Tim Willocks: The Religion (2006)

Gelungenes Epos über die Belagerung von Malta durch die Türken 1565

Der Roman „The Religion“ / „Das Sakrament“ von Tim Willocks ist ein Werk von epischer Dimension: Völlig zurecht wird von einer maltesischen Iliade gesprochen. Weltgeschichte und Religionsgeschichte greifen hier eng ineinander mit den Biographien der handelnden Personen. Die großen Themen sind Liebe, Glaube und menschliches Schicksal unter den wechselnden Bedingungen der Zeitläufte, die virtuos präsentiert werden.

Gerüst der Handlung ist die Belagerung von Malta durch die Türken 1565, die von einer ähnlich entscheidenden Bedeutung für die Geschichte Europas war wie die Belagerung von Wien. Mitten im Getümmel steht die Person von Tannhauser, der als Kind von den Türken gekidnappt und zum Janitscharen ausgebildet wurde. Er machte dort Karriere und kehrte später nach Europa zurück. Weil er die Türken kennt, wird er kurz vor der Ankunft der türkischen Invasionsflotte als kriegswichtig auf die Insel gelockt – mithilfe einer Frau.

Islam und Christentum werden von Willocks als gleichermaßen fanatisch dargestellt, womit der Autor zumindest nichts falsch macht. Für die Probleme der Gegenwart kann man daraus kaum hilfreiche Schlüsse ziehen, weil dafür die Frage der weiteren Entwicklung nach 1565 zu stellen wäre – das ist jedoch nicht Thema dieses Buches. Die Schilderungen des Mordens sind in der Tat sehr realistisch gehalten, doch so muss es wohl sein. Der Ton der damaligen Zeit wird gut getroffen, der historische Anspruch wird erfüllt.

Das englische Hörbuch wird von Simon Vance in bestem Englisch und mit viel Pathos gelesen. Der Schwierigkeitsgrad ist Mittel, die Zahl der Vokabeln recht hoch, doch trägt die epische Breite der Geschichte den Leser wie auf einer breiten Woge über jede Verständnisklippe hinweg und viele Worte verstehen sich mit der Zeit von selbst. Bei den Grausamkeiten der Schlachtbeschreibungen will man es ohnehin nicht so genau wissen …

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Geschrieben August 2011)

Thilo Sarrazin: Feindliche Übernahme – Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht (2018)

Sarrazins „Schwarze Legende“ des Islams stimmt so einfach nicht

Zum Islam gibt es eine „Schwarze Legende“. Sie besagt, dass der Gründer des Islam ein blutrünstiger Kriegsherr war, der rücksichtslos ganze jüdische Völkerschaften abschlachtete. Der Koran rufe zur Tötung der Ungläubigen u.a. schlimmen Dingen auf. Die ganze islamische Geschichte sei eine durchgängige Orgie von Gewalt, Sklaverei und Krieg. Dieser „Schwarzen Legende“ zufolge ist der Islam im Kern böse und nicht reformierbar, denn bereits der Gründer des Islam wäre ein böser Mensch gewesen, und die bösen Dinge stünden unmissverständlich im Koran. Und diese „Schwarze Legende“ macht sich nun auch Thilo Sarrazin zu eigen.

Koran und Mohammed

Sarrazins Koraninterpretation ist denkbar schwarzgemalt. Weniger, weil Sarrazin bewusst schwarz malt, sondern weil er einfach nicht gebildet genug ist, um die Untiefen der Koraninterpretation zu kennen.

Eine historisch-kritische Interpretation nennt Sarrazin zunächst grundsätzlich sinnvoll (S. 24), aber dann wird deutlich, dass das wohl nur eine vorgeschobene Schutzbehauptung gegen Kritiker ist. Denn in Wahrheit hält Sarrazin eine historisch-kritische Deutung für eine FALSCHE Deutung, denn er unterstellt ihr, die Botschaft des Koran in ihr „Gegenteil“ zu verdrehen (S. 205). Wer so denkt, hat die historisch-kritische Methode nicht verstanden! Die Traditionalisten sind es, die die Botschaft im Laufe der Zeit in ihr Gegenteil verdreht haben! Die historisch-kritische Methode will das Original hinter den Verdrehungen zurückgewinnen.

Die historisch-kritische Methode lehrt uns, dass die Anfänge des Islam anders waren, als es sich die Traditionalisten vorstellen. Der Koran sagt über Mohammed praktisch nichts und enthält viele zusammenhanglos dastehende Sätze, die sehr leicht so oder so interpretierbar sind. Die Prophetenbiographie von Mohammed, in der die eigentlich schlimmen Dinge stehen, wurde jedoch erst 150-200 Jahre nach Mohammed geschrieben und ist in vielen Punkten nachweislich falsch. Davon weiß Sarrazin aber nichts!!! (S. 46 f.). Insbesondere die Judenschlächtereien haben so niemals stattgefunden, sondern sind eine spätere Konstruktion, um die Juden aus der Umma herauszudrängen, zu der sie zu Mohammeds Zeit dazu gehörten. Und anders als der Koran gilt die Prophetenbiographie nicht als von Gott geoffenbart, was ihre Kritik sehr erleichtert. Der Islam kann genauso wie das Christentum mithilfe der historisch-kritischen Methode reformiert werden.

Sarrazin wendet außerdem ein, dass im Zeitalter der Massenmedien nur noch die wörtlichen Interpretationen von Texten gelten würden, nicht mehr die Interpretationen von (Reform-)Gelehrten (S. 56). Und dann sähe es für den Koran schlecht aus. Was für ein Unfug! Die verbreitete Wahrnehmung von Texten wie z.B. Verfassung, Koran oder Bibel (oder Sarrazins Bücher!) wird durch Schule und Medien bestimmt, nicht durch Eigenlektüre Einzelner. Wenn Sarrazin Recht hätte, wie erklärt er dann, dass Christinnen im Zeitalter der Massenmedien nicht mit Kopftuch rumlaufen und sich dem Manne untertan machen? So steht es nämlich im Neuen Testament, wenn man es nur wörtlich liest.

Geschichte des Islam

Im Goldenen Zeitalter des Islam rezipierte die islamische Welt die antiken Denker und schlug einen rationalistischen Weg ein. Zur gleichen Zeit ging es in der christlichen Welt ziemlich barbarisch und ungebildet zu. Später tauschten islamische und christliche Welt die Rollen. Auch die christliche Welt wurde erst modern, als sie die antiken Denker rezipierte, und auch für die christliche Welt gibt es keine Garantie, dass die Moderne von Dauer ist. Es ist falsch zu glauben, dass das Christentum immer top, und der Islam immer flop waren. Diese Dinge sind veränderbar!

Die Reformen des Islam haben bereits im 19. Jahrhundert begonnen. Aber Sarrazin weiß davon nichts!!! Die Namen Dschamal ad-Din al-Afghani und Muhammad Abdu kommen in seinem Buch nicht vor. Viele islamische Länder waren mittlerweile z.B. sozialistische Länder. In Persien griff der Schah auf die vorislamische Tradition zurück. Heute zeigt man Fotos, wie man in den 1960er Jahren in vielen islamischen Ländern in westlicher Kleidung ohne Kopftuch herumlief. Der Wandel zum Kopftuch geschah nicht vor 1400 Jahren, sondern erst in den letzten Jahrzehnten, und so schnell dieser Wandel gekommen ist, so schnell könnte er auch wieder umgedreht werden, denn die ungebrochene Verwurzelung seit 1400 Jahren gibt es schlicht nicht.

Es ist einfach falsch, dass der Islam ein unveränderlicher, seit 1400 Jahren gleich gebliebener Monolith wäre. Die Anfänge waren anders. Das Goldene Zeitalter war anders. Die 1960er Jahren waren für uns alle erfahrbar anders. Es ist offensichtlich, dass es mit dem Islam auch anders geht.

