid die Brücke zum Mitmenschen! Köhlmeier hat das ganze Konzept der Philosophie vom Mitleid von A bis Z nicht verstanden. Er hat Jesu Aufforderung der Nächstenliebe nicht verstanden. Er hat Platon nicht verstanden. Er hat den Bildungswert von Latein nicht verstanden. Und noch vieles andere hat Köhlmeier nicht verstanden, was zum Grundbestand eines klassisch humanistisch gebildeten Menschen unbedingt dazugehören würde.

Köhlmeiers Überlegungen kulminieren in folgendem Gedanken: Im engeren Kreise, in Familie, Freundschaft und Heimat, gäbe es ein glaubwürdiges „Wir“, auch wenn es bisweilen schwierig sei. Das „Wir“ jedoch, das die Nation repräsentiert, sei grundsätzlich verlogen, mythisch und auf die Zerstörung des Glückes der Menschen aus (S. 75-85). Köhlmeier unterscheidet dabei nicht zwischen normalem Nationalbewusstsein und Nationalismus: Für ihn ist bereits der Patriotismus eine Lüge, und eine Nation könne gar nicht anders, als sich über ihre Feinde zu definieren. Als Kronzeuge dient ihm dazu Isaiah Berlin (S. 71-75).

Hier ist Köhlmeier entschieden zu widersprechen: Auch eine Nation kann ein legitimes und notwendiges „Wir“ sein, das aus einer gemeinsam erlebten Geschichte erwachsen ist. Die Nation ist zudem der einzige Organisationsrahmen, innerhalb dessen sich Demokratie entfalten kann, denn nur die Nation stellt den dafür nötigen Diskursraum sowie die historisch gewachsene Solidarität der Bürger untereinander zur Verfügung. Die Idee Köhlmeiers, dass Heimat „einschließe“, Nation jedoch „ausschließe“, ist irrationaler Blödsinn. Gerade die innige Kultur der Heimat grenzt Neuankömmlinge gnadenlos aus, man denke nur an den Dialekt. Und wenn Köhlmeier meint, wer eine Nation liebe, der könne genauso gut die Verkehrsschilder lieben, die von Nation zu Nation unterschiedlich sind (S. 81), dann ist ihm zu entgegnen: Ja, die Verkehrsschilder gehören auch dazu! Wer über eine Grenze von Nation zu Nation fährt, bemerkt sofort tausend kleine Unterschiede, die zusammen eine ganz andere Atmosphäre erzeugen, die eben typisch ist für die jeweilige Nation. Von den Verkehrsschildern, über die Werbeplakate bis hin zum Zuschnitt von Feldern und Wäldern: Alles zeugt von einem anderen inneren Zusammenhang, der über Jahrhunderte gewachsen ist, seinen ganz eigenen Charme hat, und sich bis in tiefste Tiefen fortsetzt, denn auch Politik, Literatur und Kunst funktionieren in jeder Nation wieder ganz anders.

Man fragt sich auch, wie Köhlmeier z.B. über den Zusammenschluss der Nationen in Europa denkt? Ist Europa für ihn auch nur eine einzige Lüge? Und völlig verrückt, was Köhlmeier dann vom Weltbürgertum sagt: Dieses sei seiner Meinung nach kein „Wir“ (S. 49). Die Menschheit also kein „Wir“? Gibt es wirklich nichts, was uns Menschen als Menschen verbindet, was wir gemeinsam haben, und was uns überhaupt erst zu dem macht, was wir sind, nämlich Menschen? Spätestens hier legt Köhlmeier die Axt an die Wurzel des Humanismus. Tatsächlich sieht er sich außerstande, überhaupt irgendetwas Verbindendes anzuerkennen, selbst innerhalb einer Nation. Über den Verschiedenheiten von Religionen, Interessen und Herkunftsländern gäbe es schlicht nichts Verbindendes (S. 82 f.). Da fragt man sich, wie Köhlmeier sich eigentlich die Integration von Zuwanderern vorstellt? Sollten sie nicht wenigstens die Landessprache ihrer neuen Heimat lernen? Was Köhlmeier hier präsentiert, ist die ganze Unmenschlichkeit der Multikulti-Ideologie in ihrer reinsten, gefährlichsten Form.

Zudem hat Köhlmeier Isaiah Berlin falsch gedeutet. Überall kann man nachlesen, dass Isaiah Berlin sehr wohl zwischen Nation und Nationalismus unterschied, auch wenn er den Unterschied an manchen Stellen durch eine ungeschickte Wortwahl verwischte. Dies kann schon durch ein wenig Googlen gefunden werden, also hätte auch Köhlmeier dies wissen können.

