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Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie (um 1320)

Verdichtung von Mittelalter und Antike provoziert aufklärerische Reaktion

Die Leistung Dantes

Die „Göttliche Komödie“ von Dante ist ein großartiger Bilderbogen der Weltanschauung des ausgehenden Mittelalters. Dante integriert eine ganze Reihe von Themen in ein umfassendes Epos: Das christliche Weltbild von Hölle, Fegefeuer und Himmel sowie die christliche Theologie von freiem Willen, Sünde, Gnade, Liebe, Erlösung und Trinität. Das aristotelische Weltbild von Erdgeographie, Kosmologie und Theologie. Die antike Mythologie und antike philosophische Ansichten über Gott, die Welt, Urbild und Abbild. Die Weltgeschichte und insbesondere die Geschichte der norditalienischen Stadtstaaten, insbesondere der von Florenz. Und nicht zuletzt Dantes eigene Lebensgeschichte und seine große Liebe Beatrice.

Jedes einzelne dieser Themen wird von kleineren dichterischen Freiheiten abgesehen mehr oder weniger brav und treu von Dante abgearbeitet. Dante ist in keinem inhaltlichen Punkt wirklich originell und es gibt für Kenner der jeweiligen Materie auch keine „größeren“ Geheimnisse bei Dante zu entdecken. „Kleine“ Geheimnisse gibt es hingegen in Hülle und Fülle: Die große dichterische Leistung Dantes muss in der Integration all dieser Themen zu einem umfassenden Gesamtwerk, zu einer anspielungs- und beziehungsreichen Wissensordnung seiner Zeit gesehen werden, die abstrakte Dinge wie Hölle oder Himmel in teils origineller Weise extrem konkret und anschaulich werden lässt. Das Eigentliche des Dichtens, die „Verdichtung“, ist die große Leistung Dantes!

Dante als unfreiwilliger Wegbereiter der Renaissance

Dante selbst muss eindeutig noch als mittelalterlicher Mensch gesehen werden, der den christlichen Glauben ungebrochen glaubte. Besonders deutlich wird dies überall dort, wo die Philosphie als ungenügend verurteilt wird und der Glaube den Vorrang eingeräumt bekommt. Doch explodiert in Dantes Werk gewissermaßen die Konkretheit des christlichen Weltbildes und die Synthese mit antikem Denken wie komprimierte Materie in einem Urknall, so dass Dante unfreiwillig zu einem Verursacher der Renaissance geworden sein dürfte; dies auf folgende Weisen:

Zunächst trug Dante wie andere auch schon dazu bei, dass die antike neben der biblischen Mythologie wieder salonfähig wurde. Das eröffnete weitere Horizonte. Zudem schuf Dante eine unglaubliche Fülle an Bildern, die es in dieser Form bisher so nicht gab, und die die Menschen nun tatsächlich als Bild sehen wollten. Aber das ist nicht der wesentliche Beitrag Dantes.

Der Leser wird bei Dante von der Konkretheit und Anschaulichkeit des christlichen Weltbildes schockiert. Denn in dieser Konsequenz der Darstellung, die alles auf die Spitze treibt, wird zugleich auch die Absurdität des christlichen Weltbildes bewusst. Derart konkrete Vorstellungen von Hölle, Fegefeuer und Himmel mussten natürlich einen teilweise grotesken Eindruck machen, der ungewollt satirisch ist. Man stelle sich vor, der hl. Thomas von Aquin, ein Gelehrter, dessen Lebenselement das Studium von Büchern ist, tanzt im Himmel geistlose Tänze wie auf einem Kindergeburtstag: Was für ein unwürdiges Schauspiel! Gebt dem Mann doch eine Studierstube damit er glücklich sein kann, möchte man rufen vor Empörung! Die Bilderwelt von Dantes Hölle prägte zweifelsohne die negativen Auffassungen der Aufklärer über das Mittelalter mit. Man fühlt sich teilweise an die bitterböse Satire „Zappenduster“ („The Living End“) von Stanley Elkin erinnert, die ihren satirischen Effekt gerade daraus bezieht, dass sie die christlichen Jenseitsvorstellungen ganz und gar ernst nimmt. Ist es völlig abwegig zu vermuten, dass genau dieser satirische Effekt sich auch bei dem ein oder anderen Leser Dantes einstellte?

Am sympathischsten und glaubwürdigsten – wenn überhaupt – ist bei Dante das Fegefeuer: Hier trifft man auf Menschen, die sich mühen und arbeiten und auf ein Ziel hinarbeiten. Sie sind nicht verdammt, leben aber auch nicht in einer grenzdebilen Heiligkeit. Das Fegefeuer kommt dem irdischen Leben der Menschen am nächsten. Grotesk, dass ein Vergil nicht im Himmel ist, wohl aber getaufte Kleinkinder. Grotesk, dass moralisch gute Inder in der Hölle sind, nur weil sie nie von Christus hörten. Grotesk, dass zur Heirat gezwungene Nonnen einen Malus bekommen, weil sie statt in die aufgezwungene Ehe einzuwilligen schließlich auch den Märtyrertod hätten sterben können! Das Groteske ist aber nicht Dantes Schuld; Dante macht hier unfreiwillig auf den Widersinn der auf die Spitze getriebenen christlichen Theologie aufmerksam.

Beatrice wiederum erscheint wenig liebevoll, vielmehr rauh und derb, hält Dante bei ihrer Wiederbegegnung eine Gardinenpredigt, kommandiert herum, schleift ihn durch einen Bach, taucht ihn rüde unter, und ist abgehoben heilig, geradezu arrogant. Grotesk wiederum, dass Dante nicht an der Liebe von Beatrice interessiert ist, sondern nur an der Liebe Gottes, die sich durch Beatrice offenbare. Wenn dies eine Sublimation von Dantes Liebe zu Beatrice sein soll, dann ist sie missglückt, denn die Sublimation hat den Kern der Sache zerstört. Ja, das ist Christentum auf die Spitze getrieben. Auch ist es existentiell extrem unglaubwürdig, vor Gott zu stehen zu kommen, Gott bewiesen zu sehen, alle Zweifel ausgeräumt zu haben, und dann nichts besseres zu tun zu wissen, als theologische und philosophische Theoreme zu erörtern. Es passt auch nicht, die Philosophie dafür anzuprangern, dass sie die Menschen entzweie, wenn gleichzeitig darüber geklagt wird, wieviele theologische Irrtümer es doch gibt, die die Menschen … entzweien.

Mit all diesem auf die Spitze getriebenen Widersinn hat Dante gewiss manchen Leser zum Nachdenken gebracht, und so unfreiwilligerweise die Renaissance mit angeschoben.

Die zweite unfreiwillige Provokation zur Aufklärung ist der Umstand, dass Dante viele antike mythologische Figuren und Begebenheiten an Stellen und auf eine Weise in sein Werk verwoben hat, wo sie völlig unpassend sind. In der Hölle fällt dies noch am wenigsten auf, zumal auch die antike Mythologie einen Hades kannte. Doch spätestens im Himmel ist es teilweise äußerst unpassend. Da betritt Dante den Himmel des einen Gottes … und ruft Apollon an, auf dass er gut dichte. Da steht Dante vor dem einen Gott und staunt … wie Neptun beim Anblick des Schattens der Argo. Wie passen Apollon, Neptun, usw. zu diesem einen Gott?

Zum Dritten ist Dante erstaunlich anmaßend, scheint dies aber selbst nicht zu bemerken. Christliche Demut scheint ihm zu fehlen. Woher nimmt er sich das Recht, diverse Menschen in die Hölle zu bannen, noch dazu in bestimmte Höllenkreise, anderen aber den Himmel zuzusprechen? Was für einen modernen Schriftsteller bedeutungslos wäre, ist für einen mittelalterlichen Schriftsteller eine Anmaßung sondersgleichen. Dante benutzt zudem die christliche Theologie, um seine ganz eigene Geschichtsdeutung festzuschreiben. Florenz wird von ihm nach Strich und Faden durch den Kakao gezogen. Aber wer gibt ihm das Recht, seine persönliche Meinung mit den höheren Weihen eines religiösen Epos zu versehen? Tagespolitische Händel als Thema einer zeitlosen Dichtung?! Überhaupt ist zu fragen, warum er sich selbst für auserkoren hält, das Jenseits erkunden zu dürfen? Die Frage nach der ungeschminkten Kritik in seinem Werk beantwortet sich Dante gleich selbst in Canto XVII des Paradiso: Nur zu, es sei ein Ruf wie der Wind in den Wipfeln.

Völlig unangebracht ist es, die Caesar-Attentäter in die unterste Hölle in die Mäuler Satans zu platzieren, wo sie auf einer Stufe mit Judas stehen; sie überhaupt in die Hölle zu platzieren mag der mittelalterlichen Kaiserlichkeit Dantes zuzurechnen und zu entschuldigen sein, aber man bedenke ihre Gleichstellung mit Judas: Dadurch wird im Umkehrschluss Julius Caesar auf eine Stufe mit Christus gestellt! Es ist einfach unfasslich.

Einzelkritiken

Es ist oft wenig geschickt, dass Dante die Handlung über die Grenzen seiner Canti springen lässt. Es wäre kunstvoller gewesen, die Grenzen der Handlung und die Grenzen der Canti aufeinander abzustimmen. Man beachte: Dante ist kein Säulenheiliger, den man nicht kritisieren dürfte – Ungünstig ist, dass vieles nur angedeutet wird. Die klare Nennung von Namen hätte oft vieles erleichtert. Man liest darüber hinweg und erkennt es nicht. Nicht erkennbare Anspielungen sind schlechtes Handwerk. Auch bei Dante. – Wenig überzeugend ist es auch, wenn Dante sagt, er habe keine bildhafte Erinnerung mehr an die Trinität, aber dann mit einem sehr anschaulichen Bild von drei Kreisen aufwartet. – Im Sinne der Glaubwürdigkeit eines Berichtes aus dem Jenseits fehlt am Ende unbedingt auch der Rückweg auf die Erde. Wie soll denn Dante über all das berichten, wenn es keinen Weg zurück gab? – Was Dante hingegen teilweise recht gut gemacht hat, ist die Hinterfragung christlicher Fehldeutungen antiker Texte, so etwas die Gleichsetzung von Paradies und Goldenem Zeitalter oder die Vergil-Stelle zur Geburt eines Knaben. Dante schwärmt hier nicht ganz ohne zügelnde Vernunft. – Warum das Paradiso Paradiso heißt, ist unklar, es handelt sich bekanntlich nicht um das Paradies, sondern um den Himmel. Stammt diese Bezeichnung von Dante?

Schluss

Dantes Werk geriet zwischenzeitlich offenbar in Vergessenheit, was nicht wunder nehmen kann, und wurde erst später wiederentdeckt, als Romantik und Nationalbewusstsein der Dichtung eine neue Bedeutung als Projektions- und Identifikationsobjekt gaben. Dantes Werk gehört sicher zur Weltliteratur, als eine große Dichtung eines großen Autors, der seine Zeit in sich und seinem Werk spiegelte und verdichtete und auf die Spitze trieb, und so unfreiwillig den Boden für eine kommende Zeit bereitete, was zweifelsohne eine große Leistung ist. Doch ist das eher als wichtige Etappe einer Entwicklung von Bedeutung. Dantes Werk ist zu zeitgebunden, um zur zeitlosen ersten Reihe der Weltliteratur dazu zu gehören, zu der z.B. Platons Dialoge oder die Epen Homers zählen. Wiederum unfreiwillig hat Dante mit der Wahl seines Führers, Vergil, seinen eigenen Platz zutreffend markiert: Auch Vergil gehört zweifelsohne zur Weltliteratur, doch auch er gehört nur in die zweite Reihe.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon um den 01. Juli 2013)

Gert Scobel: Weisheit – Über das, was uns fehlt (2008)

Ein abgrundtief törichtes Buch

Der Ansatz von Scobel ist vielversprechend: Ob es hinter den Religionen und Philosophien nicht eine tiefere Dimension der Weisheit gäbe. Doch das Buch enttäuscht fundamental.

