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Arthur Conan Doyle: Die Maracot-Tiefe (1927-1929)

Genre-prägende Verarbeitung des Atlantis-Themas

Wir kennen Sir Arthur Conan Doyle als den Schöpfer des berühmten Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Hier jedoch könnte man meinen, einen der klassischen Science-Fiction-Romane von Jules Verne in Händen zu halten: Ein international besetztes Team von Wissenschaftlern taucht in die tiefsten Tiefen des Meeres hinab, und erlebt dort Abenteuer, deren Grundlage ein intelligentes Ausphantasieren des damaligen Standes der Wissenschaft ist. Der Grundton ist optimistisch, sowohl was die internationale Zusammenarbeit der Wissenschaftler anbelangt, als auch was den Fortschritt der Wissenschaft und der Aufklärung anbelangt. Es ist eine Lust, das zu lesen.

Die Genialität und Kreativität, mit der hier das Atlantis-Thema verarbeitet wurde, war offenbar so eindrucksvoll, dass sich eine ganz neue Perspektive auf das Atlantis-Thema ausgeprägt hat, die seitdem in immer neuen Variationen wiederkehrt. Die Merkmale dieser Perspektive auf das Atlantis-Thema sind:

  • Atlantis existierte vor 12000 Jahren. Damals hatte Atlantis einen „bösen“ Herrscher, durch den es unterging.
  • Es gab aber auch dessen „guten“ Gegenspieler, der ein Fortleben der Atlanter unter Wasser durch seine Genialität ermöglichte.
  • Das wurde ermöglicht durch eine Technik, die fortschrittlicher ist als die Technik der Gegenwart (Atomspaltung, Gedankenkino), bzw. durch übernatürliche Kräfte, Kristalle usw.
  • Wiedergeburt und Erinnerung an ein früheres Leben spielen eine Rolle. Ebenso Unsterblichkeit oder Weiterleben als Geistwesen, das inspiriert.
  • Irgendwann (nach langen geologischen Zeiträumen) wird Atlantis wieder auftauchen.
  • Wissenschaftler werden nach Atlantis verschlagen und begegnen auf dem Weg dorthin einem Ungeheuer der Tiefsee.
  • In Atlantis werden sie mit archaischen Sitten konfrontiert (Sklaverei, Tötung von Mischlingen).
  • Erneut muss der Kampf Gut gegen Böse bestanden werden.
  • Der Kampf wird mit übernatürlichen Kräften geführt, die u.a. durch List besiegt werden müssen.
  • Je nach Ausgang bleibt Atlantis bestehen oder geht unter.
  • Am Ende gelingt den Wissenschaftlern die Rückkehr in unsere Welt.

Die Motive wurden z.B. aufgegriffen in Walt Disney Comics, in denen die Atlanter im Laufe der Zeit zudem Fischschwänze entwickelt haben, oder der Walt Disney Zeichentrick-Film „Atlantis: The Lost Empire“ von 2001. Ein Atlantis, das unter Wasser fortbesteht, über hohe Technologie verfügt und eines Tages wieder auftauchen wird, ist auch zu einer typischen Vorstellung eines pseudowissenschaftlichen Atlantis geworden. Die fortentwickelte Technik taucht allerdings schon in Francis Bacons „New Atlantis“ auf und wurde hier von Sir Arthur Conan Doyle offenbar erneut literarisch verarbeitet.

Alles in allem ist die „Maracot Deep“ ein geniales Stück Literatur, das jeder Atlantis-Interessierte und Jules-Verne-Fan gelesen haben sollte, dessen Science-Fiction-Charakter aber immer klar sein sollte.

PS: Zum genauen Ort der Maracot Deep: Auf der einen Seite spricht der Roman wiederholt von einem Ort 27N28W, auf der anderen Seite spricht er wiederholt von einem Ort 200 Meilen südwestlich der Kanaren. Das passt nicht zusammen, denn 27N28W liegt ca. 650 Meilen westlich der Kanaren. Beide Orte zeigen keinerlei bemerkenswerte Vertiefung im Meeresboden. Es ist also alles Fiktion.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15. Januar 2017)

Manfred Fuhrmann: Rom in der Spätantike – Porträt einer Epoche (1994)

Extrem lehrreiches Buch über Antike, Mittelalter und europäische Kultur

Dieses Buch stellt eine Zeit in den Mittelpunkt, über die man sonst nur unzureichend informiert wird: Den Übergang von der Antike zum lateinischen Mittelalter. Obwohl man es nicht erwarten würde, lernt man hier enorm viel über die Antike, indem man sieht, auf was die Antike an ihrem Ende komprimiert wurde. Man lernt aber auch enorm viel über das Mittelalter, denn hier sieht man, wie es entstand. Vieles von dem, was wir für typisch mittelalterlich halten, ist in Wahrheit spätantik.