Um 1900 sprach man vom Katholizismus genauso wie Sarrazin jetzt vom Islam. Der katholische Glaube sei rückständig, behindere den Fortschritt, und sei nicht reformierbar. Die ganze Kirchengeschichte sei eine einzige Orgie von Gewalt gewesen: Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Inquisition. Heute würde kein Mensch mehr so von der katholischen Kirche reden, sofern er bei Trost ist. Allerdings gilt: Ohne Reformen geht es nicht.

Reformpotential des Islam

Wie viele radikale Islamkritiker wartet Sarrazin passiv darauf, dass die Islamreformen sich quasi „von selbst“ vollziehen. Wenn dann nichts passiert, fühlt er sich bestätigt. Außerdem verweist Sarrazin darauf, dass Islamreformer unter Polizeischutz stehen, oder nach dem westlichen Staat als Helfer rufen (S. 207). Daraus schließt Sarrazin, dass Reformen derzeit Wunschdenken sind.

Zunächst ist es ganz falsch, dass von Reformern nicht viel zu sehen wäre. Man muss es aber auch sehen wollen, denn westliche Medien berichten davon nicht auf Seite 1. Immer mehr und mehr Politiker, Religionsgelehrte und Intellektuelle tauchen auf, die etwas bewegen wollen. Reformen werden im arabischen Fernsehen offen debattiert. In Marokko wurde sogar das Gebot zur Tötung von Apostaten historisch-kritisch hinterfragt und vom Rat der Religionsgelehrten (also von Theologen mit einer theologischen Argumentation!) für irrig erklärt. Es tut sich sehr wohl etwas.

Auch Martin Luther überlebte nur, weil er unter „Polizeischutz“ stand. Gewirkt haben seine Reformen trotzdem. Weil der Staat ihm half.

Überhaupt ist es eine Illusion zu glauben, religiöse Reformen würden sich praktisch „von selbst“ vollziehen. Das war noch nie so. Erst recht nicht bei jenen Islamverbänden, die vom Ausland her bei uns gerade zu dem Zweck gegründet worden sind, um Reformen und Integration zu verhindern! Schon immer hat die Politik Einfluss auf die Religion genommen, schon immer war es eine Frage von Macht und Geld. Es ist also völlig plausibel und richtig, davon auszugehen, dass die westliche Welt einen ganz erheblichen Beitrag zu Reformen leisten kann, indem sie Reformer aktiv fördert und Traditionalisten aktiv deckelt. Auf ihrem eigenen Territorium kann die westliche Welt das mit Leichtigkeit und mit gutem Recht, denn der islamische Traditionalismus ist schlicht verfassungsfeindlich. Aber auch in Nahost: Angefangen von Wirtschaftsbeziehungen, über Geheimdienstaktionen bis hin zu militärischem Druck.

Es ist eine politische Grundsatzfrage, ob wir als westliche Welt diese Reformen anschieben helfen wollen oder nicht. Es ist in etwa so wie damals, als die ersten Demokratien in Europa den Bürgern in anderen europäischen Staaten halfen, ebenfalls zur Demokratie zu gelangen. Selbstverständlich sollten wir das tun, es ist in unserem eigenen vitalen politischen Interesse!

Die Maßnahmen Sarrazins

Bei praktischen Maßnahmen ist Sarrazin wie immer zurückhaltender, als die Analyse vermuten lässt. Hier findet sich auch viel richtiges. Neben bekannten Punkten, wie einer Reform der Sozialsysteme, einer klugen Zuwanderungspolitik, oder einer stärkeren Betonung der Integration in die deutsche Gesellschaft (Sarrazin muss natürlich von „Assimilation“ sprechen), findet sich vor allem auch das hier:

Sarrazin möchte die verbliebenen Staatskirchenprivilegien der christlichen Kirchen abschaffen! Weil sie sich überlebt haben. Das ist im Grundsatz richtig. Damit werden dem Islam automatisch die Schaffung ähnlicher Strukturen verweigert. Insbesondere möchte Sarrazin den konfessionellen Religionsunterricht an den Schulen abschaffen, und für alle Kinder eine Religionskunde einführen, in der ein liberales Islambild gezeichnet wird (wie passt das mit seiner Analyse des Islam zusammen?). Islamtheologische Lehrstühle an den Universitäten findet Sarrazin im Grundsatz richtig, wenn sie nicht traditionalistisch besetzt sind.

Fazit

Sarrazin gehört jetzt auch zu denen, die die „Schwarze Legende“ des Islam verkünden. Diese besteht vor allem in der Idee, dass es für das Islam-Problem KEINE Lösung gäbe, weil religiöse Reformen nicht möglich wären.

Damit liegt Sarrazin erstens sachlich falsch, und zweitens führt der Ausschluss einer Lösung des Islam-Problems zwangsläufig zu einem ungerechten Pauschalurteil über den Islam. Und das ist für eine Integration der Muslime äußerst schädlich: Sarrazin treibt potentiell liberale Muslime in die Arme der Traditionalisten!

In vielen Einzelfragen und vorgeschlagenen Maßnahmen hat Sarrazin zwar Recht, aber er verdirbt auch die guten Gedanken in seinem Buch durch die alles überwölbende Schwarzmalerei.

Alternative Buchempfehlungen

  • Tom Holland: Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs. (Was wirklich am Anfang des Islam geschah.)
  • Prof. Hans Jansen: Mohammed, eine Biographie. (Jansen geht so weit, die Existenz von Mohammed infrage zu stellen. Davon abgesehen aber ein sehr lehrreiches Buch.)
  • Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum.
  • Ahmad Mansour: Generation Allah, und: Klartext zur Integration.
  • Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion.
  • Wikipedia: „Liberale Bewegungen im Islam“.

Warnung an Sarrazin-Gegner

Man löst die Probleme nicht, indem man die Schwarzmalerei von Sarrazin ablehnt. Der Kuschelkurs gegenüber dem Islam kann nicht fortgesetzt werden. Gerade die falsche Toleranz ist es, die zu dem worst case Scenario im Sinne Sarrazins führt. Das darf nicht geschehen!

Es müssen jetzt Zuckerbrot und Peitsche ausgepackt werden, damit der Islam in Europa eine ähnliche Reformentwicklung nimmt wie das Christentum. Reformer müssen massiv gefördert, Traditionalisten müssen effektiv gedeckelt werden. Und für die islamische Welt muss auf allen Ebenen (Wirtschaft, Kulturaustausch, Diplomatie, Enwicklungshilfe, Geheimdienste, Militärischer Druck) intensiv daran gearbeitet werden, dass sich Reformkräfte durchsetzen.

Kurioses

Sarrazin interpretiert den Koran recht schwarz und lehnt eine historisch-kritische Lesart ab, aber in einer Frage ist er völlig auf der Spur der historisch-kritischen Interpretation: Vom Kopftuch stehe nichts im Koran, meint Sarrazin! (S. 44) Recht hat er.

Selbstwiderspruch: Auf S. 28 meint Sarrazin, der Islam sei keine komplizierte Religion und verlange nicht viel vom Gläubigen. Auf S. 47 wird der Islam als kompliziertes System von Regeln für jede Tätigkeit beschrieben, die sich aus den Hadith ableiten. Dieser Widerspruch steckt bereits im islamischen Traditionalismus drin, und Sarrazin hat ihn wohl einfach übernommen, ohne zu merken, dass dieser Selbstwiderspruch geradezu nach einer religiösen Reform schreit.

