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Leïla Slimani: Dann schlaf auch Du (2016)

Tödlicher Clash einer unentfalteten, verklemmten Nanny mit geistlosen Zeitgeist-Eltern

Der Roman beginnt mit dem Ende: Eine nahezu perfekte Nanny begeht plötzlich erweiterten Suizid mit den ihr anvertrauten Kindern. Wie konnte es dazu kommen?

Der Roman schildert den Weg dorthin, und es zeigt sich, dass diese Nanny aufgrund ihres Werdegangs eine unentfaltete, verklemmte Person ist, die sich in naiven Träumen verliert. Sie kann auf Anfragen der Wirklichkeit nicht adäquat reagieren, und sie lässt passiv mit sich geschehen, was andere mit ihr tun. Und es wird einiges mit ihr getan: Die Eltern gewöhnen sich schnell an den Rundum-Service, den die Nanny auch als Putzfrau und Köchin bietet, ohne sie dafür angemessen zu bezahlen. Von einer Freundin lässt sich die Nanny mit einem Mann verkuppeln, an dem sie eigentlich nichts findet. Wenn Rechnungen kommen, wenn Kritik von Schulleitern oder ihren Arbeitgebern kommt, wenn in ihrer Wohnung etwas kaputt geht: Die Nanny ist geistig nicht in der Lage, sich konstruktiv mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, und verdrängt sie einfach.

Die Eltern, die die Nanny engagiert haben, nutzen sie aus, und merken es noch nicht einmal. Obwohl sie im linksliberalen Zeitgeist ihres Milieus mitschwimmen, denken und handeln sie immer wieder gegen ihre eigenen Grundsätze. Sie schämen sich zwar jedesmal dafür, aber nur ein klein wenig. Und sie haben keinerlei Gespür für die Probleme der Nanny. Das Leben dieser Eltern hatte sich nämlich relativ problemlos entfaltet, man möchte fast sagen: zu problemlos, und jetzt schwelgen sie in geistloser Selbstverwirklichung im Job und im Konsum, und die Nanny sorgt dafür, dass ihre Kinder dabei nicht „stören“. Das linksliberale Milieu ist voll von solchen geistlosen Erfolgstypen.

Hier denkt man an Botho Strauß: „Die Würde der bettelnden Zigeunerin sehe ich auf den ersten Blick. Nach der Würde … meines deformierten, vergnügungslärmigen Landsmannes in der Gesamtheit seiner Anspruchsunverschämtheit muß ich lange, wenn nicht vergeblich suchen. Wie sähe, denke ich oft, mein protziger Nächster aus, wenn ihn der jähe Schmerz oder Kummer träfe? Vielleicht träte zum Vorschein dann seine Würde.“
(Anschwellender Bocksgesang, Der Spiegel 6/1993)

Am Ende kollidieren die Träume der Nanny mit der Wirklichkeit und es kommt zur Katastrophe.

Der Roman liefert dem Leser kein einfaches Lagebild. Der verunglückte Charakter der Nanny wird nicht auf ein einzelnes, bestimmtes Trauma zurückgeführt, das ihr zugefügt worden wäre. Vielmehr ist ihr ganzer Werdegang verkorkst. Es ist auch keine „soziale“ Frage wie manche meinen. Arm sein und unentfaltet sein ist nicht dasselbe. Man sollte auch nicht meinen, dass die Nanny krank war, denn es gibt keine einzige Andeutung dazu. Sie ist einfach nur verkorkst und verklemmt.

Auch das problematische Verhalten der Eltern kristallisiert sich nicht anhand einer einzelnen Missetat heraus, sondern es sind viele kleine Lebenslügen und Fehleinschätzungen, die ins Verhängnis führen. Insofern gibt der Roman ein sehr realistisches Bild ab, denn die Schicksale der Menschen entscheiden sich selten an einzelnen, ganz großen Ereignissen, sondern an vielen kleinen Dingen im Laufe ihres Werdeganges. Das aber ist gerade das Erschreckende an diesem Roman, dass eine Katastrophe sich aus vielen kleinen Dingen heraus aufbaut: Denn diese harmlos scheinende Wirklichkeit der kleinen Nickeligkeiten und Lebenslügen ist die Wirklichkeit der allermeisten Menschen.

Was hätte man tun sollen?

Die Nanny hätte sich ihrer Lage bewusst werden sollen, und schrittweise einen Weg heraus finden müssen. Einen Job und eine Wohnung hatte sie. Bekannte und eine Freundin, die ihr halfen, hatte sie auch. Sie hätte es schaffen können! Solange sie nicht krank war, und davon ist im Roman mit keiner Silbe die Rede, gibt es da keine Ausreden! – Die Eltern wiederum hätten sich entscheiden müssen: Entweder hätten sie die Nanny wirklich zu einem Teil der Familie machen sollen. Dann hätten sie sie auch psychisch einbinden und ihr geistig helfen sollen, und vor allem auch angemessen bezahlen. Oder die Eltern hätten eine klare Grenze ziehen und den Kontakt auf einen zeitlich und aufgabenmäßig klar begrenzten Job reduzieren müssen, so dass die Nanny von vornherein keine falschen Träume hätte entwickeln können und gewusst hätte: Ihr Glück muss sie woanders suchen.

Fazit: Tolles, nachdenklich machendes Buch!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. November 2019)

Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Dirk Oschmann: Der Osten – eine westdeutsche Erfindung (2023)

Leider der falsche Autor für dieses wichtige Thema – Was eigentlich hätte gesagt werden müssen

Der Grundgedanke dieses Buches ist genial, überaus legitim und längst überfällig: „Der Osten“, also das Gebiet der ehemaligen DDR mit ihren Bürgern, wird vom Westen völlig falsch wahrgenommen, deshalb fehlinterpretiert und außerdem systematisch benachteiligt. Eine innere Einheit Deutschlands ist heute so weit entfernt wie der Mond.

Besonders erschreckend sind die faktischen Benachteiligungen, unter denen der Osten bis heute zu leiden hat, von denen man in den von Wessis beherrschten Medien jedoch nie etwas erfährt: So rekrutiert sich das Führungspersonal in Universitäten, Behörden, aber auch in privatwirtschaftlichen Unternehmen bis heute weitgehend aus Wessis. Es ist leider nicht so, dass Wessis nur vorübergehend die Leitungsfunktionen übernahmen, um die neuen Bundesländer auf demokratischen Kurs zu bringen, sondern bis heute wird auch der Führungsnachwuchs weitgehend aus Wessis rekrutiert. Das ist ein ernstes Problem. Ebenso ein Problem ist natürlich, dass die Balance zwischen den Geschlechtern in manchen ostdeutschen Regionen ernsthaft aus dem Gleichgewicht gekommen ist, weil insbesondere viele junge Frauen in den Westen gegangen sind. Oder dass die Vermögensbildung im Osten nicht in Gang gekommen ist. Schließlich muss man auch lesen, dass es zwar einen Beschluss der Bundesregierung gab, Bundesbehörden bevorzugt im Osten anzusiedeln, aber anders als der naive Wessi denkt, wurde dieser Beschluss offenbar schlicht ignoriert: Ein Skandal von vielen.

Aber auch in der Wahrnehmung des Ostens durch westdeutsche Politiker, Journalisten und Intellektuelle hat dieses Buch eine lange Liste von erschreckenden Anekdoten zu bieten. Die Ossis seien dumm, faul, rechtsradikal und moralisch verdorben, und all das verdanke sich der sozialistischen Indoktrination, von der sich die Ossis innerlich nicht lösen könnten. Es ist niederdrückend, all diesen bestenfalls halbwahren Unsinn noch einmal in geballter Form vor Augen geführt zu bekommen.

Kritik

Leider bleibt Dirk Oschmann bei diesem Befund stehen. Er sagt nicht, welches denn die Lebenslügen des Westens sind. Er sagt fast nichts dazu, wie der Osten denn besser wahrgenommen werden sollte. Warum das so ist, und was zum Westen und zum Osten eigentlich hätte gesagt werden müssen, dazu jetzt mehr.

Kritik – Chaotische Polemik

Dirk Oschmann hat sein Werk als reine Polemik angelegt. Er macht gar keinen Hehl daraus, dass er die Sache einseitig betrachtet, er macht Polemik vielmehr zum Prinzip, sogar explizit mit dem biblischen Satz: „Auge um Auge.“ (S. 194). Das schadet aber der Glaubwürdigkeit des Unterfangens gewaltig, denn wer mit gleicher Münze heimzahlt, kann nicht mehr von sich behaupten, besser zu sein als der andere. Und der Leser ahnt, dass vieles einfach nur übertrieben, schief oder auch ganz falsch ist.

Hinzu kommt, dass Oschmann seine Polemik zuerst nur als Artikel in der FAZ veröffentlicht hatte. Diesen FAZ-Artikel hat er nun zu einem Buch angereichert, in dem er zahlreiche Vorworte und Vorbetrachtungen vorangestellt sowie zahlreiche Nachworte und Nachbetrachtungen nachgeschoben hat. Irgendwie geht der ursprüngliche Artikel in diesen vielen Nach- und Vorbauten etwas unter, und eine Systematik in der Ordnung der vorgebrachten Inhalte ist nicht mehr erkennbar. Das führt dazu, dass dem Leser im Laufe der Lektüre außer der ständigen Polemik wenig im Gedächtnis haften bleibt, weil ihm kein Ordnungsrahmen angeboten wird, anhand dessen er sein Gedächtnis hätte organisieren können.

Kritik – Ein linksgrüner Anywhere verteidigt den Osten?

Dankenswerterweise hat Dirk Oschmann zahlreiche Angaben zu seiner eigenen Biographie, seinen Lebensumständen und seinen Ansichten eingeflochten. Es wird deutlich, dass Dirk Oschmann, obwohl er als einer der wenigen Professoren mit Osthintergrund immer wieder zu diesem Thema befragt wird, eigentlich alles andere als ein typischer Ossi ist.

Dirk Oschmann hat in den USA studiert und lebt heute in Leipzig in der Innenstadt in einer Altbauwohnung und wählt – horribile est dictu – die Grüne Partei (S. 43 f.). Vermutlich besitzt er auch Windrad-Aktien, schickt seine Tochter auf eine teure Privatschule, wo alles ganz buntig ist, und fährt mit dem Lastenfahrrad bei Alnatura zum einkaufen (nein, das steht nicht in diesem Buch, aber dieser Gedanke sei eingeflochten, um zu demonstrieren, wie Polemik funktioniert, oder eben gerade nicht funktioniert). Ganz unverblümt bekennt sich der Autor dazu, ein Anywhere zu sein, er grüßt seine Freunde in der Danksagung als Anywheres, und verkündet das ewig falsche Dogma der Anywheres, dass die Herkunft einen Menschen nicht ausmache (S. 221).

Da staunt der Leser doch: Wie kann jemand, der die Grüne Partei wählt und daran glaubt, dass die Herkunft einen Menschen nicht ausmache, auch nur irgendetwas Kluges über den Westen und den Osten sagen? Denn Westen und Osten sind Herkünfte, und sie prägen uns stark. Darum geht es doch. Das und das Bekenntnis zum Anywhere ist schon sehr radikal. Hier ist Dirk Oschmann nun selbst Repräsentant eines völlig abgehobenen Milieus, eines nur allzu westdeutschen Milieus, dessen soziale Distinktionsmerkmale und Statussymbole er völlig ungeniert einflicht. Wie kann so jemand für den Osten sprechen?

Eine spezifisch linksgrüne Haltung zeigt sich auch bei vielen Polemiken und Kritiken, die Dirk Oschmann vorzubringen hat: So echauffiert er sich z.B. über unsere geliebte deutsche Nationalhymne, die bekanntlich aus der dritten Strophe des Deutschlandliedes besteht, und nur aus dieser, und eine lange, gesamtdeutsche Tradition hat. Aber Oschmann meint, dass die Hymne durch die erste und zweite Strophe „chauvinistisch verseucht“ sei (S. 52). Eine groteske Auffassung, wie man sie von einem westdeutschen Feuilletonisten erwarten würde.

Den Namen „Mitteldeutschland“ für den Raum Thüringen-Sachsen möchte Oschmann ebenfalls nicht akzeptieren, weil dies Polen missfallen könnte, zu dem heute das frühere Ostdeutschland gehört (S. 81). Doch warum sollte man diese historische Bezeichnung nicht beibehalten? Es ist ja bei geographischen Namen recht häufig so, dass sie historisch gewachsen und nicht wörtlich zu nehmen sind. Die Region Franken gehört schon lange nicht mehr zu einem „Frankenreich“ und auch Frankreich ist kein „Reich der Franken“ mehr. Zudem leben in Sachsen überhaupt keine Sachsen, denn der Name „Sachsen“ wurde nur durch die Herrscherfamilie auf dieses Land übertragen, ähnlich wie der Name „Preußen“ auf ganz Brandenburg-Preußen. Wo fängt man da an, wo hört man auf? Es ist kaum vorstellbar, dass die von Oschmann geplante Sprachbereinigung im Osten auf Akzeptanz stoßen würde. Bei manchen Besserwessis schon eher. Aber wollte sich Oschmann nicht für den Osten in die Bresche schlagen?