Für manche Leser mag der Ansatz ungewöhnlich sein, sich einem Zeitalter über seine Literatur zu nähern. Aber eigentlich ist das genau der richtige Ansatz: Hier diskutiert man die originalen Quellen, aus denen die Geschichtsschreiber dann die Erzählung der Geschichte ableiten. Mancher wird dabei die Seiten über Themen wie Bibelepik als langweilig überblättern, aber spätestens die Berichte über die Zustände während des schrittweisen Zusammenbruchs des römischen Reiches werden jeden fesseln.

Wir lesen von gebildeten Römern, die den bald kommenden Zusammenbruch nicht voraussehen. Wir lesen hier von Einzelschicksalen, die mit dem Zusammenbruch der staatlichen Strukturen zurecht kommen müssen. Wir sehen, wie es zu Arrangements mit den eindringenden germanischen Stämmen kommt. Wir sehen, wie die Kirche oft die letzte Institution ist, die noch funktioniert, und deshalb die Aufgabe des Staates übernimmt. Wir sehen, wie manche – als Bischöfe – die Verteidigung ihrer Heimat organisieren, andere von Germanen enteignet werden, wieder andere von ehrlichen Germanen unerwartet entschädigt werden, und wieder andere in noch sichere Gebiete des Reiches umgesiedelt werden. Wir sehen, wie die Bildung abnimmt und mit dem Schulwesen ihre Basis verliert. Wie die Bildung immer grobschlächtiger wird, bis sie ganz verschwindet. Wir sehen, wie manche Gebildete sich ins Mönchstum flüchten, um dort mit selbsterstellten Regeln für den Erhalt der Bildung zu sorgen (Cassiodor).

Über Antike und Mittelalter wusste man auch ohne dieses Buch Bescheid, und man wusste auch, dass es dazwischen die Völkerwanderung und überhaupt „irgendwie“ eine „dunkle“ Zeit gab, aber wie dies alles nun wirklich zusammenhängt, wie die Antike im Einzelnen zum Mittelalter transformiert wurde, dazu erfährt man in diesem Buch sehr viel. Man bekommt auch eine Ahnung davon, durch welche Zerrbrille wir die Antike teilweise noch heute sehen, wenn man sich klar macht, welche Prägungen die Wahrnehmung der Antike durch den Übergang zum Mittelalter erfahren hat.

Eine interessante Ergänzung zu diesem Buch könnte „Im Schatten des Schwertes“ von Tom Holland sein, das die Zeit der Spätantike im östlichen Mittelmeer schildert: Byzanz und Islam.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Juni 2015)

Stichworte: 5 von 5 Sternen, Antike, Bildungsverlust, Cassiodor, Dunkles Zeitalter, Europa, Germanen, Humanismus, Manfred Fuhrmann, Mittelalter, Mönchstum, Sachbuch, Spätantike, Völkerwanderung, Westeuropa

Theodor Gomperz: Griechische Denker – Eine Geschichte der Antiken Philosophie (1896-1909)

Aufklärung über die Aufklärung anhand der griechischen Aufklärung

Das Werk

Obwohl Gomperz‘ dreibändiges Werk über die „Griechischen Denker“ in den Jahren 1896-1909 veröffentlich wurde, ist es dennoch erstaunlich modern: Der Grund dafür ist, dass der Verfasser politisch-weltanschaulich ein klassischer Liberaler war, der auch mit den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit bestens vertraut war, die bis heute die Grundlage unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes bilden: Evolutionstheorie, Psychologie, Religionskritik, Ethnologie, Ökonomie, Atomphysik und Astrophysik, bis hin zu den Gedanken, dass hinter den Atomen noch kleinere Teilchen stehen könnten oder dass es im Weltraum noch andere Planeten mit Leben geben müsste. Teilweise stand der Autor mit den Vordenkern der Moderne in persönlichem Kontakt, etwa mit Sigmund Freud oder dem Physiker Ernst Mach. Aber auch unter historisch-kritischen Gesichtspunkten ist Gomperz immer noch modern genug: Eine gläubige Verklärung der Antike findet sich bei ihm nicht, auch wenn er noch nicht jede Hinterfragung kennt, von der wir heute, 100 Jahre später, wissen.

Das Werk nimmt mit seiner Eindringtiefe in den behandelten Stoff eine Mittelstellung zwischen kurzer Einführung und tiefgehender Einzelabhandlung ein. Dadurch kann Gomperz etwas bieten, was es heute so nicht mehr gibt: Neben der Behandlung der großen und bekannten Denker wie Demokrit, Platon oder Aristoteles, geht Gomperz einerseits auch auf viele „kleinere“ Denker ein, von denen man sonst eher selten liest, so z.B. die Megariker, die Kyrenaiker und die Kyniker, oder Theophrast und Straton. Andererseits kann Gomperz so viel besser die Entwicklungszusammenhänge zwischen den Denkern aufzeigen, so z.B. die Einteilung der Vorsokratiker in die Ionischen Naturphilosophen, die Eleaten und spätere komplexere Denker, oder die Entstehung der Stoiker und Epikureer aus den Kynikern und Kyrenaikern, über die man nur selten liest. Gomperz breitet den ganzen Horizont vor seinen Lesern aus: Nicht nur Philosophen im engeren Sinne, sondern das ganze geistige Umfeld wird erfasst: Er beginnt mit Religion und Mythos, und vergisst nicht den wesentlichen Einfluss von Dichtern und Geschichtsschreibern. Gleichzeitig verliert sich Gomperz aber auch nicht in Teilproblemen, wie dies Spezialabhandlungen tun. Gomperz geht teilweise recht tief, bleibt dabei aber doch immer klar.

