Schlagwort: Atlantis

Julia Voss: Darwins Jim Knopf (2009)

Michael Endes Jim Knopf als positive „Bannung“ und Umprogrammierung negativer Mythen und Bilder

Der deutsche Kinder- und Jugendbuchautor Michael Ende (1929-1995) begann seine Karriere 1960/62 mit dem zweibändigen Werk Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13, das zu einem Klassiker der deutschen Kinderbuchliteratur wurde. Lange Zeit galt das Werk als ein gelungenes Erzeugnis der freien Phantasie des Autors. Doch 2009 veröffentlichte die Literaturwissenschaftlerin Julia Voss eine Untersuchung, derzufolge Michael Ende mit den Motiven dieses Jugendbuches Motive des Nationalsozialismus aufgriff, um sie durch eine alternative Bilderwelt zu überschreiben und umzuprogrammieren, mithin also positiv zu „bannen“.

Der schwarze Junge und Held des Buches Jim Knopf entspricht dem realen Jemmy Button, dem Charles Darwin auf seiner Reise mit der Beagle begegnete: Damit ist das Thema des Darwinismus gesetzt. Die Drachenwelt Kummerland, zu der keine Halbdrachen Zugang haben, entspricht der Welt des Nationalsozialismus, die auf Reinrassigkeit wert legte. Der autoritäre Lehrerdrache Frau Malzahn verwandelt sich später in einen Drachen der Weisheit und des Glücks. Und schließlich führt die Reise von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer in eine versunkene Stadt, die am Ende der Geschichte aus den Tiefen des Meeres wieder auftaucht. Dabei entpuppt sich die kleine Insel Lummerland, die Heimat von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer, als die höchste Bergesspitze eines versunkenen Kontinentes. Aus allen Himmelsrichtungen ziehen die Völker herbei, um in trauter Eintracht in dem neuen Land zu leben. Der Name „Atlantis“ wird bei Michael Ende zwar nicht explizit genannt, doch ist das Motiv unverkennbar. Ähnlich wie in Thomas Manns Joseph und seine Brüder ist Atlantis bei Michael Ende nicht der Ursprungsort einer „reinen“ Rasse, sondern im Gegenteil ein Ort, an dem verschiedene Kulturen zusammenleben. Ähnlich wie bei Thomas Mann ist bei Michael Ende nicht etwa die Vernichtung des Bösen, sondern die Erneuerung und Verwandlung des Bösen zum Guten das Ziel: Der Drache Mahlzahn verwandelt sich in einen Drachen der Weisheit und des Glücks, und das versunkene Atlantis taucht wieder auf.

Woher Michael Ende die Idee hatte, dass es eine Verbindung zwischen Atlantis und Nationalsozialismus gab, ist unbekannt. Die Schulszene mit dem Lehrerdrachen Frau Mahlzahn lässt vermuten, dass Michael Ende seine persönlichen negativen Eindrücke über den Nationalsozialismus hauptsächlich in der Schule gewonnen hatte. Einzelne Lehrer können ihre Schüler mit dem Thema Atlantis traktiert haben, obwohl dies nicht der offiziellen Parteilinie entsprach. Eine wichtige Rolle der Schule vermutet auch Julia Voss, allerdings verengt auf den Biologieunterricht. Vielleicht würde man fündig, wenn man statt des Biologie- den Geschichts- oder Geographieunterricht in den Blick nehmen und statt nach offiziellen Lehrplänen nach den konkreten Lehrern des Schülers Michael Ende fragen würde?

Fehler

Leider sind Julia Voss einige typische Irrtümer unterlaufen, die im Zusammenhang mit dem Thema Atlantis und Nationalsozialismus im Umlauf sind, die wir an dieser Stelle kurz aufklären wollen. So schreibt sie z.B.: „Atlantis, der alte Mythos, den die Nationalsozialisten in Deutschland zuvor an sich gerissen und in unzähligen Kinderbüchern zu einer biologischen Rassenparabel umkodiert hatten. … … … Mit dem Nationalsozialismus war die Wahnvorstellung massentauglich geworden. … … … … fand … der Atlantis-Mythos seinen größten Umschlagplatz in der Kinder- und Jugendbuchliteratur.“

Natürlich spielte Atlantis im Nationalsozialismus keine Rolle, erst recht keine öffentliche Rolle, und Julia Voss kann natürlich keine „unzähligen Kinderbücher“ vorweisen, in denen das Atlantisthema im Nationalsozialismus verarbeitet worden wäre. Das einzige Beispiel, das Julia Voss vorweist, ist die Groschenromanserie Sun Koh – Der Erbe von Atlantis. Das ist aber erstens kein Kinderbuch, und zweitens ist diese Serie keine Erfindung der Nationalsozialisten. Ganz im Gegenteil: Unter Einfluss der Nationalsozialisten musste eine der beiden Hauptfiguren der Serie – ein Schwarzer – erst künstlich aus der Serie entfernt werden, wie Julia Voss selbst beschreibt. Schließlich ist Sun Koh eine Phantasiegeschichte, die keinen Wahrheitsanspruch erhebt. Wegen Sun Koh hat im Nationalsozialismus gewiss niemand an Atlantis geglaubt, geschweige denn vermutet, dass Atlantis etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun haben könnte. Im Gegenteil hat Sun Koh dazu beigetragen, dass Atlantis als ein literarischer Topos für phantasievolle Groschenromane und nicht als ein realer Ort wahrgenommen wurde.

Dass die Groschenromanserie Sun Koh – Der Erbe von Atlantis nicht als Ausdruck eines engen Verhältnisses von Nationalsozialismus und Atlantis gesehen werden kann, wird auch daran deutlich, dass es seit 1941 eine US-Comicserie gab, die eine ganz ähnliche Thematik hatte und ein ganz ähnliches look and feel aufwies: Aquaman. Aquaman ist ein moderner Mensch, der sich unter Wasser bewegen kann und dessen Mutter von Atlantis stammt. Die bevorzugten Gegner von Aquaman während des Zweiten Weltkrieges waren nationalsozialistische U-Boote: Hier waren Atlantis und Nationalsozialismus also Gegensätze. Aquaman ist bis heute eine feste Größe in der US-amerikanischen Popkultur. Im Jahr 2018 erschien der Kinofilm Aquaman, der Kinostart in Deutschland war am 20. Dezember 2018.

Auch bei den möglichen Ursachen der angeblichen Atlantisbegeisterung der Nationalsozialisten folgt Julia Voss den klassischen Irrtümern: Theosophen und Ariosophen werden als Quellen dieser Idee genannt. Doch Julia Voss weiß weder etwas von Gleizès und Richard Wagner, noch vom Artamanenbund.

Diese populären Irrtümer schmälern natürlich in keiner Weise die großartige Entdeckung von Julia Voss, dass Michael Endes Jim Knopf der Versuch einer systematischen Umprogrammierung vermeintlicher oder echter Motive des Nationalsozialismus war.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung als Unterkapitel in Thorwald C. Franke: Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis, 2016)

PS 28.02.2024

Am 22. Februar 2024 ging die Schreckensmeldung durch die Presse: Nun ist auch Michael Endes Jim Knopf im Sinne des Wokismus sprachlich und bildlich „bereinigt“ worden. Das Wort „Neger“ wird vermieden und als angeblich rassistisches „N-Wort“ geschmäht, und auch das schöne Wort „Mandelaugen“ fiel dem Rassismusvorwurf zum Opfer. Die bekannten Grafiken wurden retuschiert, z.B. um die „schwarzen“ Eigenschaften von Jim Knopf weicher zu zeichnen.

Der Vorgang ist an sich schon grotesk, aber im Falle von Michael Endes Jim Knopf zeigt sich die ganze Lächerlichkeit des Wokismus mit besonderer Deutlichkeit: Denn eine zentrale Technik in den Werken Michael Endes ist die positive „Bannung“ von Vorurteilen und Stereotypen, indem diese positiv gewendet und „umprogrammiert“ werden, wie oben beschrieben. Der Effekt dieser positiven Bannung geht nun jedoch teilweise verloren, denn umprogrammieren kann man nur das, was man auch offen und unverblümt darstellt!

Durchgeführt wurde die Säuberungsaktion vom Verlag Thienemann, in Abstimmung mit den Erben Michael Endes. Der ganze Vorgang ist an Dummheit und Unverschämtheit kaum zu überbieten. Es handelt sich um nichts anderes als um einen Anschlag auf einen sehr wertvollen Teil unserer deutschen Kultur. Denn wo sonst finden wir einen so konstruktiven und aufbauenden Umgang mit dem Nationalsozialismus?

Jan Assmann: Weisheit und Mysterium – Das Bild der Griechen von Ägypten (1999)

Ein schönes, kenntnisreiches Büchlein – Anwendungsfall Atlantis

Dieses Büchlein überrascht zunächst durch seine Aufmachung: Obwohl ein Taschenbuch, hat es ein edles Cover mit Goldprägung. – Im Inneren erwarten einen dann kenntnisreiche Ausführungen von Assmann zum Beziehungsverhältnis zwischen Griechenland und Ägypten. Dabei pflegt Assmann seinen bekannt angenehmen Plauderton, der den Stoff gefällig präsentiert. Leider fallen dabei ein paar harte Fragen unter den Tisch, wie z.B. die Diskussion, ob wirklich alle griechischen Ägyptenreisenden auch tatsächlich in Ägypten waren.

Auch Platons Atlantis-Erzählung wird kurz angesprochen, um die Beziehungen der Griechen zu Ägypten zu verdeutlichen. Allerdings lässt Assmann zu Platons Atlantis viele Fragen offen und verfolgt so manchen Gedankenfaden nicht weiter. Wer in diesem Punkt wissen möchte, was man aus dem Wissen in Assmanns Büchlein in bezug auf Platons Atlantis machen kann, sei verwiesen auf: Franke: „Mit Herodot auf den Spuren von Atlantis“. – Empfehlung!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Januar 2007)

Andrea Marcolongo: Warum Altgriechisch genial ist – Eine Liebeserklärung an die Sprache, mit der alles begann (2018)

Schwärmerisch-merkwürdige Auffrischung des Altgriechischen: Con passione!

Der Inhalt dieses Büchleins ließe sich kurz dadurch beschreiben, dass darin all jene Ratschläge, Eselsbrücken, Weisheiten, Anekdoten und Zusatzinformationen zusammengestellt wurden, die ein Altgriechischlehrer seinen Schülern im Verlaufe des Altgriechischunterrichtes über den bloßen Lehrstoff hinaus vermittelt. Es ist ein lockeres Revue-Passieren der altgriechischen Literatur, Sprachlehre und Grammatik. Wer einmal Altgriechisch gelernt hatte, wird darin eine willkommene, lockere Auffrischung seines Wissens finden. Wer noch nie Altgriechisch gelernt hat, wird mit diesem Büchlein wenig anfangen können. Dem sei besser „The Greek Way“ von Edith Hamilton empfohlen.

Das Buch hat einen großartigen Ansatz, aber leider ist die Umsetzung etwas problematisch. Die Autorin, die sich übrigens selbst als „merkwürdig“ bezeichnet, schwärmt leidenschaftlich vom Altgriechischen und hat über ihrer Schwärmerei die Genauigkeit vergessen. Vieles wird nicht völlig korrekt dargestellt. Meistens meint die Autorin zwar das richtige (so hofft man wenigstens!), sie formuliert aber schräg und schief und trifft den Punkt nicht. Auf diese Weise wird das Büchlein für den kundigen Leser auch zu einer kleinen Denksportaufgabe, was der Auffrischung des Stoffes nur gut tun kann – unfreiwillig.

Teilweise verliert sich die Autorin trotz gegenteiliger Beteuerung doch etwas zu sehr in trockener Grammatik, und versäumt, den Sinn dahinter in den Vordergrund zu stellen. Manches Thema wurde nicht behandelt, obwohl es sich angeboten hätte, so z.B. das Verhältnis von Philosophie und Altgriechisch, oder die Fähigkeit des Altgriechischen durch Verkettung von Worten neue Worte zu bilden. Und dort, wo es richtig spannend wird, nämlich in der Frage, wie das Altgriechische die Schüler für immer verändert, ist die Autorin viel zu kurz angebunden.

Eine gewisse Oberflächlichkeit ist leider nicht zu verkennen. Sie fand sich auch in einer Podiumsdiskussion mit der Autorin auf der Frankfurter Buchmesse am 13.10.2018 wieder. Dort wurde u.a. davon gesprochen, dass die Welt der griechischen Stadtstaaten durch ihre sprachliche Identität zusammengehalten wurde, und dass dies ein Modell für Europa sein könnte. Der Vergleich ist aber höchst schief, denn Europa ist keine Sprachgemeinschaft. Man könnte eher einen Vergleich zu den angelsächsischen Staaten ziehen. Schiefheiten und Oberflächlichkeiten von dieser Art erwarten den Leser in diesem Buch.

Man muss der Autorin allerdings zugute halten, dass sie mit ihrem unbeholfenen Büchlein und vielleicht mehr noch durch ihre sympathische Person etwas geschafft hat, was Anerkennung verdient: Sie hat positive Aufmerksamkeit auf das Erlernen der alten Sprachen gelenkt. Es soll inzwischen beachtliche 500.000 verkaufte Exemplare weltweit geben! Deshalb bekommt dieses Büchlein einen Punkt mehr, als es eigentlich verdient hätte. Die Autorin ist eben in einem positiven Sinne merkwürdig, wie sie selbst sagt. Nehmen wir sie und ihr Buch so, wie sie sind – con passione – und freuen wir uns über die Aufmerksamkeit, die die Autorin erregen konnte. Denn auch das ist eine Kunst.

Atlantis:

An zwei Stellen bindet Andrea Marcolongo das Thema Atlantis ein. Auf S. 45 gibt sie als Ursachen für den Wandel der griechischen Sprache in den dunklen Jahrhunderten Eroberungen, Migration und gesellschaftlichen Wandel an, und stellt ihren Leser dann die rhetorische Frage, ob sie etwa an Naturkatastrophen oder gar Atlantis geglaubt hatten? Auf S. 237 spricht sie über dieselbe Epoche der dunklen Jahrhunderte, über die es „zahlreiche trostlose Legenden“ über „Naturkatastrophen wie Erdbeben und Tsunamis“ gäbe, die „den Untergang ganzer Inseln und Völkerschaften bewirkt haben sollen“. Eine unmissverständliche Anspielung auf Atlantis!

Die Autorin lässt damit offen, wie sie zum Thema Atlantis steht. Sie behandelt das Thema mit einem Augenzwinkern. Die anfänglich Atlantis-skeptische erscheinende rhetorische Frage bleibt ohne klare Antwort, und wird durch den späteren Verweis auf die Legenden über Atlantis konterkariert. Aber es sind eben nur Legenden. Die Autorin spielt mit dem Thema Atlantis, ohne sich zu entscheiden. Das muss sie auch nicht.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. November 2018)

Ayn Rand: Atlas Shrugged (1957)

Heilsame (Über-)Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten

Mit „Atlas Shrugged“ hat Ayn Rand einen Weltanschauungsroman geschrieben, der für viele zu einer Offenbarung, für viele aber auch zu einem Hassobjekt geworden ist. Im Mittelpunkt steht die Idee vom produktiven Menschen, der stolz ist auf seine Errungenschaften, und die Erkenntnis, dass ein Eingreifen in Eigentum und Freiheiten der produktiven Menschen durch soziale Dummschwätzer erstens verlogen und zweitens dumm ist, weil es nicht zu Wohlstand und Gerechtigkeit, sondern zu Niedergang und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft führt. Um diese Grundidee herum hat Ayn Rand eine komplette eigene Weltanschauung entwickelt, derzufolge der Egoismus moralisch ist. Für religiös und / oder sozialistisch sozialisierte Menschen ist diese Idee natürliche eine ungeheure Provokation.

Der Roman ist also eine Parabel mit philosophischer Aussage, doch weder trocken noch belehrend geschrieben (mit Ausnahme einiger zu lang geratener Reden). Vielmehr ist es Ayn Rand gelungen, eine realistische und glaubwürdige Handlung zu entwerfen, die den Leser in eine ganz erstaunliche und spannende Geschichte hineinzieht, von der der Leser oft erst hinterher bemerkt, dass sie nicht nur realistisch, sondern auch beeindruckend symbolisch ist. Neben dieser kunstvollen Konstruktion sind auch die enthaltenen Charakterstudien und Dialoge von produktiven Menschen und sozialen Dummschwätzern Perlen der Literatur.