Auch der Wiederaufbau des Berliner Schlosses anstelle des „Palastes der Republik“ ist ihm ein Greuel (S. 54). Wie wenn das Kaiserreich mit der Diktatur der DDR auf einer Stufe stünde: Oschmann fragt allen Ernstes, ob denn nun dieses Kaiserreich die bessere deutsche Vergangenheit sei, an die es anzuschließen gilt? (S. 55) Selbstverständlich ja! Wie kann er es wagen, diese Frage auch nur zu stellen! An das Kaiserreich nicht anschließen zu wollen, das hieße ja nichts anderes, als dass man die Geschichte überhaupt und als solche abservieren will. Denn Dirk Oschmann wird wohl kaum plausibel machen können, warum man an das Kaiserreich nicht anschließen dürfen soll, an die Metternich-Ära oder das Heilige Römische Reich Deutscher Nation aber doch? Das wäre ja nur albern. Albern, wie es Westdeutsche oft sind, wenn es um die Nation geht.

Oschmann übersieht auch völlig, dass manches westdeutsche Unternehmen, das einst im Osten gegründet worden und wegen des Sozialismus in den Westen geflohen war, nach 1989 soziale Verantwortung bewies und wieder an seinem alten Standort im Osten investierte – doch für Oschmann gibt es von Seiten westdeutscher Unternehmen nur Profitgier und Ausbeutung (S. 114 ff.). Überhaupt sieht Oschmann unsere Gesellschaft heute als eine „pervers profitorientierte Konsum- und Freizeitgesellschaft“ (S. 190). Wie gestört muss die Wahrnehmung der Wirklichkeit sein, um solche maßlosen Sätze zu formulieren? Und wie westdeutsch?

Den regional pay gap zwischen Ost und West möchte Oschmann „endlich“ (!) schließen, genauso wie den sattsam bekannten gender pay gap (S. 116). Dass die Idee, diese Lohnunterschiede „endlich“ – also vollständig – zu schließen, eine radikale und unrealistische Forderung ist, weil es nämlich nicht nur Ungerechtigkeiten, sondern auch legitime und unüberwindbare Gründe für gewisse Lohnunterschiede gibt, scheint Oschmann nicht bewusst zu sein.

Das Lieferkettengesetz, ein weiteres völlig verfehltes Bürokratie-Monstrum aus der Mottenkiste der linksgrünen Utopie, begrüßt Oschmann naiv (S. 115). Hingegen verurteilt Oschmann, dass westliche Unternehmen in Bangladesch investieren (S. 115, 132). Dass er Ländern wie Bangladesch damit die Möglichkeit zur wirtschaftlichen – und sozialen! – Entwicklung abspricht, übersieht Oschmann geflissentlich.

Schließlich findet das ganze Buch hindurch ein ständiges namedropping linker und – oft genug – westdeutscher Autoren statt, von Jürgen Habermas bis Axel Honneth, und ganz abseitig und deshalb umso bezeichnender z.B. Per Leo.

Kritik – Keine Kritik an westdeutschen Lebenslügen

Dirk Oschmann wirft dem Westen eine völlig falsche Perspektive auf den Osten vor, aber in Wahrheit unterlässt Oschmann es vollständig, dem Westen seine eigenen, westdeutschen Lebenslügen vorzuhalten. Dabei hätte er dazu gerade als Germanist eine wunderbare Steilvorlage durch einen westdeutschen Literaten gehabt: Denn im Jahre 1988, nur ein Jahr vor dem Fall der Mauer, publizierte kein geringerer als Martin Walser sein Büchlein „Über Deutschland reden“. Darin formulierte Martin Walser gegen den Zeitgeist der alten BRD den Gedanken, dass er sich nicht mit der deutschen Teilung abfinden könne. Martin Walser hätte von Dirk Oschmann zwingend genannt werden müssen, wenn er hätte glaubwürdig über den Westen sprechen wollen. Er hat es nicht getan.

Denn das ist die zentrale Lebenslüge des Westens: Die Flucht aus der nationalen Identität hinein in eine utopische Überidentität von Europa oder der Welt, verkörpert in einem utopischen Glauben an das Gute in EU und UNO. Der Ungeist der alten BRD, der Ungeist der 1980er, der dann zum vorherrschenden gesamtdeutschen Geist wurde und bis heute ungebrochen scheint, ist der Ungeist der Anywheres, zu denen sich Dirk Oschmann selbst bekennt. Aber kein Mensch kann wirklich ein Anywhere sein, niemand kann seine Herkunft einfach abstreifen (und wer wollte das schon?). Wir alle haben unsere kulturellen Herkünfte und wir brauchen sie auch. Eine Befreundung mit der eigenen Lebensrealität, zu der die Nation ganz selbstverständlich dazu gehört, hat noch niemandem geschadet. (Und daran ändert sich überhaupt nichts, bloß weil ein Rechtsradikaler wie Björn Höcke dasselbe sagt, aber etwas anderes meint.)

Zwar spricht Oschmann das Phänomen, dass sich Westdeutsche gerne als Europäer sehen, kurz an, doch nur und ausschließlich als unzulässigen Versuch, die Schuld des Nationalsozialismus abzustreifen (S. 59). Dass es darüber hinaus auch andere gute, bodenständige, realistische Gründe geben könnte, an einer deutschen Identität festzuhalten, kommt Dirk Oschmann nicht in den Sinn. Dirk Oschmann reproduziert auf diese Weise die unsägliche Fixierung des Nationalgedankens auf den Nationalsozialismus. Deutscher ist man unter dieser Perspektive nur noch, wenn es um den Nationalsozialismus geht, sonst aber tunlichst nicht mehr. (Anders als Höcke muss man allerdings daran festhalten, dass der Holocaust als größter Makel unserer Nationalgeschichte sehr wohl einen bleibenden und besonderen Platz in unserer Erinnerungskultur einnehmen muss.)

Und dann packt Oschmann auch noch die olle Kamelle von den alten Nazis in der alten BRD aus (z.B. S. 21, 136 f.). Es war vielleicht einmal eine westdeutsche Lebenslüge, dass es in der BRD keine alten Nazis gab, doch seit ungefähr 1968 läuft die Lebenslüge andersrum: Dass nämlich die BRD praktisch von alten Nazis gegründet wurde. Oschmann steigt voll auf dieses Thema ein, wenn er sagt, dass Fremdenfeindlichkeit auch im Westen verbreitet wäre (S. 133). Nicht zufällig bringt Oschmann an dieser Stelle auch eine überempfindliche Kritik an Günther Oettinger vor (S. 133). Das ist kein Zufall. Denn bei Günther Oettinger geht es in Wahrheit gar nicht darum, dass er ein paar schräge Äußerungen über schlitzäugige Chinesen gemacht hatte, sondern natürlich darum, dass Günther Oettinger einst zu sagen wagte, dass Hans Filbinger, einer der Mitbegründer der Südwest-CDU, kein Nazi war. Denn damit hatte Oettinger an der Macht der westdeutschen Linken gekratzt, die sie über die öffentliche Meinung haben.

Zum Höhepunkt kommt Oschmanns Blindheit über die Lebenslügen des Westens, wo er den Grund für den Erfolg Angela Merkels in ihren „herausragenden machtpolitischen Fähigkeiten“ sieht (S. 183 f.). Denn nichts könnte falscher sein. Angela Merkel hatte im Grunde nur eine einzige herausragende Fähigkeit, und die ist für unser Thema von höchster Relevanz: Angela Merkel war eine Meisterin darin, sich dem herrschenden westdeutschen juste milieu in Politik und Medien anzupassen. Das Regierungsprinzip von Angela Merkel lautete schlicht: Gehe den Weg des geringsten Widerstandes beim westdeutschen juste milieu aus Politikern, Journalisten und Intellektuellen. Angela Merkel hatte Macht, weil sie diesem Milieu gab, was es wollte. Das Milieu revanchierte sich dafür, indem es Angela Merkel zur Überkanzlerin stilisierte, jede Kritik kleinschrieb, und Merkel auf diese Weise unangreifbar machte. Eine Allianz des Unheils, bei dem das Wohl und der Wille des Volkes gefährlich unter die Räder geriet.

Was hatte man gehofft, als Merkel Kanzlerin wurde: Dass sie endlich so manche westdeutsche Lebenslüge abschneiden würde wie einen alten Zopf. Denn hier kam etwas völlig neues, nämlich eine Frau, noch dazu aus dem Osten. Doch Merkel enttäuschte diese Hoffnungen auf fast schon brutale Weise, indem sie gewissermaßen zur Inkarnation westdeutscher Lebenslügen wurde und den Ungeist der 1980er Jahre bis in die 2020er Jahre hinein konservieren half. Im Windschatten des Kalten Krieges vergaß man sich selbst und die Realität um sich herum, und gab sich Blütenträumen hin. Diese Enttäuschung wurde 2011 von der Autorin Cora Stephan in ihrem Buch „Angela Merkel: Ein Irrtum“ erstmals formuliert. Doch kein Wort davon bei Oschmann.

Kritik – Oschmann folgt westdeutschen Lebenslügen

Warum tut Dirk Oschmann das alles? Die Antwort ist einfach: Weil auch Dirk Oschmann sich, wie Angela Merkel, ganz den Erwartungen eines westdeutschen juste milieu angepasst hat. Er folgt selbst den Lebenslügen der Besserwessis, das ist doch ganz offensichtlich! Wie Dirk Oschmann richtig bemerkt hat, bekommen viele Ossis keine Führungspositionen, weil ihnen der westdeutsche Stallgeruch fehlt. Vielleicht sollte sich Dirk Oschmann in diesem Sinne einmal selbst befragen, warum er es als Ossi zum Professor geschafft hat? Wohl eben deshalb, weil er sich den Erwartungen des westdeutschen juste milieus völlig angepasst hat?

Dirk Oschmann hat keinen Sinn für die deutsche Nation und die deutsche Kultur, sondern für ihn ist Deutschland eher eine Art Verwaltungszone eines utopisch gedachten Weltstaates, oder wenigstens doch EU-Europas. Oschmann möchte, dass sich die Lebensverhältnisse in Ost und West angleichen, ja, aber nur „sozial“. Politisch und kulturhistorisch ist ihm der Osten genauso egal wie der Westen, denn er hat sich schon längst in das Niemandsland der Anywheres verabschiedet. Lokale Kultur ist für ihn vielleicht noch Folklore für Touristen, also Küche und bunte Trachten. Deshalb tun sich die Anywheres mit Multikulti so leicht, weil sie blind dafür sind, dass Kulturen mit wirkmächtigen Weltanschauungen verknüpft sind.

Und so spricht Oschmann auf der letzten Seite seines Büchleins (S. 200), im vorletzten Satz, wo er dann doch noch in radikaler Kürze auf die regionalen Kulturen zu sprechen kommt, nicht von Ländern. Denn Länder sind nicht einfach Regionen und Dialekte. Länder sind politisch bedeutsame weil historisch gewachsene Gegebenheiten, deren Kultur mehr ist als Küche und Trachten. Länder mit ihrer Geschichte und ihren Dialekten sind Identitäten und politische Macht und Nester des Widerstands gegen alle Überstülpungen, die von „oben“ kommen. Der Anywhere Oschmann hat dafür kein Verständnis, denn für ihn kommt das Gute von „oben“, von der EU und der UNO.

Was fehlt – Nation

Bei Dirk Oschmann fehlt jedes positive Nachdenken über Deutschland als Nation. Wie das westdeutsche juste milieu möchte auch Oschmann den Gedanken an eine deutsche Nation am liebsten töten: Deshalb kein Schloss, keine Hymne, keine Geschichte, kein „Mitteldeutschland“ usw. Doch damit tötet er jeden positiven Gedanken an und über sich selbst, bei allen Deutschen, in Ost und West. Damit wird jede Selbstermächtigung untergraben und eine Psychologie der Unterwerfung durch Identitätslosigkeit betrieben.

Oschmann meint, das vereinigte Deutschland hätte eine neue Verfassung gebraucht (S. 52). Was er damit gewiss nicht meint: Eine andere Verfassung. Denn das Entscheidende an einer neuen Verfassung wäre die Debatte darüber gewesen, wie man sich selbst als Nation versteht. Diese Debatte findet bei Oschmann nicht statt. Gar nicht. Deshalb nennt Oschmann als Gründe für eine neue Verfassung auch nur „Demokratietheorie“ und „Symbolik“.

