Schlagwort: Humanismus (Seite 1 von 4)

Roger Willemsen / Michael Sowa: Ein Schuss, ein Schrei – Das Meiste von Karl May (2005)

Launige Dichtung verlebendigt und würdigt das Werk Karl Mays

Mit „Ein Schuss, ein Schrei – Das Meiste von Karl May“ hat Roger Willemsen eine herausragende literarische Leistung vollbracht: Während weniger gebildete Menschen Karl May verpönen, aktualisiert diese Dichtung das Werk Karl Mays auf eindrückliche und intelligente Weise! Sowohl sprachlich als auch inhaltlich landet Willemsen Vers um Vers einen Volltreffer nach dem anderen.

Die Reime sind launig gehalten und enden immer wieder in einer ironischen Pointe, in der Sprache und Inhalt sich zu einer lyrischen Überraschung vereinen. Es erinnert an Wilhelm Busch, Heinz Erhardt oder Loriot (zu denen sich auch Anspielungen entdecken lassen). Es ist eine Freude zu sehen, was Roger Willemsen hier mit der deutschen Sprache vollbringt. Den Leser erwartet ein einzigartiges Erleben nur durch das bloße Wort, wie es keine Comedy-Show bieten könnte.

Einige Beispiele:

Bagdad ist die Märchenstadt,
die so viel Charakter hat,
weil sich hier mit größter Dichte
komprimiert die Weltgeschichte.
Metropole eines Staats,
Hauptstadt eines Kalifats,
gab sie Türken, Kurden, Scheichs,
Stützen des Osmanenreichs,
ihren eignen Lebensraum.
Doch inzwischen: aus der Traum! …
Wir sehn auf wüster Bergeskuppe
Kara Ben Nemsis Reisegruppe,
sie nähert sich von Osten her
und trifft dabei auf Stoßverkehr
.

Nach beklemmenden Berichten
von Todeshatz und Standgerichten,
von Sklaventreibern, Sklavenjägern
wurde von Bedenkenträgern
darauf aufmerksam gemacht,
dass man Bürgerkrieg entfacht,
Menschenrechte schwer verletzt,
und sich selbst ins Unrecht setzt,
wenn man es nicht akzeptiert,
und entsprechend praktiziert:
Ob schwarz, ob gelb, ob rot, ob bleich,
vor Gott sind alle Menschen gleich
.

Und dieser Geist bringt Poesie
in Steppe selbst und in Prärie
denn die Karl-May’sche Ars Vivendi
passt auf Rothaut und Effendi
.

Aber auch inhaltlich überzeugt Roger Willemsen voll und ganz. Er deckt nicht nur die wesentlichen Werke von Karl May ab, sondern weiß zu allen Themen immer auch einen intelligenten Kommentar einzustreuen. Diese Kommentare haben oft Gegenwartsbezug, was die Aktualität Karl Mays unterstreicht.

Der ethische, humanistische Impuls, der Karl Mays Werk durchzieht, kommt keinesfalls zu kurz, und auch die Abstraktion in der symbolischen Chiffrenwelt des Spätwerkes wurde nicht vergessen. Auch die Kritik an Karl May wird thematisiert – und zurückgewiesen. Roger Willemsen singt das Lob Karl Mays, wie er es verdient hat.

Beispiele für den Gegenwartsbezug:

Es mehren sich in Windeseile
die Lügen und die Vorurteile,
und das dumpfe Meinen Vieler
war historisch oft stabiler
als die staatliche Verfassung
und der Wunsch nach Unterlassung.
Wer die Wahrheit so verpackt,
sucht die Meinung, nicht den Fakt
.

Doch will man einen Staat erneuern,
so muss man erst mal ein paar feuern:
die Chefs des Speichellecker-Chors,
und die der Ämter und Ressorts
.

Die Wirklichkeit wird nicht verneint,
nur ist sie selten, wie sie scheint:
Der Freund entpuppt sich als Verräter,
der Kamerad als Serientäter,
der gute Kerl kommt hinter Gitter,
ist aber eher Samariter.
Wo man Komplizenschaft erwartet,
ist längst schon alles abgekartet,
wo Wald sein soll, liegt eine Heide,
wo Wüste ist, wächst doch Getreide,
und statt dem Fluss liegt bloß ein Kiesbett.
Mach’s muslimisch, nenn es: Kismet!

Als ihm unerträglich schienen
seine schwedischen Gardinen,
lernte er: Das größte Glück
kehrt im Augenblick zurück,
da man sich aus seiner Zeit,
seinen Zwängen selbst befreit.
Ob Ehe, Haft, ob Tyrannei,
man geht und sagt: Ich bin so frei
.

Kurz: Jeder Freund der deutschen Literatur, jeder Karl-May-Fan kommt hier voll auf seine Kosten! Nur einige wenige Reime sind allzu geschüttelt: Es fällt nicht ins Gewicht.

Das Bändchen ist mit etlichen Bildern von Michael Sowa geschmückt, die in einem Quint-Buchholz-artigen Stil herrlich düster und geheimnisvoll sind. Manchmal einfach nur gut illustrierend, manchmal aber auch hintersinnig-comichaft karikierend.

Für Leser wie für Leserinnen
führt jede Reise stets nach innen,
Dampfrösser, Pferde und Kamele
erreisen auch die Menschheitsseele.
Von dieser kriegt man nie zu viel,
auch deshalb ist der Weg das Ziel.
Hier liegt des Werkes Quintessenz:
Erlösung krönt die Existenz
.

Der Verlag Kein & Aber hat sich allerdings einen dicken Faux-pas geleistet: Auf der Rückseite des Buches finden sich jene Verse abgedruckt, in denen die Kritik an Karl May wiedergegeben wird – ohne die direkt folgenden Verse zu zitieren, die diese Kritik wiederlegen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass dieses Büchlein sich diese Kritik zu eigen machen würde, was völlig falsch ist.

Warum hat der Verlag das getan? Glaubte der Verlag etwa, dass es mehr kaufwillige Karl-May-Kritiker als Karl-May-Fans geben würde? Das ist nicht anzunehmen. Bleibt nur der Verdacht, dass der Verlag den falschen Eindruck erweckte, um nicht in den Verdacht zu geraten, selbst zu den Karl-May-Fans zu gehören. Weil das in der „Blase“, in der sich dieser Verlag bewegt, nicht gut ankommt. Die Welt von Verlagen und Buchhandel ist durchsetzt mit linkslastigen Karl-May-Verächtern. Es ist die einzige Erklärung.

Mag er uns auch manchmal fern sein,
Winnetou muss nicht modern sein,
denn wir konzedieren neidlos:
Winnetou ist einfach zeitlos
.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Platon: Die Apologie des Sokrates (4. Jhdt. v. Chr.)

Der zentrale Grundlagentext der westlichen Zivilisation

Platons Apologie des Sokrates ist der zentrale Grundlagentext der westlichen Zivilisation. Viele werden jetzt fragen: Ist das nicht zuviel gesagt? Ist nicht die Bibel der Grundlagentext der westlichen Zivilisation? Und wieso überhaupt die Apologie? Die kennt doch so gut wie niemand? Und wie kann ein so kurzer Text so wichtig sein?

Nun, die Bibel ist natürlich ebenfalls ein unverzichtbarer Grundlagentext der westlichen Zivilisation. Aber die Bibel gab es schon lange bevor die spezifisch westliche Zivilisation mit Renaissance und Aufklärung ins Leben trat. Deshalb kann die Bibel nicht Zentrum und Ursache sein, sondern nur Wegbereiterin. Demgegenüber war die Apologie des Sokrates das ganze Mittelalter über verloren gewesen. Erst mit der Renaissance wurde der Text wieder verfügbar, und zwar präzise mit der ersten lateinischen Übersetzung von Platons Gesamtwerk durch Marsilio Ficino in den Jahren 1484/85. Erst von diesem Zeitpunkt an konnte die Apologie des Sokrates ihre Wirkung neu entfalten.

Der Geist der Apologie

Aber was war das für eine Wirkung? Um was geht es in der Apologie? Die Apologie des Sokrates ist die Verteidigungsrede des Sokrates in jenem Prozess, an dessen Ende er wegen Gottlosigkeit und der Verführung der Jugend zum Tode verurteilt wurde. Zu Rechtfertigung seiner „Missetaten“ erzählt Sokrates, wie er zur Philosophie kam und was es damit auf sich hat. Wir lernen dabei folgendes:

  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss sich zunächst einmal klar machen, wie wenig er weiß. Im streng philosophischen Sinne des Wortes „Wissen“ wissen wir Menschen so gut wie gar nichts. Viel zu viele Menschen jedoch bilden sich ein, dass sie etwas wüssten. Doch fast immer, wenn Sokrates damit anfängt, nachzufragen, stellt sich heraus: Die Leute wissen nicht, was sie zu wissen glauben, und ihre Meinungen sind haltlos.
  • Wer sich der Wahrheit nähern will, muss in einen Dialog verschiedener Meinungen eintreten. Genau das tut Sokrates immer wieder und wieder. Denn erst in dem Dialog verschiedener Meinungen lässt sich eine neue und bessere Meinung entwickeln, die näher und näher an die Wahrheit herankommt. An die Stelle von „Wissen“ im Vollsinn des Wortes treten Meinungen, die möglichst gut begründet sein sollten. Je nach dem Grad der Begründetheit haben diese Meinungen eine hohe oder niedrige Plausibilität bzw. Wahrscheinlichkeit und sind dann entweder Überzeugungen auf der Grundlage von guten Argumenten, oder doch nur „bloße“ Meinungen.
  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss seine Meinung zur Debatte stellen. Denn auch eine wohlbegründete Meinung ist kein sicheres Wissen. Immer ist es möglich, dass weitere Aspekte auftauchen, die noch nicht bedacht wurden. – Sokrates blieb nicht beim Nichtwissen stehen, sondern begann, im Dialog mit Freunden und Gegnern verschiedene Thesen zu entwickeln, die tragfähig waren. Um dieses Werk fortzusetzen gründete Platon später eine Philosophenschule vor den Toren Athens, im Hain des Akademos. Platons Schüler strickten an dem neuen Erkenntnisgebäude weiter, darunter auch Aristoteles. Daraus entstand die Wissenschaft.
  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss respektlos vor Autoritäten sein. Wir sehen, wie Sokrates auch vor angesehenen Politikern nicht haltmacht und auch diese befragt, was sie denn eigentlich wissen. Und es stellte sich heraus: Von allen Menschen wissen die Politiker am wenigsten, während die Handwerker, die praktischen Menschen, sich immerhin auf ihr praktisches Handwerk verstehen. Aber auch die Religion blieb von den Fragen des Sokrates nicht verschont.

Das ist das Zentrum unserer westlichen Welt: Sokrates und Platon haben eine Revolution der Erkenntnisgewinnung eingeläutet und auf diese Weise unser Denken für immer verändert. Es ist der Siegeszug der Rationalität. Und mit ihm auch der Siegeszug der Liberalität, denn nur freie Bürger können sich erlauben, respektlose Fragen zu stellen und gefährlich ins Offene und Unbekannte hinein zu denken. Dieser Geist begann ab 1484/85 wieder zu wirken.

Die Apologie heute

Es ist wahr, dass die Apologie des Sokrates heute kaum noch jemandem bekannt ist. Die Reduktion der humanistischen Bildung quer durch alle Schulfächer bis hin zur Abschaffung des Latein- und Griechischunterrichtes hat ganze Arbeit geleistet. Damals hieß es, man könne doch auch Übersetzungen lesen. Das ist wahr. Aber Lehrpläne, die die Lektüre dieser Übersetzungen vorsahen, wurden nie erstellt.

Ich selbst habe den wunderlichen Sokrates durch meinen Deutsch- und Geschichtslehrer Bruno Epple kennengelernt, der als Mundartdichter unseres Bodensee-alemannischen Dialektes bekannt war. Es war beeindruckend, wie er zwischen den Schulbänken auf und ab tigerte und ein ums andere mal ausrief: „Die waren doch verrrrrückt! Diese alten Griechen: Verrrrückt! Was die für komische Fragen gestellt haben! Das muss man sich mal vorstellen: Was die sich herausgenommen haben! Lauter Verrrrückte! usw.“ – Das war im siebten Schuljahr, um 1985, auf einem baden-württembergischen Gymnasium. Man muss dazu wissen: Bruno Epple hielt sich selten an die Vorgaben der Lehrpläne und setzte eigene, eher traditionelle Schwerpunkte. Womöglich sind andere Lehrer zur gleichen Zeit ohne viel Aufhebens über Sokrates hinweggegangen. Im Schulbuch waren Sokrates anderthalb Seiten gewidmet, seiner Befragung der Mitbürger aber nur ein Absatz. Den Originaltext der Apologie des Sokrates haben wir an der Schule nie gelesen. Auch in höheren Klassenstufen nicht. Und das, obwohl sich dieser Text aufgrund seiner Kürze als Schullektüre hervorragend eignen würde.