Der Leser gerät bei der Lektüre in ein wahres Gewitter von wildesten Assoziationen zu Religion, Philosophie, Wissenschaft, Weisheiten und Plattitüden, die auf eine Art miteinander verquickt, verbunden und verwechselt werden, wie man es sonst nur von pseudo-wissenschaftlichen Publikationen her kennt. Solange etwas nur ähnlich klingt oder ähnlich aussieht wird es in einen Topf geworfen, Konsequenzen werden außer Acht gelassen. War man anfangs noch entschlossen, dem Buch wenigstens wegen seines Ansatzes und wegen der vielen Anregungen einen Gnadenpunkt zu geben, muss man am Ende eines sich steigernden Hexensabbates der Narreteien auf der niedrigsten Bewertung bestehen: So viele Irrtümer, so viel oberflächliches Denken, so viel Nichtverstehen und so viel fehlende Einsicht haben nichts anderes verdient. Dieses Buch kann höchstens als Übung zum Erkennen von Denkfehlern, Denkfallen und Irrtümern herhalten. Da wird die fernöstliche Dualität von Ying und Yang vermengt mit der coincidentia oppositorum von Cusanus, vermengt mit der Subjekt-Objekt-Beziehung von Kant, vermengt mit dem Binärkonzept der digitalen Rechenmaschine. Da wird der „Erste Beweger“ mit dem Hinweis auf spontante Umorganisationen in komplexen Systemen für überflüssig erklärt. Da wird das Gehirn als deterministisches System beschrieben, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Da werden die unhinterfragten Evidenzen menschlichen Denkens mit religiösem Glauben verwechselt. Auch die Himmelsscheibe von Nebra muss für wirre Thesen herhalten.

Eine halbwegs tragfähige Definition von Weisheit sucht man vergebens. Der Anspruch auf S. 9 des Vorwortes zur Taschenbuchausgabe, „Dieses Buch hilft Ihnen dabei, auf eine seriöse, gründliche Art und Weise zu verstehen, was gemeint ist, wenn man … von Weisheit spricht“, wird in keiner Weise eingelöst. Es kristallisiert sich im Laufe der Lektüre heraus, dass der Autor unter Weisheit offenbar vor allem die buddhistische Variante im Auge hat und die Meditation als Weg zur Weisheit ins Zentrum stellt. Es sei dem Autor zugestanden, dass er keine esoterische sondern eine nüchterne Wahrnehmung von Buddhismus pflegen will.

Das ganze Buch über springt der Autor zwischen zwei Grundkonzepten von Weisheit hin und her, ohne zu bemerken, dass sie nicht dasselbe sind. Das eine Konzept ist Weisheit durch Meditation, also vor allem auch durch Nichtdenken. Das andere Konzept ist Weisheit durch Bewältigung von Komplexität (das ohne Denken wohl kaum möglich ist). Es ist immer wieder atemberaubend, wie der Autor von dem Problem der Bewältigung von Komplexität nahtlos zum Thema Meditation übergeht, wie wenn das eine Lösung wäre. Wie wenn sich Komplexität durch Nichtdenken bewältigen ließe. Das scheint offenbar die Auffassung des Autors zu sein, wie wir gleich sehen werden.

Ganz übel mitgespielt wird der westlichen Weisheitstradition, also z.B. Platon oder dem Stoizismus. Diese werden nur selten einmal erwähnt und dann meist schief im Sinne des Autors interpretiert. Wenn es im Vorwort zur Taschenbuchausgabe S. 9 heißt, dass das Buch „auf die üblichen Zitate und Einführungen, beispielsweise der griechischen Philosophie, und somit auf gewisse Wiederholungen verzichtet“, dann ist das praktisch eine Ausrede dafür, dass der Autor ein Gegner der westlichen Weisheitstradition ist. So hart muss man es leider sagen, denn: S. 31 wird der Prozess der Aufklärung kurzerhand mit buddhistischer Erleuchtung gleichgesetzt (keuch!) und zugleich die Errungenschaft der Rationalität damit abgetan, dass „das Spüren eines Sonnenstrahls auf der Haut“ ja mit Rationalität nicht viel zu tun habe …

Dabei antwortet die westliche Weisheitstradition gerade auf das Problem der Bewältigung von Komplexität. Stark verkürzt könnte man die westliche Weisheitstradition so beschreiben: Hier steht die Rationalität im Zentrum als ordnende Kraft, die alle Erkenntnisse (Bücherwissen, Erfahrung, Gefühl, einfach alles) zu einem großen Erkenntnisgebäude zusammensetzt, und dabei Ordnungsmuster erkennt. Man könnte es eine individuelle (nicht kollektive!) Weltanschauung nennen. Auch das Wissen um die Grenzen des Wissens und des Machbaren wird in diese große Ordnung eingewoben, das Unbekannte abgeschätzt und eingehegt. Aus dieser ständig fortgestrickten Gesamtordnung ergibt sich immer mehr Überblick. Ein Überblick, der Gelassenheit verschafft. Man steht buchstäblich über den Dingen. Eine solche Ordnung aufzubauen leitet auch zum richtigen Handeln an: Zum Selberdenken. Zu Denkstrategien und Denkregeln (Dialektik, Heuristik, in Gegenseite versetzen, Logik, Wissenschaftstheorie). Zum Wissen und Erfahrungen sammeln. Zum praktischen Leben, gegen intellektuelle Abgehobenheit. Zur Annahme der Realität wie sie nun einmal ist. Zu einem geregelten Leben, in dem Fühlen, Mitfühlen, Triebe, Mühe und Entspannung in Balance sind. Glück kommt aus der Gelassenheit des geordneten Überblicks und dem geordneten Leben; besondere Glücksmomente sind Fortschritte in der Ordnung, wenn wieder ein Zusammenhang neu oder besser erkannt wurde, wenn wieder ein Puzzleteil richtig ins Gesamtbild eingesetzt werden konnte. Der stoische Weise ist das klassische Beispiel für westliche Weisheit.

Aber auch viele andere, nicht-westliche Weisheitskonzepte kommen in diesem Buch unter die Räder, sie werden von vornherein gar nicht systematisch erfasst. Denn viele von ihnen ähneln dem westlichen Konzept von Weisheit, so z.B. Konfuzius. Der „westliche“ Weg heißt ja nur deshalb „westlich“, weil er im Westen als erstes und am konsequentesten beschritten wurde, namentlich im alten Athen, dem Urbild aller vernünftigen und freien Gesellschaften. Aber eigentlich ist es ein universaler Ansatz, der für alle Menschen der beste Weg ist. Nur unweise Zyniker würden einwenden, dass dies die Weltherrschaft der Micky Maus bedeuten würde; doch vom Christentum würde auch keiner behaupten, dass es ihm geschadet hätte, durch die klärende Phase der Aufklärung hindurch gegangen zu sein, also kann es anderen Kulturen ebensowenig schaden, sondern im Gegenteil nur nützen.

Um eine Klärung des Verhältnisses von Religion und Weisheit drückt sich der Autor konsequent. Generell erweckt er den Eindruck, Religion und Weisheit gingen konform. Dass aber gerade westliche Weisheit ganz maßgeblich mit der Hinterfragung von Religion, z.B. des Buddhismus, zu tun hat, blendet er aus. Weisheit wird zudem als eine tiefere Dimension hinter den Religionen gedeutet. Dass aber Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen oft eine identitäre Einheit bilden, übersieht er. Die Frage, inwieweit Weisheit eine elitäre Angelegenheit ist, während für die Masse eine Religion notwendig bleibt, übergeht der Autor. Einzig bei seiner Kritik am Weltethos von Hans Küng liegt der Autor dann doch einmal richtig: Einerseits erkennt er darin zurecht den Versuch, die Vernunftreligion Kants zu verwirklichen; andererseits fällt ihm bei den Religionen auf, was ihm bei den Weisheitskonzepten verborgen bleibt: Dass sie nämlich nicht kompatibel sind.

Der Autor scheint ein Opfer linksliberalen Denkens zu sein, das dem Zeitgeist verhaftet ist. Linksliberales, dekadentes Denken lässt sich an vielen Punkten dieses Werkes belegen. So irritiert zunächst, dass Weisheit mit Werterelativismus und sozialer Kompetenz in Verbindung gebracht wird. Doch hat man sich einen weisen Menschen nicht bislang eher als einen prinzipientreuen Menschen gedacht, der mit der Gedankenlosigkeit seiner Mitmenschen eher Schwierigkeiten hat? Auch der typisch linke Alarmismus, mit dem die Kultivierung der Weisheit zu einer Überlebensfrage der Menschheit hochstilisiert wird, will wenig weise erscheinen.

Die Abneigung gegen die eigene Kultur, gegen das westliche Weisheitskonzept, fügt sich ebenso gut in das Gesamtbild linksliberalen Denkens wie das völlige Verkennen des Wesens anderer Kulturen, die romantisch verklärt werden. Dass Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen nicht so getrennt werden können, wie der Autor meint, erwähnten wir schon. Hinzu kommt eine schwärmerische Verklärung der Aristoteles-Rezeption in der islamischen Welt mit Averroes im Kalifat von Cordoba in Andalusien als Höhepunkt, das natürlich als ein Hort von Toleranz und Weltoffenheit beschrieben wird; wer es wissen will, weiß, dass es so nicht war. Insbesondere die Ideen des Averroes sind im islamischen Raum leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, es wäre zu schön gewesen. Hinzu kommt der Selbstwiderspruch, dass Aristoteles natürlich für die westliche, rationale Weisheitstradition steht, für die der Autor offenbar plötzlich doch etwas übrig hat, wenn sie sich im islamischen Raum entfaltet, und Europa seine damalige Ignoranz unter die Nase gerieben werden kann. Der Gipfel ist dann die Behauptung des Autors, die schöne Geschichte von Andalusien würde heute gerne übergangen – in Wahrheit kommt uns dieses Märchen aus 1001 Nacht schon zu den Ohren heraus!

Wie gesehen hat der Autor auch kein Problem damit, das Gehirn für ein deterministisches Organ zu halten; dass er damit den Weg des Materialismus beschreitet und jeglicher Religiosität und Metaphysik den Boden unter den Füßen entzieht, fällt ihm nicht als Problem auf. Das Buch bewegt sich völlig auf der Schiene eines oberflächlichen Zeitgeistes. Die Zeitgeistigkeit wird noch unterstrichen durch häufig eingestreute politsche Seitenhiebe, die alle in eine naive ökopaxe und linksliberale Richtung tendieren. Immer wieder zitierte Philosophen sind Heidegger und Habermas.

