Philipp Melanchthon: Glaube und Bildung – Texte zum christlichen Humanismus (16. Jhdt.)

Absolut lesenswertes Zeugnis eines wahren Humanismus

Philipp Melanchthon war ein in der Wolle gefärbter Humanist, der von Martin Luther sofort als Denker entdeckt wurde. Während Luthers Reformation, die von dem führenden Humanisten Erasmus von Rotterdam mit Recht als zu radikal abgelehnt wurde, stand Melanchthon unter dem teils ungünstigen Einfluss von Martin Luther und lehnte z.B. die Philosophie als schädlich ab. Melanchthon war unbestritten der eigentliche Denker der Reformation, während Luther eher der Macher war. Nach Luthers Tod befreite sich Melanchthon innerlich von Luthers Radikalität und gelangte wieder zu moderateren Auffassungen in bezug auf Philosophie und Religion.

Melanchthon hat zweifelsohne viel für die Verbreitung der humanistischen Bildung getan, und seine Schriften über Bildung sind eine wahre Wohltat in unserer heutigen Zeit. Dort liest man noch, wie die Sprache den Geist bestimmt, wie Sprache gebildet werden muss, um den Menschen zu bilden, dass die Bildung „aus der Hand kommt“, dass der Mensch erst durch eigenes Schreiben so richtig gebildet wird.

Das Verhältnis von Philosophie und Religion bestimmt Melanchthon – anders als zur Zeit Luthers – positiv: Philosophie und Glaube betreffen verschiedene Erkenntniswege, die sich nicht gegenseitig behindern, sondern ergänzen. Es gibt nichts, wovor die Philosophie Halt machen sollte. Nur wo die Philosophie glaubt, ohne die Religion auskommen zu können, setzt Melanchthon der Philosophie eine Grenze. Mehr kann man von einem religiösen Menschen eigentlich nicht verlangen.

Die Schule ist für Melanchthon das Abbild des Goldenen Zeitalters, der Ort des Lehrens und Lernens als heilige Tätigkeit unter philosophischen Geistern. Die griechische Sprache wird über alles gelobt. Alles in allem hat sich Philipp Melanchthon seinen Ehrentitel „Praeceptor Germaniae“, d.h. Lehrer Deutschlands, redlich verdient.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 31. Januar 2014)

Johan Bargum: Nachsommer (1993)

Trost- und Lachbuch für vielgeplagte „stille“ Brüder

Das Buch erzählt von einem ungleichen Brüderpaar, das sich nach langer Zeit am Sterbebett der Mutter wiedertrifft. Einer der Brüder ist eher „still“ und zurückhaltend, der andere aggressiv und rücksichtslos. Der eine unbeholfen und scheinbar ein Versager, der andere ein „Macher“ und scheinbar ein Erfolgsmensch. Der eine lebt dauerhaft einsam, der andere hat Familie. In Retrospektive wird das Verhältnis der beiden nachgezeichnet, sowie das Verhältnis zur Mutter, zum Stiefvater („Onkel“), und zur Ehefrau und den Kindern des einen Bruders.

Johan Bargum schafft es, in knappen Worten kurze Episoden zu Papier zu bringen, die den Charakter der beiden Brüder subtil und präzise auf den Punkt bringen. Bargum muss so eine Situation selbst erlebt oder sehr genau beobachtet haben, denn er kann auch die untergründigen Beweggründe der Beteiligten bestens nachzeichnen. Angefangen von der unfasslichen Ignoranz des „Macher“-Bruders und seines Kotzbrocken-Sohnes in ihrer ganzen lächerlichen Tragikomik, über die erlernte Hilflosigkeit des systematisch entmutigten „stillen“ Bruders, bis hin zur Mutter, die über sich selbst keine Klarheit erlangen zu können scheint und unwahrhaftig bis zur Heuchelei ist: Während sie den „Macher“-Bruder offiziell hasst, zieht sie ihn in Wahrheit dem „stillen“ Bruder immer wieder vor, angefangen vom ewig einseitig geäußerten „Schieb die Schuld nicht auf Deinen Bruder!“ bis hin zu dem Umstand, dass er selbst noch beim Erbe benachteiligt wird.

Es ist fast schon eine Satire über allzumenschliche Verhältnisse. Eine Satire, die von der Realität bisweilen überholt wird. Wer selbst in einer ähnlichen Situation lebt, wird sie wiedererkennen, und darin Trost und Ermutigung finden. Wer einer solchen Situation entronnen ist, wird herzlich darüber lachen können. Zeile für Zeile, Wort für Wort wird ein Volltreffer nach dem anderen gelandet. Der faule Zauber der ignoranten „Macher“ und der unklaren Unwahrhaftigen, hier wird er entlarvt. Das Büchlein ist kurz, aber sehr dicht und sehr reich. Es ist ein Plädoyer für rationale Klarheit und unverfälschte Menschenfreundlichkeit ex negativo.

Kritik ist an der Darstellung der Begebenheiten rund um die Ehefrau des „Macher“-Bruders, Klara, angebracht. Es ist unglaubwürdig, dass sie aus Unsicherheit über ihre Beziehung zum „Macher“-Bruder spontan mit dem „stillen“ Bruder ins Bett geht. So sind die Ehefrauen von „Machern“ nicht. Und es ist ebenso unglaubwürdig, dass der „stille“ Bruder dies geschehen lässt, ohne dass sie sich von ihrer Beziehung zum „Macher“-Bruder losgesagt hätte. So sind „stille“ Brüder nicht. Treffender wäre es gewesen, wenn der „Macher“-Bruder dem „stillen“ Bruder die Freundin ausgespannt hätte.