Heute kennt in der Tat kaum noch jemand die Apologie des Sokrates. Und das könnte ein wichtiger Teil der Probleme unserer Zeit sein. Denn heute geschehen schier unglaubliche Dinge, die niemand akzeptieren kann, der einmal vom Geist der Apologie ergriffen wurde:

  • Wir haben öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die nicht nur behaupten, kompetent zu sein (das wäre noch in Ordnung, wenn’s denn nur wahr wäre), sondern die doch tatsächlich auch noch behaupten, objektiv zu sein! Natürlich sollte jeder danach streben, so objektiv wie möglich zu sein, aber wir alle nähern uns der Wahrheit von verschiedenen Seiten her an. Es ist grundsätzlich nicht möglich, dass jemand auftritt und legitim sagen kann, er wäre der Verkünder objektiven Wissens. Das konnte einst die Kirche im Mittelalter tun. Aber in einer modernen Gesellschaft sollte das nicht mehr möglich sein.
  • Ständig werden wir dazu aufgefordert, irgendwelchen „Experten“ zu glauben. „Follow the Science“ ist ein beliebter Slogan. Aber es gibt doch gar nicht „den Experten“, der uns objektives Wissen verkünden könnte, denn verschiedene Experten vertreten verschiedene Meinungen. Und auch „die Wissenschaft“ gibt es so nicht, denn die Wissenschaft lebt davon, dass sich verschiedene Meinungen im freien Dialog miteinander befinden.
  • Sogenannte „Faktenfinder“ tragen „Fakten“ zu komplexen Fragen zusammen, und jubeln uns ihre Urteile als unumstößliche „Fakten“ unter. Nicht selten tragen solche Faktenfinder eine durchaus hilfreiche Sammlung von Informationen zusammen. Aber würde man sich sein Urteil nicht lieber selbst bilden?
  • In den sozialen Netzwerken des Internet werden aus den „Faktenfindern“ die berüchtigten „Faktenchecker“, die ihre Urteile als Verurteilungen auch gleich in die Tat umsetzen: Im Auftrag der sozialen Netzwerke bzw. der Regierungen unterdrücken sie unliebsame Meinungen, auch wenn diese gar nicht strafbar sind. Sie tun diese durch die Markierung von Beiträgen, durch die Drosselung der Reichweite, durch Shadow-Banning, durch die vollständige Sperrung einzelner Beiträge, durch Demonetarisierung oder durch die Sperrung von ganzen Kanälen und Accounts. Aber woher nehmen diese „Faktenchecker“ die übermenschliche Weisheit, zu wissen, was „wahr“ und was „falsch“ ist?
  • Carolin Ehmcke wurde 2016 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Im Jahr 2024 sprach sie sich auf der Konferenz „re:publica“ allen Ernstes und unter frenetischem Beifall des „progressiven“ Publikums gegen Pro- und Contra-Formate in den Medien aus. Ehmcke glaubt, dass die Experten in vielen Fragen schon wissen würden, was die „richtige“ Wahrheit ist. Deshalb würde ein Pro- und Contra-Format die Menschen nur verwirren, denn dort würde die „richtige“ Wahrheit einer „falschen“ Wahrheit gleichberechtigt gegenübergestellt. Das ist schön gedacht. Aber weiß Carolin Ehmcke wirklich, welche Experten die „richtige“ Wahrheit besitzen? Eine dermaßen „richtige“ Wahrheit, dass man keine Fragen mehr stellen darf? Und wie kann sie sich sicher sein, dass nicht doch eines Tages eine Frage auftaucht, an die keiner gedacht hatte? Sollte die „richtige“ Wahrheit nicht triumphal überzeugen, wenn sie einer „falschen“ Wahrheit tatsächlich völlig gleichberechtigt gegenübergestellt wird? Und bezieht die „richtige“ Meinung nicht gerade daraus ihre Legitimität als „richtige“ Meinung, dass sie gegen andere Meinungen bestehen kann? Wie steht es denn um die Legitimität einer „richtigen“ Meinung, wenn sie der Konfrontation mit anderen Meinungen systematisch aus dem Weg geht?
  • Unsere Universitäten folgten einst dem Ideal des preußischen Reformers Wilhelm von Humboldt, dass Forschung und Lehre so miteinander verwoben sein sollten, dass die Studenten das Fragen und Hinterfragen lernen. Doch mit den Bologna-Reformen ist davon nicht viel übrig geblieben. Ob Preußen oder die humanistische Bildung: Mit solchen „ewiggestrigen“ Dingen will man heute nichts mehr zu tun haben, denn man will „progressiv“ sein. Aber ist es denn wirklich progressiv?
  • Die einflussreiche Online-Enzyklopädie Wikipedia arbeitet nach dem Prinzip des „neutralen Standpunktes“. Gemeint ist in Wahrheit nicht Neutralität, sondern Objektivität, wie Wikipedia immer noch festlegt („möglichst objektiv“). Die Darstellung verschiedener Meinungen soll nach Möglichkeit vermieden werden. Auch wenn die heutige Version des Wikipedia-Artikels „Neutraler Standpunkt“ viel von der Darstellung verschiedener Meinungen spricht, ist das früher sehr viel schärfer formulierte Prinzip eines möglichst einheitlichen, objektiven Standpunktes immer noch das Ziel. Objektivität ist für Menschen aber nicht zu erreichen. In der Praxis führt das dazu, dass Wikipedia-Artikel vom Standpunkt eines allwissenden, autoritären, übermenschlichen Erzählers verfasst werden, der ganz und gar nicht neutral ist, sondern der genau eine einzige Meinung als die lexikographisch geoffenbarte Wahrheit darlegt, während alle anderen Meinungen folgerichtig entweder als Unsinn herabgewürdigt oder als unwürdig ausgeblendet werden. Diese Praxis entspricht zwar lexikographischer Tradition, aber sollte ein modernes Lexikon nicht besser den Standpunkt eines Beschreibers der Gesamtwirklichkeit einnehmen? Dieser würde es sich zur Aufgabe machen, überhaupt keine Meinung zu vertreten, also wirklich neutral zu sein, sondern alle existierenden Standpunkte wertfrei darzustellen. Eine legitime Unterscheidung verschiedener Standpunkte wäre der Grad ihrer Unterstützung in Wissenschaft und Öffentlichkeit: Erst stellt man Unstrittiges dar, dann die Mehrheitsmeinung, und zuletzt – etwas kleiner, aber wertfrei – Minderheitsmeinungen. Wer seinen Mitmenschen „Wissen“ vermitteln will, dabei aber immer nur eine einzige Meinung mitteilt, statt verschiedener Meinungen und ihrer Begründungen, begeht einen grundsätzlichen Fehler. Denn die Legitimität einer „richtigen“ Meinung beruht zentral darauf, dass sie die Konfrontation mit anderen Meinungen überlebt. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder und wieder.

Wer einmal mit Sokrates durch Athen gegangen ist und gesehen hat, wie Sokrates Handwerker, Händler und Politiker in Dialoge verwickelte, um herauszufinden, was sie wirklich wissen und was wirklich die Wahrheit ist, sofern sich dies überhaupt herausfinden lässt, der erkennt den Unsinn unserer Tage mit einem Blick. Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn wir die Texte, die einst Renaissance und Aufklärung entfachten, nicht mehr lesen, dann versteht es sich von selbst, dass uns die Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung langsam wieder abhanden kommen. Wenn der Westen sich wieder auf sich selbst besinnen will, dann muss er zurück zu den Quellen: Ad fontes!

Anderes

Die Apologie hat noch mehr zu bieten: Sie zeigt Sokrates als einen Weisen, der nicht nur in Worten philosophiert, sondern seiner Philosophie auch mit großer Konsequenz Taten folgen lässt. Sokrates gibt seinen Anklägern nicht nach und geht auch keine faulen Kompromisse ein. Das Todesurteil am Endes des Prozesses nimmt er gelassen auf sich und nutzt auch diese Gelegenheit noch einmal, um seine Philosophie zu bekräftigen: Andersdenkende aus dem Weg zu räumen, ist weder schön, noch wird es Erfolg haben.

Die Rede ist außerdem voller Ironie und deshalb sehr vergnüglich zu lesen. Ein weiteres Thema ist die Schwierigkeit, Menschen zum Umdenken zu bewegen, nachdem sie über lange Zeit mit einer bestimmten Meinung indoktriniert wurden. Das Verhältnis von Bürger und Staat wird beleuchtet. Nicht zuletzt handelt es sich um eine Rede vor Gericht, weshalb sich auch manche Weisheit und Einsicht rund um die Juristerei finden lässt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Manfred Fuhrmann: Bildung – Europas kulturelle Identität (2002)

Fetter Bildungshappen mit erstaunlichen Defiziten

Mit seiner kurz gehaltenen Streitschrift „Bildung“ hat Manfred Fuhrmann eine weithin beachtete Debatte angefacht: Inwieweit gehört das Hergebrachte, die Tradition, die Geschichte und das Bewusstsein um Geschichtlichkeit und der Umgang mit ihm noch zur Bildung dazu, bzw. was steht auf dem Spiel, wenn wir es vernachlässigen?

Zu diesem Zweck skizziert Fuhrmann in äußerst dichter Form den Werdegang der europäischen Bildungsgeschichte von der Antike über das Mittelalter, Renaissance und Reformation, die Goethezeit, das 19. Jahrhundert und die 68er-Bewegung bis heute. Allein dafür hat sich die Lektüre schon gelohnt. Auch die daran anschließende Diskussion orientiert sehr grundlegend.

Problematisch ist Fuhrmanns Sicht auf die moderne Gesellschaft als Erlebnisgesellschaft, die sich nur noch in Strömungen des gehobenen oder trivialen Konsums von Kultur einteilen lasse. Denn völlig vergessen wird dabei, dass die europäischen Gesellschaften zu einem immer größer werdenden Anteil aus Menschen bestehen, die die überlieferte Kultur nicht etwa trivialisieren, sondern diese vielmehr – bis jetzt jedenfalls – überhaupt nicht zu ihrer Kultur zählen, nämlich ein großer Teil der Zuwanderer aus nichtwestlichen Ländern, insbesondere natürlich viele Muslime.

Und dadurch ist Manfred Fuhrmann auch eine mögliche Sinngebung für humanistische Bildung völlig entgangen: Die Integration dieser Zuwanderer in unsere westliche Gesellschaft. Denn die antiken Denker wurden in der islamischen Welt teilweise ebenfalls rezipiert, wodurch sich ein erstklassiger Anknüpfungspunkt für Integration in die westliche Kultur ergäbe, auf dem man aufbauen könnte. Außerdem kann nur in eine Kultur aufgenommen werden, wer sich über deren Werdegang definiert, und dazu muss man diesen kennen. Das gilt für Einheimische wie Zuwanderer gleichermaßen.

Ebenfalls befremdlich erschien mir, dass Manfred Fuhrmann die fehlenden Kenntnisse über Bibel und Christentum in den Mittelpunkt stellt. Meine Wahrnehmung aus der reformierten gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg (um 1990 mit großem Latinum) ist rückblickend, dass man von der Bibel immerhin noch wusste, was man nicht wusste, aber bezüglich antiker Texte wusste man noch nicht einmal das. So habe ich z.B. von der Existenz der Gefallenenrede des Perikles, die für unsere westliche Welt von Bedeutung ist und von Karl Popper in seiner „Offenen Gesellschaft“ zitiert wird, erst lange nach dem Abitur durch eigenes Weiterlesen erfahren.

Wer sich für Bildung, für Identität, für Kultur, für Integration, für Humanismus, für Aufklärung, für Weltanschauung, für gesellschaftlichen Niedergang bzw. für gesellschaftliche Reformen interessiert, der sollte dieses Büchlein unbedingt lesen, und dann selbst weiterdenken.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2011)

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch (1668)

Lebenserfahrung und Wissensordnung des 17. Jahrhunderts

Der Simplicissimus von Grimmelshausen ist kein Schelmenroman und kein Entwicklungsroman, in dem ein Dorfdepp durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges stolpern würde – das ist nur der Anfang, der zum falschen Inbegriff des ganzen Buches wurde, weil der Verdacht offenbar mit Recht besteht, dass viele Leser das wegen seiner altertümlichen Sprache nur mühsam zu lesende Buch schon bald wieder aus der Hand legten und deshalb nur dessen Anfang bekannt war. Es ist ein wahres Glück, dass nun diese gelungene Übersetzung von Reinhard Kaiser in einem modernen, lesbaren Deutsch vorliegt, die diesen verkannten Schatz der deutschen Literatur wieder ans Licht des Tages befördert hat!