Am Ende sind die Deutschen für Oschmann nur noch die Angestellten in einem Multikulti-Freizeitpark für deutsche Folklore in einem geschichtsvergessenen Disney-Stil (Oktoberfest in Brandenburg, französische Woche bei REWE, Ramadan in der Fußgängerzone), dessen Politik in Brüssel und anderswo von den Anywheres gemacht wird. Wen wundert’s, dass die Leute rebellieren? Man hat ihnen nie eine akzeptable, demokratische Vision von Nation gegeben. Man hat das Thema vollkommen und restlos den Rechtsradikalen überlassen. Und die greifen dankbar zu.

Was fehlt – Preußen

Dirk Oschmann hätte beim Thema Osten ganz zwingend auf den höchst seltsamen Umstand zu sprechen kommen müssen, dass die Länder im Osten vielfach nicht nach historischen Grenzen gebildet worden sind. Das muss doch jedem Betrachter gleich als erstes auffallen! Der aktuelle Zuschnitt der Länder reflektiert die Zerstückelung Preußens durch die Siegermacht Sowjetunion. Von Preußen ist nur noch Brandenburg übrig, mit einem riesigen Loch namens Berlin in der Mitte. Vorpommern gehört heute zu Mecklenburg, was völlig ahistorisch ist. Geradezu grotesk ist, dass der Restzipfel Schlesiens – die „Perle in der Krone Preußens“ – heute ausgerechnet zu Sachsen gehört. Und von einem „großen“ Bundesland namens Sachsen-Anhalt hat man in der ganzen deutschen Geschichte noch nie etwas gehört.

Man stelle sich vor: Ausgerechnet das Bundesland Preußen, ohne dass es Deutschland in seiner heutigen Form gar nicht gäbe, darf nicht existieren. Ob Friedrich der Große oder Immanuel Kant, ob Wilhelm von Humboldt oder Alexander von Humboldt, ob Bismarck oder Gustav Stresemann: Deutschland soll ohne ihr Land auskommen? Ohne preußischen Geist, ohne preußische Rationalität und ihre Beiträge zu Humanismus und Aufklärung? Undenkbar. Deutschland macht ohne Preußen gar kein Bild in der Seele: Hier ist erst der Schlüssel zu allem.

Die Genesung Deutschlands ist ohne die Wiedererrichtung Preußens nicht möglich. Alles, was diesen Schritt blockiert, markiert das Elend Deutschlands: Die irre Idee, man könne sich von der Geschichte verabschieden und zu einer No-Name-Nation werden. Die irre Idee, die ganze deutsche Geschichte wäre ein einziges Präludium zum Holocaust gewesen. Die irre Idee, dass Adolf Hitler der Inbegriff alles Deutschen gewesen wäre, das demzufolge logischerweise zu verfemen und komplett abzuräumen sei. Und last but not least die irre Idee, man könnte sich heute auch vom klassischen Humanismus verabschieden, der gleich im ersten Artikel unserer deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, mit dem humanistischen Schlüsselbegriff der „Würde des Menschen“ festgeschrieben ist, als doppelte Erinnerung daran, was Deutschland groß sein ließ, und was niemals verloren gehen darf – hin zu einer Welt, in der der Mensch nur noch eine beliebige, postmoderne Konstruktion ist, ohne Realismus, ohne Rationalität.

In der Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki finden wir das Wort „Preußen“ immer wieder. Und zwar positiv konnotiert. Insbesondere das preußische humanistische Gymnasium wird gelobt: Doch die Anywheres dieser Welt wollen das alles abräumen. Alles abservieren. Julian Nida-Rümelin hat Recht mit seinem Urteil über die Anywheres: „Ein antikommunitaristischer Kosmopolitismus hat weder politisch noch ethisch eine Zukunft“.

Nach seiner Wiederrichtung als ganz normalem Bundesland (als was denn sonst?), bestehend nur aus den ostdeutschen Landesteilen Preußens, kann Preußen dann noch einmal den Grenzvertrag mit Polen gegenzeichnen. Damit alle zufrieden sind. Dann wird ein Björn Höcke Preußen auch nicht mehr als beliebig formbare Projektionsfläche für seine kruden Ideen missbrauchen können. Und Deutschland kann endlich normal werden.

Was fehlt – Unterdrückte Wessis

Dirk Oschmann ist so fixiert auf das westdeutsche juste milieu, dass er völlig übersieht, dass es auch im Westen normale Menschen gibt. Normale Menschen, die unter den Lebenslügen und Utopien der Anywhere-Besserwessis ebenso leiden wie die Ossis.

Oschmann hätte sich z.B. fragen können, warum der Lokalpatriotismus im Westen so ausgeprägt ist. Oder der Fußballpatriotismus. Oder der Wirtschaftspatriotismus. Die Antwort ist ganz einfach: Es sind Ersatz- und Ausweichhandlungen der Wessis, die ihren Patriotismus nicht ausleben dürfen und deshalb auf diese Gelegenheiten ausweichen. Auch Militärkultur – allein dieses Wort! – und Pflichtbewusstsein ist den Besserwessis ein Greuel, nicht jedoch den Normalwessis.

Dirk Oschmann hätte sich auch unbedingt mit der westdeutschen Kritik am politischen System der BRD auseinandersetzen müssen, um zu verstehen, dass die Ossis mit mancher Kritik nicht allein sind. Hier wäre ganz zentral das Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ des Philosophen Karl Jaspers aus dem Jahr 1966 zu nennen gewesen. Denn hier findet sich alle Kritik am System und an der Parteienoligarchie und dem ganzen Ungeist der BRD aus berufenem Munde formuliert, gültig bis heute. Doch nichts davon, nichts, gar nichts, bei dem Anywhere Oschmann.

Und glaubt Dirk Oschmann etwa, dass die Westdeutschen komplett hinter Angela Merkel und ihrer irren Migrationspolitik standen?! Natürlich nicht! Es war eine rebellische Bürgerversammlung in Hessen, nicht in Sachsen, auf der Walter Lübcke seine unglückselige Rede hielt, in der er u.a. sagte, dass jeder, dem Merkels Migrationspolitik nicht passe, die Freiheit habe, das Land zu verlassen. (Dass er später von Rechtsextremisten kaltblütig ermordet wurde, macht daran nichts besser. Walter Lübcke ist kein Vorbild.) Und Hans-Georg Maaßen, der die Lebenslügen von Merkels Migrationspolitik hinterfragte („Hetzjagden“ in Chemnitz) und deshalb als Präsident des Verfassungsschutzes entlassen wurde, stammt aus NRW. Maaßen erzählt, wie er zu Wolfgang Schäuble ging, um Merkel zu stoppen. Schäuble hätte geantwortet: Dann zerreißt es die CDU. Worauf Maaßen gesagt haben soll: Deutschland ist mir wichtiger als die CDU. Schließlich wollen wir noch Boris Palmer nennen, den grünen Querdenker gegen den Zeitgeist und Oberbürgermeister in Tübingen in Baden-Württemberg.

Ja, Dirk Oschmann erwähnt tatsächlich die Tradition des Querdenkens aus dem deutschen Südwesten! Aber nicht im Sinne einer lobenden Anerkennung dieser Tradition, sondern abqualifizierend, wie es Besserwessis tun, denn er spricht vom deutschen Südwesten als dem „Eldorado für Verschwörungstheoretiker.“ (S. 100)

Was fehlt – Der Osten im Westen

Man hätte auch fragen können, ob nicht manches, was heute als westdeutsch gilt, womöglich gar nicht westdeutsch ist, sondern einfach nur gesamtdeutsch? Nur, dass der Osten diese Eigenschaft in der Zeit der DDR abgelegt hatte? Man könnte z.B. fragen, ob manche Traditionen der preußischen Verwaltung in NRW besser überdauerten als im Osten? Ostdeutsche würden sich sicher sehr viel leichter mit westdeutschen Gepflogenheiten anfreunden können, wenn sie wüssten, dass diese etwas zurückbringen, was einst auch im Osten so war. Die Demokratie als solche gehört ja auch zu diesen Dingen: Demokratie ist nichts westdeutsches, sondern etwas gesamtdeutsches.

Und dann hätte man noch fragen können, ob nicht so mancher Wessi in Wahrheit ein Ossi ist. Denn nicht wenige Ossis endeten nach 1945 im Westen. Eine weitere westdeutsche Lebenslüge lautet, dass sich alle Vertriebenen assimiliert hätten und gewissermaßen „verschwunden“ wären. Doch ist das so? Zweifel sind angebracht. Die Nachkommen der Vertriebenen tragen oft von ihnen selbst unerkannt ein geistiges Erbe in sich. Aber auch die Erfahrung der Vertreibung prägt sie, denn diese wirkt psychisch über Generationen hinweg, wie die Forschung zeigen konnte. Es wäre wert, nach dem Osten im Westen zu suchen: Gab und gibt es Ossis im Westen, die Westdeutschland auf eine Weise geprägt haben, die eher ostdeutsch ist?

In seiner Rede „Die Ehre Preußens“ von 1951 sagte Hans-Joachim Schoeps mit Bezug auf die westdeutsche BRD: „Wichtiger ist der große Bestand an preußischem Ethos und Pflichterfüllung, der in unserem Volke noch lebendig ist und nicht nur von den ostdeutschen Heimatvertriebenen gehütet wird. Wenn diese den nicht in sich hätten, dann stünden wir nämlich angesichts der Un­rechtsordnung in der Besitzgüterverteilung schon seit langem in einer blutigen Sozialrevolution. Ich kann nur sagen: Gott möge geben, daß unsere Bundesregierung diese Kräfte zu nutzen und diese Traditionen zu wahren und zu erneuern versteht.“

Und umgekehrt: Ist womöglich der Osten unvermutet von manchen westdeutschen Traditionen geprägt? Erich Honecker kam bekanntlich aus dem Saarland. Bertolt Brecht aus Bayern. Anna Seghers aus Mainz. Angela Merkel aus Hamburg. Und Karl Marx aus Trier.

Fazit

Dirk Oschmann hat eine notwendige Polemik lanciert, doch gelungen ist sie nicht. Denn Oschmann ist als bekennender Anywhere der falsche Autor für dieses Thema. Deutschland und seine Geschichte, seine Länder und die Nation als ganzes sind für Oschmann nichts, worüber er wirklich gerne reden würde. Und etwas chaotisch ist das Buch noch dazu. Wir Deutschen jedoch lieben die Ordnung.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

Gert Scobel: Weisheit – Über das, was uns fehlt (2008)

Ein abgrundtief törichtes Buch

Der Ansatz von Scobel ist vielversprechend: Ob es hinter den Religionen und Philosophien nicht eine tiefere Dimension der Weisheit gäbe. Doch das Buch enttäuscht fundamental.

Der Leser gerät bei der Lektüre in ein wahres Gewitter von wildesten Assoziationen zu Religion, Philosophie, Wissenschaft, Weisheiten und Plattitüden, die auf eine Art miteinander verquickt, verbunden und verwechselt werden, wie man es sonst nur von pseudo-wissenschaftlichen Publikationen her kennt. Solange etwas nur ähnlich klingt oder ähnlich aussieht wird es in einen Topf geworfen, Konsequenzen werden außer Acht gelassen. War man anfangs noch entschlossen, dem Buch wenigstens wegen seines Ansatzes und wegen der vielen Anregungen einen Gnadenpunkt zu geben, muss man am Ende eines sich steigernden Hexensabbates der Narreteien auf der niedrigsten Bewertung bestehen: So viele Irrtümer, so viel oberflächliches Denken, so viel Nichtverstehen und so viel fehlende Einsicht haben nichts anderes verdient. Dieses Buch kann höchstens als Übung zum Erkennen von Denkfehlern, Denkfallen und Irrtümern herhalten. Da wird die fernöstliche Dualität von Ying und Yang vermengt mit der coincidentia oppositorum von Cusanus, vermengt mit der Subjekt-Objekt-Beziehung von Kant, vermengt mit dem Binärkonzept der digitalen Rechenmaschine. Da wird der „Erste Beweger“ mit dem Hinweis auf spontante Umorganisationen in komplexen Systemen für überflüssig erklärt. Da wird das Gehirn als deterministisches System beschrieben, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Da werden die unhinterfragten Evidenzen menschlichen Denkens mit religiösem Glauben verwechselt. Auch die Himmelsscheibe von Nebra muss für wirre Thesen herhalten.

Eine halbwegs tragfähige Definition von Weisheit sucht man vergebens. Der Anspruch auf S. 9 des Vorwortes zur Taschenbuchausgabe, „Dieses Buch hilft Ihnen dabei, auf eine seriöse, gründliche Art und Weise zu verstehen, was gemeint ist, wenn man … von Weisheit spricht“, wird in keiner Weise eingelöst. Es kristallisiert sich im Laufe der Lektüre heraus, dass der Autor unter Weisheit offenbar vor allem die buddhistische Variante im Auge hat und die Meditation als Weg zur Weisheit ins Zentrum stellt. Es sei dem Autor zugestanden, dass er keine esoterische sondern eine nüchterne Wahrnehmung von Buddhismus pflegen will.