Auch das Ende des Buches, wo sich Klara wieder dem „stillen“ Bruder zuneigt, ist unglaubwürdig. So läuft es in Wirklichkeit nicht. Solche „Macher“-Menschen haben einen inneren Abwehrmechanismus gegen alles, was sie zum Nachdenken und zum Zweifeln bringen könnte. Deshalb kann es auch kein Umdenken geben. Nachdenken und Zweifeln gilt ihnen schon als verdächtig, als seelische Krankheit, als Aussatz der Aussätzigen, dem man sich am besten gar nicht erst aussetzt. Wegschauen ist in diesen Kreisen Trumpf. Solche Menschen huldigen der Oberflächlichkeit und dem Aufgehen in einem Mainstream-Denken als dem wahren Glück. Sie verwechseln Vernunft mit „common sense“ und sind notorisch gut drauf. Probleme umgeht man, indem man sie einfach nicht hat (weil man vom Glück und den Umständen begünstigt wird, womöglich auf Kosten anderer, worüber man aber nicht nachdenkt), oder indem man ihre Wahrnehmung aktiv unterdrückt, bis es zu spät ist (und dann sind andere schuld, oder man spricht cool von „Pech“, obwohl man selbst schuld ist, was man aber niemals zugeben würde, nicht einmal vor sich selbst).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Oktober 2018)

Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang (1970)

Den Rationalismus schärfen, festigen und im Niveau heben

Das Buch „Wider den Methodenzwang“ von Paul Feyerabend und seine Kritik am Rationalismus, vor allem an Karl Popper, ist ein wichtiges Werk zur Wissenschaftstheorie. Allerdings nicht deshalb, weil es Feyerabend gelingen würde, den Rationalismus zu widerlegen, sondern deshalb, weil dieses Werk für jeden Rationalisten eine große Hilfe dabei sein kann, die Denkfallen eines allzu einfach gedachten Rationalismus zu überwinden.

Die Kritik

Feyerabend wendet sich gegen die falsche Auffassung, dass man neue Erkenntnisse gewissermaßen zwangsläufig „ausrechnen“ könnte, wenn man nur von den Gegebenheiten ausgehend rational regelgerecht – methodengerecht – weiterdenken würde. Vielmehr sind neue Erkenntnisse gerade dadurch entstanden, dass Forscher die rationalen Regeln ihrer Zeit gebrochen hatten. Rationalität sei gewissermaßen abhängig vom Sprach- und Weltanschauungssystem: Was nach dem alten Paradigma rational war, ist es nach dem neuen nicht mehr, und umgekehrt. Sehr lesenswert Feyerabends Ausführungen zum Welt- und Menschenbild der homerischen Epen. Feyerabend zeigt auch sehr überzeugend, dass die Theorie der Hexenprozesse im Rahmen der damaligen Theologie und Philosophie sehr rational war. Auch heute unterscheide sich die Wissenschaft nach Auffassung von Feyerabend im Kern nicht von der Kirche und habe ihre Dogmen.

Die rationalistische Lehre von der Falsifikation von Thesen würde zu Dogmen führen, wenn eine Falsifikation schwierig ist, auch wenn vieles für andere Thesen spräche, die genauso wenig falsifizierbar seien, aber das Pech haben, nicht etabliert zu sein oder nicht dieselbe Zeit zur Entwicklung eingeräumt bekommen zu haben. Manche Auffassung hat sich dadurch durchgesetzt, dass die Forscher bewusst mogelten und geschickt darin waren, eine gute Propaganda für ihre neuen Thesen zu machen. Hier verweist Feyerabend z.B. auf Galileo Galilei. Nicht alles neue ist auch besser. Feyerabend lobt hier die Traditionelle Chinesische Medizin gegenüber der Schulmedizin.

Die Kritik der Kritik

Viele der Kritiken Feyerabends sind berechtigt und geben wertvolle Hinweise darauf, wie Wissenschaft funktionieren sollte – und wie nicht. Im Kern jedoch scheint Feyerabend seine Kritik auf einem falschen Verständnis von Rationalismus aufgebaut zu haben.

Was die Regelüberschreitung und die Begrenzung durch Sprache und Weltanschauung anbelangt, so ist es der Standpunkt des Rationalismus im Sinne Poppers, dass neue Thesen mithilfe von Phantasie geboren werden. Darin, in der Phantasie, ist jede mögliche Überschreitung von Regeln praktisch bereits enthalten. Dass die Vernunft in sich eine gewisse abstrakte, kulturunabhängige Regelhaftigkeit hat, hätte man bei Feyerabend gerne gelesen („Dass da eins zum anderen passt“ könnte man als die innerste Regel der Rationalität formulieren), doch Feyerabend schweigt dazu. Die Auffassung, es gäbe nicht die eine Vernunft, ist falsch; was verschieden ist, sind die Ausgangspunkte, auf die man sie anwendet, die Vernunft ist aber immer dieselbe.

Feyerabend tut so, als glaubten Rationalisten, dass sie völlig rationale Wesen seien. Nicht dass sie Vernunft hätten, sondern dass sie Vernunft seien. Doch das ist falsch. Der Mensch ist keine Vernunft, er hat Vernunft; und er kann sie gebrauchen oder auch nicht. Und er kann sie nur auf dieses anwenden oder nur auf jenes oder auch auf alles. Vor allem aber hat der Mensch auch noch andere Fähigkeiten, z.B. Phantasie. Der Mensch sollte eben versuchen, diese andere Dimension und die Vernunft in Einklang zu bringen. Es ist das alte Ideal des Weisen. Aus diesem steten Wechselspiel erwächst dann ein Erkenntnisfortschritt.