Beim Simplicissimus handelt es sich in Wahrheit um einen autobiographisch gehaltenen Roman, dessen drei Hauptthemen die folgenden sind:

a) Lebenserfahrung – wie es so zugeht in der Welt; wie vieles nicht so ist, wie es zu sein scheint. Man spürt, dass der Autor aus eigener und echter Lebenserfahrung schöpft, die einiges zeitloses Gewicht bis in unsere modernen Tage hinein hat.

b) Lebensweisheit – worin das wahre Glück besteht. Hier wird viel in christlicher Sprache formuliert, aber es lässt sich auch alles nichtchristlich denken und deuten.

c) Wissensordnung – was man als Mensch des 17. Jahrhunderts alles wissen konnte über Religion und Gläubigkeit, antike Literatur, Geographie, Geologie, Medizin, Alchemie, zeitgenössische Literatur, Sitten der Völker, Torheiten und Laster und vieles andere.

Die bereisten Länder und Städte sind u.a.: In Deutschland: Spessart und Hanau, Magdeburg, Soest in Westfalen, Lippstadt, Köln, Wien und ein Kurort mit „Sauerbrunnen“ im Schwarzwald. Außerdem geht die Reise nach der Schweiz: Einsiedeln, Schaffhausen, Bern. Nach Paris in Frankreich. Nach Moskau, die Tartarei, Korea, Macao, Indien, Konstantinopel, Venedig, Rom. Nach Ägypten: Alexandrien. Schließlich nach einer südlichen Insel irgendwo bei Madagaskar. Die Rollen, in die Simplicius im Verlauf seines Lebens schlüpft, sind u.a.: Dorfdepp, Schüler, Narr, Soldat, Draufgänger und Jäger, Frauenheld, Ehemann, begehrter Schauspieler und Beau, Alchemist, Freund, Landwirt, Eremit, Pilger, Paradiesinselbewohner.

Einige der Abenteuer sind übertrieben phantastisch: Dreimal hat Simplicius es mit Geistern zu tun, jedesmal übrigens im Zusammenhang mit einem verborgenen Schatz. Einmal fährt er auf einer verhexten Bank zu einem Hexensabbat. Der Autor zwinkert mit den Augen dazu. In der Nachschrift schaut Simplicius die Hölle mit Lucifer. In der Mummelsee-Passage taucht Simplicius bis zum Mittelpunkt der Erde; das dabei geschilderte System von Wasserverbindungen von der Erdoberfläche zum Mittelpunkt der Erde könnte durch den Platonischen Mythos über das Schicksal der Seele nach ihrem Tode inspiriert worden sein (Dialog Phaidon 107d – 115a). Schließlich macht Simplicius zwei Fernreisen, einmal über Moskau bis Korea, dann nach Ägypten.

Der Leser wird zahlreiche Redewendungen wieder erkennen, die bis heute in der deutschen Sprache vorhanden sind und unsere Sprache lebendig machen. Man entdeckt auch ein entwickeltes deutsches Nationalbewusstsein; dieses ist also nicht erst im Gefolge der französischen Revolution entstanden. Für Grimmelshausen sind die Nationalstaaten klar abgesteckt, die typischen Eigenarten anderer Völker werden treffsicher beschrieben. Die Vision des Jupiter von einem Europa unter deutscher Führung kommt hinzu.

Das Buch ist auch sehr sozialkritisch. Man meint, ein Buch aus der Zeit der französischen Revolution in der Hand zu haben, wenn man die gesellschaftliche Hierarchie am Bild eines Baumes gezeigt bekommt, auf dem die Adligen hocken und um Karriere kungeln. Sehr modern wirkt auch die bereits angesprochene Vision des Jupiter über die Idealzukunft Europas, hier unter deutscher Führung. Ebenfalls verblüffend modern ist der Schluss des Buches: Simplicius flieht vor der Welt auf eine einsame Insel, wo er in Genügsamkeit paradiesisch lebt. Wer dächte da nicht an gewisse moderne westliche Menschen, die die Einfachheit weniger entwickelter Völker für das wahre Glück halten? Auch der Stil ist teils extrem modern. Das Buch scheint wie ein Verschnitt aus den Sonetten des Andreas Gryphius und den geistig weiten Überlegungen eines Montaigne.

Alles in allem macht das Buch einen wunderlich aufgeklärten Eindruck, der Autor zeigt eine sehr gesunde Skepsis und viel gesunden Menschenverstand, den er ohne Anleitung eines anderen benutzt. Er denkt auch nicht nur oberflächlich dahin, sondern macht sich tiefer seine Gedanken, jedoch immer aus der „Froschperspektive“ des Einzelnen; ein alternativer Gesellschaftsentwurf entsteht nicht. Zahllose Anspielungen auf antike Autoren sind eingeflochten, ebenso einige Verweise auf zeitgenössische Autoren. Der Autor muss extrem belesen und gut bekannt mit der antiken Geisteswelt gewesen sein, was seine Aufgeklärtheit besser verstehen lässt. Nett auch, wie er den Raimundus Lullus beurteilt, das muss man selbst gelesen haben und versteht es nur, wenn man sich selbst schon mit Lullus beschäftigt hat.

Dennoch bricht der Autor noch nicht aus dem Korsett des christlichen Weltbildes aus, sondern benutzt es, um in ihm seine Gedanken zu entfalten. Man muss hinter der Frage nach der christlichen Moral und der christlichen Glückseligkeit auf Erden dieselben Fragen in säkularisierter Form erkennen, sonst würde das Buch für moderne Leser unerträglich sein.

Die Bedeutsamkeit des Buches und sein Einfluss müssen als sehr hoch eingeschätzt werden. Es stellt sich z.B. die Frage, inwieweit Goethes Faust davon beeinflusst war: Auch dieses Werk ist eine Summe von Lebenserfahrung und Lebensweisheit, auch dies eine Wissensordnung, und auch hier wird vieles in christlichen Bildern ausgedrückt. Es gibt überhaupt zahlreiche Parallelen zwischen Goethes Faust und dem Simplicissimus des Grimmelshausen. Ein wahrhaft unergründliches und unerschöpfliches Werk!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

Hans Magnus Enzensberger: Z – Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (2014)

Enzensbergers Lebensweisheiten und Zeitgeistkritik in nuce

In einem Park taucht immer wieder Herr Z auf und beginnt Gespräche mit zufällig Anwesenden. Es entwickelt sich eine lose Runde. Das Buch soll einige dieser Gespräche aus der Erinnerung von Anwesenden wiedergeben.

In 259 nummerierten kurzen Abschnitten werden die verschiedensten Themen angeschnitten. Grundthema sind Lebensweisheiten und Kritik am Zeitgeist. Enzensberger in nuce, und vermutlich auch ein wenig zum Abschied, denn am Ende verabschiedet sich Herr Z und ward nicht mehr gesehen.

Sehr empfehlenswert. Man kann es von Anfang bis Ende durchlesen. Man kann aber auch eine beliebige Seite aufschlagen und zu lesen anfangen. Und man wird das Büchlein immer wieder zur Hand nehmen. Gewissermaßen eine kleine Mao-Bibel des Z’schen Denkens.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. April 2021)

Alexander Hamilton – James Madison – John Jay: The Federalist Papers (1787/88)

Klassiker des demokratischen Denkens – moderner als die Gegenwart!

Jeder weiß, dass die Verfassung der USA ein Musterbild für einen demokratischen Staat ist, und ein Musterbild für einen Bundesstaat noch dazu. Aber warum eigentlich? Was sind die Ideen hinter den teilweise seltsam anmutenden Regelungen dieser Verfassung? Diese Frage wird nicht von der Verfassung selbst beantwortet, sondern von den sogenannten „Federalist Papers“, einer Reihe von Zeitungsartikeln von 1787/88, die das Volk des Staates New York davon überzeugen sollten, der vorgeschlagenen Verfassung zuzustimmen. Dieser Klassiker der politischen Philosophie ist auch heute noch lesenswert, weil er Weisheit und Einsicht des Lesers fördert, und weil er zu kritischem Nachdenken über die eigene, heutige Staatsverfassung herausfordert.

Wenn man die eigene Verfassung oder die derzeitige Verfassung der Europäischen Union mit den Ideen der US-Verfassung vergleicht, überkommt einen nicht selten der Zorn über so viel Unsinn und interessegeleiteten Polit-Traditionalismus in Europa, und der Neid auf so viel Klugheit und 200jährige Modernität in Amerika. Fast möchte man zum Revolutionär werden …

Zum Inhalt

Die „Federalist Papers“ sprechen die US-Verfassung thematisch Punkt für Punkt durch: Sinn des Bundesstaates, Zuständigkeiten von Bund und Einzelstaaten, Gewaltenteilung (Armee, Steuern, etc.), Zusammensetzung und Befugnisse von: Repräsentantenhaus, Senat, Präsident, Justiz. Da es sich um Zeitungsartikel handelt, gibt es manche Wiederholung und kein ganz allzu systematisches Inhaltsschema, aber für ein über 200 Jahre altes Buch liest es sich immer noch recht modern.

Es ist sehr interessant zu sehen, wie die Verfassungswirklichkeit hinter der geschriebenen Verfassung diskutiert wird. Häufig entwickeln sich Dinge nämlich ganz anders, als sie beabsichtigt waren. Eine Regelung wird vielleicht nie genutzt, weil sie Nachteile mit sich bringt, eine andere Regelung wird anders genutzt, als gedacht. Die Balance zwischen den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative kommt in Schieflage und eine Gewalt dominiert die beiden anderen Gewalten: Was mit guter Absicht in einer Verfassung geregelt wurde, kann trotzdem schiefgehen, weil es an der Wirklichkeit vorbeigeht.

Um dies zu erkennen, benötigt man Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Geschichtswissen und eine gesunde Skepsis. Das ist hier reichlich zu finden und man kann viel davon lernen. So heißt es z.B. in Nr. 71: „It is a just observation, that the people commonly intend the public good. This often applies to their very errors. But their good sense would despise the adulator who should pretend that they always reason right about the means of promoting it.“

Manchmal ist es besser, die Verfassungsorgane blockieren sich gegenseitig: Besser, ein gutes Gesetz wird abgelehnt, als dass ein schlechtes Gesetz angenommen wird. Andererseits wenden sich die Federalist Papers auch gegen eine zu große Skepsis und rät zur Akzeptanz von kleineren Übeln, um die Verfassung funktionsfähig zu halten. Besser, die Exekutive ist in einer starken Hand, als in der Hand eines Kollektivs, das vielleicht informell von einer Person beherrscht wird, und man nicht mehr weiß, welches Mitglied des Kollektivs man verantwortlich machen soll.

Die Gewaltenteilung wird hier ebenfalls anders diskutiert, als man es gemeinhin kennt. Die Gewalten sollen zwar getrennt voneinander sein, aber es werden ganz gezielt und mit voller Absicht diverse Überschneidungen der Gewalten in die Verfassung eingebaut. Der Sinn dahinter ist, dass sich die Gewalten gegenseitig in Schach halten können, um auf diese Weise ihre Trennung auch machttechnisch abzusichern. Denn nur weil es auf dem Papier steht, ist die Trennung der Gewalten noch lange nicht gesichert.

Die bundesstaatliche Ebene darf sich nicht auf den guten Willen der Einzelstaaten verlassen, dass diese einmal gemachte Zusagen schon einhalten werden – sie werden es nicht, und dann ist der Streit zwischen den Einzelstaaten da: „There is, perhaps, nothing more likely to disturb the tranquillity of nations than their being bound to mutual contributions for any common object that does not yield an equal and coincident benefit. For it is an observation, as true as it is trite, that there is nothing men differ so readily about as the payment of money.“ (Nr. 7). – Der Bundesstaat muss vielmehr unabhängig von der Zustimmung der Einzelstaaten handlungsfähig sein, indem er z.B. eigene Beamte hat und eigene Steuern direkt beim Bürger eintreibt. Die Einzelstaaten und der Bundesstaat wirtschaften völlig unabhängig voneinander. Dann können Gerechtigkeits- und Verteilungsprobleme gar nicht erst entstehen.

Antike

Es ist hochinteressant zu sehen, wie die „Federalist Papers“ das antike Erbe aufgreifen! Anders als man meinen könnte, wird nicht – praktisch überhaupt nicht! – auf die politische Philosophie der Antike zurückgegriffen. Was Platon, Aristoteles und Cicero über Demokratie und gemischte Verfassung, den Kreislauf der Staatsformen und die Vorzüge der römischen Republik geschrieben haben, wird nirgendwo als Argument herangezogen.

Den Grund erfährt man in Nr. 14 im Rahmen einer Lobrede auf das amerikanische politische Denken: „But why is the experiment of an extended republic to be rejected, merely because it may comprise what is new? Is it not the glory of the people of America, that, whilst they have paid a decent regard to the opinions of former times and other nations, they have not suffered a blind veneration for antiquity, for custom, or for names, to overrule the suggestions of their own good sense, the knowledge of their own situation, and the lessons of their own experience?“ – Nicht weil irgendeine Autorität einst irgend etwas sagte, sondern nur wenn es vernünftige Argumente gibt, soll etwas gelten. Obwohl dies auf den ersten Blick nach einer Ablehnung der Antike aussieht, ist es in Wahrheit die genaue Nachahmung des antiken Denkens. Denn wie Platon argumentieren sie ohne Gehorsam gegenüber Autoritäten und nur nach ihrer Vernunft.