Das ganze Buch über springt der Autor zwischen zwei Grundkonzepten von Weisheit hin und her, ohne zu bemerken, dass sie nicht dasselbe sind. Das eine Konzept ist Weisheit durch Meditation, also vor allem auch durch Nichtdenken. Das andere Konzept ist Weisheit durch Bewältigung von Komplexität (das ohne Denken wohl kaum möglich ist). Es ist immer wieder atemberaubend, wie der Autor von dem Problem der Bewältigung von Komplexität nahtlos zum Thema Meditation übergeht, wie wenn das eine Lösung wäre. Wie wenn sich Komplexität durch Nichtdenken bewältigen ließe. Das scheint offenbar die Auffassung des Autors zu sein, wie wir gleich sehen werden.

Ganz übel mitgespielt wird der westlichen Weisheitstradition, also z.B. Platon oder dem Stoizismus. Diese werden nur selten einmal erwähnt und dann meist schief im Sinne des Autors interpretiert. Wenn es im Vorwort zur Taschenbuchausgabe S. 9 heißt, dass das Buch „auf die üblichen Zitate und Einführungen, beispielsweise der griechischen Philosophie, und somit auf gewisse Wiederholungen verzichtet“, dann ist das praktisch eine Ausrede dafür, dass der Autor ein Gegner der westlichen Weisheitstradition ist. So hart muss man es leider sagen, denn: S. 31 wird der Prozess der Aufklärung kurzerhand mit buddhistischer Erleuchtung gleichgesetzt (keuch!) und zugleich die Errungenschaft der Rationalität damit abgetan, dass „das Spüren eines Sonnenstrahls auf der Haut“ ja mit Rationalität nicht viel zu tun habe …

Dabei antwortet die westliche Weisheitstradition gerade auf das Problem der Bewältigung von Komplexität. Stark verkürzt könnte man die westliche Weisheitstradition so beschreiben: Hier steht die Rationalität im Zentrum als ordnende Kraft, die alle Erkenntnisse (Bücherwissen, Erfahrung, Gefühl, einfach alles) zu einem großen Erkenntnisgebäude zusammensetzt, und dabei Ordnungsmuster erkennt. Man könnte es eine individuelle (nicht kollektive!) Weltanschauung nennen. Auch das Wissen um die Grenzen des Wissens und des Machbaren wird in diese große Ordnung eingewoben, das Unbekannte abgeschätzt und eingehegt. Aus dieser ständig fortgestrickten Gesamtordnung ergibt sich immer mehr Überblick. Ein Überblick, der Gelassenheit verschafft. Man steht buchstäblich über den Dingen. Eine solche Ordnung aufzubauen leitet auch zum richtigen Handeln an: Zum Selberdenken. Zu Denkstrategien und Denkregeln (Dialektik, Heuristik, in Gegenseite versetzen, Logik, Wissenschaftstheorie). Zum Wissen und Erfahrungen sammeln. Zum praktischen Leben, gegen intellektuelle Abgehobenheit. Zur Annahme der Realität wie sie nun einmal ist. Zu einem geregelten Leben, in dem Fühlen, Mitfühlen, Triebe, Mühe und Entspannung in Balance sind. Glück kommt aus der Gelassenheit des geordneten Überblicks und dem geordneten Leben; besondere Glücksmomente sind Fortschritte in der Ordnung, wenn wieder ein Zusammenhang neu oder besser erkannt wurde, wenn wieder ein Puzzleteil richtig ins Gesamtbild eingesetzt werden konnte. Der stoische Weise ist das klassische Beispiel für westliche Weisheit.

Aber auch viele andere, nicht-westliche Weisheitskonzepte kommen in diesem Buch unter die Räder, sie werden von vornherein gar nicht systematisch erfasst. Denn viele von ihnen ähneln dem westlichen Konzept von Weisheit, so z.B. Konfuzius. Der „westliche“ Weg heißt ja nur deshalb „westlich“, weil er im Westen als erstes und am konsequentesten beschritten wurde, namentlich im alten Athen, dem Urbild aller vernünftigen und freien Gesellschaften. Aber eigentlich ist es ein universaler Ansatz, der für alle Menschen der beste Weg ist. Nur unweise Zyniker würden einwenden, dass dies die Weltherrschaft der Micky Maus bedeuten würde; doch vom Christentum würde auch keiner behaupten, dass es ihm geschadet hätte, durch die klärende Phase der Aufklärung hindurch gegangen zu sein, also kann es anderen Kulturen ebensowenig schaden, sondern im Gegenteil nur nützen.

Um eine Klärung des Verhältnisses von Religion und Weisheit drückt sich der Autor konsequent. Generell erweckt er den Eindruck, Religion und Weisheit gingen konform. Dass aber gerade westliche Weisheit ganz maßgeblich mit der Hinterfragung von Religion, z.B. des Buddhismus, zu tun hat, blendet er aus. Weisheit wird zudem als eine tiefere Dimension hinter den Religionen gedeutet. Dass aber Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen oft eine identitäre Einheit bilden, übersieht er. Die Frage, inwieweit Weisheit eine elitäre Angelegenheit ist, während für die Masse eine Religion notwendig bleibt, übergeht der Autor. Einzig bei seiner Kritik am Weltethos von Hans Küng liegt der Autor dann doch einmal richtig: Einerseits erkennt er darin zurecht den Versuch, die Vernunftreligion Kants zu verwirklichen; andererseits fällt ihm bei den Religionen auf, was ihm bei den Weisheitskonzepten verborgen bleibt: Dass sie nämlich nicht kompatibel sind.

Der Autor scheint ein Opfer linksliberalen Denkens zu sein, das dem Zeitgeist verhaftet ist. Linksliberales, dekadentes Denken lässt sich an vielen Punkten dieses Werkes belegen. So irritiert zunächst, dass Weisheit mit Werterelativismus und sozialer Kompetenz in Verbindung gebracht wird. Doch hat man sich einen weisen Menschen nicht bislang eher als einen prinzipientreuen Menschen gedacht, der mit der Gedankenlosigkeit seiner Mitmenschen eher Schwierigkeiten hat? Auch der typisch linke Alarmismus, mit dem die Kultivierung der Weisheit zu einer Überlebensfrage der Menschheit hochstilisiert wird, will wenig weise erscheinen.

Die Abneigung gegen die eigene Kultur, gegen das westliche Weisheitskonzept, fügt sich ebenso gut in das Gesamtbild linksliberalen Denkens wie das völlige Verkennen des Wesens anderer Kulturen, die romantisch verklärt werden. Dass Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen nicht so getrennt werden können, wie der Autor meint, erwähnten wir schon. Hinzu kommt eine schwärmerische Verklärung der Aristoteles-Rezeption in der islamischen Welt mit Averroes im Kalifat von Cordoba in Andalusien als Höhepunkt, das natürlich als ein Hort von Toleranz und Weltoffenheit beschrieben wird; wer es wissen will, weiß, dass es so nicht war. Insbesondere die Ideen des Averroes sind im islamischen Raum leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, es wäre zu schön gewesen. Hinzu kommt der Selbstwiderspruch, dass Aristoteles natürlich für die westliche, rationale Weisheitstradition steht, für die der Autor offenbar plötzlich doch etwas übrig hat, wenn sie sich im islamischen Raum entfaltet, und Europa seine damalige Ignoranz unter die Nase gerieben werden kann. Der Gipfel ist dann die Behauptung des Autors, die schöne Geschichte von Andalusien würde heute gerne übergangen – in Wahrheit kommt uns dieses Märchen aus 1001 Nacht schon zu den Ohren heraus!

Wie gesehen hat der Autor auch kein Problem damit, das Gehirn für ein deterministisches Organ zu halten; dass er damit den Weg des Materialismus beschreitet und jeglicher Religiosität und Metaphysik den Boden unter den Füßen entzieht, fällt ihm nicht als Problem auf. Das Buch bewegt sich völlig auf der Schiene eines oberflächlichen Zeitgeistes. Die Zeitgeistigkeit wird noch unterstrichen durch häufig eingestreute politsche Seitenhiebe, die alle in eine naive ökopaxe und linksliberale Richtung tendieren. Immer wieder zitierte Philosophen sind Heidegger und Habermas.

Oberflächliche Zeitgeistigkeit könnte einen weiteren Grund für die Ablehnung der westlichen Weisheitstradition liefern: Diese macht nämlich Mühe und Arbeit. Es gibt hier keinen „Königsweg“, also keine Abkürzung zur Weisheit. Weil nur wenige den mühevollen Weg des Ordnens gehen, und jeder verschieden weit auf dem Weg voran kommt, kann westliche Weisheit auch zu Kränkungen bei denen führen, die erkennen müssen, dass sie nicht weit gekommen sind. Meditation hingegen verspricht Weisheit gerade aus dem Nichtdenken, aus dem Abschalten, aus „Präsenz“ und „Achtsamkeit“. Das erscheint vergleichsweise einfach, und das ist wohl auch einer der Gründe, warum Meditation so in Mode ist. Meditation könnte als psychologisch nützliche Technik in das große Puzzle der westlichen Weisheitstradition integriert werden, aber ins Zentrum könnte sie dort niemals rücken.

In diesem Buch erfährt man wenig über Weisheit, aber viel über die Weltanschauung des Autors: Diese ist ungeordnet, schwärmerisch, flatterhaft und haltlos, und damit zutiefst unweise. Immerhin gibt er selbst zu, kein Weiser zu sein. Hätte er dann nicht besser über Weisheit geschwiegen?

Buchempfehlungen für alle, die an ihrer Weisheit arbeiten (!) wollen:

  • Platon, Die Apologie des Sokrates.
  • Cicero, Gespräche in Tusculum.
  • Edith Hamilton, The Greek Way.
  • Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (Kulturphilosophie Teil I und II).
  • Neil Postman, Die zweite Aufklärung.
  • Peter Prange, Die Philosophin.
  • Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon.
  • Walter Nutz: Vom Mythos der Freiheit.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Geschrieben September 2011)

Michel Houellebecq: Unterwerfung (2015)

Linksliberale Sinnentleertheit wird „demokratische“ Islamisierung akzeptieren

Houllebecq ist ein Meister des zynischen Realismus. Der Held der Geschichte ist ein politisch unbedarfter linksliberaler Literaturwissenschaftler ohne Sinn und Ziel im Leben, außer Fressen und Ficken. Auch seine eigene Literaturwissenschaft gibt ihm keinen Sinn. Als Single kennt er kein Familienglück, sondern lebt ein äußert reduziertes Leben aus Mikrowelle und Youporn. Hin und wieder angelt er sich eine seiner Studentinnen oder bestellt sich den Escort-Service.

Parallel dazu wird beschrieben, wie die politische Linke aus Angst davor, fremdenfeindlich zu wirken, mit den mittlerweile als Partei organisierten Islamisten paktiert. Auf diese Weise kommt ein traditionalistischer, verfassungsfeindlicher Islam an die Macht, und beginnt das Land Stück für Stück umzubauen. Zuerst sind die Bildungseinrichtungen dran. Alles läuft ohne Härten ab, jeder wird mit Geldern aus Saudi-Arabien fürstlich bezahlt oder erhält ebenso fürstliche Vorruhestandsbezüge. Die identitäre Bewegung startet einen Bürgerkrieg, es gibt einige Tote, doch wird sie damit keinen Erfolg haben.

Während auf der großen politischen Bühne das Dogma der Fremdenfreundlichkeit jeden Widerstand gegen die Islamisierung lähmt, sind die kleinen Akteure gezwungen, im vorgegebenen politischen Rahmen eine Entscheidung zu treffen, um sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Viele treten auch zum Islam über, weil sie persönliche Vorteile davon haben: Saudische Geldgeber finanzieren Wohnen und üppige Gehälter an islamisierten Unis, zudem werden den alternden linksliberalen Professoren junge Studentinnen als Ehefrauen vermittelt, die sie sexuell und sozial versorgen.

Überhaupt zeigt sich die Widerstandskraft linksliberal denkender Menschen gegen einen philosophisch argumentierenden Islam als erstaunlich gering. Denn linksliberale Menschen haben heute kein Weltbild mehr, von dem sie überzeugt sind, und auch kein Ethos, für das sie Opfer bringen würden – heutige Linke leben nach einem sehr primitiven Weltbild: Links ist, was Fressen und Ficken garantiert.

Das Buch ist literarisch kein Hit, aber sein zynischer Realismus ist äußerst treffend und eine Warnung: Die politische Linke ist tatsächlich auf dem Weg, über ihrer Fremdenfreundlichkeit und ihre platte politische Ideologie Demokratie und Menschenrechte zu verraten. Der traditionalistische, verfassungsfeindliche Islam ist tatsächlich auf dem Weg, nicht durch Gewalt, sondern durch geistige Eroberung und durch den Marsch durch die Institutionen Positionen zu erobern, und so unsere freiheitliche, säkulare Gesellschaft schrittweise auszuhöhlen. Noch geschieht dies im Kleinen, doch das Schweigen von Medien und „aufgeklärten“ Politikern ist schon heute oft erschreckend. Und es nimmt zu. Schon bald wird es Vorteile bringen, Muslim zu sein, so wie es in Bayern Vorteile bringt, in der CSU zu sein.