Erstaunlich ist, wieviele Charaktere, Parolen und exemplarische Situationen aus diesem Roman man auch heute noch in seiner unmittelbaren Gegenwart wiedererkennen und selbst erleben kann. Gerade auch deshalb wird den Leser bisweilen ein unheimliches Gefühl beschleichen: In was für einer Welt lebt man eigentlich? Wie weit sind Freiheit und Vernunft bereits von sozialen Dummschwätzern untergraben worden?

Zu den Dingen, die Ayn Rand zweifelsohne richtig erkannt hat, gehören:

  • Vernunft muss über allem walten. Nur mit ihr können wir unser Universum geistig ordnen, d.h. verstehen, um dadurch fähig zu werden, das Universum auch physisch zu ordnen, d.h. sinnvoll in die Wirklichkeit einzugreifen.
  • Die Realität muss anerkannt werden wie sie nun einmal ist.
  • Man ist vollkommen selbst verantwortlich für die eigene Erkenntnis und das eigene Denken, niemand kann es einem abnehmen.
  • Erkenntnis ist ein ewig fortschreitender Prozess von Irrtum und Selbstkorrektur.
  • Man darf sich eine hinreichend klare Erkenntnis nicht von Relativisten als übertrieben oder überheblich ausreden lassen, sondern man muss sie festhalten.
  • Die Selbstliebe, die Liebe zum Leben, ist der wahre und einzige Antrieb für Moral.
  • Die Selbstachtung darf der Mensch nicht verlieren.
  • Moral ist nicht zuerst das Verhalten zu anderen, sondern das Verhalten zu sich selbst. Auch auf einer einsamen Insel braucht der Mensch Moral. Das Verhalten zu anderen ist ein Ausfluss des Verhaltens zu sich selbst.
  • Materieller Besitz ist der legitime Ausdruck des Geistes, der ihn erschaffen bzw. erwirtschaftet hat.
  • Der Geist ist das Entscheidende, nicht das Kapital.
  • Geist und Materie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie ergänzen sich und gehören zusammen.
  • Der Mittelweg ist nicht immer der richtige Weg; oft gibt es gar keinen Mittelweg.
  • Gerechtigkeit, nicht Barmherzigkeit, ordnet die sozialen Beziehungen in gesunder Weise.
  • Liebe kommt aus Wertschätzung, und ist keineswegs antirational.
  • Man kann nicht alle Menschen lieben, das ist eine Überforderung und unrealistisch.
  • Alles muss einen Zweck haben, niemand sollte eine Sache nur um ihrer selbst willen tun.

Perfekt gelungen ist Ayn Rand die Zeichnung der Charaktere. Die produktiven Menschen sind stolz auf ihre Errungenschaften, und dieser Stolz treibt sie dazu an, noch besser zu werden. Sie sind wie Künstler, die innerlich dazu getrieben sind, eine Vision, die in ihnen schlummert, in einem Werk zum Ausdruck zu bringen. Sie schaffen Werte, von denen auch weniger produktive Menschen profitieren. Ihr Besitz spiegelt ihren Geist wieder. Sie sind Meister darin, ihre Ziele gegen alle auftauchenden Widerstände zu erreichen. Oft jedoch sind es praktische Menschen, die über größere Zusammenhänge nie nachgedacht haben. Deshalb akzeptieren sie das Eingreifen von sozialen Dummschwätzern in ihren Besitz und ihre Freiheit als „moralisch“. Ihre Eigenschaft, Schwierigkeiten überwinden zu können, lässt sie erst spät erkennen, dass die sozialen Dummschwätzer immer mehr und immer Unmöglicheres von ihnen verlangen.

Den produktiven Menschen stehen die sozialen Dummschwätzer gegenüber: Sie machen Grundannahmen über die Welt, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst sind: Dazu gehört die Vorstellung, dass der Staat unendlich viel Geld hat; dass die produktiven Menschen immer genügend motiviert sein werden, egal welchen Regeln man sie unterwirft; dass die produktiven Menschen so unendlich reich sind, dass es ihnen nichts ausmacht, noch mehr und noch mehr abzugeben. Die sozialen Dummschwätzer denken nur an die Umverteilung von Geld, nicht aber daran, wie Werte / Geld erwirtschaftet werden; wie wenn dies von selbst und immer in ausreichendem Maße geschähe. Die sozialen Dummschwätzer weichen bei Nachfragen aus, sobald man sie mit logischen Widersprüchen in ihrem Weltbild konfrontiert. Moralisch ist für sie nur das, was man für andere tut, und nur das, was Opfer fordert. Die Sorge für sich selbst zählt für sie nicht zur Moral. Religiöse Menschen weichen tieferem Nachdenken oft mit dem Verweis darauf aus, dass es wohl Gottes Wille ist, oder dass Gott ein Problem schon lösen wird, oder dass der Mensch zu klein sei, um sich an die Lösung großer Probleme zu wagen. Die intellektuellen Vordenker des sozialen Denkens neigen dazu, Vernunft und Realitätssinn zu schmähen; sie entfesseln die irrationale, neidische, gefühlsgetriebene Bestie in den Menschen. Im Extremfall kommt es zu Diktatur und Mord, bis die Sache sich nach längerer Zeit totgelaufen hat, und keine motivierten produktiven Menschen mehr übrig sind, die die Gesellschaft am Laufen halten könnten. Der Plot von „Atlas Shrugged“ ist es, diesen Prozess des Niedergangs durch einen Streik der produktiven Menschen massiv zu beschleunigen, um so das Endstadium schneller zu erreichen, und den Wiederaufbau zu ermöglichen.

Kritik – Ohne Wissen Antike

Was Ayn Rand hier vorgelegt hat, ist eine Philosophie, die in vielen Punkten mit den philosophischen Errungenschaften der Antike übereinstimmt. Man denke an das Werk „De officiis“ von Cicero, das Friedrich der Große einst „das beste Buch über Moral“ nannte: Dort wird auch der eigene Nutzen in den Mittelpunkt gestellt, und das honestum als nützlich angesehen: D.h. das Ehrenhafte, bzw. das, wofür man geehrt werden würde, wenn es gerecht in der Welt zuginge, sprich: Die Selbstachtung. Die unbedingte Anerkennung der Realität finden wir z.B. bei den Stoikern: Secundum naturam vivere: Gemäß der Wirklichkeit leben.

Leider scheint sich Ayn Rand über diese antiken Wurzeln nicht bewusst zu sein. Sie nennt nur Aristoteles als ihren großen Vordenker, aber das ist nur einer von vielen. Dass Parmenides gemeinhin als der Philosoph angesehen wird, der die Vernunft begründete, ist ihr entgangen. Platon hingegen, das Zentrum der antiken Philosophie, wird von den Anhängern von Ayn Rand als Gegensatz zu Aristoteles und damit negativ gesehen, was vollkommen falsch ist.

Kritik – Selfmade-Philosophie ohne Potential

Auf diese Weise verliert die Philosophie von Ayn Rand an Tiefe und Anschlussfähgikeit, denn diese entsteht nur durch eine Anknüpfung an die Tradition. Ayn Rand erscheint wie eine einsame Einzelkämpferin, mit einer scheinbar originellen Idee, die aufgrund ihrer scheinbaren Alleinstellung zunächst etwas abstrus wirkt. In Wahrheit steht Ayn Rand in der größten denkerischen Tradition der Menschheit, nur wissen zu wenige davon; sie selbst vielleicht auch nicht.

Auch ist manches bei Ayn Rand einseitig oder schräg geraten, was durch eine bessere Kenntnis der antiken Denker leicht hätte korrigiert werden können. Solange die Anhänger von Ayn Rand in diesen Denkfehlern verharren, und den Anschluss an die Tradition nicht suchen, werden sie Einzelkämpfer bleiben, und keine neue Traditon begründen können.

Die Selfmade-Philosophie von Ayn Rand ist natürlich dennoch wertvoll und eine anzuerkennende, „echte“ Philosophie, denn letztlich sind wir alle jeder für sich ein Selfmade-Philosoph, jeder nach seinen Möglichkeiten. Ayn Rand hat vielen Menschen zu besseren Einsichten verholfen, auch wenn sie ihr Potential nicht ausgeschöpft hat.

Kritik – Gefahr einer kollektiven Weltanschauung

Ayn Rand sagte, dass sie keine Weltanschauungsgemeinschaft gründen möchte. Doch im Grunde hat sie genau das getan. Denn ihre Bücher präsentieren eine kompakte, geschlossene Sicht der Dinge. Es werden keine offenen Fragen gestellt, es wird kein Denken angeregt, um eigene Antworten zu finden. Vor allem fehlt Ayn Rand der vielfältige Hintergrund der antiken Philosophie, der ihren Anhängern ein geistiges Umfeld hätte bieten können, um sehr individuelle Weltbilder zu entwickeln.

Tatsächlich haben sich diverse Institutionen gegründet, um die sich die Anhänger des „Objektivismus“ scharen. Allein die Prägung eines Namens für eine Weltanschauung ist bereits ihre Gründung. Es gibt auch einen teils dogmatischen Streit um den wahren Objektivismus. Man muss allerdings zugute halten, dass der Individualismus im Objektivismus so stark betont ist, dass das Schlimmste hoffentlich verhindert wird.

Kritik – Schräges

Ayn Rand hätte deutlicher aussprechen müssen, dass ein unbedingter Wille zur Wahrhaftigkeit wichtig ist, und dass es Arbeit und Mühe und Selbstüberwindung kostet, diesen zu erwerben und zu halten. Die sozialen Dummschwätzer weichen nämlich bei Konfrontation mit Widersprüchen nicht einfach nur deshalb aus, weil sie irrational sind, wie Ayn Rand schreibt. Sondern sie weichen der Anerkennung der Wahrheit gerade deshalb aus, weil für sie der Glaube an das (vermeintlich) Gute stärker ist als der Glaube an die reinigende Kraft der Wahrhaftigkeit auch dort, wo es vielleicht pingelig erscheint. Die sozialen Dummschwätzer glauben tatsächlich, dass eine Lüge eine legitime Waffe ist, um das Gute zu verteidigen, weil sie die Gefahr nicht sehen, dass ein zu hoch getürmtes Lügengebäude sie in Konflikt mit der Wirklichkeit bringt. Dass es ein Problem sein könnte, die Wahrhaftigkeit als nutzlose Pingeligkeit zugunsten des (vermeintlich) Guten beiseite zu schieben, ist ihnen nicht bewusst! Neben dem Willen zur Vernunft ist der Wille zur Wahrhaftigkeit ebenso wichtig, das hat Ayn Rand nicht ausreichend betont.

Ayn Rand hat die Frage nach dem Mitgefühl fast vollkommen übergangen und degeneriert. So schreibt sie S. 970: Hilfe für einen anderen ist in Ordnung, wenn man durch die Anerkennung der Werte des anderen selbst Nutzen in Form von Freude aus der Hilfe zieht. Zunächst hat sie damit das Mitgefühl nur für diejenigen Menschen reserviert, die es wert sind. Der Gedanke, dass man in jedem Menschen allein schon das Potential zum wahren Menschsein und das Potential zum menschlichen Leiden achten muss, fehlt. Damit ist Ayn Rand keine vollwertige Humanistin.

Es fehlt bei Ayn Rand auch die Verdeutlichung des Prinzips, dass das Mitgefühl keineswegs völlig ausgeblendet wird, sondern weiterhin bestehen bleibt als ein berechtigter Faktor unter anderen Faktoren in der eigenen Nutzenkalkulation. Für das Zusammenleben ist das Kalkül mit dem Mitgefühl so zentral, dass es verwundert, dass es bei Ayn Rand nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Die meisten Leser werden nach Abschluss der Lektüre vermutlich das Verständnis gewonnen haben, dass das Mitgefühl als Absolutum böse und deshalb vollkommen ausgeschlossen ist. Denn verlangt nicht John Galt von Dagny Taggart Geld dafür, dass er sie nach ihrem Flugzeugabsturz als Gast aufnimmt und gesund pflegt?

Die Ablehnung von Immanuel Kant durch Ayn Rand gründet sich vermutlich auch darauf, dass Ayn Rand es ihrerseits versäumt hat, die Rolle des Mitgefühls deutlicher zu betonen, und dass Kant es seinerseits versäumt hat, auf den Egoismus in seiner Ethik deutlicher hinzuweisen. Deshalb sieht Ayn Rand in Kant nur einen sozialen Dummschwätzer, der die Selbstaufopferung für andere als Absolutum definiert hätte. Rand und Kant reden aneinander vorbei.

Ayn Rand löst auch den Widerspruch zwischen Gefühl und Verstand nicht auf, sondern entscheidet sich kalt für den Verstand, der über das Gefühl zu stellen ist. Der Gedanke, dass Verstand und Gefühl zwei völlig verschiedene Dimensionen sind, die recht besehen gar nicht in Konflikt miteinander liegen können, fehlt bei Ayn Rand. Was sie hätte sagen sollen, ist, dass es ein Gefühl aus Erfahrung ist, das uns sagt, dass die Benutzung der Vernunft gut tut. Überall dort, wo angeblich Verstand und Gefühl im Konflikt sind, sind in Wahrheit zwei Gefühle miteinander im Konflikt.

Völlig vergessen hat Ayn Rand ein Stereotyp, das für soziale Dummschwätzer vollkommen typisch ist: Das pazifistische Gerede vom Frieden. Auch hier hätte die Antike helfen können: Si vis pacem, para bellum: Wenn Du Frieden willst, rüste zum Krieg. Der Schwache lädt zum Krieg ein, der Starke schreckt andere vom Kriegführen ab.

Kritik – Zu idealistisch für die gesellschaftliche Realität

Die soziale Frage wird in „Atlas Shrugged“ nicht berührt. Was ist mit Menschen, die nicht hinreichend produktiv sein können? Mit Behinderten, Alten, Kranken oder weniger intelligenten Menschen? Sie repräsentieren keinen Wert, den man im Sinne Ayn Rand schätzen könnte, so dass sie nicht einmal Almosen verdient hätten; aber auch Almosen sind keine gute Antwort auf eine gesellschaftliche Herausforderung. Schon im antiken Athen gab es eine staatliche Armenfürsorge. Ayn Rand hat ein viel zu ideales, zu perfektes, zu glattes Menschenbild.

Ayn Rand sagt generell nichts zu der Problematik, dass die Intelligenz in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt ist. Wie soll man sich als intelligenter, produktiver Mensch in einer Welt einrichten, in der die meisten Menschen nicht so sind? Produktive Menschen sind eine zahlenmäßig machtlose Minderheit! Ohne ein Arrangement wird es nicht gehen. Bei Cicero finden wir z.B. die Überlegung, dass die Besitzenden sich politisch engagieren und einen sozialen Ausgleich suchen müssen, weil ihnen ihr rechtmäßiger Besitz sonst weggenommen wird. Eine derartige Überlegung ist bei Ayn Rand nicht zu finden.

Auch zum Thema Demokratie bzw. Republik sagt Ayn Rand nicht eben viel. Man hätte sich z.B. gewünscht, dass sie einen Satz wie den von Churchill formuliert: „Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen.“ Aber sie schweigt. Immerhin lobt sie die Demokratie implizit, indem sie die Anfangsjahre der USA als ideale Zeit preist, und Richter Narragansett korrigiert am Ende des Romans die US-Verfassung, wodurch diese im Grundsatz anerkannt wird.

Recht unversöhnlich zeigt sich Ayn Rand auch gegenüber der Religion. Die Möglichkeit einer aufgeklärten Religiosität, die ihre eigene Geschichte historisch-kritisch aufgearbeitet hat und eine Moral der Lebensfreude predigt, blendet sie aus. Natürlich ist traditionelle Religion immer ein Mangel an Vernunft und Wahrhaftigkeit, aber sollte man nicht Abstufungen der Irrationalität unterscheiden, um das Zusammenleben der Menschen tolerant zu gestalten?

Überhaupt gibt das Buch „Atlas Shrugged“ wenig Handreichung für die Frage, wie man sich denn nun im wirklichen Leben verhalten soll. Die Diagnose ist top, die Therapie flop. Ein Streik der produktiven Menschen ist natürlich nicht realistisch. Im Extremfall könnte man außer Landes gehen, aber eine Lösung für das eigene Land ist das nicht.

Am Ende ihres Lebens nahm Ayn Rand selbst staatliche Wohlfahrt in Anspruch, was ihr immer wieder vorgeworfen wird. Sie hat also auch selbst nicht völlig nach ihren eigenen Idealen gelebt.

Kritik – Kapitalismus ist der falsche Name

Ayn Rand nennt die ideale Gesellschaftsordnung „Kapitalismus“ und ihr Symbol dafür ist das Dollarzeichen. Das erscheint seltsam, denn sie selbst schreibt doch auch, dass nicht das Kapital das Entscheidende ist, sondern der Geist, der dahinter steht. Wäre es demzufolge nicht angemessener gewesen, statt von Kapitalismus z.B. von Philosophie zu sprechen, und statt des Dollarzeichens z.B. das große griechische Phi (Φ) als Symbol für Philosophie zu wählen?