Bei Feyerabend hat man öfter den unabweisbaren Eindruck, er plädiere für völlige Irrationalität, für haltlose Anarchie. Doch wenn Phantasie und Kreativität, die auch vorübergehend gegen vermeintlich rationale Sichtweisen verstoßen dürfen, nicht immer wieder mit der Vernunft eingefangen und zu einem neuen rationalen System konsolidiert werden, kommt dabei auf Dauer keine Erkenntnis, sondern Chaos heraus. Erst das ständige, nie endende Wechselspiel beider Seiten, das Bemühen, beidem gerecht zu werden, macht die Erkenntnis aus und hält den Prozess lebendig.

Auch ist der Rationalismus nicht auf eine simple Scheidung der Erkenntnis in Wissen und Unwissen festgelegt. Vielmehr zeigt sich gute, rationale Wissenschaft häufig gerade daran, wie sie mit verschiedenen Graden von Ungewissheit umgeht und vernünftige Abwägungen trifft, indem sie einzelne Unwägbarkeiten gegeneinander abgleicht und zu einem plausiblen, wahrscheinlichen Gesamtbild integriert. Richtig ist allerdings auch, dass es viele „rationale“ Menschen gibt, die nur „hartes Wissen“ gelten lassen wollen, und damit in die Irre laufen, denn je sicherer das Wissen, desto seltener ist es.

Wenn Feyerabend kritisiert, dass sich die Wissenschaft gerne Dogmen schafft und alternative Thesen nicht in angemessener Weise würdigt, kritisiert er eher den real existierenden Wissenschaftsbetrieb als die Idee der Wissenschaft. Natürlich ist es richtig, dass eine Theorie nicht deshalb besser ist, weil sie etabliert ist, weil sie zuerst da war oder weil sie die größere Zahl an Fürsprechern hat, die gar nicht daran denken, ernsthaft nach einer Falsifikation zu suchen, weil eine Falsifikation ihren Status gefährden würde. Und natürlich ist es völlig richtig, dass man einer alternativen Theorie auch Zeit zur Entwicklung geben muss: Man muss eine Hypothese, die man zunächst nicht belegen kann und die wackeliger aussieht als andere Thesen, auch eine Zeitlang in der Schwebe halten und an ihr arbeiten und mit ihr spielen können. Aus diesen Überlegungen kann man Maßnahmen zur Ausbildung von Wissenschaftlern und zur Organisation des real existierenden Wissenschaftsbetriebes ableiten, damit die nötige Weite des Geistes (oder wenigstens Toleranz) herrscht. Eine Kritik am Rationalismus ist das jedoch nicht.

Die Kritik Feyerabends am real existierenden Wissenschaftsbetrieb ist im Übrigen zu hart und gerät teilweise rabulistisch. Die Gleichsetzung mit der Kirche ist doch stark übertrieben. Es gibt zwar auch in der Wissenschaft Phasen der Erstarrung und der Wissenschaftsgläubigkeit, aber diese Phasen sind meist auf eine Generation beschränkt, was eine grundsätzliche Reformfähigkeit belegt. Die Kirche jedoch kann ihre Dogmen über Jahrhunderte durchhalten, wenn die Umstände ihr kein Um- und Weiterdenken aufzwingen. Feyerabends Einschätzung des Prozesses von Galilei, dass nämlich die Kirche im damaligen Rahmen durchaus rational und richtig urteilte, während Galileo noch zu schwache Argumente hatte, mag zwar in Ordnung sein, aber Feyerabend hätte klarer hinzufügen sollen, dass es unabhängig von der Frage der Richtigkeit des Urteils ein Problem ist, wenn sich die Kirche ein solches Urteil anmaßt und Denkverbote erlässt.

Sehr unappetittlich ist es, dass Paul Feyerabend sein 1970 veröffentlichtes Buch mit längeren Zitaten von Lenin beginnt. Auch Engels, Ilja Ehrenburg und Mao kommen zu Wort. Es ist grausig, diese naive Unbefangenheit gegenüber mehr oder weniger verbrecherischen Charakteren zu sehen, die offenbar aus einer linksideologischen Verblendung Feyerabends herrührt: Hegel und Marcuse werden auch zitiert. Hier zeigt sich, dass Paul Feyerabend nicht immer erfolgreich darin gewesen sein kann, enge Denksysteme zu überwinden, sonst hätte er wenigstens eine menschenfreundliche Distanz gewahrt. Zudem handelt es sich um Zitate, die man in dieser Form und mit diesem Sinn sicher auch und besser bei anderen und gewiss größeren Persönlichkeiten gefunden hätte. In der bei Linken üblichen Weise unausgegoren ist auch Feyerabends Idee einer Instanz, die nach den sozialen Folgen von Wahrheit fragt; von der Liebe zur Wahrheit oder von einer Sensibilität gegen subtile Zensurmechanismen zeugt dies leider nicht. Wenn man die Unbekümmertheit von Feyerabends Linksdrall betrachtet, bekommt seine heillose Relativierung der Vernunft einen gefährlichen Zug; hatte nicht auch Lenin ein weltverneinendes Faible für Dada, eine Grundverzweiflung an Ordnung und Sinn? Aus dem Urgrund der Seele erwächst unvermutet das Böse.