In Sarrazins allererstem Buch „Deutschland schafft sich ab“ stand auf S. 268 f. ein ziemlich kluger Satz, dessen Weisheit Sarrazin leider verlassen hat:

„Liberale Muslime wehren sich dagegen, ‚dem Islam‘ als solchem bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und damit haben sie Recht. … Leider ist aber nicht zu bestreiten, dass unter den vielen teils uneindeutigen, teils widersprüchlichen Strömungen des Islam ein Gesellschaftsbild dominiert, bei dem die Trennung von Religion und Staat weitgehend noch nicht angekommen ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter kaum existiert … Der innerislamische Krieg zwischen Okzidentalismus und Antiokzidentalismus ist noch in vollem Gange, sein Ausgang ungewiss.“

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 02. September 2018)

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch (1668)

Lebenserfahrung und Wissensordnung des 17. Jahrhunderts

Der Simplicissimus von Grimmelshausen ist kein Schelmenroman und kein Entwicklungsroman, in dem ein Dorfdepp durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges stolpern würde – das ist nur der Anfang, der zum falschen Inbegriff des ganzen Buches wurde, weil der Verdacht offenbar mit Recht besteht, dass viele Leser das wegen seiner altertümlichen Sprache nur mühsam zu lesende Buch schon bald wieder aus der Hand legten und deshalb nur dessen Anfang bekannt war. Es ist ein wahres Glück, dass nun diese gelungene Übersetzung von Reinhard Kaiser in einem modernen, lesbaren Deutsch vorliegt, die diesen verkannten Schatz der deutschen Literatur wieder ans Licht des Tages befördert hat!

Beim Simplicissimus handelt es sich in Wahrheit um einen autobiographisch gehaltenen Roman, dessen drei Hauptthemen die folgenden sind:

a) Lebenserfahrung – wie es so zugeht in der Welt; wie vieles nicht so ist, wie es zu sein scheint. Man spürt, dass der Autor aus eigener und echter Lebenserfahrung schöpft, die einiges zeitloses Gewicht bis in unsere modernen Tage hinein hat.

b) Lebensweisheit – worin das wahre Glück besteht. Hier wird viel in christlicher Sprache formuliert, aber es lässt sich auch alles nichtchristlich denken und deuten.

c) Wissensordnung – was man als Mensch des 17. Jahrhunderts alles wissen konnte über Religion und Gläubigkeit, antike Literatur, Geographie, Geologie, Medizin, Alchemie, zeitgenössische Literatur, Sitten der Völker, Torheiten und Laster und vieles andere.

Die bereisten Länder und Städte sind u.a.: In Deutschland: Spessart und Hanau, Magdeburg, Soest in Westfalen, Lippstadt, Köln, Wien und ein Kurort mit „Sauerbrunnen“ im Schwarzwald. Außerdem geht die Reise nach der Schweiz: Einsiedeln, Schaffhausen, Bern. Nach Paris in Frankreich. Nach Moskau, die Tartarei, Korea, Macao, Indien, Konstantinopel, Venedig, Rom. Nach Ägypten: Alexandrien. Schließlich nach einer südlichen Insel irgendwo bei Madagaskar. Die Rollen, in die Simplicius im Verlauf seines Lebens schlüpft, sind u.a.: Dorfdepp, Schüler, Narr, Soldat, Draufgänger und Jäger, Frauenheld, Ehemann, begehrter Schauspieler und Beau, Alchemist, Freund, Landwirt, Eremit, Pilger, Paradiesinselbewohner.

Einige der Abenteuer sind übertrieben phantastisch: Dreimal hat Simplicius es mit Geistern zu tun, jedesmal übrigens im Zusammenhang mit einem verborgenen Schatz. Einmal fährt er auf einer verhexten Bank zu einem Hexensabbat. Der Autor zwinkert mit den Augen dazu. In der Nachschrift schaut Simplicius die Hölle mit Lucifer. In der Mummelsee-Passage taucht Simplicius bis zum Mittelpunkt der Erde; das dabei geschilderte System von Wasserverbindungen von der Erdoberfläche zum Mittelpunkt der Erde könnte durch den Platonischen Mythos über das Schicksal der Seele nach ihrem Tode inspiriert worden sein (Dialog Phaidon 107d – 115a). Schließlich macht Simplicius zwei Fernreisen, einmal über Moskau bis Korea, dann nach Ägypten.

Der Leser wird zahlreiche Redewendungen wieder erkennen, die bis heute in der deutschen Sprache vorhanden sind und unsere Sprache lebendig machen. Man entdeckt auch ein entwickeltes deutsches Nationalbewusstsein; dieses ist also nicht erst im Gefolge der französischen Revolution entstanden. Für Grimmelshausen sind die Nationalstaaten klar abgesteckt, die typischen Eigenarten anderer Völker werden treffsicher beschrieben. Die Vision des Jupiter von einem Europa unter deutscher Führung kommt hinzu.

Das Buch ist auch sehr sozialkritisch. Man meint, ein Buch aus der Zeit der französischen Revolution in der Hand zu haben, wenn man die gesellschaftliche Hierarchie am Bild eines Baumes gezeigt bekommt, auf dem die Adligen hocken und um Karriere kungeln. Sehr modern wirkt auch die bereits angesprochene Vision des Jupiter über die Idealzukunft Europas, hier unter deutscher Führung. Ebenfalls verblüffend modern ist der Schluss des Buches: Simplicius flieht vor der Welt auf eine einsame Insel, wo er in Genügsamkeit paradiesisch lebt. Wer dächte da nicht an gewisse moderne westliche Menschen, die die Einfachheit weniger entwickelter Völker für das wahre Glück halten? Auch der Stil ist teils extrem modern. Das Buch scheint wie ein Verschnitt aus den Sonetten des Andreas Gryphius und den geistig weiten Überlegungen eines Montaigne.

Alles in allem macht das Buch einen wunderlich aufgeklärten Eindruck, der Autor zeigt eine sehr gesunde Skepsis und viel gesunden Menschenverstand, den er ohne Anleitung eines anderen benutzt. Er denkt auch nicht nur oberflächlich dahin, sondern macht sich tiefer seine Gedanken, jedoch immer aus der „Froschperspektive“ des Einzelnen; ein alternativer Gesellschaftsentwurf entsteht nicht. Zahllose Anspielungen auf antike Autoren sind eingeflochten, ebenso einige Verweise auf zeitgenössische Autoren. Der Autor muss extrem belesen und gut bekannt mit der antiken Geisteswelt gewesen sein, was seine Aufgeklärtheit besser verstehen lässt. Nett auch, wie er den Raimundus Lullus beurteilt, das muss man selbst gelesen haben und versteht es nur, wenn man sich selbst schon mit Lullus beschäftigt hat.

Dennoch bricht der Autor noch nicht aus dem Korsett des christlichen Weltbildes aus, sondern benutzt es, um in ihm seine Gedanken zu entfalten. Man muss hinter der Frage nach der christlichen Moral und der christlichen Glückseligkeit auf Erden dieselben Fragen in säkularisierter Form erkennen, sonst würde das Buch für moderne Leser unerträglich sein.

Die Bedeutsamkeit des Buches und sein Einfluss müssen als sehr hoch eingeschätzt werden. Es stellt sich z.B. die Frage, inwieweit Goethes Faust davon beeinflusst war: Auch dieses Werk ist eine Summe von Lebenserfahrung und Lebensweisheit, auch dies eine Wissensordnung, und auch hier wird vieles in christlichen Bildern ausgedrückt. Es gibt überhaupt zahlreiche Parallelen zwischen Goethes Faust und dem Simplicissimus des Grimmelshausen. Ein wahrhaft unergründliches und unerschöpfliches Werk!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

Hans Magnus Enzensberger: Z – Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (2014)

Enzensbergers Lebensweisheiten und Zeitgeistkritik in nuce

In einem Park taucht immer wieder Herr Z auf und beginnt Gespräche mit zufällig Anwesenden. Es entwickelt sich eine lose Runde. Das Buch soll einige dieser Gespräche aus der Erinnerung von Anwesenden wiedergeben.