Gomperz bringt die Dinge auf den Punkt, und zwar ihren eigenen Punkt. Wo andere eher beschreiben als erklären, oder ihre moderne Ideologie in der antiken Philosophie wieder entdecken wollen, dort ist Gomperz ein Meister in der Kunst, den entscheidenden Punkt, die innere Motivation, die tiefere Triebkraft herauszuarbeiten, die hinter den antiken Entwicklungen steht. So erst werden Inhalte und Entwicklungen der antiken Philosophie wirklich verständlich.

Wer Gomperz lesen will, muss vor allem Geduld und Konzentration mitbringen. Pausen empfehlen sich. Notizen ebenfalls. Man wird später auch immer wieder noch einmal nachlesen, was Gomperz sagte, und dabei immer noch neues entdecken. Man hätte sich eine bessere Gliederung des Stoffes in einer Hierarchie von Unterkapiteln wünschen können, um dadurch einenn besseren Überblick und eine mnemotechnisch nützliche Wissensordnung zu haben. Besonders ungünstig ist die Kapiteleinteilung im dritten Band, aber auch im ersten Band ist z.B. das Kapitel über Demokrit und die Atomlehre ungünstig gehalten. Die Sätze sind manchmal etwas verwickelt und altertümlich, hier hilft lautes Lesen.

Der Inhalt

Das Hauptthema der Antike ist natürlich der Prozess der Aufklärung und die Gewordenheit unserer heutigen geistigen Welt. Gomperz weiß noch ganz genau, warum die Beschäftigung mit der Antike so wichtig ist, während der Zeitgeist uns weismachen will, die Antike sei von gestern.

Gomperz legt aber nicht nur die Entwicklung der Aufklärung in der Antike dar, sondern zeigt ständig die Zusammenhänge und Parallelen zur modernen Aufklärung und Wissenschaft auf. Er erklärt anhand der Antike die aufklärerischen Prinzipien von philosophischem und wissenschaftlichem Denken im allgemeinen, so dass der der Leser nicht nur die Schritte der Aufklärung der griechischen Denker kennenlernt, sondern auch selbst Schritt für Schritt aufgeklärt wird.

Man kann mit Fug und Recht sagen: Bei Gomperz lernt man das Denken selbst. Dazu gehört nicht nur exakte Berechnung und konsequente Logik, sondern vor allem auch die Fähigkeit der richtigen Einschätzung. Die Kunst des Abwägens. Das Maß der Erkenntnis. Das richtige Interpretieren anhand von Indizien. Man lernt auch, wie Dinge sich entwickeln, und dass vieles nur schrittweise voran geht, dass auch Irrwege nützlich sein können, usw.

Aus heutiger Sicht ist Gomperz erfrischend vernünftig und unideologisch. Die Lektüre dieser 100 Jahre alten Abhandlung ist eine wahre Labsal für die vom Zeitgeist geplagte Vernunft. Gomperz hat in vielen Punkten den richtigen, differenzierten Ansatz, er trifft an den entscheidenden Weggabelungen der Erkenntnis die richtigen Entscheidungen, während ein irriger Zeitgeist die falschen Abzweigungen nimmt und eine schiefe Ideologie entwickelt.

Die Sophisten werden von Gomperz korrekt als eine Stufe des Fortschreitens der Aufklärung gesehen; man darf dabei nur nicht vergessen, dass Sokrates die nächste, höhere Stufe ist: Nach der De-konstruktion kommt die Re-konstruktion. – Bei Platon ist Gomperz ungewöhnlich kritisch: Fast schon respektlos kritisiert er Platon als einen Denker des Absoluten, der in seiner absoluten Präzision oft genug absolut falsch lag. Auch wenn Gomperz hier nicht immer Platons Genialität voll erfasst hat, so ist sein respektlos kritischer Ansatz berechtigt und anregend. – Platon wird bei Gomperz einseitig Demokratie-kritisch und Tyrannen-freundlich gesehen. Hier und in anderen Punkten erliegt Gomperz dem Geist seiner Zeit. – Aristoteles erscheint bei Gomperz als ein Ausbund an Inkonsequenz und kompromisslerischem Pragmatismus. Was für die Philosophie im engeren Sinne eher fragwürdig ist, hat sich für Politik und Wissenschaft jedoch als Segen erwiesen: Hier hat Aristoteles mehr Erfolge bewirkt als Platon. Im letzten dürften sich beide Ansätze jedoch in der Mitte treffen, zumal Platon in den Nomoi bereits den Weg hin zu mehr Pragmatismus zu gehen begonnen hatte, und Aristoteles nicht zufällig ein Schüler Platons war. Diese Erkenntnis deutet sich bei Gomperz an, wird jedoch nicht in dieser Klarheit formuliert.