Fazit

Ein wichtiges Buch für alle Rationalisten, um ihren Rationalismus zu schärfen, zu festigen und im Niveau zu heben: Vernunft ist nicht alles, aber ohne Vernunft ist alles nichts. Letztlich ist es trotz vieler richtiger Einzeleinsichten ein aufs Ganze gesehen irriges Buch.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. August 2012)

Tibor Rode: Das Rad der Ewigkeit (2013)

Gelungene historische Schnitzeljagd mit noch ungehobenem Potential

Der Hintergrund dieses Historienromans ist in der Tat spannend und gut ausgesucht: Es geht um den Erfinder Orffyreus, der im 17. Jahrhunderts angeblich ein Perpetuum Mobile erfunden haben soll, und damit die damalige Fachwelt um Newton und Leibniz in Aufruhr versetzte. In Deutschland sind diese Geschehnisse weitgehend vergessen, in England jedoch sollen sie auch heute noch bekannt sein. In der Tat sind diese Geschehnisse es wert, beleuchtet zu werden.

Das schafft dieser Roman ganz ausgezeichnet, indem er auch den historischen Bergpark in Kassel mit seinem berühmten Herkules auf glaubwürdige Weise damit in Verbindung setzt, denn Orffyreus lebte damals in Kassel: So muss gute Literatur mit Geschichte umgehen: Nicht verfälschen, sondern so ergänzen, dass das bestmögliche dabei herauskommt.

Rund um diese historischen Geschehnisse entfaltet der Roman eine historische Schnitzeljagd in der Gegenwart, die von verschiedenen, teils jahrhundertealten Interessengruppen getrieben wird. Dazwischen wird in Rückblenden die Geschichte von Orffyreus Stück für Stück enthüllt, Gegenwart und Vergangenheit verzahnen und kommentieren sich … – perfekt!

Der Roman ist ein Debut und leidet deshalb an einigen wenigen Stellen unter gewissen erzählerischen und sprachlichen Schwächen, die aber angesichts der Gesamtleistung nicht weiter ins Gewicht fallen. Schon schwerer wiegt der allzu offene Schluss des Romans: Zwar sind die beiden Hauptpersonen den „Bösewichtern“ zunächst glücklich entkommen und auch sehr reich geworden, aber die „Bösewichter“ sind immer noch in der Welt und werden sie weiter jagen, davon muss der Leser ausgehen. Eine Lösung ist das nicht.

Auch die Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart passte nicht immer. Teilweise liefen die beiden Handlungsstränge unverbunden nebeneinander her. Deshalb ein Punkt Abzug. Bei Behebung solcher Schwächen ist von diesem Autor aber noch einiges zu erhoffen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Februar 2014)

Boualem Sansal: Allahs Narren – Wie der Islamismus die Welt erobert (2013)

Enttäuschende Ratlosigkeit eines linken Intellektuellen

Boualem Sansal lebt selbst in einem islamischen Land und hat die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hautnah miterlebt. All das verarbeitet er in Romanen von internationalem Rang. Wenn jemand wie Boualem Sansal ein Buch über den Islamismus schreibt, dann erwartet man sich davon Antworten, die man anderswo nicht findet.

Doch Boualem Sansal enttäuscht diese Erwartung. Im Grunde beschreibt er nur das, was viele andere Sachbücher ebenfalls zu bieten haben: Dass bereits der traditionelle Islam ein Problem ist. Dass es [angeblich] nie eine Aufklärung in der islamischen Welt gab. Dass der Islamismus aus dem traditionellen Islam und aus Abwehr gegen den übermächtigen Westen und aus anderen Gründen erwächst. Dass der Großmufti von Jerusalem mit Hitler kooperierte, und dass dieser Großmufti den Gründer der Muslimbrüder inspirierte. Dass die Muslimbrüder die Spinne im Netz des Islamismus sind. Dass die Araber untereinander in viele kleine ethnische und sprachliche Gruppen zerfallen, die sich alle gegenseitig feindlich gesinnt sind. Wo Araber regieren, geht die Zivilisation zugrunde, schrieb schon Ibn Khaldun, und Boualem Sansal zitiert ihn praktisch unwidersprochen. Im Grunde bestätigt Boualem Sansal sogar manches Vorurteil, was man für gewöhnlich nur von Islamhassern hört.

Völlig enttäuschend ist, dass Boualem Sansal praktisch keine Lösungen anbietet. Boualem Sansal starrt nur wie das Kaninchen auf die Schlange. Und das war’s. Die Hauptbotschaft des Buches lautet: Mit dem „Arabischen Frühling“ hat der Islamismus in der arabischen Welt endgültig zu regieren begonnen. Der französische Titel des Buches lautet denn auch: „Gouverner au nom d’Allah“: Regieren im Namen Allahs.

Zwei Ratschläge kann man aber doch aus Sansals Buch herauslesen

  1. Die westliche Welt soll aufpassen, dass sie nicht selbst vom Islamismus unterwandert wird. Boualem Sansal beschreibt sehr eindrücklich, wie Algerien zunächst ein linkes Land war, von sozialistischen Idealen beherrscht. Als die ersten Prediger ankamen, nannte man sie nur „Allahs Narren“ und nahm sie gar nicht ernst. Bis dann eines Tages der äußerst blutige algerische Bürgerkrieg gegen die „Islamische Heilsfront“ FIS ausbrach. Dies ist eine klare Warnung an den Westen. Hierher gehört auch die klare Feststellung von Boualem Sansal, dass die politische Korrektheit die westliche Welt daran hindert, sich angemessen mit dem Problem auseinanderzusetzen.