Für Ayn Rand ist die Moral des Händlers, des traders, die Metapher für die richtige Moral. Das ist für viele Situationen ein recht gutes Bild, doch wie sie selbst sagt, hat man Moral nicht zuerst für den Umgang mit anderen, sondern für den Umgang mit sich selbst: Aber mit sich selbst handelt man nicht. Hinzu kommt wiederum, dass gerade bei Geschäftsabschlüssen von Händlern jedes Mitgefühl und jede persönliche Wertschätzung mit Recht ausgeblendet wird. Damit reicht die Händlermetapher nicht hin, um alle Interaktionen von Menschen zu beschreiben, bzw. die Metapher ist zumindest schräg.

Kritik – Welcher Kapitalismus?

Das Ideal von Bei Ayn Rand sind inhabergeführte Personenunternehmen. Der Eigentümer ist zugleich Chef in seinem Unternehmen und ist verantwortlich für alles. Aktiengesellschaften, in denen es nur Manager gibt, die über große Bürokratien herrschen, und in deren Aufsichtsräten wiederum nur Manager von Banken sitzen, entsprechen nicht ihrem Ideal. Aktiengesellschaften, wo die Eigentümer zu weitgehend rechtlosen Aktionären degradiert sind, und echte Unternehmer nicht mehr vorkommen, sind aber im heutigen Kapitalismus der Normalfall. Insofern stellt sich die Frage, ob das, was Ayn Rand als Ideal vorschwebt, tatsächlich hinreichend mit dem Wort „Kapitalismus“ beschrieben ist.

Kritik – Naive Erkenntislehre

Ayn Rand ist misstrauisch gegen jede Form von Unklarheit, und sie meint, der Mensch hätte objektive Klarheit über die Objekte, die er erkennt. Daher auch der Name „Objektivismus“. Dass die menschlichen Sinne und die Verarbeitung der Sinneseindrücke bis zum Moment ihrer Bewusstwerdung und darüber hinaus bis zur Interpretation theoretisch beliebig von der Realität abweichen können, lässt sie unbeachtet. Kant wird verworfen. Auch der berühmte Satz des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ wird als Zeichen der Vernunftwidrigkeit und des Relativismus verworfen, was äußerst schmerzlich ist (S. 952). Für Ayn Rand gibt es nur Fakten oder keine Fakten. Dazwischen gibt es nichts. Die Natur gehorche Gesetzen, die sich nicht änderten. Dass dies nur eine Beobachtungserfahrung ist, von der keineswegs sicher ist, dass sie immer gilt, ist ihr ebenso wenig bekannt, wie die Änderung von Naturgesetzen im Zuge vertiefter Einsichten in der Wissenschaftsgeschichte. Man denke z.B. an das Aufgehen der Newtonschen Gesetze in den Gesetzen der relativistischen Physik.

Damit hat Ayn Rand ein zentrales Thema jeder Philosophie seit der Antike verfehlt: Dass der Mensch sehr viele Dinge nicht oder nur ungenau weiß, und dennoch dazu gezwungen ist, sich daraus mithilfe von Schätzungen, Annahmen, Postulaten, usw. ein Weltbild zu zimmern, das immer vorläufig ist und immer nachgebessert werden muss, und niemals letzte Gewissheit erlangt. Das Prinzip des ständigen Nachbesserns hat Ayn Rand zwar erkannt, aber die tieferen Gründe dafür leider nicht. Ayn Rand hat gewissermaßen nicht verstanden, was Platon mit seinem Konzept des „eikos mythos“, der „wahrscheinlichen Behauptung“, sagen wollte. Auch die fundamentale Großartigkeit des „Ich weiß, dass ich nichts weiss“ des Sokrates hat sich ihr bedauerlicherweise nicht erschlossen.

Fazit: Ein großartiges Buch mit Schwächen

Für sehr viele Menschen ist das Werk von Ayn Rand wie ein offener Türspalt, durch den sie einen Lichtstrahl aus jenem Reich erlangt haben, das die antike Philosophie eröffnet: Das Reich der Vernunft und der Aufklärung, das Reich der Freiheit und der Lebenslust! Auch wenn Ayn Rand die Tür dazu nicht völlig aufgestoßen hat, so hat sie doch viel erreicht.

Ihr Werk ist ein Klassiker der weltanschaulichen Literatur geworden, das jeder gelesen haben sollte: Einmal wegen seiner starken Bilder, die große Überzeugungskraft haben und Ikonen der Wahrheit bleiben werden, sei es Hank Rearden und Dagny Taggart und die Eisenbahn- und Stahlindustrie, seien es die sozialen Dummschwätzer wie James Taggart oder Hank Reardens Familie, seien es die Intellektuellen wie Balph Eubank oder Floyd Ferris, oder die Strippenzieher in Washington, oder natürlich John Galt, der von Ayn Rand für den Leser zu einer Figur aufgebaut wird, die über die Grenzen des Romans existiert, fast wie Jesus für Christen: John Galt ist überall und er begleitet uns, wo immer wir hingehen! (S. 745) Sein Körper wird mit einer griechischen Statue verglichen (S. 1045). – Ayn Rands Werk ist aber auch lesenswert, weil es für sehr viele Menschen zum Kristallisationspunkt eines vernunftorientierten Denkens geworden ist. Daran kann und muss man anknüpfen.

Ayn Rands „Atlas Shrugged“ ist eine heilsame Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten, wenn auch eine Überreaktion, die sich aus der Biographie von Ayn Rand erklären lässt.

Atlantis

In Ayn Rands „Atlas Shrugged“ wird Atlantis vor allem als eine Chiffre für das Paradies auf Erden verwendet, in dem die Menschen gemäß ihrer Vernunft in einem glücklichen Kapitalismus leben können (S. 147, 586, 643, 688, 735, 745, 843, 876, 1004). Dieses Atlantis realisiert sich im Roman in dem geheimen Tal, in das sich die produktiven Menschen zu ihrem Streik zurückziehen.

Die Grundvorstellung von Ayn Rand über das originale Atlantis ist falsch, sie verwechselt es praktisch mit der Insel der Seligen. Zudem hat Ayn Rand die Geschichte von Atlantis ihrer Vorstellung vom versteckten Tal als Paradies auf Erden angepasst, was der Leser übrigens erst viele hundert Seiten später erkennen kann. Das Atlantis bei Ayn Rand hat also nichts mehr mit dem Atlantis des Platon zu tun. Das Kraftwerk im Tal von Atlantis mit dem Motor von John Galt und dem eingeschriebenen Eid wird auch als „Tempel von Atlantis“ angesprochen (S. 843).

Der Chiffre-Charakter kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass neben der Atlantis-Chiffre auch noch weitere Elemente der antiken und anderweitigen Literatur als Chiffren für dieselbe Sache verwendet werden, so z.B. Prometheus oder die Quelle der Jugend (S. 478, 664 f.).

Der Untergang von Atlantis wird übrigens auch als Chiffre für das wegen sozialen Dummschwätzertums ökonomisch niedergehende New York verwendet (S. 583). Zuletzt ist Atlantis neben dem Garten Eden eine Chiffre für den Unschuldsstatus in der Kindheit, in der die wahren Werte des Menschseins noch nicht verbogen seien (S. 968).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Januar 2015)

Dirk Liesemer: Lexikon der Phantominseln (2016)

Gute Idee, interessantes Thema, schön gemacht – zu Atlantis aber etwas einseitig

„Insel-Bücher“ gibt es ja inzwischen eine ganze Reihe: Abgelegene Inseln, vergessene Inseln, literarische Inseln – und jetzt Phantom-Inseln: Inseln, die tatsächlich einmal auf Seekarten (und sogar bei Google Earth!) verzeichnet waren, obwohl es sie nie gab.

Dahinter steckt immer eine interessante Geschichte, die etwas über die Menschen, die Zeiten und das Schicksal lehren kann. Aber auch die menschliche Erkenntnis wird herausgefordert: Wie sicher können wir uns unserer Weltkenntnis eigentlich sein? Um wem verdanken wir sie eigentlich? Wir wähnen uns im modernen Zeitalter des Satelliten, und doch beruht noch vieles auf Wissen von alters her.

Zu Platons Atlantis gibt es allerdings noch ganz andere Meinungen, die hier etwas zu kurz kommen. Es ist keineswegs so, dass Atlantis in der Antike gemeinhin als Erfindung galt, und so war es von Platon wohl auch nicht gemeint. Während wir ganz genau wissen, dass Atlantis im wörtlichen Sinn niemals existiert haben kann, könnte es sich immer noch um eine verzerrte historische Überlieferung handeln, hinter der ein realer Ort steht. Richtig ist allerdings, dass im Laufe der Geschichte eine ganze Reihe von Inseln für Atlantis gehalten und mit dem Namen „Atlantis“ auf den Karten verzeichnet wurden. Mehr zu Atlantis in dem Buch: Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis: Von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2016)

Paul Veyne: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft (1983)

Glaubt Paul Veyne eigentlich an seine eigenen Mythen?! Postmoderne Hardcore-Ideologie statt lehrreicher Mythenforschung

Wer sich mit Deutung und Funktion von Mythen befasst, wird immer wieder über eine ganz bestimmte Literaturangabe stolpern: Paul Veyne, „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“. Der geneigte Leser erwartet bei einem solchen provokant-launigen Titel einerseits kundige Anleitung und Aufklärung über das schillernde Phänomen der Mythen und deren variationsreiche Wahrnehmung schon zu Zeit der alten Griechen, andererseits aber auch einen vergnüglichen und geistreichen Essay zum Thema, dessen Lektüre die reine Freude ist. Manche Literatur empfiehlt diese Schrift ganz in diesem Sinne, womit offenbar zugleich die Bildung und Gelehrsamkeit des Empfehlenden demonstriert werden soll.

Doch je weiter man in dieses Büchlein hineinliest, desto krasser die Enttäuschung des Lesers. Es handelt sich nicht um das erwartete lehrreiche Lesevergnügen, sondern – o Schreck! – um die Deklaration einer postmodernen, anti-rationalistischen und sogar anti-humanistischen Hardcore-Ideologie. Das eigentliche Thema des Buches, die Mythen der alten Griechen, dient offenbar lediglich als Kulisse zur Manifestation dieser Ideologie, und wird dieser brutal untergeordnet. Soviel Unsinn zur Antike wie hier hat man selten gelesen. Und dem philosophisch Gebildeten rollen sich sämtliche Fußnägel auf.

Daran, dass dieses Büchlein in den Literaturangaben zum Thema Mythologie immer wieder „mitgeschleift“ wird, obwohl praktisch kein Autor auf die eigentlichen Aussagen Veynes eingeht, kann man erkennen, dass die wenigsten es gelesen haben, und dass das Büchlein nur wegen seines schönen und interessanten Titels angeführt wird, und vielleicht deshalb, weil man dem Autor einen gewissen Ruf zubilligt, ohne Näheres über ihn zu wissen. Es scheint bislang nur recht kurz angebundene Rezensionen zu geben, die dieses Büchlein kritisch in den Blick nehmen. So z.B. die deutlich ablehnende Rezension von Simon Goldhill vom King’s College, Cambridge, in „The Classical Review“ von 1990. Es ist also Zeit für eine gründliche Besprechung.

Worin besteht die Ideologie von Paul Veyne?

Paul Veyne glaubt, dass die Menschen – schon immer, jetzt, und für alle Zukunft – in völlig willkürlichen Illusionen leben, die sich allein und ausschließlich der Einbildungskraft verdanken. Ob etwas Realität oder Fiktion sei, liege allein im Auge des Betrachters (S. 33 f.). Die „Wahrheit“ umschließe sowohl Mythos als auch Fiktion (S. 27). Der Glaube an „Alice im Wunderland“ beim Lesen dieses Buches wird gleichgesetzt mit dem Glauben an die Erkenntnisse der Physik (S. 34). Statt von Wahrheit spricht Veyne lieber von Wahrheitsprogrammen oder Wahrheitspalästen, die viel größer sind als die Gegensätze von Wahrheit und Irrtum, Vernunft und Mythos, Imagination und Wirklichkeit; obwohl sich die Wahrheiten der verschiedenen Wahrheitspaläste vielfach widersprechen, widersprechen sie sich doch nicht, denn in sich sei jeder von ihnen vernünftig und wahr (S. 105, 146 f.). So Paul Veyne.

Die Realität zählt bei der Feststellung von Wahrheit nicht. Mit Nietzsche sagt Paul Veyne: „Die Tatsachen existieren nicht“ (S. 52 f.), denn Tatsachen existieren nicht für sich allein, sondern müssen immer interpretiert werden. Die Wahrheit stamme nicht aus der Realität (S. 105). Paul Veyne meint, dass Husserl irre, wenn er Imaginäres und Erfahrung zu trennen versuche, denn das Imaginäre sei letztlich genauso wahr (S. 108). Zwar gäbe es tatsächlich eine materielle Wirklichkeit, so Veyne, doch diese werde immer interpretiert oder ignoriert (S. 129). Für ihn steht alles auf einer Stufe: Religiöser Glaube, ein Roman, oder die physikalischen Theorien Albert Einsteins; Empirismus sei eine Größe, die man vernachlässigen könne, meint Veyne (S. 140).

Auch die Vernunft sei ganz nutzlos und eine Illusion. Statt der Vernunft würden die Menschen von ihren Interessen geleitet. Alle Wahrheiten kämen von der Einbildungskraft her, nicht von der Vernunft (S. 35). Deshalb entschuldigt Veyne auch das interessegeleitete Lügen, und es sei ganz falsch, einen Gegensatz von Philosophie und Rhetorik zu sehen, denn auch die Philosophie folge weder der Vernunft noch der Wahrheit, sondern allein dem Interesse (S. 72). Das sei auch dann so, wenn wir uns über uns selbst täuschen und unsere eigenen interessegeleiteten Motive nicht erkennen würden (S. 72). Es würden auch niemals Argumente miteinander ringen, sondern immer nur verschiedene Wahrheitsprogramme. Es gäbe gar keine Vernunft, sondern nur Interessen (S. 102-104). Auch hinter den Mythen oder den Menschenrechten stünden nur Interessen bzw. „Kräfte“; das alles habe keine Wahrheit sondern sei rein geschichtlich, das Denken des Menschen gehorche dem Willen zur Macht, womit Veyne wieder bei Nietzsche ist (S. 110). Wahrheit sei zu nichts zu gebrauchen, sie entspräche nur unseren Vorlieben, sie sei nur ein Deckmantel für den Willen zur Macht (S. 153).

An manchen Stellen nennt Paul Veyne statt Interessen und Vorlieben plötzlich den Zufall als die Ursache unserer Wahrheitspaläste, ohne diesen Widerspruch aufzulösen. Der Prozess der Geschichte sei eine Abfolge von Zufällen und basiere nicht auf Vernunftgründen oder den Produktionsverhältnissen (S. 142 f.). Alle geschichtlichen Prozesse jenseits von Ökonomie und Ideologie, also Mythos, Kunst und Wissenschaft, könne man nur beschreiben, wenn man Rationalität und Wahrheit fallen lasse; und auch die Sozial- und Ökonomiegeschichte sei ohne Wahrheit und Vernunft (S. 143 f.). Alles sei irrational, es gäbe keinerlei Determinismus, die Geschichte ist eine zufällige Abfolge von Wahrheitspalästen, ohne Vernunft (S. 145 f.; 153 f.).

Diese Verhältnisse bezieht Paul Veyne immer auf „uns“, also auf alle Menschen. Alle Menschen würden diesen Gesetzen quasi willenlos unterliegen, ohne Ausnahme. Wir alle würden nur Interessen verfolgen, auch wenn wir uns selbst über unsere Motive täuschen würden (S. 72). Unser Geist tue es ohne Unterlass, das sei unser Alltagsleben (S. 105 f.). Unsere Wahrheitsprogramme veränderten sich ohne unser Wissen, der Mensch sei kein denkendes Schilfrohr im Wind (S. 141). Damit ist gemeint: Das Schilfrohr kann sich nur passiv im Wind neigen, und der Mensch wisse noch nicht einmal, dass er nur wie ein Schilfrohr sei. Veyne meint auch, dass es gar nicht unaufrichtig sei, verschiedene Wahrheitsprogramme im Kopf zu haben, die sich widersprechen, denn auch das würden wir alle so tun; unser Geist täte dies ohne Unterlass (S. 105 f.).