In 259 nummerierten kurzen Abschnitten werden die verschiedensten Themen angeschnitten. Grundthema sind Lebensweisheiten und Kritik am Zeitgeist. Enzensberger in nuce, und vermutlich auch ein wenig zum Abschied, denn am Ende verabschiedet sich Herr Z und ward nicht mehr gesehen.

Sehr empfehlenswert. Man kann es von Anfang bis Ende durchlesen. Man kann aber auch eine beliebige Seite aufschlagen und zu lesen anfangen. Und man wird das Büchlein immer wieder zur Hand nehmen. Gewissermaßen eine kleine Mao-Bibel des Z’schen Denkens.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. April 2021)

Hans Jansen: Mohammed – eine Biographie (2005/07)

Das „Evangelium des Islam“ – Historische Kritik und Reformpotential

Die meisten Menschen lesen das falsche Buch, wenn sie sich über den Islam informieren wollen: Den Koran. Denn die Verse im Koran bleiben ohne einen historischen Zusammenhang, und über Mohammed sagt der Koran wenig oder gar nichts. Der zentrale Text des traditionalistischen Islam, der die Taten von Mohammed chronologisch erzählt und auf diese Weise eine Interpretation des Koran liefert, ist die Propheten-Biographie von Ibn Hischam. Dieses „Evangelium des Islam“ wurde erst (!) 200 Jahre nach Mohammed von Ibn Hischam geschrieben; angeblich auf der Grundlage einer vielleicht 50 Jahre älteren Propheten-Biographie von Ibn Ishaq.

Diese Propheten-Biographie aus dem 8./9. Jahrhundert ist die zentrale Grundlage des traditionalistischen Islam, nicht so sehr der Koran!

Hans Jansen versucht nun in seinem Buch „Mohammed, eine Biographie“ diese angebliche Lebensgeschichte Mohammeds, die ja erst lange nach Mohammed geschrieben wurde, und die darin enthaltene Ausdeutung des Koran zu hinterfragen: Was ist daran ein glaubwürdiger historischer Bericht und was ist spätere Legendenbildung? Und wenn eine Legendenbildung vorliegt, wie kam es zu dieser Legende?

Diese Hinterfragung gelingt Hans Jansen sehr gut. Am Ende weiß man, dass die Propheten-Biographie von Ibn Hischam bzw. Ibn Ishaq keine historische Biographie sondern eine Glaubensschrift ist, ganz genauso wie die Evangelien über das Leben Jesu. Man weiß also über die wirklichen Geschehnisse um Mohammed weniger als viele meinen. Vieles, was bei heutigen Muslimen für typisch islamisch gilt, ist höchstwahrscheinlich eine spätere Hinzuerfindung oder eine verzerrte und ausgeschmückte Version der wahren Begebenheiten.

Das eröffnet natürlich ein unerwartetes Potential für eine Reform des Islam:

So wie die Erforschung des „Urchristentums“ und des „historischen Jesus“ zu einem besseren und damit reformierten Verständnis des Christentums geführt haben, ganz genauso kann man sich Reformimpulse von der Erforschung des „Urislam“ und des „historischen Mohammed“ erhoffen. Das ist eine große Chance für alle modernen Muslime, die mit der Integration des Islam in die aufgeklärte, demokratische Gesellschaft ernst machen möchten. Wie war Mohammed wirklich? Das ist eine Frage, an der jeder Muslim brennend interessiert sein sollte.

Hinzu kommt, dass die Propheten-Biographie von Ibn Hischam bzw. Ibn Ishaq anders als der Koran kein heiliges, geoffenbartes Buch ist, sondern Menschenwerk: Hier ist Kritik viel leichter möglich als beim Koran.

Hans Jansen geht in seinem Buch sehr behutsam vor. Der Leser bekommt keine wissenschaftlichen Deutungen vor den Latz geknallt, die bei Menschen, die solches Hinterfragen nicht gewohnt sind, gläubigen Trotz provozieren müssen. Im Gegenteil: Das Buch arbeitet viel mit offenen Fragen: Klingt dies glaubwürdig? Ist jenes nicht ein seltsamer Zufall? Hört sich das nicht genauso an wie der Bibelvers xy? – Manchmal übertreibt der Autor es sogar mit der Behutsamkeit, wenn er z.B. die Ergebnisse der historisch-kritischen Methode nicht über den Glauben an eine sichtlich ausgeschmückte Legende stellen will.

Das Buch hat aber auch einige Nachteile:

Zunächst bleibt das Buch oft dabei stehen, die Legenden um Mohammed zu hinterfragen, ohne Anhaltspunkte dafür zu geben, was denn statt dessen wirklich geschah. Nachdem sich manche wohlvertraute Deutung von Koranversen durch Hans Jansens Buch in Luft aufgelöst hat, hätte man gerne mehr über die wahren Hintergründe von diversen Koranversen gewusst.

Größter Malus: Vor allem im Nachwort fokussiert sich der Autor ziemlich überraschend und kurz angebunden auf die These, dass es Mohammed als historische Person vielleicht gar nicht gab. Das ist zwar eine legitime wissenschaftliche These (von mehreren), aber als Quintessenz dieses Buches völlig unpassend. Dieses Buch zeigt vor allem, dass die überlieferten Legenden nicht stimmen können. Was aber statt dessen wahr ist, dazu führt dieses Buch so gut wie keine Argumentation.

PS 17.08.2024

Der Verlag hat später offenbar den folgenden Untertitel hinzugefügt: „Der historische Mohammed – was wir wirklich über ihn wissen“. Dieser Untertitel ist insofern unpassend, als das Buch deutlich mehr dazu sagt, was wir nicht wissen, als dazu, was wir wissen. Wer wissen will, was man von Mohammed weiß, sollte z.B. Tom Holland lesen: In the Shadow of the Sword / Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs (2012).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. April 2016)

Leïla Slimani: Dann schlaf auch Du (2016)

Tödlicher Clash einer unentfalten, verklemmten Nanny mit geistlosen Zeitgeist-Eltern

Der Roman beginnt mit dem Ende: Eine nahezu perfekte Nanny begeht plötzlich erweiterten Suizid mit den ihr anvertrauten Kindern. Wie konnte es dazu kommen?

Der Roman schildert den Weg dorthin, und es zeigt sich, dass diese Nanny aufgrund ihres Werdegangs eine unentfaltete, verklemmte Person ist, die sich in naiven Träumen verliert. Sie kann auf Anfragen der Wirklichkeit nicht adäquat reagieren, und sie lässt passiv mit sich geschehen, was andere mit ihr tun. Und es wird einiges mit ihr getan: Die Eltern gewöhnen sich schnell an den Rundum-Service, den die Nanny auch als Putzfrau und Köchin bietet, ohne sie dafür angemessen zu bezahlen. Von einer Freundin lässt sich die Nanny mit einem Mann verkuppeln, an dem sie eigentlich nichts findet. Wenn Rechnungen kommen, wenn Kritik von Schulleitern oder ihren Arbeitgebern kommt, wenn in ihrer Wohnung etwas kaputt geht: Die Nanny ist geistig nicht in der Lage, sich konstruktiv mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, und verdrängt sie einfach.

Die Eltern, die die Nanny engagiert haben, nutzen sie aus, und merken es noch nicht einmal. Obwohl sie im linksliberalen Zeitgeist ihres Milieus mitschwimmen, denken und handeln sie immer wieder gegen ihre eigenen Grundsätze. Sie schämen sich zwar jedesmal dafür, aber nur ein klein wenig. Und sie haben keinerlei Gespür für die Probleme der Nanny. Das Leben dieser Eltern hatte sich nämlich relativ problemlos entfaltet, man möchte fast sagen: zu problemlos, und jetzt schwelgen sie in geistloser Selbstverwirklichung im Job und im Konsum, und die Nanny sorgt dafür, dass ihre Kinder dabei nicht „stören“. Das linksliberale Milieu ist voll von solchen geistlosen Erfolgstypen.