Hier muss man Boualem Sansal allerdings wiederum kritisieren, dass er hier fast wie ein primitiver Islamhasser einfach gegen die politische Korrektheit anredet, ohne eine bessere Alternative anzubieten. Für die notwendige Gratwanderung, den Islam zu kritisieren, ohne islamfeindlich zu sein, bietet Boualem Sansal keine Ideen an.

  1. Ohne dass klar wird, wie das mit seinem negativen Bild von Islam zusammenpasst, schreibt Boualem Sansal, dass der Islam einstmals eine ehrwürdige Religion gewesen sei, unter der die Zivilisation blühte. Auch der Mythos von Al-Andalus wird von ihm beschworen.

Man sollte doch meinen, dass diese vergangenen Zeiten ein reaktivierbares Muster geprägt haben, nach dem man den Islam auch auf menschenfreundliche Weise interpretieren könnte? Man sollte doch meinen, dass diese vergangene Zeiten eine klare Auskunft darüber geben könnten, was dem Islam heute fehlt, was er einstmals angeblich durchaus hatte? Aber Boualem Sansal stellt diese Fragen gar nicht erst und liefert deshalb auch keine Antwort.

Kein dritter Weg

Völlig enttäuschend und erschreckend ist, dass Boualem Sansal Ansätze zu Reformen im Islam kaum erwähnt. Er nennt nur wenige Denker, wie Dschamal ad-Din al-Afghani (1838-97) und Muhammad Abduh (1849-1905) und Mohamed Arkoun (1928-2010). Heutige Reformbewegungen nennt Boualem Sansal nicht. Eine Bewegung wie die „Schule von Ankara“ nennt er genausowenig wie die Verbände für einen liberalen Islam in der westlichen Welt. Auch Ibn Ruschd (Averroes) oder die Mutaziliten kommen bei ihm nicht vor, und das wäre doch das Mindeste gewesen, um aufzuzeigen, dass Reformen wenigstens theoretisch möglich sind. Auch die historisch-kritische Erforschung der Ursprünge des Islam, aus der heraus der Funke zur Reform springen kann (und eines Tages auch springen wird, weil Wahrheit immer durchsickert), bleibt bei Boualem Sansal ungenannt (hier ist nicht von jenen die Rede, die Mohammed für nicht existent erklären, sondern von jenen, die den originalen Mohammed hinter den später verfassten und veränderten Texten herausarbeiten). Nun gut: Denker wie Abdelwahab Meddeb und Malek Chebel werden immerhin erwähnt.

Aber einen Gedanken wie den von Malek Chebel, dass der Westen den Muslimen zu Hilfe kommen muss, um den Islam zu reformieren, weil die Muslime es selbst nicht schaffen, findet man bei Boualem Sansal nicht.

Fazit

Die Analyse, die Boualem Sansal hier vorlegt, ist oberflächlich, eine Problemlösung kaum existent. Mehr als eine berechtigte Warnung ist es nicht. Man könnte auch sagen, Boualem Sansal schließt sich (leider) der etwas zu einfachen Analyse der Islamhasser an, ist dann aber als Linker nicht in der Lage, wie diese den Schluss zu einer robusten Gegenwehr zu ziehen, sondern starrt wie das Kaninchen auf die Schlange. Damit werden sich die Islamhasser einmal mehr bestätigt sehen.

Dass weder die Islamhasser noch die gelähmten Linken Recht haben, sondern dass es dritte Wege gibt, kommt bei Boualem Sansal nicht heraus. Für einen Schriftsteller, der Gehör findet, ist das fast schon sträflich.

PS: Boualem Sansal unterstellt George W. Bush, er habe nach der These vom „Clash of Civilizations“ von Huntington gehandelt. Das ist doppelt falsch. Erstens ist Huntington selbst nicht der Auffassung, dass man die Kulturen gegeneinander ausspielen sollte, sondern er meint, dass dies geschehen würde, auch ohne das man das will. Zweitens ist die Unterstellung an Bush, er habe gewissermaßen einen Kreuzzug des Christentums gegen den Islam geführt, einfach nur dumm und primitiv. George W. Bush hat vielmehr als erster Schluss mit dem Prinzip gemacht, dass der Westen im Nahen Osten immer nur auf Dikatoren setzt, um die Region in Ruhe zu halten. George W. Bush hat die These aufgestellt, dass auch islamisch geprägte Staaten zur Demokratie fähig sind. Man mag von Bush halten was man will, aber die primitive Kritik von Boualem Sansal ist Unfug. Bereits die naiven Ausführungen von Boualem Sansal in seiner Preisrede in der Frankfurter Paulskirche über den Palästina-Konflikt hatten angedeutet, dass Boualem Sansal kein politischer Kopf ist.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 25. September 2014)

Robert Silverberg: Gilgamesch The King (1984)

Gelungenes Sinuhe-Remake für die sumerische Kultur

Mit seinem Buch „Gilgamesch – The King“ hat Robert Silverberg eine Art Remake des Klassikers „Sinuhe der Ägypter“ von Mika Waltari vorgelegt. Wie dort auch läuft vor den Augen des Lesers eine Art psychedelischer Lebensfilm des Protagonisten ab, der gewissermaßen die Innensicht und die weltanschauliche Perspektive eines antiken Menschen nachzubilden versucht, von der Wiege bis zur Bahre. Auf diese Weise wird ein besonders intensiver Einblick in die jeweilige Zeit und Kultur gegeben. War es bei Waltari das alte Ägypten, ist es bei Silverberg die sumerische Kultur.