Oberflächliche Zeitgeistigkeit könnte einen weiteren Grund für die Ablehnung der westlichen Weisheitstradition liefern: Diese macht nämlich Mühe und Arbeit. Es gibt hier keinen „Königsweg“, also keine Abkürzung zur Weisheit. Weil nur wenige den mühevollen Weg des Ordnens gehen, und jeder verschieden weit auf dem Weg voran kommt, kann westliche Weisheit auch zu Kränkungen bei denen führen, die erkennen müssen, dass sie nicht weit gekommen sind. Meditation hingegen verspricht Weisheit gerade aus dem Nichtdenken, aus dem Abschalten, aus „Präsenz“ und „Achtsamkeit“. Das erscheint vergleichsweise einfach, und das ist wohl auch einer der Gründe, warum Meditation so in Mode ist. Meditation könnte als psychologisch nützliche Technik in das große Puzzle der westlichen Weisheitstradition integriert werden, aber ins Zentrum könnte sie dort niemals rücken.

In diesem Buch erfährt man wenig über Weisheit, aber viel über die Weltanschauung des Autors: Diese ist ungeordnet, schwärmerisch, flatterhaft und haltlos, und damit zutiefst unweise. Immerhin gibt er selbst zu, kein Weiser zu sein. Hätte er dann nicht besser über Weisheit geschwiegen?

Buchempfehlungen für alle, die an ihrer Weisheit arbeiten (!) wollen:

  • Platon, Die Apologie des Sokrates.
  • Cicero, Gespräche in Tusculum.
  • Edith Hamilton, The Greek Way.
  • Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (Kulturphilosophie Teil I und II).
  • Neil Postman, Die zweite Aufklärung.
  • Peter Prange, Die Philosophin.
  • Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon.
  • Walter Nutz: Vom Mythos der Freiheit.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Geschrieben September 2011)

Julian Nida Rümelin / Nathalie Weidenfeld: Digitaler Humanismus – Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (2020)

Gelungene Werbeschrift in Sachen KI: Digitaler Humanismus statt Silicon-Valley-Ideologie

Dieses Büchlein behandelt in zwanzig kurzen Kapiteln die wesentlichen philosophischen und ethischen Fragestellungen rund um das Thema Künstliche Intelligenz (KI). Es ist für ein breites Publikum geschrieben und vermeidet deshalb konsequent trockene, abstrakte Ausführungen.

Jedes Kapitel beginnt mit einer Szene aus einem bekannten Hollywood-Film als Aufhänger und macht daran die Problematik und die richtige Antwort auf diese Problematik klar. Dieses Verfahren ist sehr gut gelungen: Der Leser gleitet leicht und unbeschwert von einer bekannten Filmszene in eine niveauvolle Argumentation hinüber, ohne dass es langweilig oder kompliziert würde. Nebenbei lernt man auch einige neue Aspekte der besprochenen Filme kennen, die einem bislang noch gar nicht aufgefallen waren.

Diese Filme sind u.a.: Blade Runner, Matrix, Star Wars, I Robot, Wall-E, Der Rasenmähermann, RoboCop, Ghost in the Shell, Iron Man, Ex Machina, Metropolis. Ganz kurz werden auch einige literarische Werke genannt, die das Thema berühren, so z.B. E.T.A. Hoffmanns Sandmann, Mary Shelleys Frankenstein oder der Golem von Gustav Meyrink.

Kernthesen

Die Kernthese des Buches ist: Der richtige Umgang mit Künstlicher Intelligenz besteht in einem „Digitalen Humanismus“ und nicht in der aktuellen Ideologie von führenden Protagonisten des kalifornischen Silicon Valley. Diese „Silicon-Valley-Ideologie“ ist durch eine ganze Reihe von philosophischen Irrtümern gekennzeichnet, die typisch amerikanisch sind: Einerseits ein übertriebener Pragmatismus und Machbarkeitsglaube, andererseits ein puritanischer Reinheits- und Erlösungsgedanke: Dieser lädt Technik mit Metaphysik auf, gewissermaßen als Ersatzreligion. Dadurch geraten wesentliche Aspekte des Humanismus unter die Räder, was fatal ist: Der Digitale Humanismus hält dagegen, indem er den klassischen Humanismus auf die Welt der Künstlichen Intelligenz anwendet und die Irrtümer der Silicon-Valley-Ideologie aufzeigt.

Der Irrtum der „starken KI“ besteht in dem Glauben, dass Künstliche Intelligenz tatsächlich ein Bewusstsein und menschliches Fühlen und Denken entwickeln könnte. Doch das ist auf der Grundlage deterministischer Computer-Systeme nicht möglich. Wer an eine „starke KI“ glaubt, müsste im Umkehrschluss glauben, dass auch der Mensch nur eine Maschine ist. Damit wird aber der Mensch entmenschlicht: Er wird nicht mehr als freies und vernünftiges Wesen betrachtet, dessen Autonomie zu respektieren ist.

Auch der Transhumanismus ist ein fundamentaler Irrtum. Es wird eine klare Absage an die Idee der sogenannten „Emergenz“ erteilt: Man kann auf einer deterministischen, physikalischen Basis keine höhere Schicht einer echten menschlichen Freiheit aufbauen. Der Mensch ist keine Maschine und kann sich nicht zu einer Maschine oder in eine Maschine transformieren. Die dem Transhumanismus zugrunde liegende Psychologie ist narzisstisch und regressiv. Letztlich ist es eine Art von kindischer Flucht vor der Realität, ein quasi-religiöser Eskapismus vor den Beschränkungen der conditio humana.

Der Irrtum der „schwachen KI“ besteht in dem Glauben, dass Künstliche Intelligenz zwar kein echtes menschliches Bewusstsein entwickeln, aber doch jede menschliche Regung beliebig gut simulieren kann. Doch erstens sind die heutigen Simulationen immer noch himmelweit von der menschlichen Realität entfernt, und zweitens ist auch eine täuschend echte Simulation nur eine Simulation, und keine Realität.

Die Irrtümer rund um das Delegieren von ethischen Entscheidungen an eine Künstliche Intelligenz sind vielfältig: Zunächst sind nicht alle Parameter bekannt, die eine ethische Situation bestimmen, was das Berechnen einer ethischen Entscheidung erheblich erschwert. Eine Berechnung der Zukunft ist zudem aus Gründen der Komplexität nicht möglich. Hinzu kommt das ethische Verrechnungsverbot: Man kann z.B. nicht einfach ein Menschenleben gegen ein anderes verrechnen. Die „separateness of persons“ (John Rawls) muss beachtet werden. Auch Kants Kategorischer Imperativ taugt nicht als absolutes Kriterium. Eine Optimierung nach ökonomischen Gesichtspunkten kann ebenfalls nicht zu einer allgemeinen Ethik erhoben werden. Schließlich gibt es das liberale Paradoxon, das der Philosoph Amartya Sen entdeckt hat: Es ist unumgänglich, ein Stück ökonomische Optimierung zu opfern, um echte, menschliche Freiheit zu gewinnen.

Es gibt einen Grund, warum die Normen des demokratischen Rechtsstaates nicht konsequentialistisch formuliert sind (auf Folgen hin), sondern deontologisch (nach Pflichten).

Die Autoren verweisen auch auf ethische Fehlanreize, die entstehen können, wenn immer mehr Akteure eines Geschehens (z.B. im Straßenverkehr) nach den völlig gleichen ethischen Maximen handeln. Es könnte z.B. dazu kommen, dass Autos bewusst unsicher konstruiert werden, damit im Falle eines Unfalls die Gegenseite lieber ein anderes Auto als das eigene rammt.

Nebenthesen

Die Autoren wenden sich gegen die postmoderne These, dass es keine Wahrheit gäbe und diese beliebig konstruiert werden könnte. Wer das nicht auseinanderhalten könne, habe eine Psychose.

In der Kommunikation geht es nicht ohne Wahrhaftigkeit, denn Kommunikation ist nur in vertrauensvollen Beziehungen sinnvoll möglich.

Die Idee der Liquid Democracy, also einer Art Computer-Demokratie, in der alle Bürger jede Einzelfrage direkt per Knopfdruck entscheiden, ist aus prinzipiellen Gründen nicht realisierbar. Dem stehen u.a. das Condorcet-Paradoxon und das Arrow-Theorem entgegen.

Ein Grundeinkommen ist aus mehreren Gründen keine gute Idee, auch wenn es „sozial“ klingt. Zudem lehrt die Erfahrung mit historischen Innovationen, dass die Arbeit nicht ausgeht, sie wird nur anders organisiert.

Der Mensch sollte eine breite, humanistische Bildung haben: Dazu gehört u.a. auch „Orientierungswissen“ und eine Persönlichkeitsbildung, die auf einer Entwicklung beruht, sowie – in einer Gesellschaft, die zusammenhalten soll – ein Bildungskanon. Bloße Vielwisserei und Fachwissen sind völlig unzureichend.

Kritik

Durch den Werbecharakter dieses Büchleins ist manches philosophische Argument vielleicht doch etwas zu oberflächlich geraten. Insbesondere zur „schwachen KI“ wird immer wieder derselbe Fehler begangen, nämlich davon auszugehen, dass KI weit davon entfernt sei, menschliches Verhalten zu simulieren. Doch das ist zumindest teilweise falsch. Spätestens mit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 dürfte der Zeitpunkt erreicht sein, wo es nicht mehr ganz so einfach ist, die Maschine vom Menschen zu unterscheiden.

Ethische Argumente, die fehlen, sind z.B. diese: Ein Algorithmus kann zwar nicht autonom entscheiden wie ein Mensch, aber er kann sehr viel schneller entscheiden. In einer zeitkritischen Situation wie z.B. einem Verkehrsunfall, kann das einen Unterschied zum Vorteil der KI ausmachen.

Undiskutiert bleibt auch der Mangel an Bildung bei vielen Menschen: Viele Menschen treffen ethische Entscheidungen auf einem Niveau, das unter einem gebildeten Gesichtspunkt recht dürftig ist, und das von einer KI leicht übertroffen werden könnte. Das will zwar nicht viel heißen, aber doch ist es so. Ein Algorithmus muss in ethischen Dingen nicht in jedem Fall schlechter sein als ein Mensch. Ein Argument gegen die Autonomie des Menschen darf das natürlich nicht sein. Es geht nur um die Frage, ob eine algorithmische Ethik wirklich immer schlechter ist als die real existierende menschliche Ethik.

Das Büchlein geht meistens von deterministischen Algorithmen aus. In diesem Sinne ist eine KI ein so hochkomplexer Algorithmus, dass zwar nicht sicher vorhersehbar ist, wie sich die KI entscheiden wird, obwohl es natürlich doch vorherbestimmt ist. Das lässt jedoch die Möglichkeit eines neuronalen Netzes außer acht, dem kein Algorithmus zugrunde liegt.

Nur an wenigen Stellen wird auf neuronale Netze eingegangen. Das Hauptargument lautet: Der Name der neuronalen Netze würde täuschen, denn heutige neuronale Netze seien weit von der Komplexität und der Plastizität des menschlichen Gehirns entfernt. Ungesagt bleibt dabei, dass heutige neuronale Netze, die auf deterministischen Maschinen laufen, damit natürlich auch selbst wiederum deterministisch sind. – Das ist allerdings kein prinzipielles Gegenargument, denn was noch nicht ist, kann noch werden. Man müsste neuronale Netze also tatsächlich dem vegetativen Nervengeflecht des Gehirns nachbilden, um sie den Menschen ähnlich zu machen. Die Autoren vergessen diesen Punkt, vermutlich, weil die Technik davon noch weit entfernt ist.