Köhlmeier ist nichts anderes als politisch radikal. Seine Vorstellungen sind nicht nur unrealistisch, sondern sie brandmarken auch ganz normale Bürger, die ihr Land, ihre Geschichte, ihre Sprache und ihre Kultur lieben, als böse Nationalisten. Genau diese unduldsame Haltung gegenüber völlig normalen Einstellungen ist es, die die Wähler scharenweise von den bisherigen Parteien weg und hin zur rechtsradikalen AfD treibt. Es sind Menschen wie Köhlmeier, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass unsere Demokratie zerfällt. Der Radikalismus der einen Seite füttert den Radikalismus der anderen Seite. Nicht zufällig findet sich in diesem Büchlein mindestens eine bösartige politische Verleumdung. Dem Vorsitzenden einer nicht genannten Partei (offensichtlich Strache von der FPÖ) wird unterstellt, er habe befunden, dass man den Nächsten lieben, den Übernächsten aber hassen solle (S. 82). Doch es ist nicht wahr. So sagte Strache in einem Interview z.B.: „… die Nächstenliebe beginnt ja beim Nächsten, der Familie und der eigenen Bevölkerung, und nicht beim Übernächsten. Und wenn dann noch Geld übrig bleibt, kann man gerne auch andere unterstützen.“ Es gibt genügend sachliche Kritik, die man an der FPÖ und Strache üben könnte, aber es ist definitiv falsch und schlicht unwahr, dass Strache zum „Hass“ auf den „Übernächsten“ aufgerufen hätte. Wer das behauptet, redet selbst voller Hass.

Woher kommt der Hass? Köhlmeier spricht sich zwar für die rationale Kühle der Aufklärung aus (S. 49), ist aber selbst ein ausgesprochener Gefühlsmensch. Damit trägt er einen veritablen Selbstwiderspruch mit sich herum. Dieses ganze Büchlein ist eine Ansammlung von emotionalen Assoziationen, weniger von rationalen Argumentationen. Sich selbst stellt Köhlmeier in diesem Büchlein ausführlich als Musiker dar, und wie Musik auf höchst unrationale aber ihm zugleich höchst erwünschte Weise ein „Wir“ konstitutieren kann (S. 66-69). Sehr nahe an die Irrationalität von Köhlmeier kommt man, wo er einen Gegensatz zwischen Wahrheit und Mensch aufmacht! (S. 30) Auch hier legt Köhlmeier die Axt an die Wurzel des Humanismus: Denn wer die Wahrheit und ihre freimachende Wirkung nicht liebt und diese Wahrheitsliebe nicht als etwas Urmenschliches begreift, sondern die freundliche Lüge bevorzugt, nur weil sich jemand durch die Wahrheit verletzt fühlen könnte, der hat Humanismus und Aufklärung aufgegeben. Angeblich unter Berufung auf Montaigne meint Köhlmeier, man brauche sich weder Platon noch Aristoteles „aufzuladen“, man solle die Welt lieber betasten und sinnlich begreifen (S. 57). Irgendwie fühlt man sich hier an Hitlers „Mein Kampf“ erinnert, wo ebenfalls einer fehlgeleiteten Vorliebe für das Praktische das Wort geredet und Intellektualität verpönt wird.

Köhlmeier zeigt sich nicht etwa als individueller Geist, sondern als ein dem Zeitgeist höriger Mensch. Früher einmal waren Linke noch halbwegs vernünftig. Noch in den 1990er Jahren verkündete Johannes Rau, einer der Altväter der SPD, in Wahlkampfveranstaltungen stolz: „Ich bin ein Patriot!“ Doch heute sind die Linken zum nationalen Selbsthass übergegangen, und verkünden eine Utopie von „no borders no nations – refugees welcome!“ Und Köhlmeier ist da einfach nur ein Kind seiner Zeit, das munter nachplappert.

Halten wir aber zwei Sachen fest, die Köhlmeier richtig gesagt hat:

  • Mitleid ist eine wichtige Basis für Humanität.
  • Romantische Irrationalität ist eine Ursache für Nationalismus.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 02. Februar 2020)

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland (2014)

Zeitgeist gut aufgespießt – aber kein Tiefgang und keine Lösungen

Thilo Sarrazin beschreibt in seinem dritten Buch „Tugendterror“, welche Irrtümer unseren Zeitgeist beherrschen, und dass ihr Kern ein Gleichheitswahn ist. Zudem beschreibt er die sozialen und psychologischen Mechanismen, wie es dazu kommen kann, dass sich eine Meinung in einer an sich freien Gesellschaft so etabliert, dass Widerspruch nicht mehr geduldet wird.

Hauptkritikpunkt 1: Thilo Sarrazin bleibt zu sehr an der Oberfläche

Thilo Sarrazin beschreibt zwar die Mechanismen, wie sich Irrtümer und Ideologien in einer an sich freien Gesellschaft zu herrschenden Meinungen entwickeln können, aber Thilo Sarrazin sagt fast nichts dazu, dass diese Meinungsausbreitung auch von diversen Akteuren gewollt und gesteuert sein könnte. Natürlich nicht im Sinne einer Verschwörungstheorie, dass es „eine geheime Zentrale“ gäbe, sondern im Sinne eines kritischen Realismus, dass es eben eine ganze Reihe von gar nicht so geheimen „Zentralen“ gibt, die an einer bestimmen Meinungsbildung interessiert sind.