Das Remake ist gelungen: Wer nach der Lektüre nach Informationen über die alten Sumerer sucht, wird finden, dass Silverberg die wesentlichen Elemente dieser Kultur verarbeitet hat, und zwar gut verarbeitet. Historische Exaktheit darf man natürlich nicht erwarten, das ist nicht der Sinn der Sache, zumal die Forschung bei diesen frühen Kulturen immer noch sehr in Fluss ist. Es steht das Literarische und Menschliche im Vordergrund; in der alten Kultur spiegeln sich Einsichten, die sehr wohl auch für die Gegenwart gelten.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2012)

Can Dündar / Mohamed Anwar: Erdoğan (2021)

Die Irrtümer des Islamisten Erdogan und der Linksliberalen im Westen

Diese gut gemachte Graphic Novel beschreibt den Werdegang des türkischen Präsidenten Erdogan, der die Macht in der laizistischen Türkei als Islamist erobern konnte und heute fest im Sattel sitzt und die Demokratie unterdrückt. Man kann hier einiges lernen:

x) Zunächst lernt man verstehen, warum Erdogan so tickt wie er tickt. Erdogan hat „dank“ seiner laizistischen Gegner verschiedene Lebenserfahrungen gemacht, die ihn zu bestimmten Erkenntnissen geführt haben. Leider hat er nicht über den Tellerrand dieser Erfahrungen hinaus gedacht, sondern ist seinen Lebenserfahrungen reflexhaft verhaftet geblieben.

x) Ein Aspekt, der gerne übersehen aber in diesem Buch deutlich wird, ist der Umstand, dass die Türkei bereits vor der Zeit von Erdogans Machteroberung kein besonders demokratisches Land war. Der Islam war durch Atatürk keineswegs reformiert sondern schlicht unterdrückt worden. Es galt gewissermaßen auch bisher schon die Regel: Wer die Macht erobert, unterdrückt die anderen. Nur, dass die Macht bisher bei den Laizisten lag. Deshalb ist es kein Wunder, dass Erdogan keine Fairness eines echten demokratischen Systems kennengelernt hat, sondern sich einfach unterdrückt fühlte (denn er war es ja wirklich), und nun seinerseits die Macht nur durch Unterdrückung ausübt.

x) Man erfährt auch, dass Erdogan die Macht auf dieselbe Weise eroberte wie Salvador Allende in Chile: Nämlich nicht wirklich durch eine echte Mehrheit, sondern allein aufgrund einer relativen Mehrheit. Demokratische Systeme, die keine Stichwahlen kennen, wenn kein Kandidat die absolute Mehrheit erlangt, sind im Grunde nicht demokratisch.

x) Es ist erstaunlich, wie beharrlich Erdogan ist. Immer wieder wird er gestürzt, muss wiederholt ins Gefängnis, und muss auch seine Strategie immer wieder überdenken, bis er es am Ende gegen alle Widrigkeiten schafft. Das nötigt Respekt ab. Erdogan ist nicht die Marionette von irgendjemandem, sondern hat diesen Erfolg maßgeblich aus eigenem Antrieb erreicht. Das bedeutet aller Wahrscheinlichkeit nach auch, dass sein Regime mit ihm zu Ende gehen und ihn nicht überdauern wird.

x) Erdogan gibt sich gerne intellektuell, z.B. durch Rezitationen von Gedichten und religiösen Texten, doch in Wahrheit ist Erdogan ein allzu praktisch denkender Mensch, der seine Gegner einfach spiegelt, statt über die Gegensätze hinaus zu denken.

x) Interessant ist die Parallelgeschichte von Fetullah Gülen, der sich wie Erdogan auf den Weg machte, den Islamismus durch Unterwanderung der Gesellschaft zu etablieren. In dem gescheiterten (oder inszenierten?) Putsch von 2016 räumte Erdogan mit dieser Konkurrenzbewegung auf.

x) Es ist interessant zu sehen, wie sich westliche Linksliberale gerne täuschen lassen, wenn ihnen ein Islamist erzählt, er sei gar kein Islamist. Die meisten westlichen Linksliberalen haben vom Islam, von validen religiösen Reformen und überhaupt von Religion und weltanschaulicher Philosophie genauso wenig Ahnung wie irgendwelche rechtsradikalen Islamhasser. Peinlich vermeiden die Linksliberalen das Wort „Traditionalismus“, wenn es um den Islam geht, während sie bei der katholischen Kirche ständig Traditionalismus bemängeln, selbst dort, wo das gar nicht angebracht ist. Die Intellektualität der westlichen Linksliberalen ist einfach nicht entwickelt genug, um die Probleme rund um den Islam adäquat lösen zu können.

Ein Fehler ist im Buch enthalten: Es ist falsch, dass die Taliban in Afghanistan durch die USA unterstützt worden wären. Die Taliban entstanden überhaupt erst so richtig nach dem Abzug der Sowjets, und sind eine vom pakistanischen Geheimdienst aufgebaute und gesteuerte Gruppe. Der Fehler der USA war nicht die Unterstützung von Widerständlern gegen die Sowjets in Afghanistan, sondern dass die USA Afghanistan nach dem Abzug der Sowjets sich selbst (und damit den pakistanisch gesteuerten Taliban) überließen, statt weiter Einfluss und Macht über die von ihnen bis dahin geförderten Gruppen auszuüben, um so die ganz Radikalen von der Macht fernzuhalten.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. April 2022)

Mary Taylor Simeti: On Persephone’s Island – A Sicilian Journal (1986)

Ingenious description of life and customs on Sicily

As a young student from New York Mary Taylor Simeti came to Sicily, fell in love, married and lived her life on the island as an expatriate. This means she is in the double-role of an insider and an outsider and thus the perfect reporter on atmosphere, life and customs on Sicily, far better than any journalist traveling around for some months.