Hier denkt man an Botho Strauß: „Die Würde der bettelnden Zigeunerin sehe ich auf den ersten Blick. Nach der Würde … meines deformierten, vergnügungslärmigen Landsmannes in der Gesamtheit seiner Anspruchsunverschämtheit muß ich lange, wenn nicht vergeblich suchen. Wie sähe, denke ich oft, mein protziger Nächster aus, wenn ihn der jähe Schmerz oder Kummer träfe? Vielleicht träte zum Vorschein dann seine Würde.“
(Anschwellender Bocksgesang, Der Spiegel 6/1993)

Am Ende kollidieren die Träume der Nanny mit der Wirklichkeit und es kommt zur Katastrophe.

Der Roman liefert dem Leser kein einfaches Lagebild. Der verunglückte Charakter der Nanny wird nicht auf ein einzelnes, bestimmtes Trauma zurückgeführt, das ihr zugefügt worden wäre. Vielmehr ist ihr ganzer Werdegang verkorkst. Es ist auch keine „soziale“ Frage wie manche meinen. Arm sein und unentfaltet sein ist nicht dasselbe. Man sollte auch nicht meinen, dass die Nanny krank war, denn es gibt keine einzige Andeutung dazu. Sie ist einfach nur verkorkst und verklemmt.

Auch das problematische Verhalten der Eltern kristallisiert sich nicht anhand einer einzelnen Missetat heraus, sondern es sind viele kleine Lebenslügen und Fehleinschätzungen, die ins Verhängnis führen. Insofern gibt der Roman ein sehr realistisches Bild ab, denn die Schicksale der Menschen entscheiden sich selten an einzelnen, ganz großen Ereignissen, sondern an vielen kleinen Dingen im Laufe ihres Werdeganges. Das aber ist gerade das Erschreckende an diesem Roman, dass eine Katastrophe sich aus vielen kleinen Dingen heraus aufbaut: Denn diese harmlos scheinende Wirklichkeit der kleinen Nickeligkeiten und Lebenslügen ist die Wirklichkeit der allermeisten Menschen.

Was hätte man tun sollen?

Die Nanny hätte sich ihrer Lage bewusst werden sollen, und schrittweise einen Weg heraus finden müssen. Einen Job und eine Wohnung hatte sie. Bekannte und eine Freundin, die ihr halfen, hatte sie auch. Sie hätte es schaffen können! Solange sie nicht krank war, und davon ist im Roman mit keiner Silbe die Rede, gibt es da keine Ausreden! – Die Eltern wiederum hätten sich entscheiden müssen: Entweder hätten sie die Nanny wirklich zu einem Teil der Familie machen sollen. Dann hätten sie sie auch psychisch einbinden und ihr geistig helfen sollen, und vor allem auch angemessen bezahlen. Oder die Eltern hätten eine klare Grenze ziehen und den Kontakt auf einen zeitlich und aufgabenmäßig klar begrenzten Job reduzieren müssen, so dass die Nanny von vornherein keine falschen Träume hätte entwickeln können und gewusst hätte: Ihr Glück muss sie woanders suchen.

Fazit: Tolles, nachdenklich machendes Buch!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. November 2019)

Franziska Schreiber: Inside AfD – Der Bericht einer Aussteigerin (2018)

Authentischer Insider-Bericht einer moralisch integren Ex-AfDlerin

Franziska Schreiber ist vermutlich die erste Aussteigerin aus der AfD, die nicht nur Interviews gibt, sondern ihre traumatisierenden Erlebnisse in einem Buch verarbeitet hat. Sie kann authentisch berichten: Es ist wirklich schlimm geworden mit der AfD.

Der Leser erlebt mit diesem Buch alles noch einmal mit, wie es war:

Anfangs war die AfD ein legitimes und sogar notwendiges demokratisches Projekt: Durch die sogenannte „Euro-Rettung“ wurden und werden die europäischen Verträge (von Verfassungsrang) gebrochen und unfasslich hohe Summen Geldes völlig sinnlos zum Fenster hinausgeworfen. Zudem werden die europäischen Südländer ökonomisch geknebelt. Auch die chaotische und oft rechtswidrige Zuwanderungspolitik ist ein großes Problem. In der Integrationspolitik gibt es völlig falsche Weichenstellungen zum Aufbau von Parallelgesellschaften, von denen einige zudem undemokratisch, frauenfeindlich und kriminell sind. Die EU hat sich bürokratisch statt demokratisch und planwirtschaftlich statt marktwirtschaftlich entwickelt. Die demokratische Kritik von Karl Jaspers an der „Parteienoligarchie“ der BRD aus den 60er Jahren ist nach wie vor berechtigt. Und Franziska Schreiber erklärt in sehr beachtenswerten Worten, warum die ostdeutschen Bürger sich in der BRD nicht mitgenommen fühlen. Ein Kollaps des Systems steht zwar nicht bevor, aber dass die derzeit Regierenden aus ideologischer Selbstverklemmung viel dafür tun, dass es uns allen deutlich schlechter gehen wird, ist unübersehbar.

Aber leider verlief sich der hoffnungsfrohe und elektrisierende Aufbruch gegen den Mehltau des immer undemokratischer werdenden etablierten Politik- und Medienbetriebes ins Leere. Denn die neue Partei füllte sich immer mehr mit rechtsradikal motivierten Mitgliedern. Zweimal wechselte die Partei ihre(n) Vorsitzende(n) aus (Lucke und Petry), bis sie schließlich zu jener rechtsradikalen Gauland-AfD geworden war, die sie heute ist. Im Grunde eine NPD in Nadelstreifen.

Die Autorin beschreibt eindrücklich, wie die Vorurteile und verzerrten Darstellungen der Medien dazu beitrugen, dass sich die falschen Leute von dieser Partei angezogen fühlten. Sie beschreibt, wie der neue Anspruch auf schrankenlose Meinungsfreiheit und Basisdemokratie die Parteiführung immer mehr nach rechts zwang. Sie beschreibt, wie die Liberalen in der Partei durch taktische Spiele und Bündnisse versuchten, die Partei zu retten, und dabei (fast) ihre Seele verkauften. Es wird deutlich, dass sich in der AfD immer mehr Menschen mit einem destruktiven Charakter sammelten, die in allem nur das Schlechte sehen wollen, und unfähig dazu sind, konstruktive Lösungen zu erarbeiten, die auch Kompromisse und die Anerkennung von Realitäten erfordert hätten. Es wird gezeigt, wie sich hinter legalen und legitimen Aussagen ganz andere Absichten und Ansprüche verbergen. Es gab nicht den einen „Rechtsruck“, sondern ein allmähliches Hinübergleiten ins Rechtsradikale. Die AfD war damit an derselben Problematik gescheitert, wie alle ähnlichen Gründungen zuvor auch schon: Die Republikaner, die Schill-Partei, die Partei „Die Freiheit“.

Fazit

Die Kernbotschaft des Buches ist so simpel wie einfach: Das gute und wichtige Projekt AfD ist gescheitert. Wählt diese Partei nicht mehr! Diese Partei lebt nur noch von dem Nimbus, den sie einmal hatte. Wo die Medien früher Dinge unfair verzerrt hatten, berichten sie heute leider die böse Wahrheit über die AfD. Irgendwann wird auch der Letzte kapieren, dass der Lack ab ist. Die AfD ist die NPD in Nadelstreifen. Selbst die anderen europäischen Rechtspopulisten, die selbst bekanntlich auch keine Waisenknaben sind, fragen sich inzwischen, ob die AfD nicht zu radikal für sie geworden ist.