Die Autoren steuern aber an anderer Stelle zusätzliche Argumente zu diesem Thema bei: Eine menschenähnliche KI könnte niemals durch das übliche „Training“ eines neuronalen Netzes erschaffen werden. Eine menschenähnliche KI müsste wie ein Mensch eine Kindheit haben, eine Familie, und über viele Jahre hinweg aufwachsen, um zu einem Menschen zu werden, bis hin zur humanistischen Bildung mit Persönlichkeitsentwicklung. Dann hätte der Mensch sich tatsächlich selbst nachgebildet.

Allerdings würde sich dann die Frage stellen, ob es nicht einfacher wäre, ein echtes Kind zu zeugen und aufzuziehen? Und es würde sich die Frage stellen, ob es ethisch vertretbar wäre, eine solche umfassend gebildete, echt freie und menschliche Künstliche Intelligenz dann wie eine Maschine für sklavische Arbeit einzusetzen.

Höhere Kritik

Es erhebt sich noch ein letztes prinzipielles Problem, auf das die Autoren nur an einer einzigen Stelle kurz eingehen, nämlich das Problem, dass ja nicht nur der Computer, sondern auch die Physik insgesamt deterministisch ist. Die Physik kann zusätzlich auch noch probabilistisch sein, also zufälliges Verhalten zeigen. Aber die Physik kennt keine autonome, freie Entscheidung eines menschlichen Willens, genauso wenig wie ein deterministischer Computer. Wenn der menschliche Geist, egal ob als natürliches Gehirn oder als gut nachgebildetes neuronales Netzwerk, allein auf dieser Physik aufbauen würde, könnte er nicht frei sein.

Unter diesem Gesichtspunkt kann die menschliche Autonomie nur durch Metaphysik gerettet werden, nämlich durch die Postulierung eines menschlichen Geistes jenseits aller Physik, der sich in den scheinbar probabilistischen Phänomenen der Physik zum Ausdruck bringt. Dazu schreiben die Autoren nur, dass der Umstand, dass mentale Zustände durch Gehirnzustände realisiert werden, nicht heiße, dass sie von diesen verursacht werden (S. 39). Das Bewusstsein kann durch physikalische Prozesse nicht erklärt werden (Qualia-Argument). Das ist zu knapp. Dieses Thema hätte man ausführlicher behandeln müssen.

Die Schwachheit des Arguments

Natürlich ist eine solche metaphysische Dimension des menschlichen Geistes nicht beweisbar. Man kann sie nur postulieren. Weil sonst der Mensch kein Mensch mehr wäre, sondern nur eine komplizierte biologische Maschine. Weil sonst Bewusstsein, Freiheit, Rationalität und Personalität nur Illusionen wären, aber keine Realitäten. Weil damit der Humanismus gescheitert wäre, und die Sinnlosigkeit und die Unmenschlichkeit gesiegt hätte: Dann hätten die Materialisten und Zyniker und die Anhänger der Silicon-Valley-Ideologie Recht. Allerdings würde ihnen das nichts nützen. Denn dann wäre alles sinnlos geworden.

An diesem dünnen, seidenen Faden hängt der Humanismus. Man kann nur ex negativo zu seinen Gunsten argumentieren, und das ist ein schwaches Argument. Das Problem ist nicht neu. Friedrich der Große formulierte das Problem z.B. so:

Sinnlos ist eins, das andre unerklärlich,
Zwei Klippen starren, beide gleich gefährlich.
Da gilt die Wahl: Sinnloses gibt es schwerlich;
Drum wend’ ich selber mich zum Dunkeln hin
Und überlasse euch den Widersinn.

Ein erneuter Angriff auf den Humanismus

Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz treibt dieses altbekannte Problem nun erneut auf seine Spitze. Natürlich ist der Humanismus das einzig Vernünftige, aber die Unterscheidungslinie zwischen Mensch und Maschine wird durch KI immer feiner und feiner gezogen. Es ist möglich, dass viele Menschen aus Denkfaulheit und falschem Pragmatismus keinen Unterschied mehr machen werden.

Es ist so, wie damals beim Aufkommen des Darwinismus: Ein oberflächliches und vulgäres Verständnis des Darwinismus führte zu Phänomenen wie Sozialdarwinismus, Biologismus, Eugenik, Euthanasie und Rassenlehren, aber auch Kollektivismus und der Glaube an gesellschaftlich notwendige Entwicklungen, denen der Einzelne notfalls geopfert werden darf. Und so wie der Mensch damals zum Affen reduziert wurde, so wird der Mensch heute auf eine Maschine reduziert. Der Digitale Humanismus warnt genau vor solchen Fehlentwicklungen.

Kritik am Rande

Der Charakter einer leicht geschriebenen Werbeschrift führt dazu, dass manche Themen sich wiederholen. Die einzelnen Kapitel sind inhaltlich nicht scharf gegeneinander abgegrenzt. Teilweise bauen sie aufeinander auf, ohne dass dies durch die Kapitelstruktur deutlich würde. Manchmal wurde ein Nebenthema in ein Kapitel mit „hineingestopft“, das man besser separat behandelt hätte.

Was das ethische Verrechnungsverbot anbelangt, wurde vergessen, dass es sehr wohl Situationen gibt, in denen eine gewisse Verrechnung erlaubt und auch geboten ist. Julian Nida-Rümelin hat dies selbst im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen formuliert: Es ist nicht zulässig, eine ganze Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen, nur um womöglich ein einzelnes Menschenleben zu retten. Ethische Dilemmata werden aber erwähnt.

In einigen Punkten folgen die Autoren linken Blütenträumen: Die Abkehr von der Atomenergie wird immer noch als richtige und wichtige Zukunftsentscheidung gefeiert. Es wird die irrige These vertreten, dass der Einzelne kein eigenes Auto mehr bräuchte, wenn es autonom fahrende Taxen gäbe. Wikipedia würde angeblich von „einem strengen Ethos epistemischer Rationalität getragen“. Und ein Gegenmittel zu den Fehlinformationen im Internet seien traditionelle, redaktionelle Medien – wobei Julian Nida-Rümelin ungesagt lässt, dass die traditionellen, redaktionellen Medien sich in einer schweren Vertrauenskrise befinden.

Fazit

Eine gelungene Werbeschrift für einen Digitalen Humanismus als Antwort auf die Irrtümer der Silicon-Valley-Ideologie, die sich gut liest und leicht verständlich ist. Das Schlusskapitel geht dann noch einmal alle lessons learned im Schweinsgalopp durch. Wer es systematischer, tiefer und theoretischer möchte, muss zu einem anderen Buch greifen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Sarah Bakewell: Das Café der Existenzialisten – Freiheit, Sein und Aprikosencocktails (2016)

Geläuterte Anhängerin schreibt rundum gelungene Geschichte des Existentialismus

Das „Café der Existentialisten“ von Sarah Bakewell ist ein rundum gelungenes Buch! Schritt für Schritt entfaltet die Autorin das Panorama der Existentialisten und ihrer gegenseitigen Beeinflussungen im 20. Jahrhundert in kluger, lehrreicher und äußerst lesenswerter Weise. Beginnend mit dem Phänomenologen Husserl bis hin zu Patocka und Vaclav Havel. Im Zentrum stehen Sartre und Heidegger. Das Buch ist an keiner Stelle „schwer“, sondern durchgehend eine reine Lust zu lesen.

Das eigentliche Wunder dieses Buches ist eindeutig die Autorin: War sie in ihrer Jugend selbst eine „gläubige“ Anhängerin des Existentialismus, sieht sie heute mit einem geläuterten Blick auf die Helden ihrer Jugend zurück. Auf dieser Grundlage entwickelt sie eine liebevolle aber auch objektive Sicht auf die Vergangenheit. Sarah Bakewell hat einen Blick dafür, was zeitlos und gut am Existentialismus war und was nicht, und sie hat ein gutes Urteil über die damaligen Irrungen und Wirrungen der Beteiligten. Sie entschuldigt nichts, und folgt einem glaubwürdigen Wertekompass, schafft aber auch Raum für Verständnis, warum die Protagonisten damals so dachten und handelten. Vor allem hat sie begriffen, dass nicht nur die Ideen eines Philosophen, sondern ebenso auch die Person des Philosophen hinter den Ideen von Bedeutung ist. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen.

Fazit: Gold wert!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Oktober 2019)

Andreas Mäckler (Hrsg.): Schwarzbuch Wikipedia – Mobbing, Diffamierung und Falschinformation in der Online-Enzyklopädie und was jetzt dagegen getan werden muss (2020)

Der Wikipedia-Sumpf – Es fehlen diese grundsätzlichen Lösungsvorschläge

Dieses Buch versammelt eine ganze Reihe von namentlich gezeichneten Erfahrungsberichten, Recherchen und Interviews rund um das problematische Internet-Lexikon Wikipedia. Wer selbst schon bemerkt hat, dass Wikipedia seltsam einseitig ist, und wer vor allem selbst einmal versucht hat, bei Wikipedia mitzuarbeiten, oder gar Opfer von Falschinformationen in der Wikipedia wurde, wird dieses Buch als ein Trostbuch lesen können, denn man sieht, dass man seine leidvollen Erfahrung mit vielen anderen teilt, und manche sind noch weit schlimmer betroffen als man selbst.

Das Grundproblem der Wikipedia ist, dass es von einem einseitigen Meinungsmilieu beherrscht wird. Man könnte dieses Meinungsmilieu als links-grün beschreiben: Gesellschaftspolitisch ticken diese Leute links, sie sind EU-euphorisch während ihnen die eigene Nation nichts bedeutet, sie sind für radikalen Klimaschutz und schrankenlose Migration, aber zugleich sind sie auch bellizistisch für die NATO eingestellt. Eben genau wie die Grünen. Und die Grünen liegen ganz im Trend des Zeitgeistes. Gerade bei intellektuellen Charakteren, die bei Wikipedia mitmachen. In Wikipedia spiegelt sich also ganz einfach der links-grüne Zeitgeist. Wenn der Zeitgeist sich verändern würde, würde sich Wikipedia automatisch mitverändern. Das würde aber die Probleme nicht lösen.