In einem weiteren Punkt kommt eine Ähnlichkeit zu Platon zum Ausdruck: Die „Federalist Papers“ argumentieren ständig gegen die Argumente der Verfassungsgegner. Diese kommen zwar nicht zu Wort, aber dennoch gewinnen die „Federalist Papers“ dadurch einen deutlich dialogischen Charakter. Man hat an manchen Stellen das Gefühl, wie wenn Sokrates mit einem Sophisten spräche und dessen Ansichten zerlege, bis nichts mehr davon übrig ist.

Dass die Autoren der „Federalist Papers“ die antike politische Philosophie sehr wohl kannten, kommt an einigen wenigen Stellen zum Ausdruck. So heißt es in Nr. 49: „But a nation of philosophers is as little to be expected as the philosophical race of kings whished for by Plato.“ – In Nr. 51 heißt es: „But what is government itself, but the greatest of all reflections on human nature?“ und: „Justice is the end of government.“ („end“=Ziel) – Damit ist eine teils zustimmende Kenntnis von Platons politischer Philosophie klar belegt.

In expliziter Form kommt die Antike auf eine ganz andere Weise massiv zum Tragen: Nicht die Philosophen und ihre politischen Theorien, sondern die antiken Geschichtsschreiber und ihre Berichte über Zustände und Ereignisse in den antiken Staaten werden exzessiv als Beispiele in den „Federalist Papers“ herangezogen! Schon immer haben die Staatsphilosophen auf der Grundlage realer historischer Ereignisse argumentiert, und das geschieht natürlich auch hier. Einige wenige Beispiele mögen sein: Die Frage, ob ein Flächenstaat eine Demokratie sein kann; die Macht eines Einzelnen über eine Volksversammlung; das Amt des Dikators in der römischen Republik. Folgende Zitate aus Nr. 63 seien noch angeführt: „… that the position concerning the ignorance of the ancient governments on the subject of representation, is by no means precisely true in the latitude commonly given to it.“ und: „What bitter anguish would not the people of Athens have often escaped if their government had contained so provident a safeguard against the tyranny of their own passions?“ und: „… that history informs us of no long-lived republic which had not a senate. Sparta, Rome, and Carthage are, in fact, the only states to whom that character can be applied.“

Man darf auch nicht vergessen, dass hinter praktisch allen Ideen der US-Verfassung antike Ideen wie z.B. die Gewaltenteilung stehen, die über verschiedene Autoren wie z.B. Montesquieu weiterentwickelt wurden, so dass der antike Hintergrund nur indirekt erschließbar ist.

Nicht zuletzt ist die Wahl des Autoren-Pseudonyms „Publius“ in Anlehnung an den römischen Konsul Publius Valerius Publicola ein unabweisbarer Bezug zur Antike. Die Anti-Föderalisten nannten sich hingegen „Cato“ oder „Brutus“: Der geistige Streit fand ganz auf antiker Bühne statt.

Sonstiges

Das Thema „Parteien“ wird überhaupt nicht angesprochen. Diese spielen heute eine große Rolle, kommen aber nicht vor, was schade ist. – Die Frage, ob die Bürger denn überhaupt demokratisch gesinnt sind, wird ebenfalls nicht gestellt. Davon wird einfach ausgegangen. Immer wieder werden Sätze eingestreut wie dieser: „the people of this country, enlightened as they are with regard to the nature, and interested, as the great body of them are, in the effects of good government“ (Nr. 37). Wir nehmen die Botschaft mit: Die Qualität einer Demokratie entscheidet sich auch an der Aufgeklärtheit und demokratischen Gesinnung und Anteilnahme ihrer Bürger.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. November 2013)

Dirk Oschmann: Der Osten – eine westdeutsche Erfindung (2023)

Leider der falsche Autor für dieses wichtige Thema – Was eigentlich hätte gesagt werden müssen

Der Grundgedanke dieses Buches ist genial, überaus legitim und längst überfällig: „Der Osten“, also das Gebiet der ehemaligen DDR mit ihren Bürgern, wird vom Westen völlig falsch wahrgenommen, deshalb fehlinterpretiert und außerdem systematisch benachteiligt. Eine innere Einheit Deutschlands ist heute so weit entfernt wie der Mond.

Besonders erschreckend sind die faktischen Benachteiligungen, unter denen der Osten bis heute zu leiden hat, von denen man in den von Wessis beherrschten Medien jedoch nie etwas erfährt: So rekrutiert sich das Führungspersonal in Universitäten, Behörden, aber auch in privatwirtschaftlichen Unternehmen bis heute weitgehend aus Wessis. Es ist leider nicht so, dass Wessis nur vorübergehend die Leitungsfunktionen übernahmen, um die neuen Bundesländer auf demokratischen Kurs zu bringen, sondern bis heute wird auch der Führungsnachwuchs weitgehend aus Wessis rekrutiert. Das ist ein ernstes Problem. Ebenso ein Problem ist natürlich, dass die Balance zwischen den Geschlechtern in manchen ostdeutschen Regionen ernsthaft aus dem Gleichgewicht gekommen ist, weil insbesondere viele junge Frauen in den Westen gegangen sind. Oder dass die Vermögensbildung im Osten nicht in Gang gekommen ist. Schließlich muss man auch lesen, dass es zwar einen Beschluss der Bundesregierung gab, Bundesbehörden bevorzugt im Osten anzusiedeln, aber anders als der naive Wessi denkt, wurde dieser Beschluss offenbar schlicht ignoriert: Ein Skandal von vielen.

Aber auch in der Wahrnehmung des Ostens durch westdeutsche Politiker, Journalisten und Intellektuelle hat dieses Buch eine lange Liste von erschreckenden Anekdoten zu bieten. Die Ossis seien dumm, faul, rechtsradikal und moralisch verdorben, und all das verdanke sich der sozialistischen Indoktrination, von der sich die Ossis innerlich nicht lösen könnten. Es ist niederdrückend, all diesen bestenfalls halbwahren Unsinn noch einmal in geballter Form vor Augen geführt zu bekommen.

Kritik

Leider bleibt Dirk Oschmann bei diesem Befund stehen. Er sagt nicht, welches denn die Lebenslügen des Westens sind. Er sagt fast nichts dazu, wie der Osten denn besser wahrgenommen werden sollte. Warum das so ist, und was zum Westen und zum Osten eigentlich hätte gesagt werden müssen, dazu jetzt mehr.

Kritik – Chaotische Polemik

Dirk Oschmann hat sein Werk als reine Polemik angelegt. Er macht gar keinen Hehl daraus, dass er die Sache einseitig betrachtet, er macht Polemik vielmehr zum Prinzip, sogar explizit mit dem biblischen Satz: „Auge um Auge.“ (S. 194). Das schadet aber der Glaubwürdigkeit des Unterfangens gewaltig, denn wer mit gleicher Münze heimzahlt, kann nicht mehr von sich behaupten, besser zu sein als der andere. Und der Leser ahnt, dass vieles einfach nur übertrieben, schief oder auch ganz falsch ist.

Hinzu kommt, dass Oschmann seine Polemik zuerst nur als Artikel in der FAZ veröffentlicht hatte. Diesen FAZ-Artikel hat er nun zu einem Buch angereichert, in dem er zahlreiche Vorworte und Vorbetrachtungen vorangestellt sowie zahlreiche Nachworte und Nachbetrachtungen nachgeschoben hat. Irgendwie geht der ursprüngliche Artikel in diesen vielen Nach- und Vorbauten etwas unter, und eine Systematik in der Ordnung der vorgebrachten Inhalte ist nicht mehr erkennbar. Das führt dazu, dass dem Leser im Laufe der Lektüre außer der ständigen Polemik wenig im Gedächtnis haften bleibt, weil ihm kein Ordnungsrahmen angeboten wird, anhand dessen er sein Gedächtnis hätte organisieren können.

Kritik – Ein linksgrüner Anywhere verteidigt den Osten?

Dankenswerterweise hat Dirk Oschmann zahlreiche Angaben zu seiner eigenen Biographie, seinen Lebensumständen und seinen Ansichten eingeflochten. Es wird deutlich, dass Dirk Oschmann, obwohl er als einer der wenigen Professoren mit Osthintergrund immer wieder zu diesem Thema befragt wird, eigentlich alles andere als ein typischer Ossi ist.

Dirk Oschmann hat in den USA studiert und lebt heute in Leipzig in der Innenstadt in einer Altbauwohnung und wählt – horribile est dictu – die Grüne Partei (S. 43 f.). Vermutlich besitzt er auch Windrad-Aktien, schickt seine Tochter auf eine teure Privatschule, wo alles ganz buntig ist, und fährt mit dem Lastenfahrrad bei Alnatura zum einkaufen (nein, das steht nicht in diesem Buch, aber dieser Gedanke sei eingeflochten, um zu demonstrieren, wie Polemik funktioniert, oder eben gerade nicht funktioniert). Ganz unverblümt bekennt sich der Autor dazu, ein Anywhere zu sein, er grüßt seine Freunde in der Danksagung als Anywheres, und verkündet das ewig falsche Dogma der Anywheres, dass die Herkunft einen Menschen nicht ausmache (S. 221).

Da staunt der Leser doch: Wie kann jemand, der die Grüne Partei wählt und daran glaubt, dass die Herkunft einen Menschen nicht ausmache, auch nur irgendetwas Kluges über den Westen und den Osten sagen? Denn Westen und Osten sind Herkünfte, und sie prägen uns stark. Darum geht es doch. Das und das Bekenntnis zum Anywhere ist schon sehr radikal. Hier ist Dirk Oschmann nun selbst Repräsentant eines völlig abgehobenen Milieus, eines nur allzu westdeutschen Milieus, dessen soziale Distinktionsmerkmale und Statussymbole er völlig ungeniert einflicht. Wie kann so jemand für den Osten sprechen?

Eine spezifisch linksgrüne Haltung zeigt sich auch bei vielen Polemiken und Kritiken, die Dirk Oschmann vorzubringen hat: So echauffiert er sich z.B. über unsere geliebte deutsche Nationalhymne, die bekanntlich aus der dritten Strophe des Deutschlandliedes besteht, und nur aus dieser, und eine lange, gesamtdeutsche Tradition hat. Aber Oschmann meint, dass die Hymne durch die erste und zweite Strophe „chauvinistisch verseucht“ sei (S. 52). Eine groteske Auffassung, wie man sie von einem westdeutschen Feuilletonisten erwarten würde.

Den Namen „Mitteldeutschland“ für den Raum Thüringen-Sachsen möchte Oschmann ebenfalls nicht akzeptieren, weil dies Polen missfallen könnte, zu dem heute das frühere Ostdeutschland gehört (S. 81). Doch warum sollte man diese historische Bezeichnung nicht beibehalten? Es ist ja bei geographischen Namen recht häufig so, dass sie historisch gewachsen und nicht wörtlich zu nehmen sind. Die Region Franken gehört schon lange nicht mehr zu einem „Frankenreich“ und auch Frankreich ist kein „Reich der Franken“ mehr. Zudem leben in Sachsen überhaupt keine Sachsen, denn der Name „Sachsen“ wurde nur durch die Herrscherfamilie auf dieses Land übertragen, ähnlich wie der Name „Preußen“ auf ganz Brandenburg-Preußen. Wo fängt man da an, wo hört man auf? Es ist kaum vorstellbar, dass die von Oschmann geplante Sprachbereinigung im Osten auf Akzeptanz stoßen würde. Bei manchen Besserwessis schon eher. Aber wollte sich Oschmann nicht für den Osten in die Bresche schlagen?

Auch der Wiederaufbau des Berliner Schlosses anstelle des „Palastes der Republik“ ist ihm ein Greuel (S. 54). Wie wenn das Kaiserreich mit der Diktatur der DDR auf einer Stufe stünde: Oschmann fragt allen Ernstes, ob denn nun dieses Kaiserreich die bessere deutsche Vergangenheit sei, an die es anzuschließen gilt? (S. 55) Selbstverständlich ja! Wie kann er es wagen, diese Frage auch nur zu stellen! An das Kaiserreich nicht anschließen zu wollen, das hieße ja nichts anderes, als dass man die Geschichte überhaupt und als solche abservieren will. Denn Dirk Oschmann wird wohl kaum plausibel machen können, warum man an das Kaiserreich nicht anschließen dürfen soll, an die Metternich-Ära oder das Heilige Römische Reich Deutscher Nation aber doch? Das wäre ja nur albern. Albern, wie es Westdeutsche oft sind, wenn es um die Nation geht.

Oschmann übersieht auch völlig, dass manches westdeutsche Unternehmen, das einst im Osten gegründet worden und wegen des Sozialismus in den Westen geflohen war, nach 1989 soziale Verantwortung bewies und wieder an seinem alten Standort im Osten investierte – doch für Oschmann gibt es von Seiten westdeutscher Unternehmen nur Profitgier und Ausbeutung (S. 114 ff.). Überhaupt sieht Oschmann unsere Gesellschaft heute als eine „pervers profitorientierte Konsum- und Freizeitgesellschaft“ (S. 190). Wie gestört muss die Wahrnehmung der Wirklichkeit sein, um solche maßlosen Sätze zu formulieren? Und wie westdeutsch?