Defizite dieses Buches

Das Buch bringt seine Botschaft für verständige Menschen verlässlich rüber, dennoch hat es auch Defizite. An einigen Stellen argumentiert die Autorin leider etwas ungeschickt, so dass der Leser den Eindruck bekommt, dass völlig legitime und korrekte Positionen für radikal gehalten werden. Es gilt natürlich, hinter den Vorhang des legalen Anspruchs zu schauen. Es ist durchaus legitim, eine konservative Familienpolitik zu wollen. Es ist legitim, die deutsche Kultur des deutschen Staatsvolkes erhalten zu wollen. Der Anstieg der Gewaltkriminalität im Zuge der Balkanroute 2015 ist Realität, auch wenn die Medien sich um diese klare Aussage herummogeln. Eine gewisse Geringschätzung der deutschen Fahne außerhalb der Fußball-WM gibt es leider doch. Vollverschleierung ist leider nicht so selten und auch nicht so unproblematisch, wie dargestellt. Und Kinder mit Migrationshintergrund sind nicht allein deshalb schon integriert, weil sie einen deutschen Pass haben; leider nicht.

Teilweise werden Bezeichnungen für Rechtsradikalität verwendet, die dafür unpassend sind, so z.B. „Nationalkonservative“, „Neocons“, „Patrioten“, „Rechte“. Es wäre ja schön, wenn die AfD nur rechts, aber nicht rechtsradikal wäre. Schön wäre es, wenn die AfD voller konservativer Patrioten oder Neokonservativer wäre. Aber es sind Rechtsradikale. Und so sollte man sie auch nennen. Man sollte sich die guten Worte nicht von der Gauland-AfD mit anderer Bedeutung überschreiben lassen. Genauso wie man sich Worte wie „Humanismus“, „Demokratie“ und „Aufklärung“ nicht von den Linken mit anderer Bedeutung überschreiben lassen sollte.

Teilweise werden die problematischen Aussagen von AfDlern nicht präzise genug analysiert, so dass die Kritik Gefahr läuft, die Pointe zu verpassen. So hatte Bernd Höcke z.B. in seiner zweifelsohne schrägen Rede über den „Ausbreitungstyp“, anders als die Autorin es darstellt, keineswegs behauptet, dass dieser genetisch angeboren sei. Das ist nur eine Deutungsmöglichkeit, die noch nicht einmal nahe liegt, wenn man bedenkt, dass Höcke eine Änderung des Fortpflanzungstyps durch eine Änderung der Politik in Afrika forderte. Im Nachhinein kann man natürlich sagen: Das war Absicht von Höcke. Er wollte tatsächlich, dass es so verstanden wird. Aber wirklich gesagt hat er es nicht. Das ist ja gerade die Masche, die von der Autorin an anderen Beispielen besser dargestellt wurde.

In einem Punkt scheint die Autorin Frauke Petry zu Unrecht in Schutz zu nehmen. Es geht um die Ereignisse im Stuttgarter Landtag 2016, als Meuthen die Fraktion spaltete, nachdem die Hälfte der Abgeordneten den glasklaren Antisemiten Gedeon nicht ausschließen wollte. Frauke Petry hatte hier nicht genügend erkannt, dass Gedeon nicht das Hauptproblem war, sondern diese Gedeon-Schützer. Frauke Petry stellte es damals so dar, als sei alles in Ordnung, nachdem sie Gedeon zum Gehen bewegen konnte. Aber wer einen glasklaren Antisemiten nicht ausschließt, auf den fällt der Antisemitismus selbst zurück. Da ist in der Politik keinerlei Naivität erlaubt. Meuthen hatte dieses Problem mit seiner Fraktionsspaltung besser beantwortet als Petry. – Dass die AfD-Basis die Fraktionsspaltung nicht verstand und ablehnte, und dass Meuthen später zusammen mit Gauland die Fraktion sang- und klanglos wieder vereinigte, war das erste öffentlich erkennbare Fanal, dass die AfD auch von ihrer Führung her in den Radikalismus abgerutscht war.

Am Ende des Buches bekommt der Leser den Eindruck vermittelt, dass doch alles wieder irgendwie in Ordnung wäre mit Deutschland. Es wird am Ende des Buches nicht noch einmal herausgestellt, dass die schwerwiegenden Probleme, wegen derer die AfD sich legitimerweise gegründet hatte, immer noch existieren. Und dass das Scheitern der AfD leider auch ein gewisses Scheitern unserer Demokratie als ganzes bedeutet, sowie ein ungehindertes Voranschreiten der etablierten Parteien auf ganz falschen Wegen. Der Schluss des Buches ist zu optimistisch! Wie wenn es keine Eurokrise gäbe. Wie wenn die Asylkrise gelöst wäre. Wie wenn die Integration in Deutschland auf einem guten Weg wäre. Wie wenn es keine Brüche von Recht und Verfassung gäbe. Die Probleme sind weiterhin da, und sie werden uns allen tonnenschwer auf die Füße fallen. Nicht als Weltuntergang, aber doch als große Belastung für viele Generationen.

Halbwegs rationale AfD-Anhänger, die durch Argumente noch erreicht werden können, könnten sich durch dieses Buch wegen der genannten Defizite unerschüttert zeigen. – AfD-Gegner hingegen könnten sich durch dieses Buch in dem falschen Glauben bestätigt sehen, dass die AfD schon immer eine unnötige und überflüssige Partei war, und dass doch alles in Ordnung sei in Deutschland. Dafür gibt es zwei Punkte Abzug. Aber weil’s nun einmal ein echt authentisches Werk ist, das nun einmal so ist wie es ist, gibt es einen Pluspunkt, also im ganzen nur einen Punkt Abzug.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. August 2018)

Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz (1973)

Ein weises Buch von geradezu mythischer Kraft

Dieses Buch ist ganz anders als andere Bücher von Astrid Lindgren. Weniger lustig. Ernster. Trauriger. Aber auch tröstend. Und unsagbar weise. Zudem Hoffnung und ein gewisses Urvertrauen gebend.

Das Buch erzählt die Geschichte von Krümel, dem kleinen Bruder von Jonathan, der an einer Krankheit jung sterben muss. Zuvor erzählt ihm Jonathan davon, dass man nach dem Tod nach Nangijala gelangt, dem Land der Abenteuer, Sagen und Lagerfeuer. Durch ein Unglück stirbt Jonathan noch vor seinem kleinen Bruder, und beide treffen sich bald im Kirschtal in Nangijala wieder. Doch das Paradies, das sie dort erwartet, entpuppt sich als eine Welt mit Problemen, und ein Abenteuer auf Leben und Tod beginnt. Am Ende stehen beide Brüder wieder vor dem Tod, und Jonathan erzählt von Nangilima, dem Land, in das sie als nächstes kommen werden.

Diese Geschichte erscheint märchenhaft, sie wird aber in einer so einfachen, elementaren und bildkräftigen Weise erzählt, und spricht so elementare Themen an, dass dieses Buch bei aufnahmefähigen Naturen eine geradezu mythische Kraft entfalten kann: Ein Gewinnen von Erkenntnissen über die Welt und sich selbst, was Realismus und den „kleinen“ Mut fördert, und eine Hoffnung und ein Urvertrauen, dass es Unglück, Versagen, Verlust, Scheitern und Tod geben kann, dass dies aber dennoch nicht das Ende sein muss – durch mythischen Mitvollzug und Aufgehen in der Geschichte.