Warum das falsch ist, und wie es eigentlich ist

Diese Grundideologie von Paul Veyne ist natürlich extrem zynisch und sinnleer. Man muss sich das nur einmal vorstellen! Aber natürlich ist diese Grundideologie vor allem auch einfach nur falsch. Es beginnt damit, dass Paul Veyne die Empirie für vernachlässigbar hält. Das ist natürlich Unsinn. Die Erfahrung lehrt uns alle, dass diese Welt kein Wunschkonzert ist. Wenn wir uns nicht gemäß der Realität verhalten, dann werden wir hart mit der Realität zusammenstoßen. Die Empirie erkennt diese Realität, und die Vernunft ordnet die einzelnen Erkenntnisse, so dass wir uns orientieren können, um es einmal ganz einfach auszudrücken. Und nicht nur die Umwelt, sondern auch das Wesen des Menschen selbst ist teilweise vorgegeben. Realität ist nicht beliebig konstruierbar. Das „Ding an sich“ von Immanuel Kant ist zwar letztlich nicht erkennbar, aber es ist vernünftig anzunehmen, dass es doch existiert. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“, dichtete schon Friedrich Schiller im Wallenstein.

Natürlich ist es vernünftig anzunehmen, dass es eine Realität gibt, und damit auch eine echte Wahrheit. Und zwar genau eine in sich konsistente Wahrheit, und nicht zwei Wahrheiten, die sich widersprechen. Natürlich kennen wir alle die eine, echte Wahrheit nicht, und wir alle sind immerzu auf dem Weg, uns der Wahrheit anzunähern, und natürlich begehen wir dabei auch Irrtümer, die uns wieder von der Wahrheit entfernen, aber deshalb ist es noch lange nicht vernünftig, Vernunft und Wahrheit kurzerhand ganz fallenzulassen. Das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Ja, die Tatsachen existieren nicht „einfach“, sondern bedürfen der Interpretation, das ist schon richtig. Aber das ist kein Grund, die Existenz der Tatsachen selbst anzuzweifeln. Zudem: Würde es weder Vernunft noch die Annahme einer gemeinsamen, anstrebbaren Wahrheit geben, dann würde der Diskurs unter den Menschen unmöglich werden, der eine wesentliche Eigenschaft des Menschen und der menschlichen Gesellschaft ist. Veyne stellt hier die Menschlichkeit des Menschen infrage.

Natürlich wird menschliches Denken und Handeln vielfach durch Interessen und durch Zufall bestimmt, und natürlich ist das dem denkenden Menschen oft nicht bewusst – aber zu behaupten, dies sei immer und grundsätzlich so, ist entschieden zuviel behauptet. Es ist doch gerade die Bildung, die den Menschen über sein bloßes materielles Dasein hinaus erheben möchte. Es ist doch ein Kennzeichen von Bildung, sekundäre Motivationen wie Interessen und Vorlieben zu erkennen, und die Vernunft besser und richtiger zu benutzen. Bildung ist es, an sich selbst zu arbeiten und innere Widersprüche im eigenen Denken aufzudecken und auszuräumen. Doch Paul Veyne tut so, als seien alle Menschen nur ungebildete, bornierte Kleinbürger. Aber selbst diese sind noch reflektierter als Veyne es zugeben möchte, deshalb noch niedriger: Als seien alle Menschen – alle! – Menschen nicht viel besser als Tiere, die nur ihren Reflexen gehorchen. Wer nach Vernunft und Moral strebe, der täusche sich nur über seine wahren Motive, meint Veyne. Für Veyne ist der gute, nach Vernunft, Moral und Wahrheit strebende Mensch praktisch nur ein unaufgeklärter Idiot, über den er müde lächelt. Veyne untergräbt hier die Grundlagen von Bildung und Kultur, und rührt mit diesem Weltbild auch an die Grundfesten des Humanismus. Es ist einfach nur verantwortungslos und falsch.

Das zynische Geschichtsbild von Paul Veyne

Auf der Grundlage der dargestellten Ideologie ist dann auch das Geschichtsbild von Paul Veyne einfach nur zynisch und sinnlos zu nennen. Es gäbe keine Kausalität im Ablauf der Geschichte, sie sei unvorhersagbar, meint Veyne. Alle Versuche, den Lauf der Geschichte im Nachhinein zu erklären, seien unglaubwürdig, weil selektiv. Es sei geradezu verwunderlich, dass es so etwas wie geschichtliche Kontinuitäten gäbe. Man müsse jedes geschichtliche Ereignis als Einzelereignis für sich allein betrachten, und dann könne man auch keine Erklärung mehr dafür geben.(S. 49-54)

Geschichtsschreibung sei ein Mittel der Glaubensbildung, wie – so Veyne – der Journalismus auch (S. 15). Reporter würden nicht glaubwürdiger, wenn sie die Quellen ihrer Recherchen nennen würden, meint Veyne (S. 21). Was sei die geschriebene Geschichte? Es sei einfach die Politik von früher (S. 82). Wo die Moderne in der Geschichte ein Ringen um Aufklärung sieht, sieht Paul Veyne nur ein rationales Mäntelchen zur Fortsetzung des Wunderbaren (S. 62).

Das Ideal der Geschichtsschreibung des Historikers Paul Veyne besteht darin, den zufälligen Verlauf der Geschichte nachzuzeichnen. Es ginge darum zu beschreiben, was die Menschen sich jeweils als Wahrheitspalast errichtet hätten, und wie sie die materielle Realität selektiv wahrgenommen hätten (S. 150). Die Menschen könnten aus der Geschichte aber nichts lernen; eine reflexive Analyse führe nicht zu einer Annäherung an die Wahrheit, sondern nur zu einem anderen Wahrheitsprogramm (S. 150). Die Reflexion des Historikers ist somit nicht als ein Licht auf dem Weg zu verstehen, ein Blick zurück in die Geschichte würde in keiner Weise dabei helfen, den richtigen Weg zu finden (S. 153 f.). Die Wahrheit sei, dass die Wahrheit veränderlich sei, und das könne man ohne Selbstwiderspruch sagen, meint Paul Veyne (S. 141, 152). Die Aufgabe des Historikers sei es, Wahres über Wahrheitspaläste zu sagen (S. 152).

Man fragt sich natürlich, was eine solche Geschichtsschreibung noch für einen Sinn macht. Lernen soll man also nichts können aus der Geschichte. Soll der Geschichtsschreiber dann also mit einer Tinte schreiben, die sich sofort wieder selbst auslöscht, und nur leere Seiten bleiben, wie beim „Alten vom wandernden Berge“ in der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende? Oder soll man sich den Geschichtsschreiber wie Sisyphos vorstellen, als einen glücklichen Menschen mit sinnloser Aufgabe? Und der Gipfel ist ja, dass Paul Veyne für sich als „Geschichtsschreiber neuen Typs“ in Anspruch nimmt, er könne echte Wahrheiten über die Pseudo-Wahrheiten aller anderen aussagen, und dass das kein Widerspruch sei. Sein hilfloser Versuch, dies mit dem Dilemma „Alle Kreter lügen, sagte ein Kreter“ zu begründen, verfängt nicht beim gebildeten Leser, der den Unsinn von Paul Veyne an dieser Stelle schon längst nicht mehr mit gnädigen Augen liest. Er, Paul Veyne, stehe also irgendwie über den Dingen, und wenn er in diesem Buch ständig von „wir“ und „uns“ spricht, die wir alle ungebildet und dumm unseren tierischen Reflexen folgen, dann hat er sich selbst immer ausgenommen? Aha. Ist das jetzt das „Interesse“ und der „Wille zur Macht“ von Paul Veyne?

Falsche und zynische Darstellung der antiken Geschichtsschreibung

Nach einer langen, langen Einleitung kommen wir in dieser Rezension jetzt zum ersten Mal auf die Antike zu sprechen, um die es ja eigentlich gehen sollte, aber offensichtlich nicht geht. Noch vor den Mythen widmet sich Paul Veyne der antiken Geschichtsschreibung. Dreiviertel der Texte antiker Geschichtsschreiber gingen allein auf deren Einbildungskraft zurück, meint Veyne allen Ernstes (S. 124). Bei der antiken Geschichtsschreibung habe es sich um ein Mittel der Glaubensbildung gehandelt (S. 15). Das Wort „historia“ wird von Veyne als „Ermittlung“ im Sinne einer schlechten journalistischen Recherche gedeutet (S. 20).

Das kritische Denken, das wir bei Autoren wie Herodot sehr wohl finden, wird von Paul Veyne niedergemacht und schlechtgeredet, ohne Herodot beim Namen zu nennen (S. 18 f.). Die Aussage von Herodot, dass er sich verpflichtet fühle, die Dinge so wiederzugeben, wie er sie hörte, auch wenn er selbst nicht daran glaube, wird von Veyne nicht als ein Fortschritt von Vernunft und Kritik gefeiert, sondern als angebliches Eingeständnis, dass alles, was Herodot bis zu diesem Punkt berichtet habe, eine unkritische Wiedergabe der Quellen gewesen sei (S. 23). Paul Veyne hegt eine ganz grundsätzliche Skepsis gegen die guten Absichten von antiken Geschichtsschreibern (S. 101 f.).

Die Bitte Ciceros, dass man seine Taten propagandistisch aufwerten möge, ohne dabei allzusehr auf die Regeln der historischen Gattung zu achten, wertet Veyne als Hinweis auf die Verlogenheit der Zeit, übersieht aber völlig, dass in dieser Bitte die Aussage enthalten ist, dass die historische Gattung Regeln kennt (S. 24). Und die Kritik, die Cicero und Livius an den Überlieferungen der Frühzeit üben, sei in keiner Weise eine historische Kritik, meint Veyne (S. 67). Der Geschichtsschreiber, der die Genealogie der Könige von Arkadien niederschrieb, habe wie ein Romanautor gehandelt, glaubt Veyne zu wissen (S. 125).

Wir können uns dieser zynischen, schiefen und falschen Sichtweise auf die antike Geschichtsschreibung natürlich nicht anschließen. Es tut weh, diesen üblen und unfairen Rabulismus auf Autoren wie Herodot angewandt zu sehen.

Schief und falsch verwendete Begriffe senden unterschwellige Botschaften

Während der Lektüre fällt immer wieder auf, dass Paul Veyne bestimmte Worte nicht gemäß ihrer eigentlichen Bedeutung verwendet. Seine teils schiefe, teils falsche Verwendung von Begriffen ist nicht etwa bloße Ungeschicklichkeit, und auch kein abkürzendes, „faules“ Sprechen, wie es dem Leser beim Beginn seiner Lektüre noch erscheinen will, sondern offenbar ganz bewusst so gewählt, um den Leser dadurch zu manipulieren. Zum einen verschwimmen die verschiedenen Begriffe in ihrer Bedeutung, so dass die Klarheit der Bedeutung der Begriffe unterminiert wird. Auf diese Weise wird dem Leser Glauben gemacht, die Begriffe hätten keine hinreichend klare Bedeutung, so dass die Glaubwürdigkeit von Veynes vernunftwidrigen Thesen bei weniger gebildeten Lesern erhöht wird. Zum anderen werden durch die falsche Verwendung der Begriffe unterschwellige Botschaften transportiert. Wahres und Gutes erscheint als verlogen und schlecht, Schlechtes und Verlogenes als gut und wahr, ganz wie es die Ideologie von Paul Veyne fordert. Und nein: Diese Phänomene verdanken sich nicht einer schlechten Übersetzung; sie sind auch im französischen Originaltext vorhanden.

So spricht Veyne z.B. gerne kurzerhand in absoluter Weise von „Wahrheit“, wo er besser von „damals geglaubter Wahrheit“ gesprochen hätte (S. 9 f., 105). Ob mit dem Wahrheitsbegriff die Realität oder eine Bedeutung im übertragenen Sinn gemeint ist, wird von Veyne ebenfalls nicht unterschieden (S. 32 f.). Mit Nietzsche sagt er kurzerhand: „Die Tatsachen existieren nicht“ (S. 52 f.). Aber um genau zu sein, hätte er besser davon gesprochen, dass sie nicht „einfach“ existieren, sondern – obwohl sie nämlich sehr wohl existieren – nicht ohne Interpretation zu haben sind. Vom Mythos meint Paul Veyne, dass er weder wahr noch falsch sei (S. 41). Aber das kann man so nicht sagen. Denn natürlich gibt es Mythen, die einfach nicht wahr sind, und dann gibt es wiederum Mythen, die einen beachtlichen wahren Kern haben. Aber Veyne interessiert das offenbar nicht. Dann meint Veyne, dass eine Lüge im Mythos solange nicht als Lüge gelte, solange der Erfinder der Lüge daraus keinen Vorteil ziehe (S. 41). Das ist eine sehr ungewöhnliche Definition von Lüge, die dem allgemeinen Verständnis von Lüge zuwiderläuft. Für gewöhnlich knüpft man das Wesen der Lüge an das Bewusstsein des Autors, ob er denn weiß, dass er lügt.

Völlig gegen das allgemeine Verständnis wird auch das Phänomen des Fälschers aufgefasst. Paul Veyne nennt auch das eine Fälschung, was ihr Autor völlig ernst meinte, und erst später als falsch erkannt wird (S. 126). Der Vorgang des Fälschens wird konsequent relativiert: Eigentlich sei doch jeder der Fälscher eines anderen Wahrheitsprogrammes, meint Veyne (S. 128). Der Fälscher sei gewissermaßen ein Fisch im falschen Gefäß (S. 130), und überhaupt seien die Grenzen zwischen Information und Unterhaltung reine Konvention (S. 125). Man könne einfach nicht zwischen dem Imaginären und dem Wirklichen unterscheiden, das ginge gar nicht, meint Veyne (S. 124). Paul Veyne vermeidet konsequent, den zentralen Gedanken des Fälschens auszusprechen: Dass sich ein Fälscher nämlich bewusst sein muss, dass er eine Unwahrheit produziert. Dass es so etwas überhaupt geben könnte, dass jemand bewusst fälscht und deshalb mit Recht ein Fälscher genannt wird, und dass jemand, der nicht bewusst fälscht, auch nicht Fälscher genannt zu werden verdient, egal wie falsch seine Worte auch immer sein mögen, diese Idee wird bei Paul Veyne konsequent ausgeblendet, sie existiert gar nicht. Für Paul Veyne sind Fälscher und Lügner Menschen, die die Wahrheit sprechen, nur in einem anderen Bezugssystem. Was für ein Unsinn.

Für einen Historiker wie Paul Veyne besonders bezeichnend ist die ständig wiederholte Verwendung des Wortes „Geschichte“, wo man besser von „Geschichtsschreibung“ gesprochen hätte (z.B. S. 15, 125 f.). Dahinter steckt natürlich seine Idee, dass es keine echte Wirklichkeit gibt, sondern nur Wahrheitspaläste, die mit einer empirischen Realität nicht das Geringste zu tun haben. Das allgemeine Verständnis des Wortes „Geschichte“ als dem, was wirklich passiert ist, wird deshalb von Veyne mit der Bedeutung des Wortes „Geschichtsschreibung“ überschrieben, also dem, was die Leute glauben, dass angeblich passiert sei. – Auch die Vernunft erleidet bei Paul Veyne dieses Schicksal: Überall dort, wo er eigentlich von einer „Rationalisierung“ sprechen müsste, nämlich einer rationalisierenden Deutung von Mythen, spricht Veyne konsequent von „Rationalismus“ (z.B. S. 84, 134). Nun ist aber nicht jede rationalisierende Deutung von Mythen auch rational(istisch). Im Gegenteil, oft ist eine rationalisierende Deutung von Mythen falsch und irrational. Aber für Paul Veyne gibt es ja keinen echten Rationalismus, und so spricht er kurzerhand von „Rationalismus“, wo er Rationalisierung meint. Dadurch wird die Rationalität, die Vernunft selbst, der Lächerlichkeit preisgegeben, und von ihrer eigentlichen Bedeutung entfremdet.

Ähnliches geschieht auch, wo Paul Veyne von den „verantwortungsbewussten“ Leuten spricht, die im Glauben an die vermeintlich gute Sache mit der Wahrheit nicht pingelig sind (S. 98). Natürlich sind Menschen, die es mit der Wahrheit nicht genau nehmen, alles andere als „verantwortungsbewusst“. Solche Leute halten sich vielleicht selbst für verantwortungsbewusst und sie stellen sich vielleicht selbst als verantwortungsbewusst heraus (man vergleiche den Unbegriff des „Gutmenschen“), aber sie sind natürlich nicht wirklich verantwortungsbewusst. Paul Veyne hätte das Wort „verantwortungsbewusst“ an dieser Stelle in Anführungszeichen setzen müssen, um Ironie deutlich zu machen. Aber er hat es nicht getan. Denn für ihn ist es keine Ironie. Für ihn ist es ernst. – Und schließlich wird so auch der Begriff des „Patriotismus“ unterminiert. Paul Veyne verwendet das Wort „Patriotismus“ konsequent im Sinne von „Nationalismus“ (S. 100, 151). Auf diese Weise wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen einem Menschen, der sein Land liebt, und einem hässlichen Nationalisten. Für Paul Veyne ist das offenbar dasselbe. Wie primitiv.