Den regional pay gap zwischen Ost und West möchte Oschmann „endlich“ (!) schließen, genauso wie den sattsam bekannten gender pay gap (S. 116). Dass die Idee, diese Lohnunterschiede „endlich“ – also vollständig – zu schließen, eine radikale und unrealistische Forderung ist, weil es nämlich nicht nur Ungerechtigkeiten, sondern auch legitime und unüberwindbare Gründe für gewisse Lohnunterschiede gibt, scheint Oschmann nicht bewusst zu sein.

Das Lieferkettengesetz, ein weiteres völlig verfehltes Bürokratie-Monstrum aus der Mottenkiste der linksgrünen Utopie, begrüßt Oschmann naiv (S. 115). Hingegen verurteilt Oschmann, dass westliche Unternehmen in Bangladesch investieren (S. 115, 132). Dass er Ländern wie Bangladesch damit die Möglichkeit zur wirtschaftlichen – und sozialen! – Entwicklung abspricht, übersieht Oschmann geflissentlich.

Schließlich findet das ganze Buch hindurch ein ständiges namedropping linker und – oft genug – westdeutscher Autoren statt, von Jürgen Habermas bis Axel Honneth, und ganz abseitig und deshalb umso bezeichnender z.B. Per Leo.

Kritik – Keine Kritik an westdeutschen Lebenslügen

Dirk Oschmann wirft dem Westen eine völlig falsche Perspektive auf den Osten vor, aber in Wahrheit unterlässt Oschmann es vollständig, dem Westen seine eigenen, westdeutschen Lebenslügen vorzuhalten. Dabei hätte er dazu gerade als Germanist eine wunderbare Steilvorlage durch einen westdeutschen Literaten gehabt: Denn im Jahre 1988, nur ein Jahr vor dem Fall der Mauer, publizierte kein geringerer als Martin Walser sein Büchlein „Über Deutschland reden“. Darin formulierte Martin Walser gegen den Zeitgeist der alten BRD den Gedanken, dass er sich nicht mit der deutschen Teilung abfinden könne. Martin Walser hätte von Dirk Oschmann zwingend genannt werden müssen, wenn er hätte glaubwürdig über den Westen sprechen wollen. Er hat es nicht getan.

Denn das ist die zentrale Lebenslüge des Westens: Die Flucht aus der nationalen Identität hinein in eine utopische Überidentität von Europa oder der Welt, verkörpert in einem utopischen Glauben an das Gute in EU und UNO. Der Ungeist der alten BRD, der Ungeist der 1980er, der dann zum vorherrschenden gesamtdeutschen Geist wurde und bis heute ungebrochen scheint, ist der Ungeist der Anywheres, zu denen sich Dirk Oschmann selbst bekennt. Aber kein Mensch kann wirklich ein Anywhere sein, niemand kann seine Herkunft einfach abstreifen (und wer wollte das schon?). Wir alle haben unsere kulturellen Herkünfte und wir brauchen sie auch. Eine Befreundung mit der eigenen Lebensrealität, zu der die Nation ganz selbstverständlich dazu gehört, hat noch niemandem geschadet. (Und daran ändert sich überhaupt nichts, bloß weil ein Rechtsradikaler wie Björn Höcke dasselbe sagt, aber etwas anderes meint.)

Zwar spricht Oschmann das Phänomen, dass sich Westdeutsche gerne als Europäer sehen, kurz an, doch nur und ausschließlich als unzulässigen Versuch, die Schuld des Nationalsozialismus abzustreifen (S. 59). Dass es darüber hinaus auch andere gute, bodenständige, realistische Gründe geben könnte, an einer deutschen Identität festzuhalten, kommt Dirk Oschmann nicht in den Sinn. Dirk Oschmann reproduziert auf diese Weise die unsägliche Fixierung des Nationalgedankens auf den Nationalsozialismus. Deutscher ist man unter dieser Perspektive nur noch, wenn es um den Nationalsozialismus geht, sonst aber tunlichst nicht mehr. (Anders als Höcke muss man allerdings daran festhalten, dass der Holocaust als größter Makel unserer Nationalgeschichte sehr wohl einen bleibenden und besonderen Platz in unserer Erinnerungskultur einnehmen muss.)

Und dann packt Oschmann auch noch die olle Kamelle von den alten Nazis in der alten BRD aus (z.B. S. 21, 136 f.). Es war vielleicht einmal eine westdeutsche Lebenslüge, dass es in der BRD keine alten Nazis gab, doch seit ungefähr 1968 läuft die Lebenslüge andersrum: Dass nämlich die BRD praktisch von alten Nazis gegründet wurde. Oschmann steigt voll auf dieses Thema ein, wenn er sagt, dass Fremdenfeindlichkeit auch im Westen verbreitet wäre (S. 133). Nicht zufällig bringt Oschmann an dieser Stelle auch eine überempfindliche Kritik an Günther Oettinger vor (S. 133). Das ist kein Zufall. Denn bei Günther Oettinger geht es in Wahrheit gar nicht darum, dass er ein paar schräge Äußerungen über schlitzäugige Chinesen gemacht hatte, sondern natürlich darum, dass Günther Oettinger einst zu sagen wagte, dass Hans Filbinger, einer der Mitbegründer der Südwest-CDU, kein Nazi war. Denn damit hatte Oettinger an der Macht der westdeutschen Linken gekratzt, die sie über die öffentliche Meinung haben.

Zum Höhepunkt kommt Oschmanns Blindheit über die Lebenslügen des Westens, wo er den Grund für den Erfolg Angela Merkels in ihren „herausragenden machtpolitischen Fähigkeiten“ sieht (S. 183 f.). Denn nichts könnte falscher sein. Angela Merkel hatte im Grunde nur eine einzige herausragende Fähigkeit, und die ist für unser Thema von höchster Relevanz: Angela Merkel war eine Meisterin darin, sich dem herrschenden westdeutschen juste milieu in Politik und Medien anzupassen. Das Regierungsprinzip von Angela Merkel lautete schlicht: Gehe den Weg des geringsten Widerstandes beim westdeutschen juste milieu aus Politikern, Journalisten und Intellektuellen. Angela Merkel hatte Macht, weil sie diesem Milieu gab, was es wollte. Das Milieu revanchierte sich dafür, indem es Angela Merkel zur Überkanzlerin stilisierte, jede Kritik kleinschrieb, und Merkel auf diese Weise unangreifbar machte. Eine Allianz des Unheils, bei dem das Wohl und der Wille des Volkes gefährlich unter die Räder geriet.

Was hatte man gehofft, als Merkel Kanzlerin wurde: Dass sie endlich so manche westdeutsche Lebenslüge abschneiden würde wie einen alten Zopf. Denn hier kam etwas völlig neues, nämlich eine Frau, noch dazu aus dem Osten. Doch Merkel enttäuschte diese Hoffnungen auf fast schon brutale Weise, indem sie gewissermaßen zur Inkarnation westdeutscher Lebenslügen wurde und den Ungeist der 1980er Jahre bis in die 2020er Jahre hinein konservieren half. Im Windschatten des Kalten Krieges vergaß man sich selbst und die Realität um sich herum, und gab sich Blütenträumen hin. Diese Enttäuschung wurde 2011 von der Autorin Cora Stephan in ihrem Buch „Angela Merkel: Ein Irrtum“ erstmals formuliert. Doch kein Wort davon bei Oschmann.

Kritik – Oschmann folgt westdeutschen Lebenslügen

Warum tut Dirk Oschmann das alles? Die Antwort ist einfach: Weil auch Dirk Oschmann sich, wie Angela Merkel, ganz den Erwartungen eines westdeutschen juste milieu angepasst hat. Er folgt selbst den Lebenslügen der Besserwessis, das ist doch ganz offensichtlich! Wie Dirk Oschmann richtig bemerkt hat, bekommen viele Ossis keine Führungspositionen, weil ihnen der westdeutsche Stallgeruch fehlt. Vielleicht sollte sich Dirk Oschmann in diesem Sinne einmal selbst befragen, warum er es als Ossi zum Professor geschafft hat? Wohl eben deshalb, weil er sich den Erwartungen des westdeutschen juste milieus völlig angepasst hat?

Dirk Oschmann hat keinen Sinn für die deutsche Nation und die deutsche Kultur, sondern für ihn ist Deutschland eher eine Art Verwaltungszone eines utopisch gedachten Weltstaates, oder wenigstens doch EU-Europas. Oschmann möchte, dass sich die Lebensverhältnisse in Ost und West angleichen, ja, aber nur „sozial“. Politisch und kulturhistorisch ist ihm der Osten genauso egal wie der Westen, denn er hat sich schon längst in das Niemandsland der Anywheres verabschiedet. Lokale Kultur ist für ihn vielleicht noch Folklore für Touristen, also Küche und bunte Trachten. Deshalb tun sich die Anywheres mit Multikulti so leicht, weil sie blind dafür sind, dass Kulturen mit wirkmächtigen Weltanschauungen verknüpft sind.

Und so spricht Oschmann auf der letzten Seite seines Büchleins (S. 200), im vorletzten Satz, wo er dann doch noch in radikaler Kürze auf die regionalen Kulturen zu sprechen kommt, nicht von Ländern. Denn Länder sind nicht einfach Regionen und Dialekte. Länder sind politisch bedeutsame weil historisch gewachsene Gegebenheiten, deren Kultur mehr ist als Küche und Trachten. Länder mit ihrer Geschichte und ihren Dialekten sind Identitäten und politische Macht und Nester des Widerstands gegen alle Überstülpungen, die von „oben“ kommen. Der Anywhere Oschmann hat dafür kein Verständnis, denn für ihn kommt das Gute von „oben“, von der EU und der UNO.

Was fehlt – Nation

Bei Dirk Oschmann fehlt jedes positive Nachdenken über Deutschland als Nation. Wie das westdeutsche juste milieu möchte auch Oschmann den Gedanken an eine deutsche Nation am liebsten töten: Deshalb kein Schloss, keine Hymne, keine Geschichte, kein „Mitteldeutschland“ usw. Doch damit tötet er jeden positiven Gedanken an und über sich selbst, bei allen Deutschen, in Ost und West. Damit wird jede Selbstermächtigung untergraben und eine Psychologie der Unterwerfung durch Identitätslosigkeit betrieben.

Oschmann meint, das vereinigte Deutschland hätte eine neue Verfassung gebraucht (S. 52). Was er damit gewiss nicht meint: Eine andere Verfassung. Denn das Entscheidende an einer neuen Verfassung wäre die Debatte darüber gewesen, wie man sich selbst als Nation versteht. Diese Debatte findet bei Oschmann nicht statt. Gar nicht. Deshalb nennt Oschmann als Gründe für eine neue Verfassung auch nur „Demokratietheorie“ und „Symbolik“.

Am Ende sind die Deutschen für Oschmann nur noch die Angestellten in einem Multikulti-Freizeitpark für deutsche Folklore in einem geschichtsvergessenen Disney-Stil (Oktoberfest in Brandenburg, französische Woche bei REWE, Ramadan in der Fußgängerzone), dessen Politik in Brüssel und anderswo von den Anywheres gemacht wird. Wen wundert’s, dass die Leute rebellieren? Man hat ihnen nie eine akzeptable, demokratische Vision von Nation gegeben. Man hat das Thema vollkommen und restlos den Rechtsradikalen überlassen. Und die greifen dankbar zu.

Was fehlt – Preußen

Dirk Oschmann hätte beim Thema Osten ganz zwingend auf den höchst seltsamen Umstand zu sprechen kommen müssen, dass die Länder im Osten vielfach nicht nach historischen Grenzen gebildet worden sind. Das muss doch jedem Betrachter gleich als erstes auffallen! Der aktuelle Zuschnitt der Länder reflektiert die Zerstückelung Preußens durch die Siegermacht Sowjetunion. Von Preußen ist nur noch Brandenburg übrig, mit einem riesigen Loch namens Berlin in der Mitte. Vorpommern gehört heute zu Mecklenburg, was völlig ahistorisch ist. Geradezu grotesk ist, dass der Restzipfel Schlesiens – die „Perle in der Krone Preußens“ – heute ausgerechnet zu Sachsen gehört. Und von einem „großen“ Bundesland namens Sachsen-Anhalt hat man in der ganzen deutschen Geschichte noch nie etwas gehört.

Man stelle sich vor: Ausgerechnet das Bundesland Preußen, ohne dass es Deutschland in seiner heutigen Form gar nicht gäbe, darf nicht existieren. Ob Friedrich der Große oder Immanuel Kant, ob Wilhelm von Humboldt oder Alexander von Humboldt, ob Bismarck oder Gustav Stresemann: Deutschland soll ohne ihr Land auskommen? Ohne preußischen Geist, ohne preußische Rationalität und ihre Beiträge zu Humanismus und Aufklärung? Undenkbar. Deutschland macht ohne Preußen gar kein Bild in der Seele: Hier ist erst der Schlüssel zu allem.