Der Autor

Erschreckend ist es zu lesen, wie Gomperz kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Auffassung vertritt, die Staaten Europas seien auf einem guten Wege des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes, und würden immer enger zusammenrücken; Krieg sei undenkbar geworden. Im Sinne des „Zauberberges“ von Thomas Mann ist Gomperz ein wahrer „Settembrini“, ein durchaus sympathischer aber vielleicht doch allzu optimistischer klassischer Liberaler mit etwas zu wenig Einfühlungsvermögen in das „absolute“ Denken Platons. Da es aber besser so als andersherum ist, verzeiht man ihm diese Schwäche gern.

Wer ein vernünftiges, rundes, schönes, klares, erhellendes, bildungsbürgerliches, vollständiges, gutes, menschenfreundliches Buch über die antiken Denker lesen möchte, das nicht angekränkelt ist von den Irrtümern unserer Zeit, sondern wesentliche und richtige zeitlose Einsichten als Basis für eigenes Weiterdenken vermittelt, der ist mit den „Griechischen Denkern“ von Gomperz bestens bedient. Sicher eines der Bücher, die man gelesen haben sollte.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juni 2013)

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse (2018)

Einsamkeit, asoziale Eigenheiten, Naturverbundenheit, Liebe und Mord

Der Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ erzählt die Lebensgeschichte von Kya, die in einer Hütte im Marschland an der Küste von North Carolina lebt. Der Roman lässt sich grob in vier Phasen gliedern.

Zuerst wird Kya als 6jährige nach und nach von allen Familienmitgliedern verlassen und bleibt allein in der Hütte zurück. Sie muss sich nun allein durchschlagen und bekommt dabei unmerklich Hilfe von verschiedener Seite: Die Verkäuferin rechnet ihr weniger Geld ab als nötig, sie bekommt „zufällig“ alte Kleider, und der etwas ältere Tate bringt ihr Lesen bei und versorgt sie mit Literatur über die Biologie der Marsch, wodurch sie sich autodidaktisch zu einer Expertin für die Biologie der Marsch entwickelt. – Im zweiten Teil geht es um die Liebe zu Tate, der sie jedoch verlässt. Und darum, dass sie sich dem Gecken Chase hingibt, weil sie nicht allein sein will, obwohl der sie nur ausnutzt. – Im dritten Teil ist der Roman ein Gerichtskrimi, denn Kya ist angeklagt, Chase ermordet zu haben. – Im vierten Teil kommt es zu einem Happy End mit Tate, und ganz am Ende gibt es noch einen Paukenschlag.

Der Roman ist dort stark, wo er über die Natur der Marsch und die Verbundenheit von Kya mit ihr erzählt. Auch das Alleinsein von Kya, ihre Einsamkeit, ihre Fähigkeit sich selbst durchzuschlagen, aber auch ihre asozialen, sonderlichen Eigenheiten, die sie sich durch ihr Alleinsein erworben hat, ihr Misstrauen und ihre Naivität gegenüber anderen Menschen, werden überzeugend thematisiert. Das sind die stärksten Aspekte des Buches. Die Liebesgeschichten sind hingegen flacher und nur unter dem Aspekt ihrer Einsamkeit von Interesse. Die erstaunliche Sensibilität von Tate ist das einzig Unglaubwürdige an dem Buch. Der Gerichtskrimi ist ein richtiger Gerichtskrimi zum Mitraten beim Kreuzverhör der verschiedenen Zeugen. Es werden die üblichen Vorurteile der Gesellschaft in den US-Südstaaten thematisiert, aber nicht zu penetrant. Einige Nebenfiguren sind interessant, so z.B. der Vater von Tate, der als Krabbenfischer Gedichte liest und Opernmusik hört.

Das Buch arbeitet viel mit Rückblenden. Während die Lebensgeschichte von Kya voranschreitet, rekonstruieren die Ermittlungen des Scheriffs parallel dazu das Geschehen in der Rückschau. Vor allem aber geben einige Rückblenden zusätzliche Informationen über bereits geschilderte Ereignisse, so dass diese für den Leser plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Auch der Paukenschlag am Schluss ist eine solche Rückblende, die die Perspektive verändert.

Alles in allem ein gutes, berührendes und überzeugendes Buch. Etwa von der Qualität des „Medicus“, aber noch kein Jahrhundertklassiker.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. Februar 2021)

Paula Cocozza: How to be human (2017)

About the revival of the joy of life after a break-up – and a fox’s life

The story

Mary had a break-up with Mark some time ago. He had to leave the house, she stayed. Yet Mary is disoriented, does not know what to live for, has no new partner. When seeing the family life of her neighbours, she feels alone, and attracted by their baby. On a (terrible) barbecue party in the neighbours‘ garden, she is content with the baby’s company. (By the way, this is the most beautiful baby ever described in a book: Sweet and honey-like, and never ever crying.)