Die Gefährlichkeit der Ideologie von Paul Veyne

Der gebildete Leser hat natürlich längst erkannt, wie gefährlich die Ideologie von Paul Veyne ist. In ihr ist das Potential zu jedem beliebigen Unsinn und damit zu jedem beliebigen Verbrechen angelegt. Wir sind jedoch nicht darauf angewiesen, solche Auswüchse lediglich theoretisch zu schlussfolgern, nein, Paul Veyne präsentiert uns noch in demselben Büchlein mehrere bedauerliche Anwendungsfälle seiner Ideologie, wo es richtig gefährlich wird.

Zunächst steht die Ideologie von Paul Veyne jeder Form von Wissenschaft diametral entgegen. Wenn es keine Annäherung an die Wahrheit geben kann, keinen Rückbezug zur Empirie, und alles nur frei schwebende Illusion ist, dann kann es auch keine Wissenschaft geben. So meint Paul Veyne denn auch konsequenterweise, dass religiöser Glaube, ein Roman, oder die physikalischen Theorien Albert Einsteins auf einer Stufe stünden (S. 140). Die Erfindung des Mikroskops durch Leeuwenhoek und die dadurch möglich gewordene Entdeckung der Mikroben seien nach Meinung von Paul Veyne außer zur Konversation zu nichts gut gewesen (Fußnote 215). So spannt er auch das naturwissenschaftliche Prinzip der Auffindung immer besserer Erkenntnisse in das Prokrustes-Bett seiner Ideologie und spricht auch hier von der „wissenschaftlichen Wahrheit, die dauernd provisorisch ist“, obwohl das Wort „Wahrheit“ hier natürlich nicht hingehört, das ist der springende Punkt, und er spricht vom „Mythos der Wissenschaft“ (S. 138). An einer Stelle verteidigt Veyne auch eine rhetorisch interessegeleitete Lüge von Galen (S. 72), und wie gesehen gibt es für Paul Veyne eigentlich keine Fälscher. Letztlich stellt Paul Veyne damit auch seine eigene Profession infrage, denn wie will er unter diesen Voraussetzungen Geschichtsschreibung als Wissenschaft betreiben?

Zum Nationalsozialismus finden wir bei Paul Veyne besonders unappetitliche Aussagen. Auch der Nationalsozialismus war nach Meinung von Paul Veyne eine „Erfindung“ aus heiterem Himmel, und lasse sich nicht auf auf wesentliche Gründe und Ursachen zurückführen, sondern sei in keiner Weise vorhersagbar gewesen (S. 52), woran kleine Kausalitäten nichts ändern, die Paul Veyne immerhin doch sieht. Ganz so aus heiterem Himmel wurde der Nationalsozialismus dann aber wohl doch nicht „erfunden“, wie Veyne meint, auch wenn eine starke Kausalität ebenfalls eine Übertreibung wäre. Da Veyne die Empirie für vernachlässigbar hält, kommt er konsequent zu der Ansicht, dass allein das Interesse, nicht an Auschwitz glauben zu wollen, genüge, um alle Zeugnisse über Auschwitz unglaubwürdig werden zu lassen (Fußnote 8). Folgerichtig wird dann der Holocaustleugner Faurisson nicht als Fälscher gedeutet – wir sahen oben schon, dass es für Veyne gar keine Fälscher im eigentlichen Sinne gibt – sondern als Mythenmacher (!), dessen Fehler allein darin bestand, zu argumentieren, und eben nicht, wie es ein guter Mythenmacher im Sinne von Paul Veyne hätte tun sollen, einfach apodiktische Behauptungen zu verbreiten (S. 127 f.). Paul Veyne findet es zudem angebracht, einen dummen Witz über den Holocaustleugner Faurisson zu reißen: Auch der Fälscher selbst sei eine Fälschung gewesen, denn es gäbe gar keine Holocaustleugner, wenn man nur aufhören würde, an die Existenz solcher mythischen Wesen zu glauben (S. 126 f.). Aber da müssen wir mit Bertrand Russell kontern: Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört daran zu glauben. Schließlich witzelt Veyne auch noch dumm über das Thema Verantwortung herum: Verantwortungslosigkeit sei ja sooo schlimm, und deshalb „sicherlich“ auch falsch; Diodor könne das bestätigen, meint er nur sarkastisch-ironisch (S. 142). Mit anderen Worten: Das ganze Geschwätz von der Verantwortung ist genauso Unfug wie das Geschwätz über geschichtliche Wahrheit, denn beides gibt es für Veyne nicht. Gott sei Dank geht es darum ja gar nicht, meint Paul Veyne. Das ist nur logisch: Wo es keine Wahrheit gibt, kann es keine Verantwortung und auch keine Schuld geben. Wir müssen uns Paul Veyne als glücklichen Kollaborateur des Vichy-Regimes vorstellen – oder was sollte man von jemandem erwarten, der Wahrheit und Vernunft beiseite wischt und statt dessen vom „Willen zur Macht“ spricht?

Wir sahen oben schon, dass die Ideologie von Paul Veyne – horribile est dictu – ein Angriff auf den Humanismus ist. Wenn es keine Wahrheit gibt und die Empirie vernachlässigbar ist, dann kann der Mensch auch nichts lernen, und es sind auch keine vernünftigen Diskurse unter den Menschen möglich. Auch Wissenschaft ist ohne Humanismus nicht möglich. Der Gedanke, dass es gerade die Bildung ist, die den Menschen über seine Abhängigkeiten, über seine Interessen und Vorlieben erhebt und zu einem selbstbestimmten, vernunftgeleiteten Menschen macht, fehlt bei Paul Veyne völlig. Für Veyne muss man gleich ein „Genie“ sein, um aus einem Wahrheitsprogramm, in dem man sich befindet, wieder herauszukommen (S. 141). Bloße Bildung reicht offenbar nicht bzw. existiert in Veynes Welt nicht. Es gibt natürlich auch keine Moral. Allein die moralische Grundfrage, was denn zu tun ist, sei schon verfehlt; nur der Anthropozentrismus glaube an eine Antwort auf diese Frage, so Veyne (S. 151). Die meisten Jahrhunderte hätten sich diese Frage zudem gar nicht gestellt, meint Veyne (S. 151). Wirklich? Da haben wir die Geschichte aber ganz anders verstanden. Veyne meint auch, dass es keine der Natur der Dinge einbeschriebene Struktur gäbe, die eine Moral begründen könnte: Auch Kritiken wie Entmystifizierung, Sprachkritik und Ideologiekritik seien nur Romane (S. 151). Vorstellungen von Sinn und Moral seien immer Fälschungen und als solche leicht erkennbar: Sie verströmen menschliche Wärme, und das sei per se schon falsch (S. 151). Wahrheit sei einfach zu nichts zu gebrauchen (S. 153). Im vorletzten Absatz des Buches schreibt Veyne: „der Mensch ist eben kein denkendes Schilfrohr. Habe ich deshalb dieses Buch auf dem Lande geschrieben? Ich beneidete die Tiere um ihre Gelassenheit.“ (S. 154) Das ist eine unmissverständliche Absage an den Humanismus, in Form der Bevorzugung des Nichtdenkens der Tiere.

Der ideologische Hintergrund

Paul Veyne kommt oft auf Nietzsche zu sprechen, erwähnt hin und wieder Max Weber, lobt den Rationalismus-Gegner Paul Feyerabend (Fußnote 166), und nennt einmal die Kontroverse zwischen Rationalismus und Irrationalismus, konkretisiert in der Auseinandersetzung von Habermas und Foucault (S. 143). Hier sind wir genau beim Punkt. Das postmoderne Denken von Michel Foucault ist die Quelle von Paul Veynes Ideologie. Es war Foucault, der statt Vernunft und Wahrheit Interessen und Machtverhältnisse ins Zentrum rückte. Es war Foucault, der Begriffe und Werte beliebig umdefinierte: Wahrheit gab es nicht mehr, Kranke galten nicht mehr als krank, Wahnsinnige nicht mehr als wahnsinnig, Kriminelle nicht mehr als kriminell. Und Foucault stützte sich auf den Nihilismus Nietzsches und dessen radikale Vernunftkritik.

Michel Foucault fand viele Anhänger, stieß aber auch auf heftige Kritik: Schon Sartre warf ihm vor, den Humanismus zu verwerfen und die Grundlagen des aufklärerischen Denkens infrage zu stellen. Foucault wurde vorgeworfen, unklare und konfuse Begriffe zu verwenden und selbstwidersprüchlich zu sein. Außerdem habe er historische Fakten unzuverlässig verwendet. Für den Historiker Hans-Ulrich Wehler war Michel Foucault „ein intellektuell unredlicher, empirisch absolut unzuverlässiger, kryptonormativistischer ‚Rattenfänger‘ für die Postmoderne“.

Auch das Denken von Michel Foucault hatte gefährliche Konsequenzen: So unterstützte bzw. verharmloste Michel Foucault sowohl die Errichtung eines totalitären Gottesstaates im Iran als auch die massenmörderische Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha.

Warum Paul Veyne seine eigene Ideologie nicht glaubt

Es gibt einige Stellen und Aspekte, wo deutlich wird, dass Paul Veyne offenbar nicht wirklich von seiner eigenen Ideologie überzeugt ist. Da ist zunächst der Umstand zu nennen, dass Paul Veyne dieses Büchlein geschrieben hat. Wozu, wenn es keine Wahrheit gibt, an die man sich annähern kann? Wozu, wenn argumentieren nicht hilft? Wozu, wenn man aus der Geschichte nichts lernen kann? Und wozu, wenn Veyne in seinem ganzen Wissenschaftsverständnis nicht ernst genommen werden kann? Im Grunde hat er ja gar kein Wissenschaftsverständnis, sondern das Gegenteil davon: Ein Verständnis, dass Wissenschaft unmöglich und sinnlos ist. – Und dennoch hat Paul Veyne dieses Büchlein geschrieben, das er als wissenschaftlicher Historiker geschrieben hat, und in dem er keine apodiktischen Mythen verbreitet sondern teilweise argumentiert. Wie sollen wir ihm da glauben, dass er an seine eigene Ideologie glaubt?!

Wir sahen schon eine Reihe von Beispielen, wo Paul Veyne selbstwidersprüchlich argumentiert. Aber vielleicht glaubt er ja wirklich an die Möglichkeit seiner Selbstwidersprüche. Interessant ist jedoch, dass er bei der Frage nach der Entstehung des Nationalsozialismus entgegen seiner vollmundigen Thesen, dass Geschichte sich rein zufällig ereigne, und dass der Nationalsozialismus gewissermaßen eine zufällige Erfindung der Geschichte sei, dennoch „kleine kausale Serien“ sehen will (S. 52). Wie das? Woher kommt jetzt diese kleine Kausalität?! So klein sie auch sein mag, ist es doch eine Kausalität. Hier ist Veyne nicht konsequent. – Nachdem Veyne zunächst erklärt hatte, dass die verschiedenen Wahrheitsprogramme sich gar nicht widersprechen könnten, weil es eben nicht um Wahrheit ginge, und ein Mensch auch völlig widerspruchsfrei mehrere sich gegenseitig (dann also wohl nur scheinbar?) widersprechende Wahrheitsprogramme zugleich im selben Kopf haben könne, erklärt Veyne, dass ein vernünftiges Ringen von Argumenten in Wahrheit ein Kampf verschiedener Wahrheitsprogramme miteinander sei (S. 92). Doch wie das, wenn sie sich gar nicht widersprechen? Können sich verschiedene Wahrheitsprogramme nun widersprechen oder nicht? Paul Veyne klärt dieses Rätsel an keiner Stelle auf.

Immer wieder stellt Paul Veyne in diesem Büchlein klare Behauptungen mit Wahrheitsanspruch auf, obwohl es doch seiner Auffassung nach gar keine Wahrheit geben kann. Besonders deutlich in seiner apodiktischen Aussage „Die Wahrheit ist einfacher: ….“ (S. 104, „La verité est plus simple“), die ausgerechnet inmitten einer Orgie von Aussagen getätigt wird, dass es keine Wahrheit gäbe. Auf den Doppelpunkt folgt zudem ein Argument – wie aber kann Veyne argumentieren, wo das doch seiner Auffassung nach nichts bringt? Vom „Patriotismus“ behauptet Veyne, dass er Millionen Tote gefordert habe (er meint natürlich den Nationalismus, aber lassen wird das jetzt), und gibt sich sehr überzeugt davon (S. 151). Der Wahrheitsanspruch ist auch hier nicht übersehbar. Auch der Satz „Die zweite Interpretation ist die einzig richtige“ formuliert eine überraschend klare Wahrheitsbehauptung (S. 131). Und wenn es um Heidegger geht, den er offenbar nicht mag, ist plötzlich wieder Kritik gefragt, obwohl die doch laut Veyne gar nicht möglich ist: „Man hat den Verdacht, dass ein wenig historische und soziologische Kritik besser wäre als noch so viel Ontologie.“ (S. 130).

Wir erinnern uns auch, dass Paul Veyne sich sehr viel Mühe damit gegeben hatte, den Menschen als von Motiven geleitet darzustellen, über die er sich selbst gar nicht bewusst ist: Nicht Vernunft, Wahrheit und Moral würden den Menschen leiten, sondern Interesse, Vorlieben und Zufälle. Doch in Fußnote 33 erfahren wir plötzlich, dass Kinder, Primitive und Gläubige nicht naiv seien: Sie würden Imaginäres und Wirkliches gar nicht verwechseln, obwohl Veyne uns doch glauben machen wollte, dass man das gar nicht unterscheiden könne. Wir erfahren auch von einem Stamm, der Menschen, die sich aus religiös-rituellen Gründen für Wildschweine halten, klar von echten Wildschweinen zu unterschieden weiß. Sieh an, wer hätte das gedacht! Ist die Empirie also doch nicht vernachlässigbar?!

Und im Schlusssatz dieses Büchleins meint Paul Veyne dann: „Schon beim Lesen des Titels wird jeder, der auch nur die geringste historische Bildung besitzt, vorweg geantwortet haben: ‚Aber natürlich haben sie an ihre Mythen geglaubt!‘ “ Hier nun endlich, im letzten Satz, taucht sie doch noch versteckt auf, die Bildung! Die Bildung, die es angeblich gar nicht geben soll. Die Bildung, die es uns ermöglicht, aus unserem modernen Bezugssystem auszubrechen, in dem die antiken Mythen keine Wahrheit mehr haben, und uns in das Bezugssystem antiker Menschen zu versetzen, die natürlich in verschiedentlichster Weise an ihre Mythen glaubten. Es ist diese Bildung, die diese Transferleistung im Denken ermöglicht, mithilfe der Vernunft und der Wahrheit als Ziel, und man muss dazu noch nicht einmal ein Genie sein, wie Paul Veyne behauptete.

Wir glauben nicht, dass Paul Veyne wirklich ungebrochen an seine eigene Ideologie glaubt. Es ist ein Mythos, dass Veyne im „ungebrochenen Mythos“ seiner Ideologie lebt. Wir glauben dies nicht, erstens, weil dies gar nicht geht. Theoretisch nicht. Und praktisch erst recht nicht. Wir glauben es aber auch zweitens nicht, weil Paul Veyne – wie gezeigt – mehrfach deutlich erkennen ließ, dass er nicht daran glaubt. Die Frage ist, inwieweit sich Paul Veyne darüber im Klaren ist? Wir fühlen uns unwillkürlich an Erich von Däniken erinnert, dessen saftige Selbstironie ja auch nicht zu übersehen ist: Auch er glaubt und glaubt doch nicht wirklich an seine eigenen Mythen. Beide, Paul Veyne und Erich von Däniken, sind in einer bedauernswerten Gemengelage von Irrtum und Durchschauen des Irrtums gefangen. Das Durchschauen des Irrtums hat aber den Durchbruch zur Dominanz im Denken beider nicht geschafft.

Endlich: Das Thema Mythen!

Jetzt endlich kommen wir in dieser Rezension zu dem eigentlichen Thema von Veynes Büchlein, das im Titel angekündigt wurde, und wegen dessen die meisten Leser dieses Büchlein zu lesen begonnen haben werden – zu Ende gelesen werden es aber nur die wenigsten haben, denn es geht, wie gesehen, zuerst um ganz andere Themen, und dann erst um Mythen.