Problematisch an diesem Buch ist, dass viele der Beiträger selbst einem recht „einseitigen“ Milieu angehören. Da sind z.B. Homöopathie-Anhänger, die auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit pochen und mit Recht eine unwissenschaftliche Wissenschaftsgläubigkeit des Wikipedia-Meinungsmilieus anprangern, aber dann ertappt man sie dabei, wie sie in der Corona-Krise einfachste epidemiologische Zusammenhänge nicht begreifen und die Erwartungshaltungen plumper Wutbürger bedienen. Oder sie beklagen, dass ein Homöopathie-Blogger dabei erwischt wurde, von der Homöopathie-Industrie bezahlt worden zu sein – woraufhin seine Finanzierung futsch war und er Suizid beging. So verständlich die Klage über den Suizid und die menschenverachtende Häme auch ist, so wird doch leider auch deutlich, dass diese Homöopathen kein hinreichendes Verständnis für die Richtigkeit und Wichtigkeit der Aufdeckung des Sachverhaltes haben. Eine andere Gruppe sind die NATO-Kritiker und Anti-Amerikaner, die oft auch Verschwörungstheorien zu 9/11 verbreiten. Was sie zu NATO und USA behaupten ist oft genauso leicht und schnell widerlegt wie ihre Verschwörungstheorien zu 9/11. Außerdem fragt man sich, was denn ihre Alternative zu USA und NATO ist. Etwa Russland?! Ein anderer Beiträger hat eine Internetseite für Männerrechte, auf der u.a. beklagt wird, dass der Mann nicht mehr das diktatorisch bestimmenden Oberhaupt der Familie ist. Gleich auf der ersten Seite begegnet einem ein Zitat des Sektenführers der Ahmadiyya-Muslime. Ein weiterer Beiträger ist ein jüdischer Einzelgänger, der den Islam pauschal verurteilt, statt zu differenzieren, und der zur Wahl der rechtsradikal gewordenen AfD aufruft. Seine berufliche Vita ist recht „bewegt“ und auf seiner Seite über jüdisches Leben bietet er sich als privater Kreditvermittler an: Nanu? Dann ist da noch eine libertäre Zeitschrift, die keine Hemmungen hat, sich mit durchgeknallten Politikern der rechtsradikal gewordenen AfD zu zeigen. Und schließlich ist noch ein Genetiker zu nennen, dessen Vererbungslehre gefährlich holzschnittartig anmutet, und der behauptet, dass Thilo Sarrazin angeblich mehr von ihm übernommen hätte, als Thilo Sarrazin zugeben will. Ironischerweise behauptet das linksgrüne Meinungsmilieu von Wikipedia genau dasselbe, worüber dieser Genetiker doch eigentlich froh sein sollte. Doch beide liegen falsch: Der eine will sich zu Unrecht mit dem Erfolg von Thilo Sarrazin schmücken, die anderen wollen Thilo Sarrazin zu Unrecht in die Nähe holzschnittartiger Thesen rücken.

Natürlich haben auch diese Leute ein Recht auf faire Behandlung und auf eine Erwähnung ihrer Minderheitsmeinungen in der Wikipedia, sofern sie nicht radikal sind. Und im Grunde ist das Wikipedia-Meinungsmilieu keinen Deut besser. Ob halbseiden „rechts“ oder halbseiden „links“, das gibt sich nicht viel.

Allerdings ist die Klage über das Wikipedia-Meinungsmilieu bei aller berechtigten Kritik teilweise überzogen. Viele der beklagten Wikipedia-Artikel stellen sich beim Nachschlagen dann doch als weniger schlimm heraus (einige sind aber wirklich schlimm). Und selbst in diesem Schwarzbuch sind zwei bis drei Geschichten enthalten, bei denen Wikipedia sich am Ende doch noch verbessert hat. Diverse Verschwörungstheorien, dass Wikipedia von bestimmten Interessengruppen unterwandert wäre, oder dass Wikipedia selbst eine solche Unterwanderung zulassen und fördern würde, können nur auf Einzelfälle verweisen, die z.T. von Wikipedia selbstkritisch aufgearbeitet wurden, und sind deshalb aufs Ganze gesehen nicht überzeugend. Dass es vor allem der Zeitgeist ist, der zur Einseitigkeit von Wikipedia führt, scheinen viele nicht glauben zu können. Der gesunde Menschenverstand weiß natürlich, dass es organisierte Versuche der Beeinflussung geben muss, aber die Macht über die Leitmedien scheint am Ende immer noch wichtiger zu sein als Wikipedia, weshalb sich machtvolle Einflussversuche wohl eher dort finden lassen als bei Wikipedia. Denn wenn man den Zeitgeist über die Leitmedien beeinflussen kann, hat man Wikipedia automatisch mitbeeinflusst.

Am Ende sind die Beiträger zu diesem Buch nicht besser als das Wikipedia-Meinungsmilieu, nur „andersrum“. Doch das zu begreifen, reicht ihre Intellektualität oft nicht aus.

Man sieht es an den Verbesserungsvorschlägen: Jeder Beiträger macht in kurzen Absätzen diesen oder jenen Verbesserungsvorschlag. Das ist nichts halbes und nichts ganzes. Sehr oft wird die komplette Aufhebung der Anonymität der Wikipedianer gefordert. Manche wollen zurück in die gute alte Zeit der Brockhaus-Lexika. Was aber notwendig wäre, wäre sich über die Niederungen des eigenen kleinen Meinungshorizontes zu erheben und grundsätzliche Analysen und Lösungsvorschläge zu präsentieren, die jenseits der einzelnen Meinung stehen, die Rationalität auf philosophischem Niveau diskutieren, und die die demokratische Gesellschaft als Ganzes in den Blick nehmen.

Solche grundsätzlichen Analysen und Lösungsvorschläge wären z.B.:

(x) Das Meinungsmilieu von Wikipedia singt – zurecht – das Hohelied des demokratischen Rechtsstaates, aber Wikipedia selbst entzieht sich der Regelung durch eben diesen demokratischen Rechtsstaat. Das ist ein eklatanter Selbstwiderspruch. Wikipedia muss ebenso effektiv verklagt werden können, wie jede Zeitung und jeder Verlag auch. Ob Wikipedia dazu eine Kollektivverantwortung übernimmt, oder ob zu diesem Zweck Anonymitäten einzelner Wikipedianer ganz oder teilweise aufgehoben werden, ist eine ganz andere Frage. Aber die Hoheit des Rechtsstaates ist herzustellen. Punktum. Der politische Wille aller Demokraten sollte sich dieses Ziel setzen. Es sollte auch das Ziel aller Wikipedianer sein. Alles andere wäre unglaubwürdig.

(x) Wikipedia fordert den sogenannten „neutralen“ Standpunkt. Also genau einen einzigen Standpunkt. Philosophisch betrachtet ist ein solcher für Menschen jedoch nicht zu erreichen. Wir alle nähern uns immer nur an die Wahrheit an, und zwar von verschiedenen Seiten. Und auch „die Wissenschaft“ hat gerade bei komplexen Fragestellungen keine einheitliche Meinung. Praktisch führt das dazu, dass Wikipedia-Artikel vom Standpunkt eines allwissenden, autoritären, übermenschlichen Erzählers verfasst werden, der ganz und gar nicht neutral ist, sondern der genau eine einzige Meinung als die lexikographisch geoffenbarte Wahrheit darlegt, während er alle anderen Meinungen folgerichtig entweder als Unsinn herabwürdigt oder als unwürdig ausblendet. Die Abfassung von Lexikonartikeln vom Standpunkt eines allwissenden Erzählers aus, der genau eine Meinung darlegt, hat zwar lexikographische Tradition, ist aber rational betrachtet Unsinn. Und eigentlich liegt dem Meinungsmilieu von Wikipedia doch sehr viel an Rationalität. – Besonders schön kann man diese Problematik bei der Wissenschaft sehen, die ja eben keinen „Mund der Wahrheit“ kennt, wie etwa die katholische Kirche mit Papst und Konzilien. In der Wissenschaft sind Minderheitsmeinungen nicht nur legitim sondern geradezu notwendig. Wo es zu komplexen Fragestellungen nur noch eine einzige Meinung gibt, dort ist die Wissenschaft meistens „verbogen“, z.B. durch politischen Einfluss. Wikipedia spielt sich genau als dieser „Mund der Wahrheit“ der Wissenschaft auf, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Das ist sehr unglaubwürdig. Wikipedia sollte also dringend auf einen anderen Standpunkt wechseln, der dann auch wirklich neutral ist, nämlich auf den Standpunkt eines neutralen Beschreibers der Gesamtwirklichkeit, der die ganze Wirklichkeit beschreibt, dass es also zu einem Thema zunächst unstrittige Aussagen gibt, dann eine Mehrheitsmeinung, und dann Minderheitsmeinungen. Die unstrittigen Aussagen kommen zuerst und ganz groß, dann die Mehrheitsmeinung ebenfalls groß, und schließlich Minderheitsmeinungen, nur klein und hinten. Aber sie werden eben doch dargestellt. Und zwar ohne dass sie herabgewürdigt werden. Und der Leser des Artikels bekommt nicht vorgeschrieben, was er nun glauben soll. In der Demokratie machen wir es übrigens genauso: Wer bei Wahlen unterliegt, darf trotzdem im Parlament sitzen, nur eben mit weniger Sitzen und weniger Zugang zu Geld und Mikrofonen. Alles andere wäre totalitär. Wikipedianer berufen sich gerne auf ihre Rationalität und ihre demokratische Gesinnung. Die sollten sie in dieser Frage zeigen, wenn sie es ernst meinen. Alles andere ist rational nicht darstellbar. Außen vor ist nur radikal Falsches und politischer Radikalismus.

(x) Wikipedia braucht dringend Konkurrenz, denn Wettbewerb spornt am besten zu Verbesserungen an. Eine solche Konkurrenz könnte eigentlich nur durch die weltweite Wissenschaftsgemeinde aufgebaut werden. Nur sie hat die Kompetenz und auch die Manpower. Ziel wäre ein von Fachwissenschaftlern aufgebautes, populärwissenschaftliches (nicht: wissenschaftliches!) Universallexikon, das nach Art klassischer Lexika mit namentlich verfassten und betreuten Artikeln arbeitet. Dazu müssten die Staaten der Welt ihren Wissenschaftlern Budget zu Verfügung stellen, und es müsste je Sprache ein Stab gegründet werden, der die Arbeit koordiniert. Das alte Prinzip der gedruckten Lexika würde endlich wieder eine Finanzierung haben und ins Internet gehoben werden. Damit würden sich zwei Wikipedias, die nach verschiedenen Prinzipien funktionieren, gegenüberstehen. Auf der einen Seite die Intelligenz namentlich zeichnender Wissenschaftler, auf der anderen Seite die zeitgeistige Schwarmintelligenz der anonymen Masse. Das wäre ein durchführbarer Plan, der von allen Demokraten politisch gewollt sein sollte, um die Pluralität und Qualität der zur Verfügung stehenden Information in der demokratischen Gesellschaft zu sichern und zu steigern. Also sollten auch alle Wikipedianer das wollen. Was jedoch nicht funktioniert, ist der Versuch, eine zweite Wikipedia nach gleichen oder ähnlichen Prinzipien aufzubauen.

(x) Es gibt auch rein praktische Vorschläge zur Verbesserung der real existierenden Wikipedia. Zum Beispiel bessere Anleitungen, wie man unter bestimmten Umständen vorgeht, oder Beschwerde-Buttons und -Formulare an Artikeln, um kritische Inhalte schnell und einfach melden zu können. – Insbesondere könnte eine schnellere und direkt anrufbare Schiedsgerichtsbarkeit bzw. schnell herbeirufbare Moderatoren, die sich auch wirklich als solche verstehen, sehr viel helfen. Heute läuft es ja so: Es gibt Streit im Diskussionsforum und einen Edit-War, aber lange taucht kein Admin auf, und wenn dann doch ein Admin auftaucht, ergreift er kurzerhand Partei für eine Seite, und bedroht die andere Seite mit Sperrung, wenn sie nicht still ist. Ganz schlechter Stil. Evtl. sollte Wikipedia solche Moderatoren sogar professionell anstellen. Sie sollen nur moderieren, nicht schreiben. Ebenso könnte man professionelle Schiedsrichter, die geschult sind und selbst nicht schreiben, anstellen.