Then a fox comes into Mary’s life from the wilderness in her backyard. The fox brings her gifts, they start to lay together in the sun. Finally the fox brings the baby of her neighbours who was left in the garden by the sleepwalking mother. The mother does not believe anything, the relation to the neighbours deteriorates. The neighbours fetch a Fox Fixer to catch and kill the fox.

Mary’s ex boy-friend Mark has rented a flat near to her house, and keeps on stalking her. He repeatedly tries to persuade her to let him come back to her, but he obviously has no sense for her needs but only for his needs. Disgusting scenes: Once he almost managed to install himself in her life and house again.

Finally, Mary locks herself up in her house with the fox, whom she simply calls Fox now (after having tried some unsuitable names). Her neighbours leave their house for good, and Mark is rejected on his final attempt to reclaim Mary’s love. Mary and the fox live completely alone in a house with closed shutters, with absolutely no contact to the outside world, for an uncounted number of days.

After they have overcome the neighbours and Mark, they leave the house again. Now, the fox is poisoned by Mark who knew from Mary that her fox likes eggs and where his hiding place for them is. In a dramatic scene, the fox is dying. Though sad this is, it draws a line and makes Mary’s joy of life coming back. But in an unattended moment, the fox’s body suddenly vanishes. Therefore, Mary doubts her previous understanding of friendship with the fox: Did he betray her by a feigned agony? But finally she lets him go, dead or alive, since true friendship does not tell the other what is good for him.

Meaning

Obviously, the whole book is about the feelings after a break-up, the loneliness, the disorientation, about true friendship and being played by a „friend“, and about feeling depressed or joyful again. The fox seems to be a symbol of closing yourself off from the world, and becoming eccentric and outlandish for others, while at the same time, the life with the fox is a kind of school for Mary to learn about true friendship. All these feelings and teachings are deeply human, and Mary learns a good part of what often is called the „human condition“.

The story’s iridescence

On two occasions, the story pretends to be iridescent and that it would not be clear what really happened. First, how the baby came to Mary’s back door. But here, it is absolutely clear by the story itself that the fox did it, and that the baby’s mother left the baby outside while sleepwalking. Nothing is unclear, here. Second, the vanishing of the fox’s body after his death. There is no explanation here, yet the fox’s agony is very real. Also very real is his poising by Mark with all its details (eggs, poison from Mary’s cupboard). And what is more, if the fox should be understood merely as a symbol, there is no motivation why the fox should vanish at this moment. There was no inner turn in Mary’s life, the turn came after the fox was dead. – The fox is not only a symbol but to be understood as a reality. A reality which symbolizes something. But it cannot be reduced to a mere symbol. The fox has his own life.

A fox’s life

The book is very strong in picturing a fox’s life: How important a fox’s scent is, how he listens and smells and watches at several sensual impressions at the same time, how he found his area of living, how he fought for it with an other fox, how he found a fox girl-friend, about the fox’s dreams of food and family, how his pregnant fox girl-friend died being overrun by a car: Very very sad. The fox suffers from loneliness, too. And he behaves with dignity. This fox is a real Gentleman. – The book shows several times the „thinking“ of the fox, and it is always excellent: The animalistic and highly reactive and associative „thoughts“ of a fox are portrayed very convincingly in human words. It is almost poetic.

Citations to be remembered

„F*** Neanderthal hipsters.“ (p. 140).

„He won this country two summers gone, after his first mate passed, and he smelt a vixen here that he liked. Musky and fruity. That was her scent. For all the blackberries she ate.“ (p. 155)

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 16. Dezember 2018)

Andreas W. Müller: Der Westen – Ein Nachruf (2012)

Philosophische Denkanstöße für Umdenker und Querdenker

Dieses Buch ist ein thematisch gruppiertes Sammelsurium von kürzeren Texten über Dinge wie Kunst, Politik, Geschichte, Krieg, Moral, Menschenrechte, Tierrechte, Hirnforschung, und die Kernthemen der Philosophie. Was auf den ersten Blick etwas willkürlich und oberflächlich erscheint, hat es aber faustdick in sich! Der Autor ist nämlich Objektivist, d.h. ein Anhänger der Philosophie des Objektivismus, die von der russisch-amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand begründet wurde. Und das bedeutet, dass die gebotenen Texte sich durch ein hohes Maß an Rationalität und Realismus auszeichen. Das macht sie interessant und lesenswert, auch wenn man gewiss nicht allem zustimmen kann. Eine dogmatische Überwältigung des Lesers durch den Objektivismus findet in diesem Buch definitiv nicht statt, es geht durchweg rational zu.