Leider ist Paul Veyne nicht in der Lage, die bei den Griechen entstehende Mythenkritik angemessen zu würdigen. Denn für Paul Veyne gibt es ja keine Annäherung an eine Wahrheit, und man könne auch nichts lernen, und es würde immer nur ein Wahrheitspalast durch einen anderen ersetzt, ohne Beteiligung der Vernunft. Deshalb wohl macht sich Paul Veyne lustig darüber, dass die Griechen die Frage nach der Wahrheit stellten, und redet von „Denkpolizist“ (S. 76). Die geistige Leistung der Griechen und der kulturelle Fortschritt sind für Veyne nur ein Witz. Er meint in unverständlichen Worten, dass die Kritik am Mythos durch die Transformation der Zeitlichkeit entstand, aber wie das zuging, wolle er eigentlich gar nicht wissen (S. 47). Der Leser ist schockiert: Das ist doch genau sein Thema, und er will es nicht wissen?! An anderer Stelle wendet er sich ebenfalls gegen Versuche, die Mythenkritik zu erklären, weil sie ein Ergebnis vieler Zufälle sei (S. 48 f.). In Fußnote 210 erfahren wir dann, dass sich Paul Veyne Hampl anschließe, demzufolge – angeblich – Mythos, Sage und Märchen nicht unterscheidbar seien. Das ist eine weitreichende Aussage, warum nur in einer späten Fußnote? Und nirgendwo finden wir eine saubere Unterscheidung verschiedener literarischer Gattungen: Sage, Legende, Mythos, Märchen, usw. – Wir sehen, dass sich die Ideologie von Paul Veyne äußerst negativ auf seine Behandlung des Themas auswirkt.

Tatsächlich werden alle Fragestellungen, die man zu Mythen haben kann, bei Veyne in der ein oder anderen Weise aufgeworfen und angesprochen. Doch die Perspektive ist häufig schräg, und es wird selten hinreichend differenziert. Oft wird rabulistisch über die verschiedenen Zeiten hinweggegangen, und viel zu weitreichende Pauschalurteile gefällt („die Griechen glaubten …“). Man könnte immerhin sagen, dass Paul Veyne eine Fundgrube für interessante Gedanken zum Thema Mythen ist. Das ja. Man kann dieses Büchlein zur Anregung lesen, um auf Gedanken zu kommen, auf die man sonst nicht gekommen wäre. Wir zählen nur kurz einige Themen auf, die angesprochen werden:

  • Das mythische vs. das historische Zeitalter.
  • Mythos und Logos seien nicht einfach ein Gegensatz.
  • Glaube variiert in Graden und Formen.
  • Glaube variiert nach sozialer Schicht, Bildung.
  • Glaube variiert je nach Jahrhundert, von Homer bis Pausanias.
  • Text ohne Autor; Tradition schafft Autorität.
  • Mythen haben soziale Funktionen.
  • Kriterium Entmythologisierung: Vergangenheit nicht wunderbarer als Gegenwart.
  • Kriterium Entmythologisierung: Wahren Kern herausschälen.
  • Dass Mythen völlig unwahr sind, also Lüge, hätten „die Griechen“ nicht erkannt.
  • Pausanias mache dann den Schritt zur allegorischen Deutung.
  • Der Entmythologisierer begründet selbst einen neuen Mythos.
  • Mythensammler schufen Kanon, Varianten, verursachten einen Kahlschlag der Varianten.
  • Mythen können Chiffren in diplomatischer Sprache sein.
  • Problem der Entmythologisierung wurde nie gelöst, sondern wurde durch Christentum obsolet.

Paul Veyne kommt immer wieder darauf zurück, dass die Griechen nie erkannt hätten, dass die Mythen einfach Lügen seien (z.B. S. 136). Der Leser fragt sich: Kann man das denn so pauschal sagen? – Immer wieder kommt Veyne darauf zurück, dass die heute gültige, moderne Deutung von Mythen die Deutung als Archetypen sei, also eine psychologisierende Deutung im Sinne von C.G. Jung (z.B. S. 26 f., 39, 75, 94). Doch das ist nur eine mögliche moderne Deutung von vielen! Wie kommt Paul Veyne darauf, dass es nur diese eine gäbe?! – Wiederholt meint Veyne, dass die griechische Skepsis, Rationalität und Geschichtsschreibung nicht so sei wie die unsere (S. 13, 115). Doch in welcher Weise? Das ist doch im Kern sehr zu bezweifeln, dass ihre Rationalität eine völlig andere war als unsere. – Einmal sagt Veyne, dass die Griechen bis zur Entmythologisierung unkritisch gläubig und unkritisch skeptisch gegenüber ihren Mythen gewesen wären (S. 26). Ein andermal sagt er, dass man mit Mythen bis zu Nietzsche und Max Weber unkritisch umgegangen sei. Weder das eine noch das andere kann den Leser überzeugen. Hier wird viel zu wenig differenziert. – Veyne behauptet, dass Hesiod seine Werke frei erfunden und zugleich daran geglaubt habe (S. 42). Das kann er einem gebildeten Menschen nicht erzählen. – Cicero hätte nicht an die Götter geglaubt (S. 65). Das bezweifle ich doch sehr. Es kommt darauf an, was man unter „Glaube“ und unter „Göttern“ versteht. – Autoren, die die Wahrheit von Mythen hochhalten, seien wie Philologen, die die erhaltenen Textstellen eines antiken Textes hochhalten (S. 91). Der Vergleich hinkt schwer.

Platon und Mythen

Geradezu dramatisch ist der Umstand, dass Paul Veyne in einem Werk über antike Mythen allen Ernstes glaubt, Platon auslassen zu können: „Doch überschlagen wir dieses Kapitel, vor dem selbst die kühnsten Kommentatoren zurückschrecken würden“; denn Platon mache alles, er deute Mythen allegorisch, oder mit geschichtlich wahrem Kern, oder er mache sogar eigene Mythen (S. 81). Das ist natürlich gar zu schrecklich, sich mit so einem wetterwendischen Wicht wie Platon zu befassen, das lässt man dann lieber gleich bleiben als Wissenschaftler, nicht wahr? Dass Platon eine absolut zentrale Rolle im antiken Diskurs über Mythen spielt, fällt für Paul Veyne offenbar nicht ins Gewicht. Er spricht diesen Umstand noch nicht einmal aus. Auch wegen dieses kühnen Übergehens von Platon ist Paul Veyne einfach nicht ernst zu nehmen. Dabei ist Paul Veynes Furcht nur allzu verständlich, denn Platon steht für alles, was Veyne ablehnt: Für Vernunft und das Streben nach der Wahrheit.

Durch die Hintertür hat sich Paul Veyne natürlich trotzdem mit Platon befasst. Es finden sich ungefähr zehn Stellen in diesem Büchlein, an denen Veyne auf Platon eingeht. Nur gibt Paul Veyne nicht zu, dass Platon wichtig ist. Offenbar will Paul Veyne Platon „vernichten“, indem er ihn lächerlich macht, systematisch fehlinterpretiert und vor allem ausblendet. Das ist dann fast schon kindisch.

Veyne unterstellt, dass Platon geglaubt habe, dass alle Mythen von Dichtern erfunden worden seien (S. 77). Das ist natürlich Unsinn, aber ganz im Sinne von Veyne. – Platons Diktum, dass man die Unwahrheit der Wahrheit so gut wie möglich nachbilden müsse, deutet Veyne so, dass jede Unwahrheit eigentlich nur eine Ungenauigkeit sei (S. 87). Auch das ist falsch, denn es gibt für Platon auch die klare Unwahrheit, Lüge und Fälschung, die kein Annäherungsversuch an die Wahrheit ist. Aber Veyne, für den es keine echten Fälscher gibt, sieht das natürlich anders. – In Platons Aussage zur Kriegstauglichkeit von Frauen deutet Veyne die Aussage zu den Sauromaten so, als würde Platon die Sauromaten als Kern des Amazonen-Mythos deuten (S. 112 f.; Nomoi VII 806ab). Doch das ist falsch. Es wird nur verglichen, „wie die Sauromatinnen“, aber es findet keine Ausdeutung des Mythos im Sinne von Paul Veyne statt. – An einer Stelle meint Veyne, die Griechen hätten sich nie mit dem Problem der Überlieferung befasst (S. 85). An einer anderen Stelle schreibt Veyne, dass man die Prinzipien der Kritik der Überlieferung bei Platon finden könne (S. 68). – Meistens wird die Zeitlichkeit der Mythen mit der Zeit bis zum Trojanischen Krieg angegeben (S. 11, 55, 92 ff.). An einer Stelle wird die Zeitlichkeit der Mythen jedoch lapidar „platonisch“ genannt (S. 40). Die platonische Vorstellung von Zeit war aber eine ganz andere als die der traditionellen Mythologie, nämlich zyklisch, wie Paul Veyne wiederum an anderer Stelle richtig erkannt hat (S. 64). Auch hier also eine flapsige Ungenauigkeit. Für Paul Veyne ist das aber vermutlich egal, und Flapsigkeit völlig gerechtfertigt, da ja ohnehin alles nicht wahr ist, da ja ohnehin kein Wert auf Vernunft gelegt werden kann, usw. usf.

In Fußnote 5 nennt Paul Veyne das Werk „Greece before Homer: Ancient Chronology and Mythology“ von John Forsdyke 1957 als eine seiner Quellen. Wir haben die Vermutung, dass Paul Veyne sich bei der Abfassung seines Büchleins allzu sehr auf dieses Werk gestützt haben könnte. „Allzu sehr“ nicht im Sinne eines Plagiates, aber in dem Sinne, dass auch bei Forsdyke Platon mehr oder weniger ausgeblendet wird, und dass auch bei Forsdyke eine übertriebene Schwerpunktbildung auf Pausanias zu beobachten ist, ganz wie bei Veyne.

Platons Atlantis

In Fußnote 89 kommt Paul Veyne sehr versteckt auch auf Platons Atlantis zu sprechen. Dort heißt es: „Zu den mythischen Zeitaltern bei Platon (Politik [Politeia] 268-269b; Timaios 21a-d; Gesetze 677d-685e), der sie richtig stellt und nicht mehr oder weniger daran glaubt als Thukydides oder Pausanias, vgl. Raymond Weil, Archéologie de Platon, Paris 1959, S. 14, 30, 44.“

Mit den „mythischen Zeitaltern bei Platon“ ist zunächst nur von Platons zyklischem Geschichtsbild die Rede, auch wenn dies eng mit Platons Atlantis zusammenhängt. Doch mit der Stellenangabe Timaios 21a-d, in der nicht von Zeitaltern sondern von Ur-Athen und Atlantis zu erzählen begonnen wird, und dem Verweis auf Raymond Weil, in dessen Werk es zentral um Platons Atlantis geht, ist der Bezug zu Platons Atlantis dann unmissverständlich hergestellt. Und Platons Auffassung über – unter anderem – Atlantis ist Paul Veyne zufolge also, dass Platon „nicht mehr oder weniger daran glaubt als Thukydides oder Pausanias“.

Wir könnten daraus jetzt ohne weiteres ableiten, dass Paul Veyne glaubt, dass Platon seine Atlantisgeschichte völlig ernst gemeint hat. Ohne weiteres könnten wir sagen, dass Paul Veyne damit gegen die Mehrheit der Historiker und Philologen steht, denenzufolge Atlantis eine Erfindung von Platon ist. – Doch halt! Paul Veyne verwischt ja gerade den Unterschied von Erfindung und Wahrheit. Für Paul Veyne gibt es auch keinen Fälscher, sondern nur verschiedene Wahrheitspaläste – die sich aber allesamt wiederum nur unserer Einbildungskraft verdanken. Die Empirie ist für Veyne vernachlässigbar. Wenn man dies bedenkt, dann ist Paul Veyne natürlich wieder ganz anders einzuordnen. Veyne glaubt vielleicht tatsächlich, dass Platon an Atlantis glaubte, aber Veyne glaubt zur gleichen Zeit auch daran, dass Platon Atlantis erfand. Ganz so, wie Veyne es auch für Hesiod sagt (S. 42). Das ist zwar Unsinn, aber Veynes Meinung. Mit anderen Worten: Paul Veyne hat eine Meinung, die wie ein Pudding ist, den man nicht an die Wand nageln kann. Auch der Verweis auf Raymond Weil ist vielsagend. Denn anders als Paul Veyne, demzufolge Platon daran glaubt, auch wenn er es erfunden hat, ist Raymond Weil ein ganz entschiedener Verfechter der These, dass Platon die Atlantisgeschichte sehr bewusst erfunden hat.

Immerhin können wir trotz allem eines ganz klar festhalten: Paul Veyne glaubt gewiss und sicher daran, dass Platon an seine Atlantisgeschichte glaubte. Veyne glaubt zwar zugleich auch, dass Platon die Atlantisgeschichte erfand, doch ändert das nichts daran, dass Paul Veyne sich in ganz klarem Widerspruch zu den meisten Historikern, Philosophen und Philologen befindet, die meistens der Auffassung sind, dass Platon die Atlantisgeschichte sehr bewusst erfunden hat. Wenigstens diesen Widerspruch zur vorherrschenden Meinung können wir aus der Meinung von Paul Veyne herausdestillieren. Da gibt es nichts zu rütteln.

Merken wir noch an, dass Paul Veyne seine Meinung über Atlantis säuberlich in eine Fußnote versteckt hat, und auch innerhalb dieser Fußnote nur implizit durch einen Stellenverweis auf Platons Timaios und den Literaturverweis auf Raymond Weil deutlich werden lässt. Offenbar war es Paul Veyne unangenehm, seine eigene Ideologie auf das Thema Atlantis angewendet zu sehen. Er hätte ja auch ganz einfach explizit schreiben können: Platon glaubte an Atlantis und erfand es zugleich, so wie er es bei Hesiod ja auch macht. Aber vermutlich fürchtete er, es könne ihn jemand beim Wort nehmen: „Platon glaubte an Atlantis“, ohne den ganzen Wahnwitz seiner Ideologie zu erfassen: „und erfand es zugleich“. Es ist doch immer wieder interessant, was Wissenschaftler zum Thema Atlantis nur in Fußnoten zu schreiben wagen.

Formale Kritik

Da wir jetzt schon soviel Text in diese Rezension investiert haben, sollten wir auch vor einer Kritik formaler Aspekte nicht zurückschrecken. Wie viele Autoren hat Paul Veyne zahlreiche Informationen in Fußnoten gepackt, die man gerne im Haupttext gesehen hätte. Angenehm ist aber, dass die Fußnoten nicht für jedes Kapitel, sondern für das ganze Buch durchgängig nummeriert sind. Das erleichtert den Umgang mit ihnen erheblich. Andererseits sind die Fußnoten leider nicht als Fußnoten gesetzt, sondern am Ende des Buches als Endnoten gesammelt. Das erschwert die Arbeit mit ihnen wiederum deutlich.

Einige Kapitel sind mit Überschriften versehen, in denen thematisch etwas ganz anderes zur Sprache kommt, als die Überschrift erhoffen lässt. Es gibt bei Veyne zahlreiche Wiederholungen von Aussagen, was ein Hinweis darauf ist, dass er sein Buch nicht hinreichend durchstrukturiert hat.

Der deutsche Übersetzer hat einige Fehler begangen. So schreibt er z.B. Titus-Livius und Sextus-Empiricus mit Bindestrich. Euhemeros wird zu Ephemerios – wie ephemer? – und Euhemerismus zu Ephemerismus. Auf S. 138 wurde statt mit DNA mit ADN übersetzt.

Wertvolle Gedanken

Es gibt auch einige wenige wertvolle Gedanken in Paul Veynes Büchlein. Die Frage, woher der Brauch kam, seine Quellen anzugeben, wird mit der Kontroverse beantwortet (S. 22 f.). Die Konkurrenzsituation ist es, die den Autor zwingt, seine Belege anzugeben. Das ist auch ganz mein Gedanke zu Herodot: Herodot war deshalb nicht konsequent in der Anwendung seiner Methode (zu der allerdings mehr gehört als nur Quellen anzugeben), weil er noch außer Konkurrenz stand. Thukydides verzichtet allerdings noch weit mehr auf Quellenangaben.

Das Wissen darum, dass man etwas wissen kann, genügt bereits, um dorthin zu gelangen (S. 112). D.h. es gibt zumindest im Prinzip kein unerreichbares Wissen, das nur Privilegierten und Eingeweihten offensteht. – Der Zweck eines Studiums besteht nicht nur darin, die Inhalte eines Fachs zu lernen, sondern auch darin, den Autoritätsglauben bezüglich dieses Faches abzulegen (S. 114). Im Idealfall ja. – Schließlich der Gedanke, dass die Naturwissenschaften grundsätzlich auch nicht seriöser sind wie die Geisteswissenschaften, weil der Umgang mit „Fakten“ kein Erkenntnisprivileg bedeutet, denn auch Fakten müssen interpretiert werden (S. 139).