The book is organized following the seasons of the year thus showing the close relationship of life on Sicily to nature. Farming, plants, flowers, climate, public holidays and harvesting are important parts of her life. But the author also writes about her husband’s family and how she integrated step-by-step into the Sicilian society. Greek mythology does not play a central role but it is interesting to see how the author makes practical use of otherwise only academically treated myths. Life with the silent presence of the Mafia is a topic as well as customs like Easter processions and the widely unknown virgineddu. As an American the author wonders how Sicilians organize themselves, such as concerning her children’s school or how to get entrance to a historical building on a military site.

The book covers the time of the 1970s and 1980s and shows many features of the time: The author came to Sicily to support Danilo Dolci driven by a somewhat romantic social idealism, then we read again and again how she marched in demonstrations against American missiles on Sicily, or against the Mafia, or to protect a natural reserve. The author declares to be glad that anti-communism lost its strength. Old fotographs on the Web site of her winery „Bosco Falconeria“ show the typical beards and clothings of leftist students around 1968. From today’s point of view (2013) this does not seem so political any more but rather like folklore of these times in a certain social milieu. All in all Mary Taylor Simeti did not strive for communism but lived a good life as owner of several houses in Palermo and Alcamo and of course the farm Bosco Falconeria near Palermo, and she lets us readers take part in the sufferings and rewards of such a Sicilian life. Thank you!

PS 18.11.2024

Being grown up in a rural area in southwest Germany, I observed some striking similarities: There is e.g. the religious procession of the local saints. Then, the harvesting with the help of he entire family. And even the technicalities of the fruit press are similar, only, that in Sicily it is all about olives, while in Germany is is about apples and pears. And of course, there is more sun than in the rest of the country. It seems that „southern Catholic provinces“ are everywhere the same.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. Februar 2013)

Burckhardt Gorissen: Ich war Freimaurer (2009)

Überraschend interessanter Erfahrungsbericht, aber ungewollte Ironie

Entgegen dem ersten Anschein ist dieses Buch tatsächlich ein sehr interessanter und geradezu exemplarischer Erfahrungsbericht, der dem geistig unabhängigen Leser viel zu bieten hat. Das muss erklärt werden.

Zur Freimaurerei

Während die meisten Bücher die Freimaurerei entweder lehrbuchmäßig („wie aus dem Katechismus“) oder aber verschwörungstheoretisch darstellen, hat dieses Buch etwas ganz anderes und viel besseres zu bieten: Die praktische Erkenntnis, dass auch Freimaurer nur mit Wasser kochen! Bei sehr vielen Anekdoten kann man nur mit dem Kopf nicken und zustimmen: Ja, so läuft es in menschlichen Gemeinschaften nun einmal ab. Man erkennt, dass auch in der Freimaurerei Vereinsmeierei, Spießertum, Gerangel um Pöstchen und Ehrungen, dogmatische Meinungsverschiedenheiten, Intrigen, persönliche Animositäten, usw. usf. den hehren Anspruch von Wahrheit und Weltanschauung völlig und restlos untergraben. Ein hehrer Anspruch übrigens, der umso unkonkreter erscheint, je näher man ihm inhaltlich kommen will. Die Lehre bleibt abstrakt, und entschwindet in Diffusität, je länger man darüber nachdenkt, und je höher man im Grad aufsteigt.

Was man auch in keinem Lehrbuch über Freimaurer geboten bekommt, ist eine Darstellung der Rituale aus erster Hand, wie sie heute wirklich gestaltet sind. Offenbar kennen Freimaurer auch fragwürdige Liturgiereformen und eigenwillige Umsetzungen in die Praxis. Beruhigend auch die Mitteilung, dass die Freimaurer-Logen heute nur noch ein Zerrbild ihrer großen Vergangenheit sind: Während die Logen hoffnungslos überaltern und mit mittelmäßigen Charakteren gefüllt sind, treffen sich die wirklich einflussreichen Persönlichkeiten bei Lions, Rotary oder in völlig namenlosen, echt geheimen Zirkeln.

Völlig sachlich werden auch die theoretischen Selbstwidersprüche der freimaurerischen Lehre erkannt und benannt: Dass die Freimaurerei eben auch ihre Dogmen hat. Dass Menschen verschiedener Weltanschauung sich eben nicht so einfach auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner vereinen lassen (es sei denn, ihre verschiedenen Weltanschauungen sind zur Hülle verkommen). Dass die Freimaurerei zwar keine Weltanschauung sein will, de facto aber doch die wahre Weltanschauung der meisten ihrer Mitglieder ist, während die je eigene Weltanschauung (katholisch, buddhistisch, agnostisch, was immer) zu einer Hülle verkommt, deren Inhalt mit freimaurerischen Ideen gefüllt wird.