(x) Wikipedia sollte sich Gedanken darüber machen, die Mitarbeiter philosophisch zu schulen, in dem Sinne, dass sie in die Lage kommen, zu erkennen, dass der Zeitgeist nur der Zeitgeist ist, um sich über den Zeitgeist erheben zu können. Und dass die Fiktion eines einzigen realisierbaren neutralen Standpunktes zutiefst irrational und unphilosophisch ist. Und dass nichtradikale Minderheitsmeinungen auch das Recht haben, dargestellt zu werden, ohne dass sie herabgewürdigt werden. Wikipedianer müssten eben weise werden. Das ist natürlich viel verlangt, aber zumindest das Ziel sollte formuliert werden, um das Problem zu kennzeichnen. Jede lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Im Idealfall würde eine Mitarbeit bei Wikipedia den Menschen demütiger und weiser machen, statt wie heute seine niederen Instinkte zu wecken.

Fazit

Bei allen Defiziten ist es trotzdem gut, dass dieses Buch erschienen ist. Es bietet zumindest eine Grundlage und einen Anfang, um sich der Probleme bewusst zu werden. Damit fängt alles an.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juni 2020)

Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie (1991)

Genialer Roman, geniale Philosophie-Einführung, nicht nur für Jugendliche

Die Grundidee von Jostein Gaarders „Sofies Welt“ ist genial: Philosophie wird nicht nur trocken abgehandelt, sondern auch gleich praktisch vorgeführt. Dabei ist dem Autor auch eine bemerkenswerte Buch-im-Buch-Konstruktion gelungen, die ihresgleichen sucht. Die Darlegung der philosophischen Ideen ist zudem sehr überzeugend und ausgewogen gelungen. Auch die Auswahl der dargestellten Philosophen geht in Ordnung und wird sinnvoll durch einen Gang in eine Buchhandlung und den Blick zum Sternenhimmel ergänzt. Die Story hat Esprit und saugt einen in sich hinein.

Wichtigster Schwachpunkt ist eine zu sanfte Kritik gegenüber Gottesglaube und Religion, die einen jungen Ministranten aus behütetem Hause kaum ins Grübeln bringen dürfte. – Gleich das nächste Problem ist die affirmative Übernahme des Zeitgeistes der 1980er Jahre, die mit den Stichworten „Öko“ und „Uno“ bezeichnet sei. Ein Philosoph ist eher linksliberal, so scheint es, während auf gesellschaftliche Ordnung bedachte Menschen eher keine Philosophen sind. Aber diese Ausfälle halten sich in Grenzen und haben teils ein inzwischen schon nostalgisches Flair an sich.

Zu Beginn des Romans hat man den Eindruck, dass zu wenig geschieht und zuviel über Philosophie doziert wird. Doch das legt sich schnell. – Schließlich scheint das Entkommen der beiden Hauptpersonen aus der Gedankenwelt des Majors nicht völlig überzeugend zu sein, da sie in einer Phantasiewelt landen; es wäre vielleicht besser gewesen, wenn sich Sofie und Alberto als Alter Egos von Hilde und dem Major herausgestellt hätten, dann wäre ihr Entkommen aus einer unterbewussten Existenz überzeugender gewesen.

Fazit: Genial mit kleinen Schwächen, ein guter Einstieg in die Philosophie nicht nur für Jugendliche, und eine verrückte, lesenswerte Geschichte. Lesen!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

Alejandro Amenábar: Agora (Film 2009)

Wie sich eine kollektive Weltanschauung Schritt für Schritt durchsetzt

Der Film „Agora“ ist gut, sehr gut sogar – verstörend gut. Er zeigt, wie eine kollektive Weltanschauung X – in diesem Fall das Christentum – sich in einer Gesellschaft Zug um Zug durchsetzt, und andere kollektive Weltanschauungen Y oder Z – in diesem Fall Serapis-Kult und Judentum – dabei schrittweise an Boden verlieren. Nebenbei kommen Freidenker, die mit den bisherigen kollektiven Weltanschauungen ein Arrangement gefunden hatten, unter die Räder, weil sie ein solches Arrangement mit der neuen kollektiven Weltanschauung eben noch nicht gefunden haben.

Der Film zeigt sehr gut, dass guter Wille allein nicht genügt, um widerstreitende kollektive Weltanschauungen zu befrieden. Denn die Dinge schaukeln sich hoch und haben eine Dynamik, die nicht beherschbar ist. Es nützt nichts, auf die Vereinfacher und Hetzer zu schimpfen – sie sind nun einmal immer da, man muss sie mitdenken, sonst hat man kein volles Bild der Wirklichkeit. Man sieht, wie auch vernünftige Menschen auf allen Seiten – auch wenn sie Macht haben – gegen die Neigung zur Dummheit, die in jeder kollektiven Weltanschauung angelegt ist, nichts ausrichten können.

Das Dumme an der Dummheit ist, dass man sie vollkommen gleichberechtigt mit der Realität behandeln muss, wenn sie nur gesellschaftliche Macht hat. Man muss mit ihr verhandeln. „Seit wann gibt es in Alexandria so viele Christen?“ lautet einer der Schlüsselsätze im Film. Dass in den Verfassungstexten einer Gesellschaft irgend etwas kodifiziert ist, spielt dann keine Rolle mehr – das wird alles gnadenlos Bestandteil der Verhandlungsmasse, wenn die Gewichte in der Gesellschaft sich verschieben.

Und dann gibt es noch die Möglichkeit, mit den Wölfen zu heulen, nur lauter. Im Film scheitert dieser Weg, weil der Protagonist nicht laut genug „mit den Wölfen heulte“ (der Moment, wo Orestes sich nicht niederkniet).

Natürlich denkt man bei all dem an das derzeitige Erstarken von Formen des Islams, die fern von der Vernunft sind (womit gesagt sein soll, dass der Islam auch vernünftig sein kann). Man kann die Sache aber auch tiefer hängen. Welcher Politiker z.B. könnte es sich leisten, Kohlendioxid als Verursacher des Klimawandels anzuzweifeln? Wer könnte es wagen, gegen das gedankenlose Multikulti und den Softsozialismus in der Gesellschaft anzugehen? Usw. usf.

Auch dies: Noch nie jedenfalls habe ich das Christentum so hinterfragt gesehen. Die meisten von uns sind ja mit einem „lieben“ Bild von Christentum aufgewachsen, und auch wenn wir alle es längst hinterfragt haben: So krass wie in diesem Film hat man es noch nie gesehen, und der Eindruck ist gerade auch deshalb so stark, weil der Film nicht übertreibt, sondern glaubwürdig bleibt: Auch wenn die wahre Story um Hypatia nicht exakt genau so gewesen ist, so kann man sich dennoch nur zu gut vorstellen, dass das Christentum diese üble Rolle auf diese Weise spielen kann und auch oft genug gespielt hat. „Halleluja“ statt „Allahu akbar“ – das kann man sich nur zu gut vorstellen.

Der Film war fast zu perfekt. Sogar die Aussprache von „Agora“ war richtig. Die meisten sagen ja „Agoora“, aber es heißt natürlich „Agoraa“ 🙂

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. März 2010; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden.)

Ayn Rand: Atlas Shrugged (1957)

Heilsame (Über-)Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten

Mit „Atlas Shrugged“ hat Ayn Rand einen Weltanschauungsroman geschrieben, der für viele zu einer Offenbarung, für viele aber auch zu einem Hassobjekt geworden ist. Im Mittelpunkt steht die Idee vom produktiven Menschen, der stolz ist auf seine Errungenschaften, und die Erkenntnis, dass ein Eingreifen in Eigentum und Freiheiten der produktiven Menschen durch soziale Dummschwätzer erstens verlogen und zweitens dumm ist, weil es nicht zu Wohlstand und Gerechtigkeit, sondern zu Niedergang und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft führt. Um diese Grundidee herum hat Ayn Rand eine komplette eigene Weltanschauung entwickelt, derzufolge der Egoismus moralisch ist. Für religiös und / oder sozialistisch sozialisierte Menschen ist diese Idee natürliche eine ungeheure Provokation.

Der Roman ist also eine Parabel mit philosophischer Aussage, doch weder trocken noch belehrend geschrieben (mit Ausnahme einiger zu lang geratener Reden). Vielmehr ist es Ayn Rand gelungen, eine realistische und glaubwürdige Handlung zu entwerfen, die den Leser in eine ganz erstaunliche und spannende Geschichte hineinzieht, von der der Leser oft erst hinterher bemerkt, dass sie nicht nur realistisch, sondern auch beeindruckend symbolisch ist. Neben dieser kunstvollen Konstruktion sind auch die enthaltenen Charakterstudien und Dialoge von produktiven Menschen und sozialen Dummschwätzern Perlen der Literatur.

Erstaunlich ist, wieviele Charaktere, Parolen und exemplarische Situationen aus diesem Roman man auch heute noch in seiner unmittelbaren Gegenwart wiedererkennen und selbst erleben kann. Gerade auch deshalb wird den Leser bisweilen ein unheimliches Gefühl beschleichen: In was für einer Welt lebt man eigentlich? Wie weit sind Freiheit und Vernunft bereits von sozialen Dummschwätzern untergraben worden?

Zu den Dingen, die Ayn Rand zweifelsohne richtig erkannt hat, gehören:

  • Vernunft muss über allem walten. Nur mit ihr können wir unser Universum geistig ordnen, d.h. verstehen, um dadurch fähig zu werden, das Universum auch physisch zu ordnen, d.h. sinnvoll in die Wirklichkeit einzugreifen.
  • Die Realität muss anerkannt werden wie sie nun einmal ist.
  • Man ist vollkommen selbst verantwortlich für die eigene Erkenntnis und das eigene Denken, niemand kann es einem abnehmen.
  • Erkenntnis ist ein ewig fortschreitender Prozess von Irrtum und Selbstkorrektur.
  • Man darf sich eine hinreichend klare Erkenntnis nicht von Relativisten als übertrieben oder überheblich ausreden lassen, sondern man muss sie festhalten.
  • Die Selbstliebe, die Liebe zum Leben, ist der wahre und einzige Antrieb für Moral.
  • Die Selbstachtung darf der Mensch nicht verlieren.
  • Moral ist nicht zuerst das Verhalten zu anderen, sondern das Verhalten zu sich selbst. Auch auf einer einsamen Insel braucht der Mensch Moral. Das Verhalten zu anderen ist ein Ausfluss des Verhaltens zu sich selbst.
  • Materieller Besitz ist der legitime Ausdruck des Geistes, der ihn erschaffen bzw. erwirtschaftet hat.
  • Der Geist ist das Entscheidende, nicht das Kapital.
  • Geist und Materie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie ergänzen sich und gehören zusammen.
  • Der Mittelweg ist nicht immer der richtige Weg; oft gibt es gar keinen Mittelweg.
  • Gerechtigkeit, nicht Barmherzigkeit, ordnet die sozialen Beziehungen in gesunder Weise.
  • Liebe kommt aus Wertschätzung, und ist keineswegs antirational.
  • Man kann nicht alle Menschen lieben, das ist eine Überforderung und unrealistisch.
  • Alles muss einen Zweck haben, niemand sollte eine Sache nur um ihrer selbst willen tun.

Perfekt gelungen ist Ayn Rand die Zeichnung der Charaktere. Die produktiven Menschen sind stolz auf ihre Errungenschaften, und dieser Stolz treibt sie dazu an, noch besser zu werden. Sie sind wie Künstler, die innerlich dazu getrieben sind, eine Vision, die in ihnen schlummert, in einem Werk zum Ausdruck zu bringen. Sie schaffen Werte, von denen auch weniger produktive Menschen profitieren. Ihr Besitz spiegelt ihren Geist wieder. Sie sind Meister darin, ihre Ziele gegen alle auftauchenden Widerstände zu erreichen. Oft jedoch sind es praktische Menschen, die über größere Zusammenhänge nie nachgedacht haben. Deshalb akzeptieren sie das Eingreifen von sozialen Dummschwätzern in ihren Besitz und ihre Freiheit als „moralisch“. Ihre Eigenschaft, Schwierigkeiten überwinden zu können, lässt sie erst spät erkennen, dass die sozialen Dummschwätzer immer mehr und immer Unmöglicheres von ihnen verlangen.