Das fängt mit den Medien und deren Struktur an. Zur Organisation der öffentlich-rechtlichen Medien und den Besitzverhältnissen bei privaten Medien (Springer, Bertelsmann, DuMont, SPD, Linke, Kirchen, früher auch Leo Kirch) sagt Thilo Sarrazin nichts. Ebenso sagt er wenig zur Durchdringung der Gesellschaft mit Parteifunktionären auch in unpolitischen Bereichen. Die Sozialindustrie von Gewerkschaften bis Kirchen wäre auch zu nennen, ebenso die Industrie. Wir wissen z.B. auch durch offengelegte Dokumente der DDR-Stasi, dass die Geheimdienste dieser Welt durchaus auf die öffentliche Meinung in offenen Gesellschaften Einfluss nehmen.

Schließlich spielen geschichtliche Entwicklungen wie z.B. der verlorene zweite Weltkrieg, die Neuordnung durch die Besatzungsmächte, der Kalte Krieg, und noch tiefer reichende Entwicklungen eine Rolle, z.B. waren schon die Nationalsozialisten recht „grün“, hier gibt es also Kontinuitäten.

Hauptkritikpunkt 2: Thilo Sarrazin nennt keine Lösungsvorschläge

Man vermisst Lösungsvorschläge, wie die Medien (öffentlich-rechtlich und privat) gesetzlich organisiert sein sollten, damit die Manipulateure dieser Welt es schwerer haben. – Und man vermisst ein Kapitel mit Ratschlägen, wie man sich angesichts der allgemeinen Manipulation als normaler Bürger eine tragfähige Meinung bilden kann. Dazu gehört sicher eine gute Allgemeinbildung, die Erarbeitung von Themen anhand von Büchern statt nur aus Zeitungen und Fernsehen, und das regelmäßige Querlesen von politisch gegensätzlich orientierte Medien bzw. Autoren. Aber dazu sagt Sarrazin nichts. Bei Lösungsvorschlägen war Sarrazin schon immer etwas schwächer als bei der Analyse, aber in diesem Buch fehlen Lösungsvorschläge praktisch ganz.

Sonstiges

Thilo Sarrazin hat in diesem Buch etwas mehr Ironie gezeigt als in den vorangegangenen Büchern, wo er sich nur wenige trockene Kommentare erlaubte. Das ist teilweise sehr vergnüglich! Dafür erfährt man in diesem Buch im Gegensatz zu seinen früheren Büchern leider wenig neues, wenn man sich mit dem Thema schon länger auseinandersetzt.

Im Abschnitt zum Islam fiel auf, dass Sarrazin Reformbemühungen von Muslimen mit keinem Wort erwähnt. In seinem ersten Buch hatte er das noch getan, was sehr fair war (S. 268). Natürlich hat Sarrazin Recht, dass der islamische Mainstream auf dem falschen Weg ist, aber um Pauschalurteile zu vermeiden und das Spektrum von Lösungsansätzen möglichst breit aufzufächern, hätten Reformbemühungen eine erneute Erwähnung verdient gehabt.

Fazit

Gute, brauchbare, nützliche Lektüre, aber zu oberflächlich, und praktisch keine Lösungsvorschläge. Im Vergleich zur Qualität der beiden vorangegangenen Bücher ein spürbarer Abfall.

PS 12.05.2024

In diesem Buch klärt Thilo Sarrazin auch eine üble Nachrede auf, die heute weit verbreitet ist. Es kursiert ein Video, in dem es so aussieht, als ob Sarrazin einen abstoßenden und eindeutig rassistischen Vergleich zwischen der Pferdezucht und der Vermischung von Deutschen mit Migranten zieht (Kreuzung von edlen Lipizzanern mit belgischen Ackergäulen). Doch das Video ist ein unzulässiger Zusammenschnitt zweier getrennter Passagen, die zusammen eine Aussage ergeben, die Sarrazin nie getätigt hat.

Diese angebliche Aussage passt auch gar nicht zu den tatsächlichen Aussagen in Sarrazins erstem Buch Deutschland schafft sich ab: Dort schreibt Sarrazin z.B., dass Mischehen von Deutschen und Zuwanderern Zeichen einer gelungenen Integration sind. Und Sarrazin schreibt dort auch klipp und klar, dass die Probleme mit Muslimen nicht auf genetische Ursachen zurückgeführt werden können, sondern auf kulturelle Gründe. Dieses Video (es soll aus einer WDR-Sendung stammen) kommentiert Thilo Sarrazin nun wie folgt:

„Aber die Autoren filmten eine zweistündige öffentliche Lesung in Döbeln in Sachsen ab, offenbar in der Hoffnung, ‚kompromittierendes‘ Material zu bekommen. Sie fanden nichts und entschieden sich zu einer Fälschung: Zwei Redeabschnitte, die 45 Minuten auseinander lagen, wurden zusammengeschnitten: Im ersten sprach ich über die Erblichkeit von Eigenschaften und benutzte ein Beispiel aus der Pferdezucht. Im zweiten Abschnitt referierte ich Daten über die Bildungsleistung muslimischer Migranten. Der Zusammenschnitt ergab den zwingenden Eindruck: Sarrazin führt die geringe Bildungsleistung muslimischer Migranten auf genetische Einflüsse zurück.“

Bewertung: 4 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. April 2014)

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