Der Hauptgrund für diese Fehlentwicklung ist die bildungslose, satte Sinnentleertheit der linksliberalen Menschen, die nichts mehr wollen, nichts mehr erstreben, und sich für nichts mehr zu schade sind.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon Mai 2015 in einer zensierten Fassung; diese ist inzwischen verschwunden.)

Ahmad Mansour: Generation Allah – Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen (2015)

Erneuter Weckruf: Mut zur Wahrheit gegen das Establishment

Nach dem Buch „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates aus dem Jahr 2007 ist „Generation Allah“ von Ahmad Mansour die zweite große Mahnung gegen die ideologisch begründeten Fehlentwicklungen in der Integrationspolitik. Wieder wagt ein Migrant den Widerspruch. Und wieder droht der Weckruf im Sande zu verlaufen.

Inhalt

Ahmad Mansour hebt das Thema Islam prominent ins Rampenlicht als einen zentralen Faktor bei der antidemokratischen Sozialisierung junger Menschen in unserem Land.

Ahmad Mansour erklärt schonungslos, dass nicht nur der islamistische Islam, der zu Gewalt und Terror aufruft, ein Problem ist, sondern schon der „normale“ traditionalistische Mainstream-Islam. Dieser traditionalistische Islam

  • hält die Gläubigen in einer inneren Verklemmtheit, so dass sich keine aufgeklärte Persönlichkeit entwickeln kann;
  • unterwandert durch seine Ansprüche und seine Organisationen die Gesellschaft, z.B. auf Kosten der Gleichberechtigung von Mann und Frau;
  • hat keine Brandmauer zum Islamismus, sondern geht gleitend in den Islamismus über.

Ahmad Mansour erklärt kompromisslos, dass nicht „der Islam“ als ganzes zu Deutschland gehören kann, sondern nur jene Formen von Islam, die sich zum Grundgesetz bekennen. Als Beispiel nennt er die Theologie von Mouhanad Khorchide. Kein einziger der traditionalistischen Moscheeverbände, die die deutschen Moscheen betreiben, wird von Ahmad Mansour als akzeptabel genannt. Das ist sehr konsequent!

Ahmad Mansour beschwert sich über die Politik, die lieber politisch korrekt bleibt und sinnlose symbolische Aktionen und Projekte finanziert. Das Vorgehen der Integrationsindustrie ist oft sinnlos

  • denn der Kern des Problems wird politisch korrekt ignoriert: Der Islam;
  • denn manche Sozialarbeiter sind selbst traditionalistische Muslime, so dass der Bock zum Gärtner gemacht wird;
  • denn einige Integrationsprojekte existieren nur auf dem Papier, und verschaffen der Integrationsindustrie manchmal auf fast schon mafiöse Weise Arbeitsplätze und Geld.

Diese Analyse ist sehr mutig.

Ahmad Mansour klagt die Politik an, dass sie aufgrund von ängstlicher politischer Korrektheit systematisch wegsieht und Nebelkerzen wirft und lieber Scheinprojekte finanziert, Hochglanzbroschüren produziert und auf Mahnwachen geht, als den Kern der Sache in den Blick zu nehmen. Ahmad Mansour fordert, dass die Politik endlich für ehrliche Statistiken sorgen muss, die die Probleme nicht verschleiern, sondern eine präzise Analyse zulassen.

Ahmad Mansour fordert die komplette Umkrempelung von Lehrplänen und Lehrerausbildung. Lehrer müssen befähigt werden, mit antidemokratischen jungen Muslimen umzugehen und ihnen Brücken zurück zu einer demokratischen Gesinnung zu bauen. Lehrpläne müssen Biographie-Arbeit mit den Schülern enthalten und aktuelle politische Geschehnisse, die Muslime erregen, aufgreifen. Ganz wichtig ist Elternarbeit: Nur wer die Eltern erreicht, erreicht auch die Kinder.

Es müssen gezielt Vorbilder gelungener Integration herausgestellt werden. Im Internet muss massiv mit gefährdeten Jugendlichen in ihrer Sprache kommuniziert werden. Jeder migrantische Jugendliche muss als Deutscher ernst genommen werden. Das Grundgesetz muss eingefordert werden, Fehlverhalten muss Sanktionen nach sich ziehen.

Ganz wichtig ist Ahmad Mansour eine Reform des Islams. Ahmad Mansour will keinen Islamunterricht unter der Führung der traditionalistischen Islamverbände, wie das unsere Politiker zur Zeit anstreben. Statt dessen will er einen Religionsunterricht für alle Kinder, in dem Grundwissen über alle Religionen und Weltanschauungen vermittelt wird, auch über ein modernes Verständnis von Islam.

Kritik

Ahmad Mansour schweigt zu der Frage, ob sein Ansatz überhaupt flächendeckend umsetzbar ist, und was uns das finanziell und kulturell kosten würde. Wie er selbst sehr eindrücklich beschreibt, finden sich die Probleme überall in Deutschland: Es sind hunderttausende junger Menschen. Ist es realistisch, zehntausende von Ahmad Mansours einzustellen und auszubilden, zehntausende von Lehrern zu schulen, und bewährte Lehrpläne für die Prävention islamistischer Gewalt umzubauen? Und das in kürzester Zeit? Und selbst wenn es möglich wäre und wir das täten: Geht das böse Spiel dann nicht in jeder Generation wieder von vorne los? – Die Frage nach der Grenze zwischen Machbarkeit und Utopie ist eine harte Frage, weil es um Schicksale geht. Sie muss aber gestellt werden.

Ahmad Mansours Ansatz wird dort einen dauerhaften Erfolg haben, wo Muslime noch eine kleine Minderheit sind. Aber dort, wo es nicht mehr genügend Nichtmuslime gibt, in die sich die muslimischen Jugendlichen integrieren können, wird man Erfolge nur im Einzelfall erzielen können, ohne die ideologisch prekäre Lage dauerhaft entschärfen zu können. Deshalb müssen die einschlägigen Milieus durch verschiedenste Maßnahmen aufgelöst werden. Die Zahlen der Migranten in Deutschland müssen sinken, z.B. durch folgende Maßnahmen:

  • Beenden der Multikulti-Rhetorik und Formulierung der klaren Erwartungshaltung an alle Migranten, entweder (transkulturell) Deutsche zu werden, oder zu gehen.
  • Kein weiterer Zuzug von traditionalistisch orientierten Menschen. Das gilt nicht nur für Muslime.
  • Städtebauliche Auflösung von Problemvierteln. Evtl. „bussing“ von Schulkindern aus Problemvierteln an andere Schulen.
  • Rückkehr-Programme für integrationsunwillige Menschen in ihre Heimatländer, mit sanftem Druck (Kürzung von Sozialleistungen) und Anreizen (Rückkehrprämien).
  • Keine Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft qua Geburt in Deutschland. Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft in Problemfällen. Zwangsweise Rückführung in Heimatländer in Problemfällen. Man wird Deutscher nicht durch ein Stück Papier in der Tasche. Ohne eine innere Einstellung hat eine Staatsbürgerschaft keinen Sinn. Danach muss sie verliehen werden. Danach muss sie auch wieder aberkannt werden. Und zwar gerade deshalb, weil Deutschsein nichts genetisch Angeborenes ist, sondern etwas kulturell Anerzogenes bzw. Erlerntes.

Können wir den Islam reformieren? Grundsätzlich ja. Es gibt tatsächlich einige wenige echte Reformer. Wir können und sollten Reformbemühungen im Islam unterstützen und gleichzeitig Traditionalisten zurückdrängen. Aber realistisch betrachtet wird ein Reformislam auf absehbare Zeit einer Minderheit vorbehalten bleiben. Diese Minderheit verdient Anerkennung und Unterstützung, aber an der Existenz einer Mehrheit von traditionalistisch orientierten Muslimen wird das so schnell nichts ändern. Reformislam kann in der Gegenwart nur eine Teillösung des Gesamtproblems sein, und ist vor allem eine Vision für eine spätere Zeit.

Ahmad Mansour kritisiert die politische Korrektheit scharf, stößt aber nicht zum Kern des Problems vor: Es ist die tiefsitzende linke Ideologie der deutschen Politik-Eliten, die sinnvolle Integrationsmaßnahmen verhindert:

  • Eine deutsche Identität wird kaum verhohlen abgelehnt.
  • Es gibt eine Hypertoleranz gegenüber allem Nichtdeutschen, einfach nur weil es nicht deutsch ist.
  • Konservativismus wird mit Traditionalismus in einen Topf geworfen. Ratzinger gilt z.B. als genauso schlimm wie islamische Traditionalisten. Ganz entsprechend ist in der Politik jeder Konservative automatisch „rechtsradikal“.

Wie Seyran Ates scheitert Ahmad Mansour in seiner Analyse an zwei Punkten:

  • Mansour will ein Happy-End für ausnahmslos alle Migranten in Deutschland erreichen: Das ist spätestens mit 2015 utopisch geworden.
  • Mansours eigene Linksliberalität hindert ihn, die linken Lebenslügen der Polit-Eliten der BRD zu durchschauen. Teilweise hängt Ahmad Mansour selbst diesen linken Lebenslügen an.

Diese linksliberale Selbstblockade von Ahmad Mansour ist an vielen Stellen erkennbar:

  • Erkennbar daran, dass Ahmad Mansour die jungen Menschen für die Partizipation an der Demokratie der BRD begeistern möchte. Doch allzu begeisternd ist die Demokratie in der BRD leider nicht: Eine „Parteienoligarchie“ (Karl Jaspers) entmündigt das Volk, es herrscht weithin eine wohlbegründete Politikverdrossenheit.
  • Erkennbar daran, dass Ahmad Mansour an keiner Stelle seines Buches den Gedanken formuliert, dass das Fehlen eines normalen, maßvollen Nationalbewusstseins ein ganz wichtiges Integrationshindernis ist! Eine Integration ohne eine positive Identifikation mit dem Aufnahmeland ist ein Ding der Unmöglichkeit.
  • Erkennbar daran, dass Ahmad Mansour nur die Einhaltung der Verfassung und keine weitergehende Aneignung der Aufnahmekultur einfordert. Doch nur eine (transkulturelle) Aneignung der Aufnahmekultur, die Priorität vor der Herkunftskultur haben muss, führt zu echter Integration. Eine Multikulturalität, die die Aneignung der Aufnahmekultur vernachlässigt und duldet, dass die Herkunftskultur prioritär vor der Aufnahmekultur gelebt wird, verhindert Integration.
  • Erkennbar daran, dass Mansour alle Migranten als Deutsche akzeptieren möchte: Liebend gerne, aber gegen den erklärten Willen mancher Migranten ist das wenig sinnvoll. Mehr als anbieten kann man es nicht.
  • Erkennbar daran, dass Ahmad Mansour an keiner Stelle den Gedanken formuliert, dass ein Reformislam, der für traditionalistisch aufgewachsene Muslime attraktiv sein soll, natürlich nur ein konservativer (!) Islam sein kann. Denn man kann nicht von einem vormodernen Traditionalismus ohne Zwischenstufe direkt zu einer progressiven Einstellung springen. Eine lesbische Imamin wie beim Liberal-islamischen Bund LIB dürfte eher abschrecken. Nur ein moderner Reform-Konservativismus, wie er vergleichsweise von der katholischen Kirche (Ratzinger) verkörpert wird, kann attraktiv sein: Also z.B. ein klares Ja zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, aber mit der Ausnahme, dass im kultischen Bereich die Tradition gilt, und nur Männer Imame sein können. Merke: Man kann vom Islam nicht mehr verlangen als von der katholischen Kirche (aber auch nicht weniger).

Ahmad Mansour ist in der Gefahr, zum nützlichen Idioten für das Establishment in Politik und Medien zu werden: Immer wenn es Probleme gibt, lädt man ihn in Talk-Shows ein und erweckt dadurch den Eindruck, es würde an Lösungen gearbeitet. Das hilft den Etabllierten, die Wähler zu beruhigen. Doch längst haben sie einen Pakt mit den traditionalistischen Islamverbänden geschlossen. Ahmad Mansour wehrt sich sichtlich gegen eine solche Vereinnahmung.

Fazit

Wie schon Seyran Ates mit ihrem „Multikulti-Irrtum“ von 2007 hat nun auch Ahmad Mansour eine eindrückliche Warnung ausgesprochen. Ahmad Mansours Schelte an Politikern und Integrationsindustrie lehnt sich weit aus dem Fenster und wird wie bei Seyran Ates dazu führen, dass seine Warnungen von den Etablierten in den Wind geschrieben werden. Ohne die Formierung neuer politischer Kräfte, die den Etablierten Druck zu machen vermögen, werden die Ideen von Ahmad Mansour nicht zum Zuge kommen können. Ahmad Mansour ist selbst allerdings noch nicht soweit, dies zu begreifen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. März 2016 unter dem Titel: „Mut zur Wahrheit“: Ahmad Mansour auf AfD-Kurs. Weil die AfD sich rechtsradikal entwickelt hatte, wurde die Rezension bald danach vom Autor gelöscht. Für die Wiederveröffentlichung 2024 wurde die Rezension aus demselben Grund leicht modifiziert.