Auch ich habe es nach Jahrzehnten noch einmal als Erwachsener gelesen, wie so viele hier, und war gerührt und überrascht, wieviel darin steckt, wieviel man daraus mitgenommen hatte. Ein erstaunliches Phänomen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Juli 2018)

Thilo Sarrazin: Wunschdenken – Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert (2016)

Handbuch für kommende Politiker – lesenswerte Zusammenstellung

In diesem Buch abstrahiert Sarrazin völlig von den aktuellen Problemen und erklärt, was gute Politik ausmacht, und wie der Politikbetrieb funktioniert. Die aktuellen Probleme kommen zwar vor, werden aber als Fallbeispiele für schlechte Politik besprochen. Damit hat Sarrazin eine Art Handbuch für künftige Politiker geschrieben, aber auch eine Grundlage des Verstehens für Wähler gelegt, warum Politik so läuft wie sie läuft. Es gibt nicht die große Verschwörung, sondern es gibt viel Dummheit und Machtgerangel.

Sarrazin erklärt einmal mehr, wie gute Politik aussehen sollte, und warum die aktuelle Politik falsch ist, denn sie beruht auf Wunschdenken, das die Realität ausblendet. Der gute Politiker sollte eine langfristige Perspektive haben, auch eine Rückbindung an Philosophie, hier z.B. Karl Popper. Kurzfristig wird er jedoch wenig erreichen, und seine Themen nur durchsetzen, wenn der Moment günstig ist. Nicht das bessere Argument, sondern Machtkonstellationen entscheiden häufig darüber, welche politische Meinung sich durchsetzt.

Für erfahrene Vielleser ist das Buch ein wenig hausbacken und wiederholt vieles, was man auch woanders her schon kennt. Doch es ist eine schöne Zusammenstellung von Überlegungen, die – wie gesagt – fast schon Handbuchcharakter haben.

Was fehlt ist eine Besprechung der konkreten Mode-Ideologien, die den Zeitgeist früher und heute beherrschen, sagen wir angefangen mit den 1950er Jahren.

Außerdem ist Sarrazin gegenüber militärischen Interventionen in Nahost zu skeptisch. Sicher wurde dabei auch schon viel falsch gemacht, aber gar nicht zu intervenieren könnte auch falsch sein. Obama hat den Nahen Osten jedenfalls nicht friedlicher gemacht, indem er in Ägypten den Muslimbruder-Präsidenten stützte, in Syrien mitzündelte, in Libyen Gaddafi wegbombardierte, ohne einen Plan für das Danach zu haben, und natürlich auch die Truppen aus dem Irak kopflos abzog, um die Bahn für den IS freizumachen, der dann aus Syrien in den Irak einfiel. George W. Bush hingegen hat den Irakkrieg vor Ort durchgefochten, bis der Terror besiegt war, und ist darüber hinaus dort geblieben, und bis heute stellen die irakischen Kurden und die irakische Regierung zwei (den Umständen entsprechend) demokratische Stabilitätsfaktoren in der Region dar, die sich George W. Bush verdanken, und die heute den Kampf gegen den IS führen. Man muss eine Intervention eben ganz oder gar nicht machen, könnte man sagen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. Oktober 2016)

Knut Hamsun: Pan – Aus Leutnant Glahns Papieren (1894)

Hymne auf den faschistischen Charakter – ein schreckliches Buch

Die Erzählung „Pan“ von Knut Hamsun ist keine Liebesgeschichte, wie vielfach behauptet wird, sondern die Geschichte eines äußerst merkwürdigen jungen Mannes. Es geht um Leutnant Thomas Glahn, Ende 20, der im größten Teil des Buches im Norden Norwegens gezeigt wird: Bei einem offenbar monatelang ausgedehnten Aufenthalt auf einer Hütte am Waldrand, nahe einer kleinen Ansammlung von Häusern „in the middle of nowhere“.

Am Anfang finden wir Thomas Glahn in einsamer Harmonie mit der Natur. Doch fragt sich der Leser, wie denn ein junger Mann Ende 20 ein solches Leben führen kann?! Monatelanges Nichtstun! Diese Form des Lebens eignet sich für Kinder, die geistig noch nicht erwacht sind, oder für Rentner, die in ihrem Leben schon genug geleistet haben, um gelassen darauf zurückblicken zu können. Aber so lebt und denkt doch kein lediger junger Mann Ende 20! Ein solcher sollte tunlichst einen inneren Drang danach verspüren, etwas zu werden und zu bewegen und zu erreichen in der Welt. Man fühlt sich spontan an den „Aufstand der Massen“ von Ortega y Gasset erinnert, der als eines der Symptome des Heraufdämmerns des Faschismus in Europa den „zufriedenen jungen Herrn“ nennt. Einen solchen sollte es nämlich eigentlich gar nicht geben, und wo es ihn doch gibt, da ist er ein Symptom für eine Krankheit der Gesellschaft.

Dann finden wir Glahn verliebt in Edvarda, die Tochter des örtlichen Kleinkrämers. Diese Liebesgeschichte nimmt sich jedoch sehr merkwürdig aus. Sie ist etwa 16, er kurz vor 30, also ungefähr doppelt so alt. Dieser Altersunterschied ist in jungen Jahren von einigem Gewicht. Im Grunde „vernarrt“ sich Glahn in die junge Frau, „Liebe“ ist das falsche Wort. Es entwickelt sich eine Art von Liebelei, aber er kommt nicht richtig aus sich heraus, und sie ignoriert ihn immer wieder systematisch, und man weiß nicht, warum. Das ganze macht schon einen sehr verklemmten Eindruck. Von beiden Seiten.

Nach dem ersten Drittel des Buches erfährt man, dass Edvarda in Wahrheit 20 Jahre alt sein soll. Sie sei ein ungezogener Charakter und liebt es angeblich, sich die Wirklichkeit irrational zurechtzubiegen, und ihre Umgebung zu manipulieren und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Doch gegen Ende des Buches erfährt man, dass Edvarda während des Sommers gewachsen war: Sie kann also nicht 20 gewesen sein, sondern wohl doch eher 16. Da der Erzähler in diesem Teil Glahn selbst ist, hat er uns wohl angelogen.

Glahn nimmt die Frauen wie im Flug für sich ein, und es sind jeweils die Frauen, die den ersten Schritt auf ihn zu machen. Neben Edvarda entwickelt sich auch eine Liebelei mit Eva, der Tochter des Schmieds, die sich als die Ehefrau des Schmieds entpuppen wird, und ganz am Rande auch noch eine Henriette, von der wir nicht viel erfahren. Es ist mit diesen Liebeleien ein ewiges Hin-und-her, auch Eifersucht spielt natürlich hinein, doch teilweise vergisst Glahn seine Freundinnen auch erstaunlich schnell wieder. Frauen tauchen in diesem Buch durchweg als dienstbare Geister ihrer Väter und Ehemänner auf; selbständiges Denken ist hingegen nicht gefragt, aber das ist bei diesem Buch auch kein Wunder, wie wir gleich sehen werden.

Eine weitere Merkwürdigkeit ist Glahns Unfähigkeit, sich in Gesellschaft geschickt zu benehmen. Doch dabei bleibt es nicht: Glahn begeht wiederholt völlig aus dem Ruder laufende Unvernünftigkeiten:

  • Glahn wirft unvermittelt den Schuh von Edvarda vor aller Augen ins Wasser, und im nächsten Moment weiß er selbst nicht mehr, was das sollte.
  • Glahn schießt sich buchstäblich selbst in den Fuß, mutwillig und sinnlos.
  • Glahn spuckt einem Baron vor aller Augen unvermittelt ins Ohr.
  • Glahn nimmt eine sinnlose Sprengung vor, durch die Eva zu Tode kommt.
  • Glahn erschießt seinen treuen Hund (So ein A…loch!), um ihn dann wie versprochen (allein das schon unsinnig) an seine inzwischen zu Eis erkaltete Liebe Edvarda zu verschenken.

Und in seiner Rückschau, als die die Erzählung angelegt ist, schreibt uns Glahn, dass er über alle diese Dinge schreibe, weil es ihm „Vergnügen“ (!) mache, als Zeitvertreib, weil er angeblich – schon wieder – nichts besseres zu tun habe.