Den produktiven Menschen stehen die sozialen Dummschwätzer gegenüber: Sie machen Grundannahmen über die Welt, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst sind: Dazu gehört die Vorstellung, dass der Staat unendlich viel Geld hat; dass die produktiven Menschen immer genügend motiviert sein werden, egal welchen Regeln man sie unterwirft; dass die produktiven Menschen so unendlich reich sind, dass es ihnen nichts ausmacht, noch mehr und noch mehr abzugeben. Die sozialen Dummschwätzer denken nur an die Umverteilung von Geld, nicht aber daran, wie Werte / Geld erwirtschaftet werden; wie wenn dies von selbst und immer in ausreichendem Maße geschähe. Die sozialen Dummschwätzer weichen bei Nachfragen aus, sobald man sie mit logischen Widersprüchen in ihrem Weltbild konfrontiert. Moralisch ist für sie nur das, was man für andere tut, und nur das, was Opfer fordert. Die Sorge für sich selbst zählt für sie nicht zur Moral. Religiöse Menschen weichen tieferem Nachdenken oft mit dem Verweis darauf aus, dass es wohl Gottes Wille ist, oder dass Gott ein Problem schon lösen wird, oder dass der Mensch zu klein sei, um sich an die Lösung großer Probleme zu wagen. Die intellektuellen Vordenker des sozialen Denkens neigen dazu, Vernunft und Realitätssinn zu schmähen; sie entfesseln die irrationale, neidische, gefühlsgetriebene Bestie in den Menschen. Im Extremfall kommt es zu Diktatur und Mord, bis die Sache sich nach längerer Zeit totgelaufen hat, und keine motivierten produktiven Menschen mehr übrig sind, die die Gesellschaft am Laufen halten könnten. Der Plot von „Atlas Shrugged“ ist es, diesen Prozess des Niedergangs durch einen Streik der produktiven Menschen massiv zu beschleunigen, um so das Endstadium schneller zu erreichen, und den Wiederaufbau zu ermöglichen.

Kritik – Ohne Wissen Antike

Was Ayn Rand hier vorgelegt hat, ist eine Philosophie, die in vielen Punkten mit den philosophischen Errungenschaften der Antike übereinstimmt. Man denke an das Werk „De officiis“ von Cicero, das Friedrich der Große einst „das beste Buch über Moral“ nannte: Dort wird auch der eigene Nutzen in den Mittelpunkt gestellt, und das honestum als nützlich angesehen: D.h. das Ehrenhafte, bzw. das, wofür man geehrt werden würde, wenn es gerecht in der Welt zuginge, sprich: Die Selbstachtung. Die unbedingte Anerkennung der Realität finden wir z.B. bei den Stoikern: Secundum naturam vivere: Gemäß der Wirklichkeit leben.

Leider scheint sich Ayn Rand über diese antiken Wurzeln nicht bewusst zu sein. Sie nennt nur Aristoteles als ihren großen Vordenker, aber das ist nur einer von vielen. Dass Parmenides gemeinhin als der Philosoph angesehen wird, der die Vernunft begründete, ist ihr entgangen. Platon hingegen, das Zentrum der antiken Philosophie, wird von den Anhängern von Ayn Rand als Gegensatz zu Aristoteles und damit negativ gesehen, was vollkommen falsch ist.

Kritik – Selfmade-Philosophie ohne Potential

Auf diese Weise verliert die Philosophie von Ayn Rand an Tiefe und Anschlussfähgikeit, denn diese entsteht nur durch eine Anknüpfung an die Tradition. Ayn Rand erscheint wie eine einsame Einzelkämpferin, mit einer scheinbar originellen Idee, die aufgrund ihrer scheinbaren Alleinstellung zunächst etwas abstrus wirkt. In Wahrheit steht Ayn Rand in der größten denkerischen Tradition der Menschheit, nur wissen zu wenige davon; sie selbst vielleicht auch nicht.

Auch ist manches bei Ayn Rand einseitig oder schräg geraten, was durch eine bessere Kenntnis der antiken Denker leicht hätte korrigiert werden können. Solange die Anhänger von Ayn Rand in diesen Denkfehlern verharren, und den Anschluss an die Tradition nicht suchen, werden sie Einzelkämpfer bleiben, und keine neue Traditon begründen können.

Die Selfmade-Philosophie von Ayn Rand ist natürlich dennoch wertvoll und eine anzuerkennende, „echte“ Philosophie, denn letztlich sind wir alle jeder für sich ein Selfmade-Philosoph, jeder nach seinen Möglichkeiten. Ayn Rand hat vielen Menschen zu besseren Einsichten verholfen, auch wenn sie ihr Potential nicht ausgeschöpft hat.

Kritik – Gefahr einer kollektiven Weltanschauung

Ayn Rand sagte, dass sie keine Weltanschauungsgemeinschaft gründen möchte. Doch im Grunde hat sie genau das getan. Denn ihre Bücher präsentieren eine kompakte, geschlossene Sicht der Dinge. Es werden keine offenen Fragen gestellt, es wird kein Denken angeregt, um eigene Antworten zu finden. Vor allem fehlt Ayn Rand der vielfältige Hintergrund der antiken Philosophie, der ihren Anhängern ein geistiges Umfeld hätte bieten können, um sehr individuelle Weltbilder zu entwickeln.

Tatsächlich haben sich diverse Institutionen gegründet, um die sich die Anhänger des „Objektivismus“ scharen. Allein die Prägung eines Namens für eine Weltanschauung ist bereits ihre Gründung. Es gibt auch einen teils dogmatischen Streit um den wahren Objektivismus. Man muss allerdings zugute halten, dass der Individualismus im Objektivismus so stark betont ist, dass das Schlimmste hoffentlich verhindert wird.

Kritik – Schräges

Ayn Rand hätte deutlicher aussprechen müssen, dass ein unbedingter Wille zur Wahrhaftigkeit wichtig ist, und dass es Arbeit und Mühe und Selbstüberwindung kostet, diesen zu erwerben und zu halten. Die sozialen Dummschwätzer weichen nämlich bei Konfrontation mit Widersprüchen nicht einfach nur deshalb aus, weil sie irrational sind, wie Ayn Rand schreibt. Sondern sie weichen der Anerkennung der Wahrheit gerade deshalb aus, weil für sie der Glaube an das (vermeintlich) Gute stärker ist als der Glaube an die reinigende Kraft der Wahrhaftigkeit auch dort, wo es vielleicht pingelig erscheint. Die sozialen Dummschwätzer glauben tatsächlich, dass eine Lüge eine legitime Waffe ist, um das Gute zu verteidigen, weil sie die Gefahr nicht sehen, dass ein zu hoch getürmtes Lügengebäude sie in Konflikt mit der Wirklichkeit bringt. Dass es ein Problem sein könnte, die Wahrhaftigkeit als nutzlose Pingeligkeit zugunsten des (vermeintlich) Guten beiseite zu schieben, ist ihnen nicht bewusst! Neben dem Willen zur Vernunft ist der Wille zur Wahrhaftigkeit ebenso wichtig, das hat Ayn Rand nicht ausreichend betont.

Ayn Rand hat die Frage nach dem Mitgefühl fast vollkommen übergangen und degeneriert. So schreibt sie S. 970: Hilfe für einen anderen ist in Ordnung, wenn man durch die Anerkennung der Werte des anderen selbst Nutzen in Form von Freude aus der Hilfe zieht. Zunächst hat sie damit das Mitgefühl nur für diejenigen Menschen reserviert, die es wert sind. Der Gedanke, dass man in jedem Menschen allein schon das Potential zum wahren Menschsein und das Potential zum menschlichen Leiden achten muss, fehlt. Damit ist Ayn Rand keine vollwertige Humanistin.

Es fehlt bei Ayn Rand auch die Verdeutlichung des Prinzips, dass das Mitgefühl keineswegs völlig ausgeblendet wird, sondern weiterhin bestehen bleibt als ein berechtigter Faktor unter anderen Faktoren in der eigenen Nutzenkalkulation. Für das Zusammenleben ist das Kalkül mit dem Mitgefühl so zentral, dass es verwundert, dass es bei Ayn Rand nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Die meisten Leser werden nach Abschluss der Lektüre vermutlich das Verständnis gewonnen haben, dass das Mitgefühl als Absolutum böse und deshalb vollkommen ausgeschlossen ist. Denn verlangt nicht John Galt von Dagny Taggart Geld dafür, dass er sie nach ihrem Flugzeugabsturz als Gast aufnimmt und gesund pflegt?

Die Ablehnung von Immanuel Kant durch Ayn Rand gründet sich vermutlich auch darauf, dass Ayn Rand es ihrerseits versäumt hat, die Rolle des Mitgefühls deutlicher zu betonen, und dass Kant es seinerseits versäumt hat, auf den Egoismus in seiner Ethik deutlicher hinzuweisen. Deshalb sieht Ayn Rand in Kant nur einen sozialen Dummschwätzer, der die Selbstaufopferung für andere als Absolutum definiert hätte. Rand und Kant reden aneinander vorbei.

Ayn Rand löst auch den Widerspruch zwischen Gefühl und Verstand nicht auf, sondern entscheidet sich kalt für den Verstand, der über das Gefühl zu stellen ist. Der Gedanke, dass Verstand und Gefühl zwei völlig verschiedene Dimensionen sind, die recht besehen gar nicht in Konflikt miteinander liegen können, fehlt bei Ayn Rand. Was sie hätte sagen sollen, ist, dass es ein Gefühl aus Erfahrung ist, das uns sagt, dass die Benutzung der Vernunft gut tut. Überall dort, wo angeblich Verstand und Gefühl im Konflikt sind, sind in Wahrheit zwei Gefühle miteinander im Konflikt.

Völlig vergessen hat Ayn Rand ein Stereotyp, das für soziale Dummschwätzer vollkommen typisch ist: Das pazifistische Gerede vom Frieden. Auch hier hätte die Antike helfen können: Si vis pacem, para bellum: Wenn Du Frieden willst, rüste zum Krieg. Der Schwache lädt zum Krieg ein, der Starke schreckt andere vom Kriegführen ab.

Kritik – Zu idealistisch für die gesellschaftliche Realität

Die soziale Frage wird in „Atlas Shrugged“ nicht berührt. Was ist mit Menschen, die nicht hinreichend produktiv sein können? Mit Behinderten, Alten, Kranken oder weniger intelligenten Menschen? Sie repräsentieren keinen Wert, den man im Sinne Ayn Rand schätzen könnte, so dass sie nicht einmal Almosen verdient hätten; aber auch Almosen sind keine gute Antwort auf eine gesellschaftliche Herausforderung. Schon im antiken Athen gab es eine staatliche Armenfürsorge. Ayn Rand hat ein viel zu ideales, zu perfektes, zu glattes Menschenbild.