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben (1999)

Ein sehr lehrreiches Buch und allein schon deshalb ein gutes Buch!

Dieses Buch ist für den aufmerksamen Leser in vielerlei Hinsicht lehrreich: Man erfährt etwas über deutsche Geschichte, über den linksliberalen Zeitgeist der BRD, und nicht zuletzt erhält man auch zahlreiche Anregungen für die eigene Lektüre.

Was die deutsche Geschichte anbetrifft, fallen zwei Dinge auf: MRR lobt immer wieder das „preußische Gymnasium“ und dessen humanistischen Geist. Negative Assoziationen werden hingegen mit dem Wort „deutsch“ verknüpft. Das ist schon bemerkenswert. – Was den Holocaust anbetrifft, so liest man hier (wie oft auch anderswo), dass sich quasi bis zu allerletzt niemand vorstellen konnte, auch unter Juden nicht, dass Hitler die Juden nicht nur schikanieren und vertreiben, sondern einfach massenhaft töten würde. Das wird von MRR mehrfach betont.

Was den linksliberalen Zeitgeist anbelangt, so war MRR natürlich ein Teil davon. Aus den Ausführungen von MRR kann man Dinge entnehmen, die die negativen Seiten dieser Szene betreffen, also die Charakterschwächen, die Seilschaften und die Machtspiele um die Meinungshoheit. Man erkennt, dass die Generation von MRR durch den Nationalsozialismus so verschreckt war, dass sie in ihrem Trauma offenbar zu pauschal alles abwehrte, was nicht links war. Es war also keinesfalls böse Absicht, sondern ein verständliches Trauma, das sie leitete und ihre Sensibilität störte.

Natürlich war es gut, dass es MRR gab. Ganz so simpel linksliberal wie manch anderer war er nämlich auch gar nicht. Für MRR stand es außer Frage, dass es eine erhaltenswerte deutsche Kultur gibt. Schließlich hatte er sein Leben der Aufgabe gewidmet, Werbung für die deutsche Literatur zu machen, wie er selbst sagt. Das eigentliche Problem war eher, dass es keinen liberalkonservativen Gegenspieler zu MRR gab, sondern nur MRR allein auf weiter Flur. Dann hätte die Balance gestimmt, und MRR wäre erst dann richtig zu Höchstleistungen herausgefordert gewesen. Für dieses Fehlen eines Gegenspielers kann man aber nicht MRR verantwortlich machen. MRR hat seinen Part gut gespielt, und er hat viel Gutes bewirkt.

Was schließlich die zahllosen Lektüre-Anregungen in diesem Buch anbetrifft: Hier findet wirklich jeder was. Nur zu! Übrigens gibt es bei Wikipedia eine Liste aller Sendungen des literarischen Quartetts, mit allen Teilnehmern und den dort besprochenen Büchern, und alle diese Sendungen findet man bei youtube: Auf geht’s!

Fazit: Ein Top-Buch. Kaufen. Lesen. In Kultur und Intellektualität eintauchen. Aber nicht nur mit MRR, bitte *schmunzel*

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2018)

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher (2014)

Sehr persönlicher Einblick in jüngere jüdische Geistesgeschichte

Dieses Buch erzählt die Geschichte von Chimen Abramsky. „Chimen“ ist dabei eine verballhornte Schreibung von Shimon. Er wurde geboren in Russland, wo jüdische Kultur und Gelehrsamkeit jahrhundertelang im Ansiedlungsrayon blühte, bis Pogrome und Holocaust dem ein Ende bereiteten. Er war Sohn eines international bedeutenden jüdischen Gelehrten, dessen Familie aus Russland nach London floh und an dessen Beerdigung in Israel zehntausende orthodoxer Juden teilnahmen. In London heiratete Chimen in eine jüdische Buchhandlung ein, und wurde aus Angst vor dem Nationalsozialismus Kommunist, ja sogar Stalinist. Später bekehrte er sich zu einer liberaleren Weltsicht und war mit Isaiah Berlin befreundet.

Chimen Abramsky baute in seinem Privathaus im Hillway 5 in London eine gewaltige Sammlung von Manuskripten und Büchern zu den Themen Sozialismus und Judentum auf. Chimen war ein weltweit anerkannter Experte für alte Schriften und Drucke, wurde zum Ratgeber für Sotheby’s, und schließlich Hochschulprofessor, ohne je selbst studiert zu haben. In seinem Haus trafen sich ohne Unterlass Intellektuelle, Künstler und Gelehrte, immer gut bewirtet von seiner Ehefrau Mimi.

Erzählt wird uns dies alles von einem Enkel von Chimen Abramsky. Wir dürfen auf diese Weise teilhaben an einem sehr persönlichen und erhellenden Blick auf jüdische Schicksale und jüdisches Denken (und Umdenken) im 20. Jahrhundert. Es ist bedenkenswert, wenn der Autor die Gelehrsamkeit des (Ex-)Kommunisten Chimen Abramsky mit der Gelehrsamkeit der jüdischen Religionsgelehrten aller Jahrhunderte vergleicht. Oder bei der Bewirtung der zahllosen Gäste im Hillway durch dessen Ehefrau Mimi an die Salons jüdischer intellektueller Damen im 19. Jahrhundert denkt. Es ist interessant zu sehen, wie im Hillway jüdische Speisevorschriften u.a. religiöse Rituale beachtet wurden, obwohl Chimen und Mimi gar nicht religiös waren. Nach seinem Abfall vom Kommunismus findet Chimen nicht mehr zu einer geschlossenen Weltanschauung zurück, und bleibt ein Wanderer zwischen den Welten. Eine Tendenz zu Spinozas Pantheismus war erkennbar.

Chimen scheint es mit dem Sammeln von Büchern teils übertrieben zu haben. Fotos zeigen das Haus in einem Zustand, der an das Phänomen des „Messie“ erinnert. Bezeichnend ist auch, dass Chimen trotz seines anerkannten Wissens praktisch nicht in der Lage war, sein Wissen zu ordnen und in Buchform zu bringen. Chimen scheint eine sehr assoziative, ungeordnete und sprunghafte Geistesorganisation gehabt zu haben, also ein Mensch, der in vielem nicht rational war, und Rationalität vielfach auch gar nicht anstrebte, sondern – vielleicht – lieber träumte.

Auch die Themen Krankheit und Tod werden bearbeitet. Gerade in diesen Passagen ist es ein sehr persönliches Buch.

Leider ist es sehr journalistisch geschrieben. Manchmal ist die Sprache flapsig und unangemessen. Leider ist die Darlegung auch sehr unsystematisch und assoziativ. Man findet zu ein und demselben Thema immer wieder ein paar Brocken hie und da verstreut im Buch, wo man sich eine systematische Darstellung gewünscht hätte. Vor allem am Anfang des Buches stört das sehr. Unpassend ist auch die Kritik des Autors an der geheimdienstlichen Überwachung von Chimen Abramsky im nachgetragenen Vorwort. Immerhin war Chimen damals ein in der Wolle gefärbter Stalinist und ein intellektuell einflussreiches Mitglied der kommunistischen Partei Großbritanniens mitten im Kalten Krieg!

Das Nachwort von Philipp Blom zu Bibliotheken von Exilanten ist zunächst bedenkenswert, dann aber einfach nur unakzeptabel: Dass ein direkter Weg von Kant zu den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts führt, ist Unsinn.

Fazit

Mit etwas Toleranz für die Schwächen des Buches ist es eine sehr, sehr lesenswerte und bereichernde Lektüre.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Mai 2018)

Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders – Eine Schulgeschichte (1980)

Der Sohn eines Nazis – Mörder des Klassischen Humanismus

Die kurze Erzählung „Der Vater eines Mörders“ von Alfred Andersch ist mitsamt ihrem Nachwort zu einer Ikone linksliberaler Kulturkritik, zu einem literarischen Kronzeugentext gegen den klassischen Humanismus geworden. Unter dem klassischen Humanismus, der in der Erzählung immer nur kurz als Humanismus angesprochen wird, sei hier jener Humanismus verstanden, der aus der Beschäftigung mit den Texten und Sprachen der griechisch-römischen Antike entspringt. Er ist die hauptsächliche Grundlage unserer westlichen Kultur.

Zunächst handelt die autobiographische Skizze einfach nur davon, wie der Schulrektor Himmler, der Vater des späteren Reichsführers SS Heinrich Himmler, zwei Schüler in einer Griechisch-Stunde vor versammelter Klasse auf autoritäre Weise demütigt und schließlich des Gymnasiums verweist. Einer davon war Alfred Andersch. Wie die Erzählung zeigt, beschränkt sich der Humanismus von Vater Himmler offenbar darauf, auf der griechischen Grammatik herumzureiten. Andersch nennt ihn eine „alte, abgespielte und verkratzte Sokrates-Platte“, doch das ist schon zuviel gesagt, denn Vater Himmler äußert sich in diesem Buch ausschließlich zu griechischer Grammatik und Lautlehre, mit keinem Wort aber zu den Gedanken des Sokrates. Andersch berichtet, dass es kein Wunder sei, dass sich der Sohn Heinrich Himmler von diesem Vater abgewendet und einer anderen weltanschaulichen Orientierung zugewendet hatte. Am Ende erfährt man, dass Schulrektor Himmler Alfred Andersch vermutlich gerade deshalb von der Schule verwies, weil der Vater von Andersch mit dem abtrünnigen Sohn von Himmler politisch verbunden war.

Soweit könnte diese Erzählung ein hilfreiches Lehrstück über den autoritären Charakter und über Väter und Söhne sein. Doch dabei bleibt das Buch leider nicht stehen. Im Nachwort holt Alfred Andersch zum Schlag gegen den klassischen Humanismus aus, indem er auf die Feststellung, dass Heinrich Himmler „in einer Familie aus altem, humanistisch fein gebildetem Bürgertum“ aufgewachsen ist, die vielzitierte, anklagende Frage folgen lässt:

„Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“

Mit diesen Worten klagt Andersch den Humanismus nicht nur an, kein Schutz vor der Verirrung des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Es ist mehr: Andersch unterstellt auf subtile Weise eine direkte Verbindungslinie vom klassischen Humanismus zum Nationalsozialismus. Dies geschieht auf folgende Weise: Die Feststellung, dass Heinrich Himmler in einem humanistischen Haus aufgewachsen sei, und die anschließende Frage, ob Humanismus denn vor gar nichts schützt, impliziert unausgesprochen, dass Heinrich Himmler ebenfalls ein Humanist gewesen sei, und trotz (oder vielleicht gerade wegen?) seines Humanismus zum Nationalsozialisten wurde. Denn die Frage nach dem Schutz durch den Humanismus stellt sich natürlich nur solange, solange der Mensch sich als Humanist versteht. Diese Passage ist zu einem Kronzeugen geworden für die Anklage an den klassischen Humanismus, dass er gewissermaßen eine Propädeutik des Nationalsozialismus gewesen sei, eine Vorschule für autoritäre Charaktere. Klassischer Humanismus war anscheinend ein guter Nährboden und Wurzelgrund für den Nationalsozialismus, so lautet die Logik.

Diese Passage mit ihrer anklagenden Frage „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ wird von linksliberal verblendeten Menschen wieder und immer wieder zitiert, um gegen den klassischen Humanismus und den altsprachlichen Unterricht zu Felde zu ziehen.

Doch Alfred Andersch betrügt seine Leser mit dieser Passage in mehrfacher Hinsicht. Zum einen fällt es jedem aufmerksamen Leser sofort auf, dass Andersch hier plötzlich von einem „humanistisch fein gebildetem“ Bürgertum spricht – eine Aussage, die auf Vater Himmler, so wie Andersch ihn viele Seiten lang portraitierte, gewiss nicht zutrifft! Heinrich Himmler war also gar nicht der Sohn eines „fein gebildeten“ klassischen Humanisten, sondern der Sohn einer autoritären Persönlichkeit, deren „Humanismus“ sich offenbar in griechischer Grammatik erschöpfte. – Zum anderen ist es in diesem Fall völlig unzulässig, eine direkte Verbindungslinie von Vater zum Sohn zu ziehen, also die humanistische Bildung des Vaterhauses für die nationalsozialistische Verirrung des Sohnes verantwortlich zu machen. Denn wie Andersch selbst schreibt, hatte sich Heinrich Himmler von seinem Vater abgewendet, und damit natürlich auch vom Humanismus, den der Vater – wenn auch schlecht – verkörperte! Heinrich Himmler verstand sich selbst definitiv nicht als klassischen Humanisten, sondern bevorzugte bekanntlich nordische Mythen und inhumane Ideologien. Wie also sollte der Humanismus einen Menschen schützen können, der sich von ihm abgewendet hat?