Die gebotenen Texte sind hervorragende Denkanstöße, denn wegen ihrer Rationalität kann der Leser sie nicht einfach pauschal ablehnen. Vielmehr ist der Leser gezwungen, mit einem „ja aber“ sein eigenes differenzierendes Nachdenken darüber zu beginnen, wie es denn nun wirklich ist – und schon ist man mitten drin im eigenen Denken. Wer sein Denken öffnen will, wer sich prüfen will, wer entschlossen ist, sich hinterfragen zu lassen, für den ist dieses Büchlein eine große Hilfe. Wer hingegen mit Vorurteilen an die Lektüre geht, und Denkfehler weder verzeiht noch als Einladung zum Selberdenken versteht, dem ist von diesem Buch abzuraten.

Als Objektivist kann der Autor manchen Kontrapunkt gegen den herrschenden Zeitgeist setzen: Warum echter Egoismus gar kein solcher ist. Warum soziale Wohltaten und Tierrechte nett aber falsch sind. Warum Sexualität weder unterdrückt noch wild ausgelebt werden sollte. Warum wir zusätzlich zu den Naturwissenschaften trotzdem noch Philosophie brauchen. Usw. Der absolute Hit dürfte aber das philosophische Konzept einer Metaphysik sein, die an die Materie gebunden ist. Also die Ablehnung von Materialismus und Religion gleichermaßen. Die allermeisten Menschen wissen vermutlich gar nicht, dass es diese Denkmöglichkeit überhaupt gibt. Deshalb verharren sie in den Extremen Materialismus und Religion, aus denen so viele Übel hervorgehen.

Neben einigen Gastbeiträgen anderer Autoren enthält das Buch auch eine Untersuchung der Philosophie der Harry-Potter-Welt. Zahlreiche Weblinks und Literaturangaben geben nützliche Hinweise für das eigene Weiterlesen. Einzig ärgerlich ist vielleicht der Titel des Buches: Denn statt einem defätistischen Abgesang auf den Westen liefert das Buch zahlreiche Anstöße für die Renaissance des Westens.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 20. September 2013)

PS 16. Mai 2025

Der Autor Andreas W. Müller hat sich inzwischen von der Philosophie des Objektivismus entfernt und deshalb den Vertrieb dieses Kindle-Buches eingestellt. Zum Blog des Autors hier: https://feuerbringer.wordpress.com/autorundwerk/

Jack London: König Alkohol (1913)

Lesenswert: Gesellschaftskritik und Weltschmerz eines Alkoholikers

Das autobiographische Buch „König Alkohol“ (original: „John Barleycorn – Alcoholic Memoirs“) von Jack London beschreibt, wie der Lebensweg des Autors aus verschiedenen Gründen immer von Alkohol begleitet war, bis in die Sucht hinein, die den Autor bald nach der Veröffentlichung des Buches im Alter von 40 Jahren in den Tod führen sollte. Überraschenderweise steht dabei weniger die Alkoholsucht als solche im Zentrum des Buches, sondern vielmehr die „verschiedenen Gründe“ für das Trinken. Diese Gründe lassen sich im wesentlichen in drei Themenbereichen zusammenfassen:

Thema (1): Soziale Akzeptanzrituale, die für sich allein betrachtet sinnlos, albern oder sogar schädlich sind (Gessler-Hut-Rituale): In diesem Buch ist es das gemeinsame Trinken von Alkohol, durch das man als „Mann“ anerkannt wird. Aber es sind andere Beispiele von Ritualen aus unserer heutigen Lebenswelt denkbar, die zur Akzeptanz in gewissen Milieus führen: Vom Reden und Prahlen über Fußball und Autos, über die Verfemung von Microsoft, Wehrdienst und George W. Bush, bis hin zum gemeinsamen Bordell-Besuch. Das Problem ist: Entweder man macht mit, oder man bleibt einsam und erfolglos. Und wer mitmacht, gewöhnt sich daran.

Thema (2): Die Entfremdung des lesenden Menschen von den „normalen“ Menschen durch seine Bildung. Das Problem ist: Der Abgrund zu den weniger gebildeten Menschen ist auch durch ein gewolltes Herablassen auf deren Niveau nicht wirklich überbrückbar. Man bleibt innerlich einsam, und wird nur noch von wenigen, einzelnen Mitmenschen wirklich verstanden, die leider schwer zu finden sind.

Thema (3): Desillusionierungen über Gesellschaft, Mitmenschen, Religion und Weltanschauung, die zu einer verschärften Form der Sinnfrage führen (Weltschmerz, Weltekel). Das Problem ist: Entweder man findet neue, eigene Antworten auf die Sinnfrage, oder man endet in Verzweiflung und Zynismus.