Hier geht es nicht um sinnreiche Themen wie z.B. Schüchternheit und Ungeschick im gesellschaftlichen Umgang, die durch Ermunterung, Humor und eine geänderte Einstellung überwunden werden. Oder gar um das Thema des eigenwilligen, klugen Menschen, der mit der Gesellschaft naturgemäß im Clinch liegt, und sich einen Platz in der Gesellschaft als geduldeter Exzentriker, gefragter Querdenker oder bewunderter Erfolgsmensch erobern muss. Das alles ist es nicht.

Es ist vielmehr eine Art Krankheit, eine pathologische Charakterschwäche, eine psychische Gestörtheit. Glahn ist ein kindischer Tiermensch mit „Tierblick“, ein irrationales Wesen, dessen Willkür und Emotionalität nicht durch Rationalität und Pflichtbewusstsein gezähmt und gezügelt worden sind. Glahn ist irre und wild, letztlich barbarisch. Die glatte Gegenthese zu Humanität und Aufklärung. Im Schlussteil des Buches erfahren wir, dass Leutnant Thomas Glahn auch andernorts in dieser Art fortfährt, in irrer Willkür zu handeln, bis er schließlich einen Kameraden provoziert, ihn zu erschießen.

Der zentrale Satz des Buches lautet: „Ach, es war kein klarer Gedanke in meinem Kopf.“ (S. 120), und ein häufig verwendetes Adjektiv ist „berauscht“. Glahn „fühlt“ in der Natur auch Gott in allen Dingen. Dies ist kein philosophisches Weltbild, kein Pantheismus des Gedankens, sondern eher ein Schamanismus des religiösen Gefühls, eine abergläubische Ideologie.

Und hier sind wir am Kern der Sache:

Knut Hamsun feiert in „Pan“ das barbarische „Denken“, den „freien“ Geist als Gegenthese zu Humanismus und Rationalität. Der knorrige Pan ist der Tiermensch aus den Wäldern, der Inbegriff des von jeder Zivilisation „verschonten“ Barbaren schlechthin, dem rauschhaften Gotte Dionysos zugehörig. Dionysos ist traditionell der Gegenspieler zu Apollon, dem Gott der Vernunft und der Ordnung, des Wahren und des Schönen, dem die Musen zugehörig sind.

Offenbar wird Knut Hamsun mit Recht als ein faschistischer Autor eingeordnet. Hamsun begrüßte den Aufstieg von Hitler, dessen Weltanschauung und Charakter genau denselben Gesetzen gehorchte, die wir bei Thomas Glahn finden. Und wir finden dieses „Denken“ auch bei Richard Wagner, dem Vorbild Hitlers. Es stimmt alles überein, bis hin zum nekrophilen Charakter und der Selbsttötung. Wir sehen hier nicht den Triumph eines rationalen Willens, sondern den Triumph einer barbarischen Willkür, die letztlich ins Verderben führen muss, und eigentlich nur lächerlich ist. Offenbar nicht für Knut Hamsun.

Ein weiterer Fingerzeig auf Hamsuns Einstellung ist sein Vorsprechen bei Hitler, um die Greueltaten der Nationalsozialisten in Norwegen, deren Anwesenheit Hamsun grundsätzlich begrüßte, zu mildern. Was eine Heldentat hätte sein können, denn Hamsun war einer der ganz wenigen, die Hitler ins Angesicht widerstanden, war natürlich einfach nur der naive Schildbürgerstreich eines politischen Kleingeistes. Was dabei aber auffällt, ist die Wortwahl Hamsuns. Hamsun zu Hitler: „Die Methoden des Reichskommissars eignen sich nicht für uns, seine ‚Preußerei‘ ist bei uns unannehmbar, und dann die Hinrichtungen – wir wollen nicht mehr!“

Die Methoden der Nazis als „Preußerei“ zu bezeichnen ist wahrlich der Gipfel. Wenn es denn nur „preußisch“ zugegangen wäre in Norwegen! Denn Preußen steht (auch) für Immanuel Kant, den Eckstein des Rationalismus, oder für Friedrich den Großen, der die Aufklärung in Deutschland populär machte, oder für Karl Friedrich Schinkel, der Berlin in ein „Spree-Athen“ verwandelte, oder für Wilhelm von Humboldt, der mit Gymnasium und Universität die Institutionen für die humanistische Bildung schuf und zudem den politischen Liberalismus begründete, oder für Alexander von Humboldt, der für Menschenrechte und Wissenschaft steht. Preußen steht für eine Rezeption der Antike im Hinblick auf Humanismus und Aufklärung, sowie für Selbstdisziplin und Rechtsstaatlichkeit. Selbst ein verunglückter Charakter wie Kaiser Wilhelm II. widerstand noch den Nationalsozialisten und ihren Umwerbungsversuchen in seinem Exil. Und noch Marcel Reich-Ranicki fand wiederholt lobende Worte für das „preußische Gymnasium“ mitten im Nationalsozialismus, während er negative Geschehnisse lieber mit dem Wort „deutsch“ charakterisierte. Wer Preußen in einen Topf mit den Nationalsozialisten und ihren Untaten wirft, hat intellektuell schon verloren. Der derbe Pöbelgeist des Faschismus und ein moderner, liberaler Konservativismus sind eben nicht dasselbe, sondern grundverschieden. Doch Knut Hamsuns Irrtum ist noch verrückter: Denn für ihn ist Preußen das Böse, und der Nationalsozialismus das Gute. Verkehrte Welt …

Literarisch gelungen sind an diesem Buch lediglich die Passagen, die Leutnant Glahn in seiner einsamen Verbundenheit mit der Natur zeigen. Die Harmonie, Zeitverlorenheit und die Geborgenheit, die Glahn inmitten der Natur erlebt, wird gut geschildert, und ist auch schön zu lesen. Ebenfalls noch literarisch gekonnt ist die Schilderung, wie diese Harmonie verloren geht, als Glahn Edvarda kennenlernt, noch bevor er sich bewusst wird, dass er sie liebt. Danach kommt nichts mehr. Die Erzählung ist als Gedankenschau Glahns angelegt. Teils erzählt er für sich selbst, teils gibt er unvermittelt Dialoge wieder. Das eine geht fließend ins andere über. Es ist oft schwerfällig zu lesen, hölzern und unlebendig. Hamsun benutzt außerdem Mythen, Märchen, Metaphern und dunkle Andeutungen. Rational fassbare Dinge kann man von diesem Autor wohl eher nicht erwarten.

Fazit

Ein schreckliches Buch! Wie dtv mit dem Spruch „eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur“ Werbung dafür machen kann, erschließt sich nicht.

Empfehlung einer besseren Alternative

Wer über Harmonie mit der Natur lesen möchte, wer ein strebendes Leben ohne Müßiggang erleben möchte, wer eine schöne, schwungvolle, geistig niveauvolle Liebesgeschichte vorgeführt bekommen möchte, und wer ein tragisches Ende sehen will, aber tragisch im Vollsinn des Wortes, d.h. unter bejahender Annahme des Schicksals, dem sei unbedingt „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ von Friedrich Hölderlin empfohlen! Das ist wirksames Gegengift.

Nicht zufällig schrieb einer der großen Hölderlin-Kenner, Pierre Bertaux, auch eine Rede zum 200. Todestag von Friedrich dem Großen für eine Feier auf Schloss Hohenzollern. Er charakterisierte diesen Preußenkönig als „Philosophen im französischen Sinn“, denn er habe „Vernunft als gesunden Menschenverstand kultiviert.“ – Der knorrige Pan jedoch, und diese verkrüppelte Geschichte des finsteren Herrn Hamsun, sie sollen uns gestohlen bleiben! Weg damit!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. Dezember 2018)

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