Schluss

Dies ist ein richtig schlechtes Buch, das das gewählte Thema nicht nur für die Darlegung einer abseitigen Ideologie missbraucht, sondern auch das Thema selbst schlecht darstellt. Statt etwas über Mythen zu erfahren, wird der Leser im Laufe der Lektüre immer tiefer in eine ideologische Wahnwelt verstrickt und hat das Gefühl, einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden. Im Grunde ist es geradezu frech, was Paul Veyne hier vorgelegt hat. Es ist gewissermaßen das Paradebeispiel für ein Produkt der Geisteswissenschaften, das diese wie „Geschwätzwissenschaften“ aussehen lässt. Paul Veyne ist bestallter Professor und wird vom Steuerzahler bezahlt – da hätte man sich etwas mehr Ernsthaftigkeit und Qualität schon erwarten können. Fehlt Paul Veyne der Bezug zu den arbeitenden Menschen, die seinen Posten finanzieren?

Fast kann Paul Veyne einem leid tun. Was für ein Selbstbild muss ein Mensch haben, der die Welt so zynisch sieht, dass Vernunft und Wahrheit und Moral absolut gar nichts zählen, sondern nur und ausschließlich Zufälle, Interessen und der Wille der Macht? Oder ist Paul Veyne ein Blender? Müssen wir dieses Machwerk als den „Willen zur Macht“ und als das „Interesse“ von Paul Veyne interpretieren? Oder ist es beides: Paul Veyne glaubt diese Dinge wirklich, aber er hat sie zugleich auch erfunden. Im Sinne der Ideologie dieses Büchleins wird es wohl beides sein, so wie Paul Veyne es auch von Hesiod glaubt (S. 42). Wir erinnern erneut an die oben gezogene Parallele zu Erich von Däniken.

Da ist es tröstlich, wenn wir in diesem Büchlein wenigstens Spuren finden, die uns erahnen lassen, dass Paul Veyne nicht ungebrochen an den Unfug glaubt, den er uns hier aufgetischt hat. Diese Spuren könnten Ansätze zur Heilung von Paul Veyne sein, damit die Einsicht in ihm wächst, dass er auf dem Holzweg ist, und dass sein Büchlein leider nur den Geist der Holzsprache atmet. Wir erwarten Paul Veyne zurück auf dem Pfad der Menschlichkeit, der Vernunft und der ewigen Suche nach der einen Wahrheit.

* * *

Die genannten Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Ausgabe.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Atlantis-Scout im September 2020)

Bibliographie und externe Links

Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft, übersetzt von Markus May, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987. Original: Les Grecs ont-ils cru à leurs mythes? Essai sur l’imagination constituante, Éditions du Seuil, Paris 1983. Englisch: Did the Greeks believe in their Myths? An essay on the Constitutive Imagination, translated by Paula Wissing, The University of Chicago Press, Chicago / London 1988.

Französische Originalversion, teilweise zugänglich:
https://books.google.de/books?id=ZX6BAAAAQBAJ&pg=PT1
Englische Version, teilweise zugänglich:
https://books.google.de/books?id=EpbZLRPGgBsC&hl=de&pg=PP1
Deutsche Version, nicht zugänglich:
https://books.google.de/books?id=q3iYAAAACAAJ

Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller, Postmodernismus: Status quo einer philosophischen Strömung. Einleitung – Überblick der Beiträge, in: Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller (Hrsg.), Kritik der postmodernen Vernunft – Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt WBG, Darmstadt 2007; S. 7-28.

Simon Goldhill, Review of: Paul Veyne, Did the Greeks Believe in their Myths? An Essay on the Constitutive Imagination, translated by Paula Wissing, University of Chicago Press, 1988, in: The Classical Review Vol. 40 Issue 1 (April 1990); S. 172.

Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Veyne

books & ideas: The Curious Monsieur Veyne
https://booksandideas.net/The-Curious-Monsieur-Veyne.html

Mary Renault: Die Maske des Apoll (1966)

Ruhiger, genau beobachtender, aber zu braver Historienroman

Die Handlung des Historienromans „Die Maske des Apoll“ von Mary Renault entwickelt sich rund um den Versuch Platons, im Syrakus des Tyrannen Dionysios II. unter Mithilfe von Dion, dessen Verwandten und Anhänger Platons, den Idealstaat zu errichten. Der Protagonist ist dabei ein reisender Theaterschauspieler, der das politische Geschehen beobachtet und dessen Auswirkungen am eigenen Leibe zu spüren bekommt.

Mary Renault kann sich gut in die Zeit und die besonderen Umstände hineindenken und verblüfft mit ihrer genauen Kenntnis des antiken griechischen Theaters; wer sich dafür interessiert, kommt in jedem Fall auf seine Kosten. Vorkenntnisse in diesem Bereich sind von Nutzen, um jede Anspielung zu verstehen. Auch Platon und seine Philosophie werden ganz gut getroffen, ebenso alles andere. An zwei Stellen kleidet Mary Renault die Philosophie Platons etwas gewagt in neutestamentliche Worte. Die Person des Platon wird zu sehr idealisiert. Der Roman ist in einem antiquiert wirkenden, ruhigen Stil geschrieben, der fern von dem Aktionismus moderner Pageturner seinen eigenen Charme entwickelt.

Doch der Roman ist zu brav geraten. Es fehlt das Besondere, der Biss. Vielleicht ist der Biss in bezug auf das antike Theater gerade eben noch vorhanden; in bezug auf Platon, seine Philosophie und dessen Versuch, den Idealstaat zu verwirklichen, fehlt er jedoch gewiss.

In Kapitel 12 (S. 261) könnte es eine Anspielung auf Platons unvollendete Darstellung von Atlantis geben, wo von einer unvollendeten Schrift Platons die Rede ist; doch das bleibt eine Vermutung, auf den Inhalt der Schrift wird nicht eingegangen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 14. Februar 2012)

Thomas Mann: Joseph und seine Brüder (1933-43)

Weltanschauliches Groß-Epos der Humanisierung mit jüdisch-christlicher und politischer Schlagseite

Der Roman „Joseph und seine Brüder“ ist das große weltanschauliche Epos von Thomas Mann. Anhand der bekannten biblischen Episode entfaltet Thomas Mann mehrere große und kleine Themen, die das weltanschauliche Denken des Autors reflektieren. Dabei greift Thomas Mann weit über den engeren Kulturkreis des jüdischen Mythos hinaus.

Hauptthema 1: Mythen

Das ganze Buch handelt von Mythen und ist selbst ein Mythos, es zeigt wie Mythen entstehen, sich entwickeln, und in anderen Mythen aufgehen. Immer wieder und wieder werden Mythen erzählt und immer neu erzählt, dabei variiert und kombiniert. Der Leser erfährt sehr praktisch und am eigenen Leib, was Mythen sind. Das ganze Buch ist in einer episch-altertümelnden Sprache gehalten, die eine sehr glaubwürdige Atmosphäre des Mythischen schafft. Allein das ein Meisterwerk von Thomas Mann.

Mythen sind nichts, was wir ablegen könnten. Sie liegen unserer Kultur zugrunde, ob wir wollen oder nicht. Entweder wir leben die Mythen, oder die Mythen leben uns. Es gibt kein Entrinnen. Zwischen Religion und Mythologie wird hier übrigens nicht unterschieden.

Literarisch geschickt erweitert Thomas Mann den Horizont der Mythen weit über den engeren Kreis des jüdischen Mythos hinaus. Neben der Mythologie der Griechen, der Ägypter, der Babylonier, der Sumerer oder auch der Etrusker (sehr viel verdankt Thomas Mann hier offenbar Egon Friedell) lässt Thomas Mann aber auch teils witzige literarische Reminiszenzen an Form und Inhalt einfließen, u.a. an Goethes Faust, Dante, Karl May, Schneewittchen oder den Golem. Vor allem aber fließt auch der christliche Mythos ein. Je mehr Vorbildung der Leser mitbringt, desto mehr wird er das Werk genießen können.

Wie so viele, so hat auch Thomas Mann in diesem Roman die Erscheinung des Pharao Echnaton in Verbindung mit dem Eingottglaube der Israeliten gebracht. Ein weiterer geschickter und sehr mythischer Topos ist, dass die jeweiligen Vaterfiguren der Geschichte zeitweilig an die Stelle Gottes treten, indem sie milde und belehrend-erziehend wirken: Jaakob, der Karawanenführer, Petepre, der Gefängnisdirekter, Pharao.

Schon hier sei gesagt, dass das Thema Mythen von allen Themen dieses Romans das Gelungenste ist, während die Behandlung der anderen Themen an schweren Defiziten leidet, wie wir unten zeigen werden.

Hauptthema 2: Mythenentwicklung hin zum Humanen

Thomas Mann sieht im jüdisch-christlichen Mythos eine fortschreitende Entwicklung zum Humanen. Der gottessorgende Mensch fühlt den Drang zur Milderung und zur Überwindung althergebrachter Sitte und Weisung. Diese Entwicklung geschieht im Selbstgespräch mit Gott und aus innerem Fühlen und Drängen heraus.

Zwar lässt Thomas Mann ein einziges Mal auch das platonische Thema kurz anklingen, dass Dichtung auch wahr sein müsse, doch sieht er dieses Kriterium darin erfüllt, dass sie von Gottessorge getragen ist (S. 1245-1247). Wahrheit ist demgemäß gar keine Wahrheit im eigentlichen Sinne, sondern das richtige Einfühlen in die Gottessorge, ein gefühliges Ins-Reine-Kommen mit sich selbst und Gott, ein höchst irrationaler Vorgang. Jaakobs Milde wird explizit einem „Wahrheitseifer“ als das Bessere gegenübergestellt (S. 1259).

Der Gott Thomas Manns ist kein rationaler Gott. Er entwickelt sich mit den Menschen mit, lässt sich von Luzifer und Menschen verführen, veranstaltet mit der Menschheit ein großes Gottesspiel, über das man lachen sollte, und am Ende wendet er alles entstandene Leiden doch immer zum Guten. Es ist offensichtlich, dass sich Thomas Mann dem so verstandenen jüdisch-christlichen Mythos auch persönlich verpflichtet fühlt.

Sehr glaubwürdig ist Thomas Manns Schilderung des menschlichen Haderns und Leidens, und der menschlichen Schwäche und Erniedrigung, die aber auch Kraft und Erneuerung aus geistigen Quellen erfahren kann.

Hauptthema 3: Judentum und Christentum

Thomas Mann unternimmt alles, um zu zeigen, dass der jüdische Mythos den christlichen Mythos vorbereitet und praktisch bereits enthält, von der Dreifaltigkeit bis hin zur leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Hier entfaltet Thomas Mann seine ganze sprachliche und erzählerische Meisterschaft, und spielt brilliant mit Worten wie „Ich bin’s“, „Auferstehung“, „leeres Grab“, oder „Sohn Gottes“.

Schließlich gestaltet Thomas Mann in dem Verhältnis von Gottessohn Joseph zu seinen „alten Brüdern“ andeutungsweise auch seine Vision vom wünschenswerten Verhältnis zwischen Christentum und Judentum. War das Gottesspiel auch böse, so war es doch ein Spiel zum guten Zweck, über das man lachen sollte, und allseitige Bitte um Vergebung ist angesagt.

Nebenthema: Erwählung und Leiden

Joseph ist der Erwählte, der Ausgesonderte. Der Liebling und der Schöne. Als solcher ist er naiv und offenherzig, muss für seinen „Frevelmut“ aber büßen durch den Neid der Nichterwählten. Er ist erwählt, muss dafür aber viel leiden, um zum Ziel zu kommen. Er erreicht das Besondere, aber der Segen geht dennoch nicht auf ihn und seine Nachkommen über, sondern auf einen anderen.

Nebenthema: Ökonomie

Anhand von Josephs Wirtschaftssystem in Ägypten zeigt Thomas Mann, wie er sich die Organisation der Ökonomie in seiner Zeit vorstellt (um die Seite 1284):

  • Volksfürsorge für Ärmere.
  • Reichere werden enteignet, Bodenreform.
  • Der Eigentumsbegriff wird relativiert und an die Bewirtschaftung gekoppelt.
  • Eine Flat-Tax für alle.
  • Die Tempel werden geschont, weil das Volk es nicht verstehen würde.

Nebenthema: Klimawandel

Wissenschaftlich völlig korrekt deutet Thomas Mann die Möglichkeit einer zufälligen Aufeinanderfolge von sieben Dürrejahren nicht als Klimawandel, sondern als möglichen Zufall. Noch interessanter ist, dass Thomas Mann für einen Klimawandel die Sonnenflecke verantwortlich macht: „Das hat übergeordnete Gründe, es führt ins Kosmische und zu den Gestirnen, die zweifellos Wind und Wetter bei uns regieren. Da sind die Sonnenflecke – eine beträchtlich entlegene Ursache.“ (S. 1191)

Damit nimmt Thomas Mann eine Erkenntnis vorweg, zu der wir nach dem langen Irrtum der Treibhaus-Hypothese langsam wieder zurückkehren: Maßgeblich für Klimaschwankungen ist immer noch nicht der Mensch, sondern die Sonne.

Nebenthema: Atlantis

Thomas Mann akzeptiert offenbar im Gefolge des von ihm mit viel Zustimmung gelesenen Egon Friedell die pseudowissenschaftliche Annahme einer Urzivilisation namens Atlantis. Während zur gleichen Zeit manche Nationalsozialisten diese Vorstellung von Atlantis zum Herkunftsort der arischen Rasse umzudeuten versuchen, ist Atlantis für Thomas Mann der Herkunftsort sowohl der arischen als auch der semitischen Sprachen. Vermutlich bezieht sich folgendes Wort von Thomas Mann aus einem Vortrag von 1942 über seinen Roman auch auf diesen Sachverhalt: „Der Mythos wurde in diesem Buch dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert, – wenn die Nachwelt irgendetwas Bemerkenswertes daran finden wird, so wird es dies sein.“

Schwäche 1: Thomas Mann ignoriert den Kern unserer aufgeklärten Kultur

Thomas Mann konzentriert sich in seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ allein auf das Mythische und die jüdisch-christliche Tradition. Den Kern unserer Kultur, die griechische Philosophie, übergeht er jedoch vollkommen. Damit muss Thomas Mann in vielerlei Hinsicht scheitern.

Philosophie bedeutet natürlich die Hinterfragung der Mythen, die Einführung der Herrschaft der Vernunft und die Frage nach der Wahrheit. Ohne das ist die menschliche Kultur seit über 2000 Jahren überhaupt nicht mehr denkbar, und Thomas Mann übergeht es vollkommen!

Damit gerät auch das zentrale Projekt, das Thomas Mann mit seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ verfolgte, ins Zwielicht: Denn nicht aus innerem Fühlen und Drängen heraus haben sich die Mythen und Religionen humanisiert, sondern aus dem Drang zur Vernunft heraus. Es gibt keine Garantie dafür, dass das innere Fühlen religiöser Menschen immer in Richtung Humanisierung geht; das Pendel des Fühlens und Meinens kann auch wieder in die gegenteilige Richtung umschlagen. Nur die Vernunft, nur der Humanismus der klassischen Antike ist Garant und wahre Quelle der Humanisierung. Alles andere kann dazu nur eine vorübergehende Vorstufe sein.

Wir müssen feststellen: Thomas Mann war eben leider nur ein Dichter, aber kein Denker.

Schwäche 2: Theologisch verfehlt

Die nächste Schwäche hängt sehr eng mit Schwäche Nr. 1 zusammen: Denn ohne Philosophie und Rationalität ist Theologie gar nicht zu haben. Es ist zu bezweifeln, dass Thomas Mann mit seinem Werk im Denken von jüdischen, christlichen oder islamischen Theologen einhaken kann. Allzu leicht tändelt dieser Gott, und lässt seine Anhänger im Stich, die seine unwiderrufenen Weisungen von gestern noch befolgen. Allzu leicht löst sich für Thomas Mann das Problem des guten Gottes, der Leiden zulässt, auf. Humanisierung auf dem Wege der Theologie schön und gut, aber so geht es nicht.

Ja, schlimmer noch: Die ganze jüdisch-christliche Tradition mit all ihren Mythen wird seit über 2000 Jahren im Spiegel der griechischen Philosophie überliefert und gedeutet und mythologisch weiter entwickelt. Selbst unter rein mythischen Gesichtspunkten hätte Thomas Mann hier also versagt.