Ayn Rand sagt generell nichts zu der Problematik, dass die Intelligenz in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt ist. Wie soll man sich als intelligenter, produktiver Mensch in einer Welt einrichten, in der die meisten Menschen nicht so sind? Produktive Menschen sind eine zahlenmäßig machtlose Minderheit! Ohne ein Arrangement wird es nicht gehen. Bei Cicero finden wir z.B. die Überlegung, dass die Besitzenden sich politisch engagieren und einen sozialen Ausgleich suchen müssen, weil ihnen ihr rechtmäßiger Besitz sonst weggenommen wird. Eine derartige Überlegung ist bei Ayn Rand nicht zu finden.

Auch zum Thema Demokratie bzw. Republik sagt Ayn Rand nicht eben viel. Man hätte sich z.B. gewünscht, dass sie einen Satz wie den von Churchill formuliert: „Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen.“ Aber sie schweigt. Immerhin lobt sie die Demokratie implizit, indem sie die Anfangsjahre der USA als ideale Zeit preist, und Richter Narragansett korrigiert am Ende des Romans die US-Verfassung, wodurch diese im Grundsatz anerkannt wird.

Recht unversöhnlich zeigt sich Ayn Rand auch gegenüber der Religion. Die Möglichkeit einer aufgeklärten Religiosität, die ihre eigene Geschichte historisch-kritisch aufgearbeitet hat und eine Moral der Lebensfreude predigt, blendet sie aus. Natürlich ist traditionelle Religion immer ein Mangel an Vernunft und Wahrhaftigkeit, aber sollte man nicht Abstufungen der Irrationalität unterscheiden, um das Zusammenleben der Menschen tolerant zu gestalten?

Überhaupt gibt das Buch „Atlas Shrugged“ wenig Handreichung für die Frage, wie man sich denn nun im wirklichen Leben verhalten soll. Die Diagnose ist top, die Therapie flop. Ein Streik der produktiven Menschen ist natürlich nicht realistisch. Im Extremfall könnte man außer Landes gehen, aber eine Lösung für das eigene Land ist das nicht.

Am Ende ihres Lebens nahm Ayn Rand selbst staatliche Wohlfahrt in Anspruch, was ihr immer wieder vorgeworfen wird. Sie hat also auch selbst nicht völlig nach ihren eigenen Idealen gelebt.

Kritik – Kapitalismus ist der falsche Name

Ayn Rand nennt die ideale Gesellschaftsordnung „Kapitalismus“ und ihr Symbol dafür ist das Dollarzeichen. Das erscheint seltsam, denn sie selbst schreibt doch auch, dass nicht das Kapital das Entscheidende ist, sondern der Geist, der dahinter steht. Wäre es demzufolge nicht angemessener gewesen, statt von Kapitalismus z.B. von Philosophie zu sprechen, und statt des Dollarzeichens z.B. das große griechische Phi (Φ) als Symbol für Philosophie zu wählen?

Für Ayn Rand ist die Moral des Händlers, des traders, die Metapher für die richtige Moral. Das ist für viele Situationen ein recht gutes Bild, doch wie sie selbst sagt, hat man Moral nicht zuerst für den Umgang mit anderen, sondern für den Umgang mit sich selbst: Aber mit sich selbst handelt man nicht. Hinzu kommt wiederum, dass gerade bei Geschäftsabschlüssen von Händlern jedes Mitgefühl und jede persönliche Wertschätzung mit Recht ausgeblendet wird. Damit reicht die Händlermetapher nicht hin, um alle Interaktionen von Menschen zu beschreiben, bzw. die Metapher ist zumindest schräg.

Kritik – Welcher Kapitalismus?

Das Ideal von Bei Ayn Rand sind inhabergeführte Personenunternehmen. Der Eigentümer ist zugleich Chef in seinem Unternehmen und ist verantwortlich für alles. Aktiengesellschaften, in denen es nur Manager gibt, die über große Bürokratien herrschen, und in deren Aufsichtsräten wiederum nur Manager von Banken sitzen, entsprechen nicht ihrem Ideal. Aktiengesellschaften, wo die Eigentümer zu weitgehend rechtlosen Aktionären degradiert sind, und echte Unternehmer nicht mehr vorkommen, sind aber im heutigen Kapitalismus der Normalfall. Insofern stellt sich die Frage, ob das, was Ayn Rand als Ideal vorschwebt, tatsächlich hinreichend mit dem Wort „Kapitalismus“ beschrieben ist.

Kritik – Naive Erkenntislehre

Ayn Rand ist misstrauisch gegen jede Form von Unklarheit, und sie meint, der Mensch hätte objektive Klarheit über die Objekte, die er erkennt. Daher auch der Name „Objektivismus“. Dass die menschlichen Sinne und die Verarbeitung der Sinneseindrücke bis zum Moment ihrer Bewusstwerdung und darüber hinaus bis zur Interpretation theoretisch beliebig von der Realität abweichen können, lässt sie unbeachtet. Kant wird verworfen. Auch der berühmte Satz des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ wird als Zeichen der Vernunftwidrigkeit und des Relativismus verworfen, was äußerst schmerzlich ist (S. 952). Für Ayn Rand gibt es nur Fakten oder keine Fakten. Dazwischen gibt es nichts. Die Natur gehorche Gesetzen, die sich nicht änderten. Dass dies nur eine Beobachtungserfahrung ist, von der keineswegs sicher ist, dass sie immer gilt, ist ihr ebenso wenig bekannt, wie die Änderung von Naturgesetzen im Zuge vertiefter Einsichten in der Wissenschaftsgeschichte. Man denke z.B. an das Aufgehen der Newtonschen Gesetze in den Gesetzen der relativistischen Physik.

Damit hat Ayn Rand ein zentrales Thema jeder Philosophie seit der Antike verfehlt: Dass der Mensch sehr viele Dinge nicht oder nur ungenau weiß, und dennoch dazu gezwungen ist, sich daraus mithilfe von Schätzungen, Annahmen, Postulaten, usw. ein Weltbild zu zimmern, das immer vorläufig ist und immer nachgebessert werden muss, und niemals letzte Gewissheit erlangt. Das Prinzip des ständigen Nachbesserns hat Ayn Rand zwar erkannt, aber die tieferen Gründe dafür leider nicht. Ayn Rand hat gewissermaßen nicht verstanden, was Platon mit seinem Konzept des „eikos mythos“, der „wahrscheinlichen Behauptung“, sagen wollte. Auch die fundamentale Großartigkeit des „Ich weiß, dass ich nichts weiss“ des Sokrates hat sich ihr bedauerlicherweise nicht erschlossen.

Fazit: Ein großartiges Buch mit Schwächen

Für sehr viele Menschen ist das Werk von Ayn Rand wie ein offener Türspalt, durch den sie einen Lichtstrahl aus jenem Reich erlangt haben, das die antike Philosophie eröffnet: Das Reich der Vernunft und der Aufklärung, das Reich der Freiheit und der Lebenslust! Auch wenn Ayn Rand die Tür dazu nicht völlig aufgestoßen hat, so hat sie doch viel erreicht.

Ihr Werk ist ein Klassiker der weltanschaulichen Literatur geworden, das jeder gelesen haben sollte: Einmal wegen seiner starken Bilder, die große Überzeugungskraft haben und Ikonen der Wahrheit bleiben werden, sei es Hank Rearden und Dagny Taggart und die Eisenbahn- und Stahlindustrie, seien es die sozialen Dummschwätzer wie James Taggart oder Hank Reardens Familie, seien es die Intellektuellen wie Balph Eubank oder Floyd Ferris, oder die Strippenzieher in Washington, oder natürlich John Galt, der von Ayn Rand für den Leser zu einer Figur aufgebaut wird, die über die Grenzen des Romans existiert, fast wie Jesus für Christen: John Galt ist überall und er begleitet uns, wo immer wir hingehen! (S. 745) Sein Körper wird mit einer griechischen Statue verglichen (S. 1045). – Ayn Rands Werk ist aber auch lesenswert, weil es für sehr viele Menschen zum Kristallisationspunkt eines vernunftorientierten Denkens geworden ist. Daran kann und muss man anknüpfen.

Ayn Rands „Atlas Shrugged“ ist eine heilsame Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten, wenn auch eine Überreaktion, die sich aus der Biographie von Ayn Rand erklären lässt.

Atlantis

In Ayn Rands „Atlas Shrugged“ wird Atlantis vor allem als eine Chiffre für das Paradies auf Erden verwendet, in dem die Menschen gemäß ihrer Vernunft in einem glücklichen Kapitalismus leben können (S. 147, 586, 643, 688, 735, 745, 843, 876, 1004). Dieses Atlantis realisiert sich im Roman in dem geheimen Tal, in das sich die produktiven Menschen zu ihrem Streik zurückziehen.

Die Grundvorstellung von Ayn Rand über das originale Atlantis ist falsch, sie verwechselt es praktisch mit der Insel der Seligen. Zudem hat Ayn Rand die Geschichte von Atlantis ihrer Vorstellung vom versteckten Tal als Paradies auf Erden angepasst, was der Leser übrigens erst viele hundert Seiten später erkennen kann. Das Atlantis bei Ayn Rand hat also nichts mehr mit dem Atlantis des Platon zu tun. Das Kraftwerk im Tal von Atlantis mit dem Motor von John Galt und dem eingeschriebenen Eid wird auch als „Tempel von Atlantis“ angesprochen (S. 843).

Der Chiffre-Charakter kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass neben der Atlantis-Chiffre auch noch weitere Elemente der antiken und anderweitigen Literatur als Chiffren für dieselbe Sache verwendet werden, so z.B. Prometheus oder die Quelle der Jugend (S. 478, 664 f.).

Der Untergang von Atlantis wird übrigens auch als Chiffre für das wegen sozialen Dummschwätzertums ökonomisch niedergehende New York verwendet (S. 583). Zuletzt ist Atlantis neben dem Garten Eden eine Chiffre für den Unschuldsstatus in der Kindheit, in der die wahren Werte des Menschseins noch nicht verbogen seien (S. 968).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Januar 2015)

Florian Illies: 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts (2012)

Wunderschöner Spaziergang durch unser Bildungswissen zu dieser Epoche

Das Buch „1913“ von Florian Illies ist ein klassisches Buch für Leute, die schon gebildet sind: Spielerisch präsentiert Illies in angenehm kurzen Absätzen, was berühmte Schriftsteller, Wissenschaftler, Dichter, Politiker und andere berühmte Leute im Jahr 1913 gedacht und getan haben.

Diese spielerische Kürze ist dabei nur möglich, weil der Leser schon umfangreiches Vorwissen über die einzelnen Personen hat. Auch die Pointen erschließen sich nur dem ganz, der nicht zum ersten Mal von den beschriebenen Personen und Ereignissen hört. Dann aber, wenn dieses Vorwissen schon da ist, ist es ein reiner Genuss und ein Feuerwerk des Witzes. Außerdem ist dieses Buch eine vielfältige Anregung, dies oder jenes noch einmal nachzulesen und nachzuschlagen, insbesondere auch die vielen genannten Gemälde noch einmal anzusehen, denn Bildung erneuert sich gerne selbst und ist nie am Ende. Man lernt immer noch etwas dazu. Und es erschließt sich so mancher Zusammenhang, den man bei der Betrachtung der Personen jeweils für sich so nie gesehen hätte.

Rundherum ein Buch, das man mit großer Freude gelesen hat. Für Leute, denen die Bildung noch fehlt, ist dieses Buch ein Arbeitsauftrag: Arbeiten Sie sich durch, nehmen Sie sich dafür Zeit! Sie werden im Laufe Ihres Lebens reich dafür belohnt werden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 24. April 2017)

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