Die Genesung Deutschlands ist ohne die Wiedererrichtung Preußens nicht möglich. Alles, was diesen Schritt blockiert, markiert das Elend Deutschlands: Die irre Idee, man könne sich von der Geschichte verabschieden und zu einer No-Name-Nation werden. Die irre Idee, die ganze deutsche Geschichte wäre ein einziges Präludium zum Holocaust gewesen. Die irre Idee, dass Adolf Hitler der Inbegriff alles Deutschen gewesen wäre, das demzufolge logischerweise zu verfemen und komplett abzuräumen sei. Und last but not least die irre Idee, man könnte sich heute auch vom klassischen Humanismus verabschieden, der gleich im ersten Artikel unserer deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, mit dem humanistischen Schlüsselbegriff der „Würde des Menschen“ festgeschrieben ist, als doppelte Erinnerung daran, was Deutschland groß sein ließ, und was niemals verloren gehen darf – hin zu einer Welt, in der der Mensch nur noch eine beliebige, postmoderne Konstruktion ist, ohne Realismus, ohne Rationalität.

In der Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki finden wir das Wort „Preußen“ immer wieder. Und zwar positiv konnotiert. Insbesondere das preußische humanistische Gymnasium wird gelobt: Doch die Anywheres dieser Welt wollen das alles abräumen. Alles abservieren. Julian Nida-Rümelin hat Recht mit seinem Urteil über die Anywheres: „Ein antikommunitaristischer Kosmopolitismus hat weder politisch noch ethisch eine Zukunft“.

Nach seiner Wiederrichtung als ganz normalem Bundesland (als was denn sonst?), bestehend nur aus den ostdeutschen Landesteilen Preußens, kann Preußen dann noch einmal den Grenzvertrag mit Polen gegenzeichnen. Damit alle zufrieden sind. Dann wird ein Björn Höcke Preußen auch nicht mehr als beliebig formbare Projektionsfläche für seine kruden Ideen missbrauchen können. Und Deutschland kann endlich normal werden.

Was fehlt – Unterdrückte Wessis

Dirk Oschmann ist so fixiert auf das westdeutsche juste milieu, dass er völlig übersieht, dass es auch im Westen normale Menschen gibt. Normale Menschen, die unter den Lebenslügen und Utopien der Anywhere-Besserwessis ebenso leiden wie die Ossis.

Oschmann hätte sich z.B. fragen können, warum der Lokalpatriotismus im Westen so ausgeprägt ist. Oder der Fußballpatriotismus. Oder der Wirtschaftspatriotismus. Die Antwort ist ganz einfach: Es sind Ersatz- und Ausweichhandlungen der Wessis, die ihren Patriotismus nicht ausleben dürfen und deshalb auf diese Gelegenheiten ausweichen. Auch Militärkultur – allein dieses Wort! – und Pflichtbewusstsein ist den Besserwessis ein Greuel, nicht jedoch den Normalwessis.

Dirk Oschmann hätte sich auch unbedingt mit der westdeutschen Kritik am politischen System der BRD auseinandersetzen müssen, um zu verstehen, dass die Ossis mit mancher Kritik nicht allein sind. Hier wäre ganz zentral das Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ des Philosophen Karl Jaspers aus dem Jahr 1966 zu nennen gewesen. Denn hier findet sich alle Kritik am System und an der Parteienoligarchie und dem ganzen Ungeist der BRD aus berufenem Munde formuliert, gültig bis heute. Doch nichts davon, nichts, gar nichts, bei dem Anywhere Oschmann.

Und glaubt Dirk Oschmann etwa, dass die Westdeutschen komplett hinter Angela Merkel und ihrer irren Migrationspolitik standen?! Natürlich nicht! Es war eine rebellische Bürgerversammlung in Hessen, nicht in Sachsen, auf der Walter Lübcke seine unglückselige Rede hielt, in der er u.a. sagte, dass jeder, dem Merkels Migrationspolitik nicht passe, die Freiheit habe, das Land zu verlassen. (Dass er später von Rechtsextremisten kaltblütig ermordet wurde, macht daran nichts besser. Walter Lübcke ist kein Vorbild.) Und Hans-Georg Maaßen, der die Lebenslügen von Merkels Migrationspolitik hinterfragte („Hetzjagden“ in Chemnitz) und deshalb als Präsident des Verfassungsschutzes entlassen wurde, stammt aus NRW. Maaßen erzählt, wie er zu Wolfgang Schäuble ging, um Merkel zu stoppen. Schäuble hätte geantwortet: Dann zerreißt es die CDU. Worauf Maaßen gesagt haben soll: Deutschland ist mir wichtiger als die CDU. Schließlich wollen wir noch Boris Palmer nennen, den grünen Querdenker gegen den Zeitgeist und Oberbürgermeister in Tübingen in Baden-Württemberg.

Ja, Dirk Oschmann erwähnt tatsächlich die Tradition des Querdenkens aus dem deutschen Südwesten! Aber nicht im Sinne einer lobenden Anerkennung dieser Tradition, sondern abqualifizierend, wie es Besserwessis tun, denn er spricht vom deutschen Südwesten als dem „Eldorado für Verschwörungstheoretiker.“ (S. 100)

Was fehlt – Der Osten im Westen

Man hätte auch fragen können, ob nicht manches, was heute als westdeutsch gilt, womöglich gar nicht westdeutsch ist, sondern einfach nur gesamtdeutsch? Nur, dass der Osten diese Eigenschaft in der Zeit der DDR abgelegt hatte? Man könnte z.B. fragen, ob manche Traditionen der preußischen Verwaltung in NRW besser überdauerten als im Osten? Ostdeutsche würden sich sicher sehr viel leichter mit westdeutschen Gepflogenheiten anfreunden können, wenn sie wüssten, dass diese etwas zurückbringen, was einst auch im Osten so war. Die Demokratie als solche gehört ja auch zu diesen Dingen: Demokratie ist nichts westdeutsches, sondern etwas gesamtdeutsches.

Und dann hätte man noch fragen können, ob nicht so mancher Wessi in Wahrheit ein Ossi ist. Denn nicht wenige Ossis endeten nach 1945 im Westen. Eine weitere westdeutsche Lebenslüge lautet, dass sich alle Vertriebenen assimiliert hätten und gewissermaßen „verschwunden“ wären. Doch ist das so? Zweifel sind angebracht. Die Nachkommen der Vertriebenen tragen oft von ihnen selbst unerkannt ein geistiges Erbe in sich. Aber auch die Erfahrung der Vertreibung prägt sie, denn diese wirkt psychisch über Generationen hinweg, wie die Forschung zeigen konnte. Es wäre wert, nach dem Osten im Westen zu suchen: Gab und gibt es Ossis im Westen, die Westdeutschland auf eine Weise geprägt haben, die eher ostdeutsch ist?

In seiner Rede „Die Ehre Preußens“ von 1951 sagte Hans-Joachim Schoeps mit Bezug auf die westdeutsche BRD: „Wichtiger ist der große Bestand an preußischem Ethos und Pflichterfüllung, der in unserem Volke noch lebendig ist und nicht nur von den ostdeutschen Heimatvertriebenen gehütet wird. Wenn diese den nicht in sich hätten, dann stünden wir nämlich angesichts der Un­rechtsordnung in der Besitzgüterverteilung schon seit langem in einer blutigen Sozialrevolution. Ich kann nur sagen: Gott möge geben, daß unsere Bundesregierung diese Kräfte zu nutzen und diese Traditionen zu wahren und zu erneuern versteht.“

Und umgekehrt: Ist womöglich der Osten unvermutet von manchen westdeutschen Traditionen geprägt? Erich Honecker kam bekanntlich aus dem Saarland. Bertolt Brecht aus Bayern. Anna Seghers aus Mainz. Angela Merkel aus Hamburg. Und Karl Marx aus Trier.

Fazit

Dirk Oschmann hat eine notwendige Polemik lanciert, doch gelungen ist sie nicht. Denn Oschmann ist als bekennender Anywhere der falsche Autor für dieses Thema. Deutschland und seine Geschichte, seine Länder und die Nation als ganzes sind für Oschmann nichts, worüber er wirklich gerne reden würde. Und etwas chaotisch ist das Buch noch dazu. Wir Deutschen jedoch lieben die Ordnung.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie (um 1320)

Verdichtung von Mittelalter und Antike provoziert aufklärerische Reaktion

Die Leistung Dantes

Die „Göttliche Komödie“ von Dante ist ein großartiger Bilderbogen der Weltanschauung des ausgehenden Mittelalters. Dante integriert eine ganze Reihe von Themen in ein umfassendes Epos: Das christliche Weltbild von Hölle, Fegefeuer und Himmel sowie die christliche Theologie von freiem Willen, Sünde, Gnade, Liebe, Erlösung und Trinität. Das aristotelische Weltbild von Erdgeographie, Kosmologie und Theologie. Die antike Mythologie und antike philosophische Ansichten über Gott, die Welt, Urbild und Abbild. Die Weltgeschichte und insbesondere die Geschichte der norditalienischen Stadtstaaten, insbesondere der von Florenz. Und nicht zuletzt Dantes eigene Lebensgeschichte und seine große Liebe Beatrice.

Jedes einzelne dieser Themen wird von kleineren dichterischen Freiheiten abgesehen mehr oder weniger brav und treu von Dante abgearbeitet. Dante ist in keinem inhaltlichen Punkt wirklich originell und es gibt für Kenner der jeweiligen Materie auch keine „größeren“ Geheimnisse bei Dante zu entdecken. „Kleine“ Geheimnisse gibt es hingegen in Hülle und Fülle: Die große dichterische Leistung Dantes muss in der Integration all dieser Themen zu einem umfassenden Gesamtwerk, zu einer anspielungs- und beziehungsreichen Wissensordnung seiner Zeit gesehen werden, die abstrakte Dinge wie Hölle oder Himmel in teils origineller Weise extrem konkret und anschaulich werden lässt. Das Eigentliche des Dichtens, die „Verdichtung“, ist die große Leistung Dantes!

Dante als unfreiwilliger Wegbereiter der Renaissance

Dante selbst muss eindeutig noch als mittelalterlicher Mensch gesehen werden, der den christlichen Glauben ungebrochen glaubte. Besonders deutlich wird dies überall dort, wo die Philosphie als ungenügend verurteilt wird und der Glaube den Vorrang eingeräumt bekommt. Doch explodiert in Dantes Werk gewissermaßen die Konkretheit des christlichen Weltbildes und die Synthese mit antikem Denken wie komprimierte Materie in einem Urknall, so dass Dante unfreiwillig zu einem Verursacher der Renaissance geworden sein dürfte; dies auf folgende Weisen:

Zunächst trug Dante wie andere auch schon dazu bei, dass die antike neben der biblischen Mythologie wieder salonfähig wurde. Das eröffnete weitere Horizonte. Zudem schuf Dante eine unglaubliche Fülle an Bildern, die es in dieser Form bisher so nicht gab, und die die Menschen nun tatsächlich als Bild sehen wollten. Aber das ist nicht der wesentliche Beitrag Dantes.

Der Leser wird bei Dante von der Konkretheit und Anschaulichkeit des christlichen Weltbildes schockiert. Denn in dieser Konsequenz der Darstellung, die alles auf die Spitze treibt, wird zugleich auch die Absurdität des christlichen Weltbildes bewusst. Derart konkrete Vorstellungen von Hölle, Fegefeuer und Himmel mussten natürlich einen teilweise grotesken Eindruck machen, der ungewollt satirisch ist. Man stelle sich vor, der hl. Thomas von Aquin, ein Gelehrter, dessen Lebenselement das Studium von Büchern ist, tanzt im Himmel geistlose Tänze wie auf einem Kindergeburtstag: Was für ein unwürdiges Schauspiel! Gebt dem Mann doch eine Studierstube damit er glücklich sein kann, möchte man rufen vor Empörung! Die Bilderwelt von Dantes Hölle prägte zweifelsohne die negativen Auffassungen der Aufklärer über das Mittelalter mit. Man fühlt sich teilweise an die bitterböse Satire „Zappenduster“ („The Living End“) von Stanley Elkin erinnert, die ihren satirischen Effekt gerade daraus bezieht, dass sie die christlichen Jenseitsvorstellungen ganz und gar ernst nimmt. Ist es völlig abwegig zu vermuten, dass genau dieser satirische Effekt sich auch bei dem ein oder anderen Leser Dantes einstellte?