Hier ist Thomas Mann dem schwärmerischen Drang zum Wünschenswerten erlegen, der aber die Auseinandersetzung mit der Realität nicht ersetzen kann.

Schwäche 3: Störend ahistorisch

Ein historischer Roman muss historisch nicht genau sein, er ist ja Literatur. Wo aber die beabsichtigte Botschaft eines historischen Romans davon abhängt, wird historische Genauigkeit doch wichtig.

Thomas Mann versetzt eine fortgeschritten humanistische Denkatmosphäre in den Kontext einer religiös-patriarchalischen Stammesgesellschaft: Das funktioniert so leider nicht. Natürlich repräsentieren auch die Geschichten um Jaakob und Joseph ein Stück Humanisierung, aber in einem weit geringeren Maße und einem weit früheren Stadium der Humanisierungsgeschichte, als dass es passen würde. Man darf als Literat durchaus Dinge hinzuerfinden, aber nur, wenn es sich in den vorgegebenen Rahmen einpasst. Sobald dieser Rahmen gesprengt wird, kommt immer etwas entschieden Falsches hinein, eine unauflösliche Dissonanz. Aus dem vorgegebenen Rahmen, der überlieferten Geschichte, wird etwas herausgeholt, was nicht in ihr steckt. Dann hätte der Literat seine Gedanken besser im Rahmen einer anderen Vorlage entwickelt.

Beispiele: Wenn Jaakob und Joseph bei Vollmond am Brunnen sitzen, beschleicht den Leser das unabweisbare Gefühl, hier würde doch eher der väterliche Sokrates mit dem jungen Phaidros am Ufer des Ilissos sitzen, als der Patriarch einer religiösen Stammesgesellschaft mit seinem Sohn. Die Gedanken schweifen viel zu frei. Besonders deutlich wird das Unpassende, wo Thomas Mann hinzuerfindet oder weglässt. Niemals könnte ein echter Patriarch es ohne Blutzoll dahingehen lassen, dass sein Sohn mit einer seiner Ehefrauen schläft. Niemals könnte ein Patriarch eine solche Selbsterniedrigung hinnehmen, wie Thomas Manns Jaakob vor Esaus Sohn Eliphas. Hingegen übergeht Thomas Mann dezent, mit welchen und wievielen Frauen dieser Patriarch Jaakob zu schlafen pflegt.

Schwäche 4: Der Islam fehlt

Nicht nur das Christentum, auch der Islam geht auf die biblischen Patriarchen zurück, und gerade heute wären wir alle höchst interessiert daran zu wissen, wie Thomas Mann den Islam in seine Erzählung eingewoben hätte, so wie er das Christentum auch hineingewoben hat. Doch mehr als den folgenden Satz finden wir nicht: „Da nahm er die ägyptische Magd und zeugte mit ihr einen Sohn und nannte ihn Ismael. War aber ein abwegig Erzeugnis, nicht auf der Heilsbahn, der Wüste gehörig, …“ (S. 1129). Das ist zu wenig, und würdigt weder die Errungenschaften noch die Schwächen des Islam in angemessener Weise, noch gibt es uns Rat, wie wir mit dem Islam umgehen sollen.

Schwäche 5: Allzu linker Linksliberalismus

Thomas Mann wollte den Mythos aus den Klauen der Ideologie befreien und sprachlich für immer humanisieren, doch er hat ihn womöglich doch nur für eine weitere politische Ideologie in Dienst genommen. Das ganze Werk atmet den Geist eines altbackenen, allzu linken Linksliberalismus.

Da ist zunächst die typisch linksliberale weltanschauliche Schwammigkeit, der Verzicht auf Rationalität. Man möchte sich gerne in den überkommenen Mythen wiegen, aber sie glauben möchte man nicht mehr. Alles soll nur noch im übertragenen Sinn gelten, bis vom eigentlichen Sinn nichts mehr übrigbleibt. Man haust offenbar gerne in den Trümmern einer gefallenen Weltanschauung. Die Mühe, eine direkt glaubhafte, konsistente Weltanschauung zu ersinnen, wird geradezu verpönt, und durch ein Schwelgen in überlieferter Bildung ersetzt. Ordnung und Disziplin vor sich selbst sind nicht gefragt. Wahrheit wird nicht gesucht, sondern für gefunden geglaubt, und als Pseudo-Wahrheit in den Dienst einer Sache gestellt, die man längst für ausgemacht hält. Wahre Bildung ist das nicht.

Aber auch die ökonomischen Visionen Thomas Manns zeigen es: Das Eigentum soll relativiert werden, Reiche soll es nicht mehr geben, alle Menschen sollen ökonomisch gleich sein, der gute Staat sorgt für alle. Das ist beinahe schon kommunistisch, denn wo die herausragenden Männer zurückgestutzt werden und der Staat der Übervater ist, dort ist keine Freiheit mehr. Die ökonomische Schonung der Tempel entspricht natürlich einer Schonung der heutigen Kirchen: Hier kommt die weltanschauliche Schwammigkeit eines Festhaltens am Christentum mit dem linken ökonomischen Denken zusammen.

Wenn man bedenkt, dass sich die Kirchen in der Bundesrepublik zu finsteren Horten eines allzu linken Linksliberalismus, eines schwärmerischen Utopismus, entwickelt haben, die sich bis heute an ihre überkommenen Privilegien klammern und darin vom links durchwirkten BRD-Establishment, das früher einmal kirchenkritisch war, maßgeblich unterstützt werden, bis hin zur bedenkenlosen Einführung eines Islamunterrichtes in Zusammenarbeit mit verfassungsfeindlichen Islamverbänden, nur um das analoge Privileg des christlichen Religionsunterrichtes weiter rechtfertigen zu können – wenn man das bedenkt, dann war Thomas Manns Werk in diesem Punkt wahrhaft prophetisch und vielleicht auch unheilvoll wirkmächtig.

Womöglich ist es kein Zufall, dass Thomas Mann gerade zum Islam nichts zu sagen hatte. Denn zum Islam weiß der allzu linke Linksliberalismus bis heute nichts Vernünftiges zu sagen, und glaubt, ihn unverwandelt und ungesiebt in die bestehenden Strukturen einbeziehen zu können. Wie wenn der Patriarch am Brunnen mit seinen zwölf Söhnen sich nahtlos in unsere durch griechisches Denken aufgeklärte Gesellschaft fügen könnte. Nach dem von Thomas Mann vorgegebenen Muster der Ignoranz des griechischen Erbes kollidiert hier Wunschdenken mit Wirklichkeit.

Schwäche 6: Literarische Faux-pas

Teilweise belästigt Thomas Mann den Leser mit einer läppischen Intimität. Wenn man zum soundsovielten Mal von „Dudu dem Ehezwerg“, dem „Hutzel“, gelesen hat, dann hat man davon irgendwann genug und will es nicht mehr sehen.

Längen sind eine Stärke dieses Romans, der alles in buchstäblich epischer Breite darlegt. Doch der Leser atmete sichtlich auf, als die Liebeswehen von Potiphars Weib Mut-em-enet endlich vorüber waren, und die Geschichte wieder an Fahrt aufnahm: Wer diese harte Prüfung bestanden hat, der wird den Roman auch vollends zu Ende lesen.

Fazit

Trotz gravierender Schwächen ist Thomas Mann ein sprachliches Meisterwerk gelungen, das über Mythen und Menschen viel zu sagen weiß, und das zu lesen sich lohnt. Man darf dabei aber niemals vergessen, dass Thomas Manns Weltsicht eine schwere jüdisch-christliche und politische Schlagseite hat, die der kundige Leser in seinem eigenen weltanschaulichen Denken in vielfacher Hinsicht nachkorrigieren muss – dann kann dieses Werk ein Genuss sein.

Ohne diese Korrektur jedoch wird dieses Buch zur Quelle eines unheilvoll mythischen Denkens, zu einem unendlich tiefen Brunnenloch, aus dem die Dämonen der Vergangenheit in die Gegenwart hinaufsteigen können. Ob Thomas Mann das gewollt hätte? Wir glauben nicht: Denn mit Thomas Mann wissen wir, dass die Geschichten sich immer weiter spinnen, und wie sein Gott so hätte auch Thomas Mann inzwischen sicher längst wieder seine Meinung weiter entwickelt und würde jene bestraft sehen wollen, die am „Überständigen“ dieses Romans festhalten wollen: „Denn es ekelt den Herrn das Überständige, worüber er mit uns hinauswill“.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 20. Juli 2014)

Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel (1988)

Gescheiterte literarische Verarbeitung verschwörungstheoretischen Denkens

Zentrales Thema des Romans „Das Foucaultsche Pendel“ von Umberto Eco ist die Leichtgläubigkeit von Verschwörungstheoretikern für Geheimgesellschaften und die von diesen gehüteten oder gesuchten oder enthüllten Geheimnisse. Geheimgesellschaften sind hier z.B. Templer, Rosenkreuzer, Jesuiten, Freimaurer. Geheimnisse sind hier z.B. der Gral, der Stein der Weisen, die Kabbala, Magie oder pseudo-wissenschaftliche Theorien wie Pyramidengeheimnisse, Hohlwelt und Erdströme. Diese Thematik wird anhand eines Lektoren-Trios in einem Mailänder Verlag entfaltet: Immer wieder kommen sie mit verrückten Autoren in Kontakt, die ihnen Manuskripte voller Verschwörungstheorien unterbreiten.

Das Buch beginnt mit einer furiosen Einleitung, in der der Autor etwas zuviel mit gebildeten Assoziationen brilliert; eine Stilart, die wohl für italienische oder französische Literatur typisch ist. Die ganze erste Hälfte des Buches besteht anschließend darin, in kaum zusammenhängenden Ereignissen die verschiedensten Geheimgesellschaften und Geheimnisse kennen zu lernen, und auch eine Reihe obskurer, typischer Charaktere einzuführen. Dazu entführt der Autor den Leser auch kurz nach Brasilien zu synkretistischen Kulten. Zu lange ist nicht erkennbar, wohin das alles führen soll.

Die zweite Hälfte des Buches besteht darin, dass die drei Lektoren alle diese Geheimgesellschaften und Geheimnisse aus Spaß nach der Methode der Leichtgläubigkeit der Verschwörungstheoretiker zu einem großen Ganzen verknüpfen: Ausgehend vom Verbot der Templer im Mittelalter würden seitdem verschiedene Abspaltungen der Templer unter verschiedenen Namen der verloren gegangenen Karte zu dem verloren gegangenen Geheimnis der Templer nachjagen: Über Francis Bacon und dessen wissenschaftlicher Utopie „Neu-Atlantis“, Athanasius Kircher, der Synarchie von Agartha, bis hin zu Freimaurern und den „Protokollen der Weisen von Zion“. Die ganze bekannte Geschichte wird nach diesem Muster umgedeutet. Als einer der Lektoren diesen „großen Plan“ einem Verschwörungstheoretiker erzählt und behauptet, er habe das Rätsel der Karte gelöst, wird aus der Phantasie Wirklichkeit: Die leichtgläubigen Verschwörungstheoretiker nehmen den aus Spaß ersonnenen „großen Plan“ ernst, sehen sich selbst als die Erben der angeblichen templerischen Gruppierungen, und versuchen, das vermeintliche Geheimnis der Karte zu erpressen.

Das Ende des Buches ist enttäuschend: Das große Finale in Paris ist frustrierend, weil nur destruktiv. Das eigentliche Geheimnis enthüllt der Autor erst einige Kapitel später: Dass es keine Geheimnisse gibt, und dass es Momente des Glücks im Leben gibt, die man erst hinterher als solche erkennt. So wahr es auch ist: Für ein Werk dieses Autors und bei diesem Thema hätte man sich etwas mehr erwartet; auch die Erkenntnis, dass das verschwörungstheoretische Denken unausrottbar ist, ist nicht sehr originell.

Zudem gibt es gegen Ende noch ein Kapitel, in dem etwas trocken versucht wird, in aller Kürze eine theoretische Grundlage für die Leichtgläubigkeit von Verschwörungstheoretikern nachzureichen (Kapitel 118, S. 795 ff.): (a) Die Verschwörungstheorie als Ersatz für den Glauben an Gott, als Erklärungsmuster. (b) Zentral ist das analogische, zu schnelle Schließen. (c) Je mehr Verschwörungstheoretiker einen Analogieschluss bekräftigt haben, desto leichter wird er geglaubt. (d) Verschwörungstheoretiker wollen überall Pläne und Zusammenhänge sehen und greifen Anregungen begierig auf. (e) Verschwörungstheoretiker kompensieren eigenes Versagen mit der Idee, dass sie Opfer einer großen Verschwörung wären. (f) Je mehr man etwas bestreitet, desto mehr wird es geglaubt. (g) Ein Geheimnis ist nur so lange interessant, wie es geheim ist, also darf es nie enthüllt werden bzw. der Inhalt zählt in Wahrheit gar nicht. – Entgegengehalten werden zwei Neins: (1) Das Bekenntnis der eigenen Unwissenheit. (2) Die Ablehnung, Verschwörungstheoretiker mit einer Erfindung zufrieden zu stellen.

Das Experiment, das der Autor mit diesem Buch versucht, ist interessant, aber letztlich gescheitert: Es ist der Versuch, die Leichtgläubigkeit von Verschwörungstheoretikern literarisch vorzuführen. Das scheitert aus zwei Gründen: (1) Wo das Buch literarisch ist, scheitert es, weil die Wirklichkeit die Satire leider überholt, und weil Argumente gegen Fiktionen auf nicht-fiktionaler Ebene eher überzeugen würden. (2) Wo das Buch sachlich eine theoretische Grundlage geben will, ist es zu trocken für ein literarisches Werk, und zu knapp für ein sachliches Werk. Neben dem erwähnten Theoriekapitel fiel dies auch bei der Besprechung der „Protokolle der Weisen von Zion“ auf: Der Autor will hier so intensiv aufklären, dass es nicht mehr literarisch wirkt. Es mangelt auch an sauberen Definitionen und Abgrenzungen: Insbesondere Pseudowissenschaft kann im Zusammenspiel mit wissenschaftlichen Irrtümern zum Verwechseln nahe an echter Wissenschaft liegen und ist ein Problem für sich, das eigentlich nicht in das Schema dieses Buches passt.

Fazit: Ein interessanter, sympathischer, literarisch anspruchsvoller Versuch, mit vielen gelungenen Stücken und Ideen und getragen von guten Intentionen, aber ein Versuch, der dem Thema aus fundamentalen Gründen nicht gerecht werden konnte.

Das Buch bearbeitet eine ganze Reihe von Nebenthemen:

Das Elend des Verlagswesen im Allgemeinen und das Unwesen der Zuschussverlage im Besonderen. Der Verlag der drei Lektoren ist zweigeteilt: Ein Verlag für die seriösen Werke, und ein Zuschussverlag im selben Haus, an den man die Verschwörungstheoretiker weiter vermittelt. Charakterstudien von Menschen, die teuer dafür bezahlen, dass ihr Buch gedruckt wird.

Die Zeit und der Geist von 1968. Treffen in Studentenkneipen, theoretische Diskussionen, Demonstrationen und Terrorismus. Dann der Wandel der 68er zu Esoterikern und Bürgerlichen, die ihre Ideale verraten bzw. auf esoterischer Ebene fortführen, wo sich deren Irrationalität umso deutlicher entlarvt.

Partisanen und Mitläufer der Faschisten in Italien am Ende des Zweiten Weltkrieges: Der Autor zeigt menschliches Verständnis für Mitläufer, was ein Klischee durchbricht, schweigt aber über die Verbrechen der Partisanen.

Atlantis wird zwar etwa dreimal kurz erwähnt, ist für den Autor aber praktisch immer nur eines von vielen Elementen in längeren Aufzählungen verschwörungstheoretischer Ideen. Dass Atlantis ursprünglich von Platon erwähnt wurde und dort einen seriösen Zweck hatte (ob erfunden oder nicht), bleibt im Gegensatz zu anderen Verschwörungstheorien unaufgeklärt. Ein möglicher Ort für das untergegangene Atlantis wird nicht angegeben. Die Seite 581 geht noch am ausführlichsten auf Atlantis ein: Dort ist Atlantis kein Ursprungs- sondern eher ein Durchgangsort der Menschheit, ein Glied in der esoterisch-pseudo-wissenschaftlichen Kette von Pangäa, Mu, Atlantis, Ägypten und den Kelten. Diese Darstellung von Atlantis entspricht dem Ansatz dieses Buches: Esoterische Verschwörungstheorien stehen im Mittelpunkt, das Problem der Pseudowissenschaft und wissenschaftlicher Irrtümer hingegen bleibt weitgehend unbeleuchtet.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 08. September 2012)