Was ist das für eine Frage: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ in bezug auf einen Menschen, der gar kein Humanist ist, gar kein Humanist sein will, und gar nicht aus einem „fein gebildeten“ humanistischen Elternhaus stammt? Es ist eine von jenen heimtückischen Anklagen, die einen eingängigen – aber falschen – Zusammenhang konstruieren und über eine Anklage moralisieren und emotionalisieren. Es erfordert viele Worte, um den falschen Zusammenhang sichtbar zu machen, doch wer hört schon geduldig zu, wo die Emotionen hohe Wellen schlagen? Zudem kann sich der Ankläger jederzeit damit herausreden, dass er ja „nur“ eine Frage gestellt habe, ja, dass er damit nirgendwo explizit ausgesprochen hat, dass er eine Verbindungslinie zwischen klassischem Humanismus und Nationalsozialismus sieht. Diese anklagende Frage „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ ist nichts anderes als ein Stück äußerst gelungener Propaganda.

Aber sagt Alfred Andersch in seinem Nachwort nicht auch, dass er nicht wisse, „dass und wie der Unmensch und der Schulmann miteinander zusammenhängen“? – „Oder ob sie einander gerade nicht bedingen“? Doch das ist nur die Vortäuschung von Objektivität. Denn in Wahrheit hat Andersch bereits durch den Titel der Erzählung „Der Vater eines Mörders“ die ganze Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass hier doch wohl ein Zusammenhang sein müsse, und ohne diese Frage würde die ganze Erzählung keinen Sinn mehr machen. Die Frage so zu stellen, wie Andersch es mit dieser Erzählung tut, lässt nichts anderes als eine positive Antwort zu. Andersch argumentiert nicht sachlich, er argumentiert überhaupt nicht, er ist einfach nur suggestiv.

Halten wir also fest, dass man keinerlei Schlüsse aus der von Andersch skizzierten Episode über den klassischem Humanismus ziehen kann. Man erfährt nur etwas über das Drama zwischen einem autoritären Vater und seinem Sohn, der vor seinem Vater in eine andere weltanschauliche Orientierung flüchtet – im Falle von Heinrich Himmler leider zum Nationalsozialismus. Aber Alfred Andersch sah das offenbar ganz anders, und seine linksliberalen Leser bis heute auch. Alfred Andersch ist mit seinen unzulässigen Unterstellungen, subtilen Anklagen und suggestiven Fragen gewissermaßen zu einem heimtückischen Mörder des klassischen Humanismus geworden, der doch der Urgrund unserer Kultur ist.

Aber warum hat Alfred Andersch das getan?

Ein Blick in den Text hilft uns weiter. Denn dort ist nicht nur von dem Vater von Heinrich Himmler die Rede, sondern auch noch von einem weiteren Vater – dem Vater von Alfred Andersch! Und dieser Vater ist ein Anhänger von Ludendorff. Ein überzeugter Antisemit. Ein Kamerad von Heinrich Himmler im Reichskriegsflaggenbund. Schon 1920 wurde er Mitglied der NSDAP. Kurz: Im Gegensatz zu Vater Himmler, der konservativ und katholisch war und den Schülern Sowjetsterne und Hakenkreuze gleichermaßen verbot, war der Vater Andersch ein echter Nationalsozialist! Von diesem Vater hat sich der Sohn Alfred Andersch später natürlich nun seinerseits abgewendet. Und nun war es Alfred Andersch, der vor seinem Vater flüchtete – und auch er wählte für seine Flucht bedauerlicherweise eine radikale weltanschauliche Orientierung: 1930 trat Alfred Andersch der KPD bei. Hier sind wir am Kern der Sache: Es entspricht einem typisch unaufgeklärten linken bzw. später linksliberalen Weltbild, der klassischen Bildung eine Mitschuld am Nationalsozialismus zu unterstellen. Alles, was nicht links war, wurde und wird in diesem Sinne unter NS-Verdacht stellte. Das ist die Erklärung, wie es dazu kam, dass der Sohn eines Nazis gewissermaßen zum heimtückischen Mörder am klassischen Humanismus werden konnte.

Aperçu am Rande: Alfred Andersch outet sich hier als begeisterter Leser von Karl May, während der Schulrektor Himmler geäußert haben soll: „Karl May ist Gift!“ Das ist eine interessante Ironie angesichts der Tatsache, dass Karl May, der eine eminent humanistische Botschaft hatte, in linksliberalen Kreisen als NS-verdächtig abgetan wird. Vielleicht stehen so manche Linksliberale dem autoritären Charakter von Schulrektor Himmler näher, als sie glauben. Heute ist die Erzählung „Der Vater eines Mörders“ eine bei Lehrern beliebte Schullektüre. Ob sie ihren Schülern heute die irrigen Suggestionen von Alfred Andersch einpauken, so wie einst Vater Himmler seinen Schülern die griechische Grammatik? Übrigens legt der Schüler Alfred Andersch in dieser Erzählung eine so überaus erstaunliche Faulheit und Unwissenheit an den Tag, dass man nicht völlig ohne Verständnis für den Zorn des Schulrektors Himmler ihm gegenüber bleiben kann, auch wenn dessen Pädagogik natürlich indiskutabel ist. Doch das nur am Rande.

PS 16.12.2023

Im Jahr 1993 warf W.G. Sebald in einem Artikel der Zeitschrift „Lettre International“ die Frage auf, inwieweit Alfred Andersch sein Leben vor 1945 schön gefärbt und verfälscht hatte. Inzwischen sind zahlreiche Belege aufgetaucht, die diesen Vorwurf stützen. Ohne in die Untiefen dieser Debatte einsteigen zu wollen, sei festgehalten: Es zeigt sich einmal mehr, dass Alfred Andersch kein wahrhaftiger Mensch war. Und das ist der entscheidende Vorwurf.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 2014; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden.)

Mouhanad Khorchide: Gott glaubt an den Menschen – Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus (2015)

Abrundung einer echten Islamreform / Linkslastiger Humanismus

Mit diesem Werk versucht Mouhanad Khorchide zwei Dinge zugleich: Zum einen rundet er seine Reformtheologie ab, die er in zwei vorangegangenen Büchern zu entfalten begonnen hat („Islam ist Barmherzigkeit“ und „Scharia, der missverstandene Gott“). Zum anderen versucht er, den Islam in die Tradition des Humanismus einzuordnen.

Dieses Buch leidet etwas darunter, dass diese zwei Themen in ein Buch gepackt wurden und sich auf verwirrende Weise von Kapitel zu Kapitel abwechseln. Der Leser tut gut daran, beide Themen zunächst getrennt wahrzunehmen, und erst nach der Lektüre des gesamten Buches über eine Synthese nachzudenken.

Thema 1 – Die Abrundung der Reformtheologie

Am Anfang des Buches wird die in früheren Werken entwickelten Reformtheologie in geraffter Form und unter einer etwas anderen Perspektive wiederholt: Die Offenbarung des Koran ist von dem zentralen Satz aus aufzudröseln, dass Gott allbarmherzig ist, und Mohammed zur Barmherzigkeit gesandt wurde, und nicht, um Menschen zu zwingen. Der Mensch ist anders als die Engel kein Befehlsempfänger. Die richtige Haltung des Muslims ist das Sich-Öffnen im Gegensatz zum Sich-Verschließen. Der Koran muss historisch kontextualisiert gelesen werden. Es gibt ewig gültige und situativ gültige Verse. Die Sunna (Hadithe) müssen immer wieder auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden.

Die Reformtheologie wird abgerundet durch folgende Aussagen:

  • Ablehnung der fatalistischen Prädestinationslehre (S. 29).
  • Die Welt funktioniert nach Naturgesetzen, die der Mensch erkennen soll. Khorchide ist strikt dagegen, naturwissenschaftliche Aussagen im Koran erkennen zu wollen. Denn solche Aussagen sind bedingt durch den historischen Kontext, in den die Offenbarung hineingesprochen wurde. Der Koran verlangt nach der Benutzung der Vernunft, die die Gläubigen zu jeder Zeit neu einsetzen müssen (S. 33 ff.).
  • Die Verweigerung des Vernunftgebrauchs erregt den Zorn Gottes (S. 52).
  • Jetzt gesteht Khorchide auch einen strafenden Gott zu, im Verhältnis 18:1 barmherzig vs. strafend (S. 84). Die Strafe Gottes richtet sich nur gegen die Sünde, nicht gegen den Sünder.
  • Der Mensch soll danach streben, Gottes Eigenschaften ähnlich zu werden, doch Gott ist absolut, und der Mensch nur relativ und unvollkommen, ein ewig Strebender. Sogar im Paradies ginge das Streben noch weiter, meint Khorchide (S. 81).
  • Khorchide sagt jetzt, dass er Glaube nicht gegen Handeln ausspielen möchte, sondern dass das richtige Handeln ein Ausdruck des richtigen Glaubens ist (S. 198). Gut so.
  • Der Islam enthält in sich Aufforderungen zu Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen, und strebt keine Weltherrschaft des Islam an. Ein Kafir ist kein Ungläubiger, sondern ein Leugner. Christen und Juden werden z.B. keineswegs pauschal als Kafir bezeichnet. Khorchide schließt jetzt explizit alle Andersgläubigen in sein Toleranzkonzept mit ein, bis hin zu Atheisten (S. 209, 248).

Sehr stark sind Khorchides Aussagen zur Gewalt im Islam:

  • Khorchide hat ein großes Kapitel eingefügt (S. 167 ff.), in dem er klarstellt, dass der Dschihad als Angriffskrieg gegen alle Nichtmuslime eine starke Tradition in der islamischen Theologie hat, und dass es heute darum geht, eine friedliche, in der Geschichte des Islam meist schwächere Tradition, zum heute vorherrschenden Narrativ im Islam zu machen.
  • Khorchide zeigt die einzelnen Gelehrten auf, die durch die Jahrhunderte diese oder jene Lehre vertreten haben: Das ist sehr interessant.
  • Khorchide widerlegt die verschiedenen Argumente der Tradition: Die verschiedenen Schwertverse; die Problematik der Abrogation, die auch in der Tradition sehr umstritten ist (S. 178, 219 f.); usw. (Unerwähnt bleibt, dass auch die chronologische Reihenfolge der Koranverse, von der die Abrogation abhängt, in der Tradition umstritten ist.)
  • Khorchide zeigt, dass das Massaker an den Juden durch Mohammed nicht historisch ist. (Unerwähnt bleibt, dass moderne Historiker das Massaker als spätere Erfindung einordnen, mit der die Entfernung der Juden aus der Umma gerechtfertigt werden sollte.)
  • Khorchide sagt klar, dass das Problem nicht nur die Islamisten sind, die Gewalt und Terror anwenden, sondern bereits der traditionalistische Mainstream des Islam, der sich für ein Nachdenken über die Tradition nicht öffnet sondern verschließt, und damit notwendige Reformen verhindert. Der traditionalistische Mainstream tut auf der einen Seite so, als gäbe es die vorherrschende Tradition nicht, auf der anderen Seite wehrt er sich gegen jede Kritik an der Tradition.
  • Khorchide klagt einen Teil der Muslime der „Westophobie“ an, weil sie eine Islamreform pauschal mit dem falschen Argument ablehnen, dass man eine solche Reform nur deshalb durchführe, weil man damit dem Westen zu Gefallen wäre. Doch der Islam hat Reformen in seinem eigenen Interesse nötig.