Am sympathischsten und glaubwürdigsten – wenn überhaupt – ist bei Dante das Fegefeuer: Hier trifft man auf Menschen, die sich mühen und arbeiten und auf ein Ziel hinarbeiten. Sie sind nicht verdammt, leben aber auch nicht in einer grenzdebilen Heiligkeit. Das Fegefeuer kommt dem irdischen Leben der Menschen am nächsten. Grotesk, dass ein Vergil nicht im Himmel ist, wohl aber getaufte Kleinkinder. Grotesk, dass moralisch gute Inder in der Hölle sind, nur weil sie nie von Christus hörten. Grotesk, dass zur Heirat gezwungene Nonnen einen Malus bekommen, weil sie statt in die aufgezwungene Ehe einzuwilligen schließlich auch den Märtyrertod hätten sterben können! Das Groteske ist aber nicht Dantes Schuld; Dante macht hier unfreiwillig auf den Widersinn der auf die Spitze getriebenen christlichen Theologie aufmerksam.

Beatrice wiederum erscheint wenig liebevoll, vielmehr rauh und derb, hält Dante bei ihrer Wiederbegegnung eine Gardinenpredigt, kommandiert herum, schleift ihn durch einen Bach, taucht ihn rüde unter, und ist abgehoben heilig, geradezu arrogant. Grotesk wiederum, dass Dante nicht an der Liebe von Beatrice interessiert ist, sondern nur an der Liebe Gottes, die sich durch Beatrice offenbare. Wenn dies eine Sublimation von Dantes Liebe zu Beatrice sein soll, dann ist sie missglückt, denn die Sublimation hat den Kern der Sache zerstört. Ja, das ist Christentum auf die Spitze getrieben. Auch ist es existentiell extrem unglaubwürdig, vor Gott zu stehen zu kommen, Gott bewiesen zu sehen, alle Zweifel ausgeräumt zu haben, und dann nichts besseres zu tun zu wissen, als theologische und philosophische Theoreme zu erörtern. Es passt auch nicht, die Philosophie dafür anzuprangern, dass sie die Menschen entzweie, wenn gleichzeitig darüber geklagt wird, wieviele theologische Irrtümer es doch gibt, die die Menschen … entzweien.

Mit all diesem auf die Spitze getriebenen Widersinn hat Dante gewiss manchen Leser zum Nachdenken gebracht, und so unfreiwilligerweise die Renaissance mit angeschoben.

Die zweite unfreiwillige Provokation zur Aufklärung ist der Umstand, dass Dante viele antike mythologische Figuren und Begebenheiten an Stellen und auf eine Weise in sein Werk verwoben hat, wo sie völlig unpassend sind. In der Hölle fällt dies noch am wenigsten auf, zumal auch die antike Mythologie einen Hades kannte. Doch spätestens im Himmel ist es teilweise äußerst unpassend. Da betritt Dante den Himmel des einen Gottes … und ruft Apollon an, auf dass er gut dichte. Da steht Dante vor dem einen Gott und staunt … wie Neptun beim Anblick des Schattens der Argo. Wie passen Apollon, Neptun, usw. zu diesem einen Gott?

Zum Dritten ist Dante erstaunlich anmaßend, scheint dies aber selbst nicht zu bemerken. Christliche Demut scheint ihm zu fehlen. Woher nimmt er sich das Recht, diverse Menschen in die Hölle zu bannen, noch dazu in bestimmte Höllenkreise, anderen aber den Himmel zuzusprechen? Was für einen modernen Schriftsteller bedeutungslos wäre, ist für einen mittelalterlichen Schriftsteller eine Anmaßung sondersgleichen. Dante benutzt zudem die christliche Theologie, um seine ganz eigene Geschichtsdeutung festzuschreiben. Florenz wird von ihm nach Strich und Faden durch den Kakao gezogen. Aber wer gibt ihm das Recht, seine persönliche Meinung mit den höheren Weihen eines religiösen Epos zu versehen? Tagespolitische Händel als Thema einer zeitlosen Dichtung?! Überhaupt ist zu fragen, warum er sich selbst für auserkoren hält, das Jenseits erkunden zu dürfen? Die Frage nach der ungeschminkten Kritik in seinem Werk beantwortet sich Dante gleich selbst in Canto XVII des Paradiso: Nur zu, es sei ein Ruf wie der Wind in den Wipfeln.

Völlig unangebracht ist es, die Caesar-Attentäter in die unterste Hölle in die Mäuler Satans zu platzieren, wo sie auf einer Stufe mit Judas stehen; sie überhaupt in die Hölle zu platzieren mag der mittelalterlichen Kaiserlichkeit Dantes zuzurechnen und zu entschuldigen sein, aber man bedenke ihre Gleichstellung mit Judas: Dadurch wird im Umkehrschluss Julius Caesar auf eine Stufe mit Christus gestellt! Es ist einfach unfasslich.

Einzelkritiken

Es ist oft wenig geschickt, dass Dante die Handlung über die Grenzen seiner Canti springen lässt. Es wäre kunstvoller gewesen, die Grenzen der Handlung und die Grenzen der Canti aufeinander abzustimmen. Man beachte: Dante ist kein Säulenheiliger, den man nicht kritisieren dürfte – Ungünstig ist, dass vieles nur angedeutet wird. Die klare Nennung von Namen hätte oft vieles erleichtert. Man liest darüber hinweg und erkennt es nicht. Nicht erkennbare Anspielungen sind schlechtes Handwerk. Auch bei Dante. – Wenig überzeugend ist es auch, wenn Dante sagt, er habe keine bildhafte Erinnerung mehr an die Trinität, aber dann mit einem sehr anschaulichen Bild von drei Kreisen aufwartet. – Im Sinne der Glaubwürdigkeit eines Berichtes aus dem Jenseits fehlt am Ende unbedingt auch der Rückweg auf die Erde. Wie soll denn Dante über all das berichten, wenn es keinen Weg zurück gab? – Was Dante hingegen teilweise recht gut gemacht hat, ist die Hinterfragung christlicher Fehldeutungen antiker Texte, so etwas die Gleichsetzung von Paradies und Goldenem Zeitalter oder die Vergil-Stelle zur Geburt eines Knaben. Dante schwärmt hier nicht ganz ohne zügelnde Vernunft. – Warum das Paradiso Paradiso heißt, ist unklar, es handelt sich bekanntlich nicht um das Paradies, sondern um den Himmel. Stammt diese Bezeichnung von Dante?

Schluss

Dantes Werk geriet zwischenzeitlich offenbar in Vergessenheit, was nicht wunder nehmen kann, und wurde erst später wiederentdeckt, als Romantik und Nationalbewusstsein der Dichtung eine neue Bedeutung als Projektions- und Identifikationsobjekt gaben. Dantes Werk gehört sicher zur Weltliteratur, als eine große Dichtung eines großen Autors, der seine Zeit in sich und seinem Werk spiegelte und verdichtete und auf die Spitze trieb, und so unfreiwillig den Boden für eine kommende Zeit bereitete, was zweifelsohne eine große Leistung ist. Doch ist das eher als wichtige Etappe einer Entwicklung von Bedeutung. Dantes Werk ist zu zeitgebunden, um zur zeitlosen ersten Reihe der Weltliteratur dazu zu gehören, zu der z.B. Platons Dialoge oder die Epen Homers zählen. Wiederum unfreiwillig hat Dante mit der Wahl seines Führers, Vergil, seinen eigenen Platz zutreffend markiert: Auch Vergil gehört zweifelsohne zur Weltliteratur, doch auch er gehört nur in die zweite Reihe.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon um den 01. Juli 2013)

Michael Köhlmeier: Wenn ich Wir sage (2019)

Kein gebildeter Essay sondern irrationale Orgie des utopischen linken Zeitgeistes

Zu Anfang gewinnt der Leser den Eindruck eines wunderbar gebildeten Essays: Köhlmeier kreist mit spielerischer Leichtigkeit um die beiden Geistesgrößen Ralph Waldo Emerson und Montaigne, und macht sich angenehm eigenwillige und durchaus originelle Gedanken zu Platon, Homer, Thomas Mann und Isaiah Berlin. Alles beginnt mit der Einsicht, dass auch in engeren Beziehungen wie Familie und Freundschaft nicht nur reine Zuneigung herrscht, sondern oft auch Motive wie z.B. Überlegenheit, Abhängigkeit und Wettkampf eine Rolle spielen.

Doch bereits bei folgenden groben Fehlern und Irrtümern beginnt man zu stutzen: Von Sokrates und den platonischen Dialogen heißt es, Sokrates wisse immer alles schon im Voraus, und seine Dialoge seien angeblich kein fairer Austausch von Argumenten. Sokrates sei doktrinär, und die Platonischen Mythen seien Erfindungen in diesem Sinne. (S. 28, 30) Hat Köhlmeier dieselben Dialoge gelesen wie wir? Hat er noch nie etwas davon gehört, dass manche Dialoge Platons in einer Aporie enden? Bei einem derart zynischen Sokrates- bzw. Platonbild muss man sich fragen, wieviel Köhlmeier von Philosophie verstanden haben kann? – Ärgerlich ist die offenbar wohlwollend gemeinte Erwähnung, dass die Religionsgemeinschaft der Unitarier sich für immer mehr Glaubensrichtungen öffnete, am Ende auch für Atheisten (S. 20). Ärgerlich deshalb, weil dieser Vorgang natürlich nicht bedeutet, dass die Unitarier tolerant geworden wären, sondern einfach nur bedeutet, dass die Unitarier ihre eigenen Überzeugungen aufgegeben haben. Wie naiv muss man sein, um an eine Weltverbrüderung durch die Selbstaufgabe der eigenen Überzeugungen zu glauben? Wie naiv muss man sein, die gegenseitige Tolerierung von gegensätzlichen Weltanschauungen durch deren Verwischung und Selbstaufgabe erreichen zu wollen? Was bei Köhlmeier hingegen fehlt, ist der Gedanke, dass die verschiedenen Weltanschauungen in einem klassisch verstandenen Humanismus (Vernunft, historische Kritik, Wesen des Menschen) eine Brücke zueinander haben könnten. – Dann vergleicht Köhlmeier das Stockholm-Syndrom mit dem Phänomen, dass manche Menschen ihren Daseinszweck in einer Feindbeziehung finden, d.h. ohne ihren Feind würde ihr Leben plötzlich sinnlos (S. 33). Das ist aber etwas ganz anderes als das Stockholm-Syndrom und deshalb ein ziemlich schiefer Vergleich. – Zu dem Umstand, dass Montaigne Latein lernte, fällt Köhlmeier nur ein, dass ihm das damals Türen geöffnet haben mag, auch zu Bibliotheken, und dass der lateinische Wortschatz zum Philosophieren besser geeignet war als das damalige Französisch (S. 56). Aber damit verkennt er den zentralen Wert des Lateinlernens: Die vertikale Horizonterweiterung hinein in die Tiefe der Geschichte! Am Verlauf der Geschichte der antiken Welt kann man viele Einsichten über die Welt der Gegenwart gewinnen. Und natürlich bekommt man einen unverfälschten Zugang zum Denken der antiken Philosophen, fernab von allen modischen Verfälschungen des Denkens der Gegenwart. Für Köhlmeier ist Latein aber offenbar nur ein höchst gegenwärtiges, schnödes Werkzeug, ja sogar ein Status Symbol, ein Türöffner zur Gesellschaft. – Bei Thomas Manns Zauberberg konzentriert sich Köhlmeier ganz auf den Gegensatz von Naphta und Settembrini, während er über Peeperkorn kein Wort verliert (S. 23, 25). Naphta ist für Köhlmeier der Repräsentant des verführerischen Charismas, der Inbegriff des Gefährlichen. Damit hat Köhlmeier den ganzen Roman missverstanden, denn es ist Peeperkorn, der der charismatische, gefährliche Typ ist. Mit Naphta hingegen kann man noch reden, und dies geschieht im Roman auch ausgiebig. Immerhin: Mit diesem völligen Missverstehen von Thomas Manns Zauberberg ist Köhlmeier nicht allein. – Schließlich wird auch die eingangs erwähnte Fragestellung nicht gut aufgelöst: Nur wer von der naiven Idee herkommt, dass das Gute in purer Selbstlosigkeit bestünde, wird von der Erkenntnis erschüttert, dass auch engere Beziehungen nicht nur reine Liebe sind. Köhlmeier leistet aber keine philosophisch akzeptable Lösung des Problems, weil er bei dem naiven Maßstab des selbstlos Guten verharrt, und damit das wahre Wesen des Menschen dauerhaft verkennt, in dem die Brücke zum Mitmenschen paradoxerweise gerade über den Egoismus geschlagen wird. Köhlmeier kommt zwar auf das Mitleid, das diese Brücke schlägt, erkennt aber dessen Bedeutung nicht, sondern sieht darin nur etwas mehr als ein „Minimalprogramm“ von Humanität (S. 38 f.). – Und gleich setzt Köhlmeier einen weiteren, entlarvenden Irrtum oben drauf: Die Aufforderung Jesu, den Nächsten zu lieben „wie sich selbst“, funktioniere noch weniger als das Mitleid, weil es schwierig sei, sich selbst zu lieben (S. 39): Aber nur diese Selbstliebe ist im Mitleid die Brücke zum Mitmenschen! Köhlmeier hat das ganze Konzept der Philosophie vom Mitleid von A bis Z nicht verstanden. Er hat Jesu Aufforderung der Nächstenliebe nicht verstanden. Er hat Platon nicht verstanden. Er hat den Bildungswert von Latein nicht verstanden. Und noch vieles andere hat Köhlmeier nicht verstanden, was zum Grundbestand eines klassisch humanistisch gebildeten Menschen unbedingt dazugehören würde.