Jack London hatte sich als junger Mann dem Ritual des gemeinsamen Alkoholtrinkens hemmungslos hingegeben, um Abenteuer und Kameradschaft zu erleben, was ihn für die Sucht vorbereite. Später wurde ihm die Herablassung auf das Niveau der weniger gebildeten Menschen durch den Alkohol erleichtert. Er hatte aber auch jene wenigen, einzelnen Menschen gefunden, mit denen er sich ganz ohne Alkohol auf Augenhöhe unterhalten konnte, darunter seine Ehefrau. Bis zu diesem Punkt kann noch nicht von einer Sucht gesprochen werden.

In die Sucht geriet Jack London durch die Sinnfrage. Jack London war Sozialist und vor allem Materialist. Anders als die meisten Materialisten hatte er die Folgerungen dieser Weltanschauung jedoch konsequent zu Ende gedacht, sowie mögliche Alternativen rigoros abgelehnt, so dass er dem Leben keinen Sinn mehr abgewinnen konnte. Alles wurde schal und sinnlos für ihn, und seine Perspektive auf die Welt und die Menschen wurde zynisch. Es gab offenbar nichts mehr, was seinen Geist durch Sinnhaftigkeit in Stimmung bringen konnte: Kein Streben nach Wissen, kein Suchen nach etwas Unbekanntem, keine Anschauung des Schönen, und zuletzt vielleicht auch kein echter Glaube mehr an die Möglichkeit gesellschaftlicher Verbesserungen.

Um sich gegen Pessimismus und Zynismus immer wieder in Stimmung zu bringen, musste Jack London zur Flasche greifen, und verfiel auf diese Weise schrittweise der schleichenden Sucht.

Man könnte es auch andersherum deuten: Möglicherweise führte der langjährige, „soziale“ Alkoholkonsum zu einer Depression, und diese Depression war es, die eine rationale, positive Antwort auf die Sinnfrage verhinderte („Weiße Logik“ des Alkohols), und das wiederum ließ Jack London am Ende freiwillig zur Flasche greifen. Ob nun eher eine kranke Psychologie (Depression wegen Alkoholkonsum), oder eher eine falsche Philosophie (Materialismus mit allen Konsequenzen) die Ursache für das finale Scheitern waren, wird sich wohl nie mehr ganz klären lassen. Das eine schließt das andere ja keineswegs aus.

Am Ende des Buches behauptet Jack London überraschend, dass er die „Weiße Logik“ überwinden konnte, indem er gelernt habe, der Sinnfrage auszuweichen. Trinken würde er allerdings dennoch hin und wieder, weil er sich daran gewöhnt hatte, Alkohol mit der guten Erinnerung an Geselligkeit und Kameradschaft in Verbindung zu bringen. Das ist alles andere als ein überzeugender Schluss! Denn erstens kann man der Sinnfrage nicht auf Dauer ausweichen. Und zweitens befindet sich Jack London damit immer noch in dem Zustand, Alkohol gerne zu trinken, um eine angenehme Stimmung hervorzurufen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Mai 2018)

Haito und Walahfried Strabo: Visio Wettini (824)

Einblick in Denk- und Lebenswelt der Reichenauer Mönche um 824

Dieses Büchlein bietet sowohl die von Abt Heito verfasste Originalprosafassung der Vision des Mönches Wetti von 824 als auch deren dichterische Bearbeitung durch den jungen Walahfried Strabo, beides in Latein und Deutsch und mit Verweisen aufeinander, sowie einen ausführlichen Einleitungs- und Kommentarteil, der nichts zu wünschen übrig lässt.

Die religiöse Gelehrsamkeit und Frömmigkeit bis hin zum Aberglauben scheint damals eindeutig im Mittelpunkt gestanden zu haben, und weniger das, woran wir heute zuerst denken, wenn wir von der Gelehrsamkeit der mittelalterlichen Mönche sprechen (also z.B. Überlieferung antiker Texte, scholastische Philosophie, Astronomie, Medizin). Diese Art von Gelehrsamkeit drückt sich höchstens indirekt in der lateinischen Gewandtheit des Walahfried Strabo aus. Ebenfalls ein wichtiger Aspekt sind persönliche Beziehungen, z.B. zwischen Lehrer und Schüler (Walahfried Strabo und Wetti), zwischen Mönch und Abt (Walahfried Strabo und Heito und Erlebald), oder zwischen jungem Mann und Förderer (Walahfried Strabo und Grimald, Erzkapellan des Kaisers und später Abt von St. Gallen).