Khorchides Reformtheologie ist teilweise links und postmodern:

  • Khorchide wendet sich gegen jede Autorität im Islam (S. 115 f., 222 ff.). Es ist zwar richtig, den einzelnen Gläubigen zu Eigenverantwortung aufzurufen, aber die Ablehnung jeder Form von Autorität ist überzogen und entspricht auch nicht dem Wesen des Menschen. Hier verfolgt Khorchide eine Utopie, mit der er keinen Erfolg haben wird. Statt Autoritäten pauschal abzulehnen sollte man sich lieber überlegen, wie man Autoritäten so installiert, dass sie nicht autoritär sind. Man muss auch bedenken, dass eine Organisation wichtig für die Meinungsbildung ist. Eine Organisation kann sich entwickeln, streiten, Lehren aussprechen oder verwerfen. Ohne das ist eine Reform praktisch nicht möglich. Die Masse der unorganisierten Muslime würde von Reformdenken sonst nie erfasst.
  • Teilweise übertreibt es Khorchide mit dem Sich-Öffnen. Bei ihm ist alles prozesshaft und im Fluss, alles wird ausgehandelt, der Dialog ist alles. Der Satz „Das ist der wahre Islam“ sei obsolet geworden, meint Khorchide (S. 45). Damit schwächt Khorchide aber auch seine eigene Position gegenüber den Traditionalisten. Khorchide muss schon klar sagen können, dass die Theologie der Gewalt falsch ist und schon immer falsch war, und deshalb zu verurteilen ist.
  • Khorchide schreckt davor zurück, große Gelehrte der islamischen Tradition für ihre theologischen Positionen zu verurteilen, weil es eine andere Zeit war (S. 187 f.). Doch so geht es nicht. Auch im Christentum waren Hexenverbrennungen schon immer falsch. Hexenverbrennungen sind nicht erst heute falsch.
  • Die Absicht zur Verwerfung der Hadithe, die nicht zur zentralen Botschaft der Allbarmherzigkeit passen, ist zwar grundsätzlich richtig, wird von Khorchide aber allzu leichtfertig formuliert (S. 176). Auch manche Koranverse sind etwas sperrig, können aber dennoch zur zentralen Botschaft in einen guten Bezug gesetzt und historisch kontextualisiert gelesen werden, ohne dass man sie verwirft.
  • Die Darstellung der Geschichte von Islam und Christentum unter der Perspektive des Sich-Öffnens und Sich-Verschließens ist grundsätzlich richtig gedeutet, aber im Detail zeichnet Khorchide ein zu weiches Bild: Das Kalifat von Cordoba in Al-Andalus sei ein wahres Paradies auch für Christen und Juden gewesen, die dort auch zur Universität gingen; im Islam hätte es damals keine Autoritäten gegeben, deshalb sei alles geistig frei gewesen; das wissenschaftliche Denken in Europa sei maßgeblich durch Al-Andalus und die Übersetzerschule von Toledo angestoßen worden; vor Anselm von Canterbury hätte es keine Beschäftigung mit Wissenschaft und Philosophie in Europa gegeben. Das alles ist so höchstens halbwahr und deshalb leider geeignet, wohlmeinende Islamkritiker abzuschrecken, weil sie solche Weichzeichnungen schon zu oft aus unglaubwürdigem Munde gehört haben. Die beabsichtigte Grundaussage ist aber trotzdem richtig: Man muss sich geistig öffnen.

Khorchide streut immer wieder Seitenhiebe gegen das Christentum ein. Als Nichtchrist ist das völlig legitim, man müsste es aber etwas breiter diskutieren:

  • Der Islam kennt keine Erbsünde, es gibt keine Kollektivschuld (S. 25). – Schön und gut, aber die Unvollkommenheit des Menschen als Geschöpf eines vollkommenen Gottes erklärt Khorchide damit nicht. Warum scheitert der von Gott geschaffene Mensch in der von Gott geschaffenen Welt immer wieder und wieder und muss sterben? Warum ist die Welt nicht vollkommen?
  • Gott wird nicht Mensch, die Distanz zwischen Gott und Mensch bleibt gewahrt (S. 81 f., 85). – Da Khorchide seinen Gott ähnlich wie den christlichen Gott als liebenden Gott darstellt, bleibt die Frage, wie Gott die damit entstehende Kluft zum Menschen überwinden will. Und wie errettet der islamisch verstandene Gott den bleibend sündigen Menschen, ohne ihm Anteil an der Göttlichkeit zu geben?
  • Sexualität sei auch zur Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse da, deshalb gebe es im Islam kein Verbot von Verhütungsmitteln (S. 243 f.). – Khorchide hat hier den christlichen bzw. katholischen Standpunkt nicht ganz verstanden, scheint es.

Thema 2 – Islam und Humanismus

Den Islam in die humanistische Tradition einzubetten ist ein großer Wurf. Denn damit verlässt Khorchide die Defensive und bringt den Islam offensiv in unsere Kultur hinein. Muslime werden so zu einer Islamreform motiviert, denn sie dürfen auf einen würdigen Platz für den Islam im Kreis der humanistischen Weltanschauungen hoffen. Im Kern geht es Khorchide um das Sich-Öffnen als einem humanistischen Grundgedanken. Das ist sicher richtig, aber leider ist die Ausführung des Ansatzes nicht ausreichend gelungen.

Ein linkslastiger Humanismus-Begriff:

  • Zentraler Fehler ist die Unterschätzung der Antike als Grundlage des Humanismus. Der Humanismus der Antike ist nicht einfach nur der erste Humanismus, und nicht einfach nur ein Humanismus unter mehreren, sondern es ist der Humanismus schlechthin, der zur Grundlage für alle späteren Humanismen wurde. Man kann sich nicht vom Humanismus der Antike lösen, so wie man auch das Rad nicht noch ein zweites Mal erfinden kann. Das Herunterspielen der Bedeutung der Antike ist typisch für linkes Denken.
  • Bei der Nachzeichnung der Geschichte des Humanismus stützt sich Khorchide vor allem auf linke Humanisten und Möchtegern-Humanisten bzw. deren Vordenker: Herder, Hegel, Marx, der Linkshegelianer Ruge, Sartre, Erich Fromm, den Humanismus des heutigen HVD-Verbandes, und den evolutionären Humanismus von Michael Schmidt-Salomon und seiner Giordano-Bruno-Stiftung. Man mag es kaum glauben, aber es fehlen u.a. Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt, Werner Jaeger oder Romano Guardini. Der Dritte Humanismus wird mit einem kurzen Absatz abgehandelt, der christliche Humanismus bleibt praktisch unerwähnt. Kurz: Der „bürgerliche“ Humanismus fehlt fast komplett! Für einen Überblick über den Humanismus ist das ein Totalschaden. Vermutlich hatte Khorchide die falschen Ratgeber.
  • Bei der Klage über anti-humanistische Zustände in der modernen Welt fühlt man sich an typisch linke Selbstanklagen gegen die die westliche Moderne erinnert, die man für alle Übel der Welt verantwortlich macht (S. 141 ff.): Da wird z.B. die Leistungsgesellschaft kritisiert, ohne deren guten Sinn zu würdigen. Schräge Beispiele werden herbeigezogen: Etwa eine Uni-Prüfung, bei der der Dozent festsetzt, dass genau die ersten zehn Studenten durchkommen, aber alle anderen nicht. Das ist natürlich das Gegenteil einer Prüfung nach Leistung: Es geht nämlich gar nicht um die Leistung der Studenten, sondern nur um den Bedarf an Absolventen, egal wie gut oder wie schlecht sie sind – und das ist Planwirtschaft, nicht Leistungsgesellschaft.
  • Khorchide versucht Verständnis für die Meinungen der „anderen Seite“, d.h. von Muslimen, zu heischen, indem er seitenweise Anklagen von Jürgen Todenhöfer an den Westen zitiert, deren Qualität sich auf dem Niveau von politischen Verschwörungstheorien bewegt. Man kann Verständnis für manchen Irrtum haben, der sich bei Muslimen über den Westen festgesetzt hat. Aber im Kern sind es nun einmal Irrtümer, und sie müssen überwunden werden. Verständnis hilft da nicht viel. Man könnte höchstens hinzufügen, dass nicht nur Muslime, sondern auch westliche Linke und Verschwörungstheoretiker diese Irrtümer überwinden müssen. Dazu sagt Khorchide aber nichts. Vermutlich ist er selbst in manchem dieser Irrtümer befangen.
  • Zu Anfang des Buches benutzt Khorchide den Begriff Humanismus als Synonym für Atheismus, so wie es heute in Mode gekommen ist. Zur Mitte des Buches hin überwindet Khorchide diesen Gebrauch des Wortes Humanismus zum Glück.

Khorchide entdeckt erstaunlich wenig Humanismus im Islam:

  • Einen Humanismus schon in den Anfängen nimmt Khorchide kaum ernst (z.B. Muhammad’s Humanism von Minou Reeves; S. 121).
  • Erst im 10. Jahrhundert will Khorchide so etwas wie Humanismus erkennen (Mutazila).
  • Im 14. Jahrhundert dann asch-Schatibi und dessen Normenlehre nach den Bedürfnissen des Menschen.

Khorchide hängt an einem völlig falschen Humanismus-Begriff:

  • Khorchide schreckt davor zurück, den Begriff „Humanismus“ im Zusammenhang mit dem Islam überhaupt zu gebrauchen, weil er zu eng mit der europäischen Entwicklung verknüpft wäre (S. 117 f.). Aber das ist Unfug, denn der Humanismus geht auf die Antike zurück, und diese wurde von Ost und West gleichermaßen rezipiert.
  • Bei Mohammed Arkoun schreibt Khorchide, dieser würde Rationalismus und Humanismus verknüpfen (S. 121). Aber ist das nicht von allem Anfang in der Antike her klar, dass ein Humanismus ohne Rationalismus überhaupt nicht denkbar ist?
  • Nach Schöller meint Khorchide, dass es eine Eigenheit des islamischen Humanismus sei, dass er keinen Gegensatz zur Religion bilde (S. 122 f). Aber das ist doch beim europäischen Humanismus ganz genauso! Humanismus bedeutet keineswegs automatisch Atheismus! Den Humanismus gegen die Religion zu positionieren ist eine postmoderne, linke Fehlwahrnehmung.

Khorchide verkennt den humanistischen Kern im Islam:

Es ist schon fast tragisch, dass Khorchide das Entscheidende völlig übersieht. Grund dafür ist nicht zuletzt Khorchides linkslastige Sicht auf den Humanismus, der die Antike völlig unterbelichtet. Denn wie auch beim Christentum so sind auch beim Islam von allem Anfang an humanistische Elemente eingeflossen. Mithilfe eines „bürgerlichen“ Humanismus hätte Khorchide erkennen können:

  • Bereits der Koran korrespondiert zu antiken Vorstellungen, z.B. die kosmologischen Vorstellungen in Platons Timaios. Dass der offenbarende Gott die Menschen im Kontext ihrer Zeit anspricht ist ja Khorchides eigene Meinung, also darf auch im Koran nach Spuren der Antike gesucht werden.
  • Auch in der Sunna finden sich viele Elemente antiken Denkens. So mancher Hadith wurzelt vielleicht eher in antiker Tradition als in einer Aussage des Propheten? Oder vielleicht beides zugleich?!
  • Die islamische Tradition der Auslegung von Koran und Sunna hat sich oft an antikem Denken orientiert. So korrespondiert z.B. die Dschihad-Lehre auffällig mit Platons Lehre von Krieg und Frieden in dessen Dialog Nomoi: So auch die Lehre vom großen und vom kleinen Kampf, die dem großen bzw. kleinen Dschihad entspricht. Khorchide selbst erwähnt die Übersetzungsbewegung von Baghdad: Was haben die denn da übersetzt? Natürlich antike Werke!
  • Die großen islamischen Philosophen wurden von antikem Denken geprägt, wie Khorchide selbst darlegt (z.B. S. 131 f.).

Der Islam kann sich also nicht nur in den in der Antike wurzelnden Humanismus einfügen, er enthält ihn bereits selbst. Der Islam trägt nicht nur etwas zum Humanismus bei, er trägt denselben antiken Humanismus bereits in sich, der auch die anderen Humanismen inspiriert hat. Das kann man allerdings nur erkennen, wenn man die besondere Bedeutung des antiken Humanismus erkannt hat. Im Grunde hat Khorchide mit einem gewissen Erfolg jenen Humanismus aus dem Islam herausgeholt, der von der Antike in den Islam hineingelegt wurde, ohne dass sich Khorchide dessen bewusst war. Bis hin zu der These, dass ein Humanist Individualist und Kollektivwesen zugleich ist (S. 239 ff.): Auch das natürlich ein antiker Gedanke.

Fazit

Khorchide ist ein echter Islamreformer, der mit seinem Denken auf dem richtigen Weg ist. Die Abrundung seiner Reformtheologie in diesem Werk beweist es. Es liegen allerdings einige dicke Steine auf seinem Weg: (1) Khorchide ist eindeutig zu linkslastig und postmodern eingestellt. (2) Khorchide fehlt in manchen Bereichen die Bildung: Das ist kein Beinbruch, denn das Thema greift in der Tat sehr weit aus. „Der gute Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst“ (Goethe, Faust). (3) Und drittens ist Khorchide zu wenig dem praktischen Leben zugewandt, wo seine Reformen umgesetzt werden müssen: Mit Autoritäten, mit Moscheen, mit einem klaren Katechismus, mit Verurteilungen von Irrlehren, usw. – Keines dieser Probleme ist unlösbar, aber vielleicht wird es nicht mehr Khorchide sein, der sie löst.

Das große Ziel, den Islam in den Kreis der humanistisch orientierten Religionen einzuführen, ist erreichbar. Zwar hat der Islam im Lauf seiner Geschichte großes Pech gehabt, und der gegenwärtige Zustand des Islam lässt keine schnellen Erfolge erwarten, aber grundsätzlich sind alle Voraussetzungen vorhanden, um das Ziel zu erreichen. Bis es soweit ist, dass Khorchides Ideen irgendwann einmal eines Tages in der Breite des Islam zu wirken beginnen, wird die westliche Welt allerdings geeignete Abwehrmaßnahmen gegen den traditionalistischen Islam ergreifen müssen. Auch zu diesen notwendigen Maßnahmen sagt Khorchide leider nichts. Das sollte er aber, wenn er Humanist sein will.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. April 2016.

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