Köhlmeiers Überlegungen kulminieren in folgendem Gedanken: Im engeren Kreise, in Familie, Freundschaft und Heimat, gäbe es ein glaubwürdiges „Wir“, auch wenn es bisweilen schwierig sei. Das „Wir“ jedoch, das die Nation repräsentiert, sei grundsätzlich verlogen, mythisch und auf die Zerstörung des Glückes der Menschen aus (S. 75-85). Köhlmeier unterscheidet dabei nicht zwischen normalem Nationalbewusstsein und Nationalismus: Für ihn ist bereits der Patriotismus eine Lüge, und eine Nation könne gar nicht anders, als sich über ihre Feinde zu definieren. Als Kronzeuge dient ihm dazu Isaiah Berlin (S. 71-75).

Hier ist Köhlmeier entschieden zu widersprechen: Auch eine Nation kann ein legitimes und notwendiges „Wir“ sein, das aus einer gemeinsam erlebten Geschichte erwachsen ist. Die Nation ist zudem der einzige Organisationsrahmen, innerhalb dessen sich Demokratie entfalten kann, denn nur die Nation stellt den dafür nötigen Diskursraum sowie die historisch gewachsene Solidarität der Bürger untereinander zur Verfügung. Die Idee Köhlmeiers, dass Heimat „einschließe“, Nation jedoch „ausschließe“, ist irrationaler Blödsinn. Gerade die innige Kultur der Heimat grenzt Neuankömmlinge gnadenlos aus, man denke nur an den Dialekt. Und wenn Köhlmeier meint, wer eine Nation liebe, der könne genauso gut die Verkehrsschilder lieben, die von Nation zu Nation unterschiedlich sind (S. 81), dann ist ihm zu entgegnen: Ja, die Verkehrsschilder gehören auch dazu! Wer über eine Grenze von Nation zu Nation fährt, bemerkt sofort tausend kleine Unterschiede, die zusammen eine ganz andere Atmosphäre erzeugen, die eben typisch ist für die jeweilige Nation. Von den Verkehrsschildern, über die Werbeplakate bis hin zum Zuschnitt von Feldern und Wäldern: Alles zeugt von einem anderen inneren Zusammenhang, der über Jahrhunderte gewachsen ist, seinen ganz eigenen Charme hat, und sich bis in tiefste Tiefen fortsetzt, denn auch Politik, Literatur und Kunst funktionieren in jeder Nation wieder ganz anders.

Man fragt sich auch, wie Köhlmeier z.B. über den Zusammenschluss der Nationen in Europa denkt? Ist Europa für ihn auch nur eine einzige Lüge? Und völlig verrückt, was Köhlmeier dann vom Weltbürgertum sagt: Dieses sei seiner Meinung nach kein „Wir“ (S. 49). Die Menschheit also kein „Wir“? Gibt es wirklich nichts, was uns Menschen als Menschen verbindet, was wir gemeinsam haben, und was uns überhaupt erst zu dem macht, was wir sind, nämlich Menschen? Spätestens hier legt Köhlmeier die Axt an die Wurzel des Humanismus. Tatsächlich sieht er sich außerstande, überhaupt irgendetwas Verbindendes anzuerkennen, selbst innerhalb einer Nation. Über den Verschiedenheiten von Religionen, Interessen und Herkunftsländern gäbe es schlicht nichts Verbindendes (S. 82 f.). Da fragt man sich, wie Köhlmeier sich eigentlich die Integration von Zuwanderern vorstellt? Sollten sie nicht wenigstens die Landessprache ihrer neuen Heimat lernen? Was Köhlmeier hier präsentiert, ist die ganze Unmenschlichkeit der Multikulti-Ideologie in ihrer reinsten, gefährlichsten Form.

Zudem hat Köhlmeier Isaiah Berlin falsch gedeutet. Überall kann man nachlesen, dass Isaiah Berlin sehr wohl zwischen Nation und Nationalismus unterschied, auch wenn er den Unterschied an manchen Stellen durch eine ungeschickte Wortwahl verwischte. Dies kann schon durch ein wenig Googlen gefunden werden, also hätte auch Köhlmeier dies wissen können.

Köhlmeier ist nichts anderes als politisch radikal. Seine Vorstellungen sind nicht nur unrealistisch, sondern sie brandmarken auch ganz normale Bürger, die ihr Land, ihre Geschichte, ihre Sprache und ihre Kultur lieben, als böse Nationalisten. Genau diese unduldsame Haltung gegenüber völlig normalen Einstellungen ist es, die die Wähler scharenweise von den bisherigen Parteien weg und hin zur rechtsradikalen AfD treibt. Es sind Menschen wie Köhlmeier, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass unsere Demokratie zerfällt. Der Radikalismus der einen Seite füttert den Radikalismus der anderen Seite. Nicht zufällig findet sich in diesem Büchlein mindestens eine bösartige politische Verleumdung. Dem Vorsitzenden einer nicht genannten Partei (offensichtlich Strache von der FPÖ) wird unterstellt, er habe befunden, dass man den Nächsten lieben, den Übernächsten aber hassen solle (S. 82). Doch es ist nicht wahr. So sagte Strache in einem Interview z.B.: „… die Nächstenliebe beginnt ja beim Nächsten, der Familie und der eigenen Bevölkerung, und nicht beim Übernächsten. Und wenn dann noch Geld übrig bleibt, kann man gerne auch andere unterstützen.“ Es gibt genügend sachliche Kritik, die man an der FPÖ und Strache üben könnte, aber es ist definitiv falsch und schlicht unwahr, dass Strache zum „Hass“ auf den „Übernächsten“ aufgerufen hätte. Wer das behauptet, redet selbst voller Hass.

Woher kommt der Hass? Köhlmeier spricht sich zwar für die rationale Kühle der Aufklärung aus (S. 49), ist aber selbst ein ausgesprochener Gefühlsmensch. Damit trägt er einen veritablen Selbstwiderspruch mit sich herum. Dieses ganze Büchlein ist eine Ansammlung von emotionalen Assoziationen, weniger von rationalen Argumentationen. Sich selbst stellt Köhlmeier in diesem Büchlein ausführlich als Musiker dar, und wie Musik auf höchst unrationale aber ihm zugleich höchst erwünschte Weise ein „Wir“ konstitutieren kann (S. 66-69). Sehr nahe an die Irrationalität von Köhlmeier kommt man, wo er einen Gegensatz zwischen Wahrheit und Mensch aufmacht! (S. 30) Auch hier legt Köhlmeier die Axt an die Wurzel des Humanismus: Denn wer die Wahrheit und ihre freimachende Wirkung nicht liebt und diese Wahrheitsliebe nicht als etwas Urmenschliches begreift, sondern die freundliche Lüge bevorzugt, nur weil sich jemand durch die Wahrheit verletzt fühlen könnte, der hat Humanismus und Aufklärung aufgegeben. Angeblich unter Berufung auf Montaigne meint Köhlmeier, man brauche sich weder Platon noch Aristoteles „aufzuladen“, man solle die Welt lieber betasten und sinnlich begreifen (S. 57). Irgendwie fühlt man sich hier an Hitlers „Mein Kampf“ erinnert, wo ebenfalls einer fehlgeleiteten Vorliebe für das Praktische das Wort geredet und Intellektualität verpönt wird.

Köhlmeier zeigt sich nicht etwa als individueller Geist, sondern als ein dem Zeitgeist höriger Mensch. Früher einmal waren Linke noch halbwegs vernünftig. Noch in den 1990er Jahren verkündete Johannes Rau, einer der Altväter der SPD, in Wahlkampfveranstaltungen stolz: „Ich bin ein Patriot!“ Doch heute sind die Linken zum nationalen Selbsthass übergegangen, und verkünden eine Utopie von „no borders no nations – refugees welcome!“ Und Köhlmeier ist da einfach nur ein Kind seiner Zeit, das munter nachplappert.

Halten wir aber zwei Sachen fest, die Köhlmeier richtig gesagt hat:

  • Mitleid ist eine wichtige Basis für Humanität.
  • Romantische Irrationalität ist eine Ursache für Nationalismus.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 02. Februar 2020)

Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant (1867/68)

Vergnüglich-pseudodramatische Weltumrundung durch südliche Geographie und Völkerkunde

Der Titel des Romans ist irreführend: Hauptthema ist die Suche nach dem schiffbrüchig gewordenen Vater der Kinder des Kapitän Grant. Als der schottische Lord Glenarvan eine Flaschenpost des verschollenen Kapitäns findet, zögert er nicht, ihn zu suchen. Da die Schrift der Flaschenpost verwaschen ist, weiß man jedoch nur, dass Kapitän Grant sich irgendwo auf dem 37. Grad südlicher Breite befinden muss. Nacheinander wird die Theorie aufgestellt, dass er sich in Südamerika, Südostaustralien oder Nordneuseeland befinden muss, und damit beginnt eine etwas irre Durchquerung dieser Länder immer stur dem 37. Breitengrad folgend.

Auf der Segeldampfjacht „Duncan“ hat sich dazu eine bunte Truppe versammelt: Zunächst Lord Glenarvan mit seiner jungen Ehefrau Lady Helena, dann sein tapferer Kapitän John Mangles mit seinen Matrosen, dann der stets dienstbereite Butler und Steward Olbinett, natürlich auch die beiden Kinder des Kapitän Grant Mary und Robert, außerdem der Major Mac Nabbs und der französische Geograph Jacques Paganel. Letztere beiden entwickeln eine Hassliebe und sorgen meist für den Humor im Roman: Während Major Mac Nabbs kühl, überlegt und skeptisch ist, ist Paganel begeisterungsfähig, schwärmerisch und zerstreut. Im Hörbuch wird Paganel mit französischem Akzent gelesen, was das Vergnügen noch einmal steigert.

Im Laufe der Reise erfährt man viel über Geographie, Flora und Fauna sowie das Klima der jeweiligen Länder, aber auch Interessantes über die jeweils dort lebenden Ureinwohner und die europäischen Kolonisten. Teilweise erfährt man es durch die Abenteuer, die zu bestehen sind, teilweise durch eingeschobene Vorträge des französischen Geographen Paganel. Egal welche Abenteuer zu bestehen sind, egal wie vergeblich die Suche nach Kapitän Grant immer wieder ist: Der Leser weiß genau, dass die Sache gut ausgehen wird. Alle Dramatik in diesem Roman ist eine vergnügliche Pseudodramatik, und die Lektüre ein wahrer Genuss. Deshalb stört es auch nicht, wenn sich der Leser oft im voraus denken kann, was passieren wird, oder wenn sich Zufälle ereignen, die man in anderen Romanen für unglaubwürdig halten würde: Hier gehört das alles zum Vergnügen der Pseudodramatik dazu. Schließlich ist auch dieses Buch mit der für Jules Verne charakteristischen kosmopolitischen Menschenfreundlichkeit und seinem Aufklärungsoptimismus geschrieben, der sich von Fortschritt und Wissenschaft alles Gute erhofft.

Zwei Themen ziehen sich darüber hinaus durch das ganze Buch: Zum einen Jules Vernes Vorliebe für Schottland und die Schotten. Zum anderen eine scharfe Kritik an den Engländern, die alle Länder der Welt erobern und die Ureinwohner massakrieren. Damit und mit der Skepsis des Major Mac Nabbs wird ein gewisser Gegenpol zum sonst bei Jules Verne üblichen Fortschrittsoptimismus gesetzt. Sie findet sich in anderen Büchern auch in der pessimistischen Weltsicht von Kapitän Nemo wieder.

Aus der Sicht des modernen Leser gibt es an manchen Stellen etwas zuviel Rührseligkeit. An anderen Stellen ist die Belehrung über die jeweiligen Länder etwas zu penetrant. Das alles kann aber das Vergnügen nicht stören. Von besonderem Interesse sind die Sichtweisen des 19. Jahrhunderts unter der Perspektive unserer modernen Gegenwart. So mancher Abschnitt ist politisch sehr unkorrekt und könnte auch durch den Austausch einzelner Worte nicht mehr für den heutigen Zeitgeist gerettet werden – und zugleich ist doch alles sehr wahr und menschlich, was Jules Verne ohne zeitgeistige Bedenken zu Papier bringt.

Am Ende wird Kapitän Grant – natürlich – gefunden, und außerdem der Schurke Ayrton auf einer einsamen Insel ausgesetzt, womit ein Teil der Handlung des Romans „Die geheimnisvolle Insel“ vorbereitet ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 25. Juli 2020)

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