Aufgefallene Einzelaspekte:

  • Die berühmte (aber recht kurze) Beschreibung der Reichenau.
  • Unzucht unter Mönchen scheint ein großes Problem gewesen zu sein.
  • Weltliche Äbtissinnen verdarben die ihnen unterstellten geistlichen Nonnen.
  • Graf Gerold fiel im Kampf gegen die Heiden zur Verteidigung der Kirche und erhielt dafür das ewige Leben: Im Prinzip dasselbe wie der Dschihad im Islam.
  • Bezüge zu Dante: Dante mag die Visio Wettini tatsächlich verwendet haben, einen großen Einfluss hatte sie jedoch offenbar nicht auf sein Werk.
  • Verbreitet war offenbar eher die originale Prosafassung von Abt Heito, weniger Walahfried Strabos dichterische Fassung.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.
(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. Februar 2020)

Niccolò Machiavelli: Der Fürst (1513)

Der erwartete Klassiker mit Einsichten am Rande

Das bekannte Buch von Machiavelli liest sich recht schnell und bietet im Original tatsächlich ungefähr das, was man überall darüber lesen kann: Es ist eine Anleitung für Fürsten, wie sie die Macht erlangen und erhalten, wobei die Wahl der Mittel ohne Rücksicht auf moralische Bedenken geschieht. Auch der immer wieder zitierte Rat kommt vor, dass man den Untertanen nicht an den Geldbeutel oder die Frau gehen soll, was fast schon tröstlich ist, da dadurch eine gewisse Grenze und ein gewisser Schutz für die Untertanen vor ihren Fürsten definiert wird, auch wenn es ein rein egoistischer Rat ist.

Der Gipfel der Skrupellosigkeit ist der Mord von Cesare Borgia an diversen Verschwörern in Senigallia 1502, wohin er sie eingeladen hatte. Machiavelli stellt diese Beseitigung von Rivalen als herrschaftssichernde Maßnahme dar, die sehr erfolgreich und deshalb legitim war.

Interessant ist das „Schachspiel“ der Mächte untereinander: Wer mit wem gegen wen, und wie man jemanden in Schach hält, oder ihn unfreiwillig zur Eroberung einlädt usw. Hier können naive Menschen gut lernen, dass gutgemeinte Taten oft das Gegenteil dessen zur Folge haben, was beabsichtigt war. Man bekommt zudem Einblicke in die politischen Verhältnisse im Italien der damaligen Zeit: Franzosen, Venezianer, der Papst … alle ringen um Einfluss und Herrschaft.

Interessant sind auch die Ratschläge, wie man verschiedene Länder zu einem Land zusammenschließt. Der Fürst sollte entweder Teile der Bevölkerung umsiedeln, oder seine Residenz im neu eroberten Gebiet nehmen. Republiken könne man nur durch Zerstreuung der Bevölkerung dauerhaft in den Griff bekommen, weil die Erinnerung an die einstige Freiheit zu stark ist. Für die Konstrukteure des EU-Überstaates sind hier wertvolle Einsichten zu finden, die zeitlos gültig sind.

Der viel beschworene Begriff der „virtù“ fiel mir bei der Lektüre der Übersetzung nicht auf. Vermutlich fällt er bei Machiavelli in einem eher unscheinbaren Nebensatz, und man muss schon einen Blick dafür haben, dies zu erkennen und die Neuerung im Denken darin zu sehen. Das Denken Machiavells ist sicher eine Befreiung gegenüber einem scholastischen Denken, aber es ist andererseits doch wieder zu zügellos.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Dezember 2017)

Jane Austen: Stolz und Vorurteil (1813)

Die hohe Schule des menschlichen Beziehungsreigens

In diesem Buch gibt es keine eigentliche Handlung: Kein Kriminalfall wird gelöst, kein Schatz wird gesucht, keine Schlacht wird geschlagen, kein politisches Ziel wird erkämpft, keine Länder werden entdeckt, keine Theorie aufgestellt, kein Buch geschrieben, kein Geschäft gemacht. Es passiert das ganze Buch über nichts nennenswertes an Handlung, absolut gar nichts! Das ganze Buch handelt ausschließlich von den Charakteren seiner Akteure und wie sich deren Beziehungen untereinander entwickeln. Wer liebt oder hasst wen, wer redet und denkt gut oder schlecht über wen, wer verbindet oder löst sich miteinander bzw. voneinander, wer tanzt mit wem, wer bespricht sich mit wem, wer sucht Trost bei wem, wer besucht wen, wer schreibt wem welche Briefe, usw. usf.

Jane Austen vermag es, in die typischen Denkweisen der Menschen in Beziehungsdingen hinein zu sehen: Was man typischerweise vermutet, erwartet, plant, hofft, fürchtet usw. Wie sich Dinge zufällig wenden, wie sie sich typischerweise wenden. Jane Austen kommt damit dem Menschlichen näher als oberflächliche Literatur. Bei aller britischen Förmlichkeit zeigt sich doch das allzu menschlich Menschliche überall, das auch heute noch unverändert überall bei jedem in der ein oder anderen Weise zu beobachten ist. Wenn man Lebenserfahrung hat, kann man sagen: So ist es. Wenn man sie noch vor sich hat, kann man noch etwas lernen.

Fast schon philosophisch wertvoll ist die dramatische Wendung im Zentrum der Geschichte: Die Erkenntnis von Eliza, wie sie sich gründlich irrte, und ihre Bestürzung darüber. Man kennt die Welt nicht, solange man sich nicht bodenlos geirrt hat. Erst dies verschafft die richtige Skepsis und das tiefere Nachspüren.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. März 2012)

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