Man erfährt auch: Dass Freimaurer gegen ihre „traditionellen“ Gegner sehr intolerant sein können. Dass Freimaurer wegen ihrer oft etwas simpel gestrickten Ideale an manchen historischen Verbrechen beteiligt waren, was aber nicht aufgearbeitet wird. Auch wird der Humbug mit den „Alten Regeln“ aufgespießt, nach denen in der Loge über Politik und Religion nicht geredet werden dürfte: Wozu soll man dann Menschen verschiedener Weltanschauungen zusammen bringen, wenn sie sich dann genau über diese Verschiedenheiten nicht austauschen dürfen? Wo soll da das Verbindende entstehen? Und wenn wirklich nicht über Politik geredet würde, warum haben dann so viele Freimaurer in der Politik mitgemischt? Natürlich wird über Politik und Religion geredet, über was denn sonst …

Sehr treffend kritisiert der Autor einen linksliberalen Multikulti-Zeitgeist, der von den Logen befördert wird: Wenn z.B. der berühmte katholische Dogmatik-Professor Vorgrimler (!) in einer Weise auftritt, wie man es nicht für möglich hält! Es ist so selbstentlarvend … man muss es selbst gelesen haben. Was der Kundige bisher nur ahnte, wird hier in einer banalen Weise offenbar, dass man sich auf die Schenkel klopft. Ähnlich ist es mit dem Auftritt von Hans Küng.

Die ungewollt ironische Wendung

Über all diesen richtigen Erkenntnissen schwenkt der Autor … schrittweise zum katholischen Glauben über! Ausgerechnet! Das ist nicht ohne Ironie: Denn alles, was man der Freimaurerei an Vorwürfen machen kann, trifft auf die katholische Kirche ganz genauso zu. Auch dort gerät die edle Frage nach der Wahrheit unter die Räder des Allzumenschlichen, auch dort Forkelkämpfe ums Dogma und Vereinsmeierei, auch dort Rituale und Lehren, die sich umso mehr in Fragezeichen hüllen, je mehr man theologisch und historisch davon weiß. Die Freimaurer betonen den Verstand, die Christen das Gefühl (Liebe, Trost usw.), und beide sind damit einseitig.

Die katholische Lehre hat gegenüber der Freimaurerei sicher den Vorsprung, dass sie eine größere Tradition und eine größere Stringenz suggerieren kann – aber eben nur suggerieren kann. Und dieser Suggestion, die nicht anders funktioniert als die von ihm selbst so treffend analysierte freimaurerische Suggestion, erliegt der Autor nach und nach: Er verklärt die liebevolle Gemeinschaft in der Kirche und das jugendfrische Erlebnis des Weltjugendtages in Köln, während er gleichzeitig ungerechte Pauschalurteile über Aufklärer und die Geschichte der Aufklärung fällt. Wo er doch selbst wiederum den Freimaurern vorwirft, zu pauschal über die Kirche zu urteilen. Der Autor übersieht völlig, dass die von ihm selbst vorgeführten Herren Vorgrimler und Küng Realitäten der von ihm so gepriesenen katholischen Kirche sind. Auch der Christengott „offenbart“ sich nur im Menschen, und der Mensch ist überall derselbe, vor allem, wenn er sich vergemeinschaftet.

Wenn der Autor diese Übertragungsleistung erbracht hätte: Dass alles, was er bei den Freimaurern erlebt hat, praktisch bei jeder weltanschaulichen Vereinigung anzutreffen sein muss, weil der Mensch nun einmal ein Mensch ist, dann wäre das Buch perfekt gewesen. Andererseits hat man so ein Buch mit einer interessanten Doppelfunktion in der Hand: Zum einen ein exemplarisches Hinterfragen einer Weltanschauungsgemeinschaft, und gleichzeitig eine exemplarische Verblendung über das wahre Wesen einer Weltanschauungsgemeinschaft. Es ist wirklich sehr lehrreich!

Vor einem Vorwurf muss man den Autor in Schutz nehmen: Er ist kein „Hardcore-Katholik“ und er verbreitet auch keine „ultrakonservativen“ Lehren im Stil von Opus Dei oder den Piusbrüdern. Der hier bekundete Glaube ist ganz normales katholisches Christentum. Man muss fair bleiben und den Realitäten ins Auge sehen.

Fazit

Dieses Buch transportiert – ungewollt! – in hervorragender Weise eine klare und wahre Erkenntnis: Die edle Suche nach der Wahrheit, die Pflege der eigenen Weltanschauung, kann niemals in einem Verein geschehen, sondern ist immer ein äußerst individueller Vorgang, der höchstens im Austausch mit Freunden und Büchern funktioniert. Man kann sich wegen eines Hobbies oder zur Durchsetzung von Interessen zu einem Verein zusammenschließen, aber in Sachen Weltanschauung führt dies zwangsläufig immer in die Irre, und nur ein Mangel an Erfahrung, Bildung oder eine Verblendung führen auf diesen Weg.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. August 2012)

Noah Gordon: Der Medicus (1986)

Genre-prägender Mittelalterschinken, aber ganz gut

Wie so viele Mittelalterschinken greift der Roman „Der Medicus“ in die Vollen und beschreibt das Mittelalter so, wie man es sich eben vorstellt, und weniger, wie es wirklich war. Es geht deftig zu, Religion und Unwissenheit spielen eine Rolle, und den Protagonisten bleibt kein Schicksal erspart, doch am Ende enden sie halbwegs glücklich und um viele Erfahrungen reicher.

Dennoch gehört „Der Medicus“ zu den besseren Werken dieser Gattung. Vielleicht wurde hier manches noch besser gemacht als bei späteren Werken, weil das Genre mit diesem Roman erst richtig geprägt wurde.

Das unangenehm Deftige ebbt nach einem furiosen Anfang ab, und macht einigen interessanten Beschreibungen von Judentum und persischem Heilwesen Platz. Das Thema Islam wird noch völlig unaufgeregt gehandhabt. Der ganze Roman erscheint ehrlicher, frischer, und weniger konstruiert, als jene Romane, die in seiner Nachfolge erschienen. Nicht zufällig liest sich dieses dicke Buch flott von der Leber weg.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. November 2013)

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