Schlagwort: Sachbuch (Seite 1 von 9)

J.D. Vance: Hillbilly-Elegie – Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise (2016)

Soziale Selbstblockaden und sozialer Aufstieg – ein großes Lehrstück für jedermann und jede Zeit

Der Hintergrund der Hillbilly-Elegie von J.D. Vance ist die soziale Situation der sogenannten „Hillbillies“, d.h. der Nachfahren von iro-schottischen Einwanderern, die aus den Apalachen in die Industriestädte gezogen waren, um dort als Arbeiter ihr Geld zu verdienen – und welches Schicksal sie ereilte, als die Industrie abzusterben begann. Das zentrale Thema des Buches sind aber nicht die äußeren Umstände der Verarmung und sozialen Verelendung der Hillbillies, sondern die Denk- und Verhaltensweisen der Hillbillies, mit denen sie sich selbst in ihrer misslichen Lage gefangen halten.

Hillbillies sind bildungsferne Menschen. Sie erkennen den Wert einer guten Schulbildung nicht und können sich außer einem Industriearbeitsplatz nichts anderes vorstellen. Hillbillies sind außerdem sehr auf die Familienehre bedacht, und sie werden leicht gewalttätig. Damit verbauen sie sich aber oft genug selbst jede Chance auf Aufstieg. Ehen zerbrechen und Kinder wachsen in instabilen Verhältnissen auf. Hillbillies verlassen ihren Wohnort auch nicht, wenn es dort keine Arbeit mehr gibt, sondern bleiben. Soziale Wohltaten des Staates töten zudem jede Motivation, sich anzustrengen. Die Schuld für alle Probleme wird immer bei anderen gesucht. Religion spielt ebenfalls eine Rolle, aber eher im Sinne von Aberglauben. Ein konsequenter religiöser Glaube wirkt in diesem Milieu stabilisierend.

J.D. Vance hatte das Glück, zwei Großeltern gehabt zu haben, die ihm die nötige Stabilität und die nötigen Impulse geben konnten, um sich aus dem Milieu zu befreien. Wir können J.D. Vance dabei zusehen, wie er sich Schritt für Schritt aus dem Sumpf befreit, dabei immer wieder Hilfe von anderen – und durch Zufälle – erfährt, und auch immer wieder umdenken und sich selbst hinterfragen muss. So praktisch und realistisch hat man das noch nicht gelesen. Es ist sehr überzeugend.

Sehr interessant auch zu lesen, wie J.D. Vance bei den Marines die nötige Charakterstärke erlernte. Spätestens hier wird sich auch ein Mittelschicht-Leser fragen: Warum habe ich solche Dinge nicht gelernt? Warum werden solche nützlichen Dinge nicht in der Schule gelehrt? Interessant auch der Werdegang von J.D. Vance an der Universität: Kommunikation und Beziehungen zu Menschen sind das A und O beim Fortkommen, nicht nur an der Uni. Besonders stark sind die Passagen, in denen J.D. Vance auch später noch erkennen muss, dass er immer noch schädliche Charakterzüge der Hillbillies in sich trägt, die je nach Gelegenheit emotional aus ihm hervorbrechen, obwohl er glaubte, bereits alles durchschaut zu haben.

J.D. Vance hat die Probleme seines Milieus in der Wissenschaft analysiert gefunden: Allerdings nicht für die Hillbillies, sondern für gewisse Milieus von Schwarzen in den USA. Es ist verblüffend, wie sich die Probleme gleichen. Als deutscher Leser kann man hinzufügen, dass es vergleichbare Probleme auch mit gewissen Milieus von Zuwanderern in Deutschland gibt. Vielleicht auch mit gewissen Milieus in Ostdeutschland oder generell in ökonomisch abgehängten Regionen in Deutschland, von denen es ja immer mehr gibt.

Welche politischen Lehren und Ratschläge zieht J.D. Vance aus seinen Erfahrungen? Erstens, dass es keine Patentlösungen gibt. Am Ende muss der Wille von den Betroffenen selbst kommen. Was man machen kann, ist, den Betroffenen immer wieder „kleine“ Anstöße und Hilfen zu geben, sich langsam, Schritt für Schritt, aus dem Sumpf herauszuarbeiten. Es gibt aber keine Garantie dafür, dass die Betroffenen die Anstöße und Hilfen auch aufgreifen. Man muss dennoch immer weitermachen mit den Anstößen und Hilfen. – Allzu großzügige soziale Wohltaten des Staates sind natürlich schädlich für die nötige Motivation, sein Leben zu ändern. – Schließlich plädiert J.D. Vance für die soziale Durchmischung von Stadtvierteln: Die Abgehängten dieser Welt brauchen Vorbilder für ein gelingendes Leben, an denen sie sich orientieren können. Leider geht J.D. Vance nicht darauf ein, dass die Mittelschicht kein Interesse an einer sozialen Durchmischung mit der Unterschicht hat, weil sie dabei nur Nachteile erfährt.

Fazit

Mit Hillbilly-Elegie hat J.D. Vance ein großes Lehrstück über das wahre Wesen von sozialen Unterschichten geschrieben, das praktisch überall auf der Welt anwendbar sein dürfte. Dabei zertrümmert J.D. Vance die typischen Mythen von Sozialpolitikern, deren Lösungsvorschläge im wesentlichen darauf hinauslaufen, Geld in die Unterschichten zu pumpen. Es fehlt aber nicht zuerst an Geld, sondern vor allem am richtigen Bewusstsein. Soziale Durchmischung und gute Schulen helfen mehr als jede Sozialhilfe. Ebenso ein enger Zusammenhang von Fördern und Fordern, bei der das Fordern nicht zu klein geschrieben wird.

Speziell für die Probleme der Zuwanderung – über die J.D. Vance sich in diesem Buch nicht äußert – kann man aus den Ausführungen von J.D. Vance schließen, dass man nur so viele Zuwanderer gut integrieren kann, solange eine gute soziale Mischung gewährleistet werden kann. Es gibt also eine Obergrenze für Zuwanderung, und sie wird nicht durch Geld bestimmt, sondern durch das schiere Zahlenverhältnis von Einheimischen und Zuwanderern.

Man würde wünschen, dass jeder Sozialpolitiker und überhaupt jeder Linke dieses Buch liest. Vor allem aber möglichst viele junge Menschen aus der Unterschicht. Doch auch der Mittelschicht-Leser wird im Laufe der Lektüre dazu angeregt, über seinen eigenen Werdegang nachzudenken. Denn wir alle leiden unter falschen Denkmustern, die unser Herkunftsmilieu mit sich brachte, wenn auch nicht so stark wie im Hillbilly-Milieu.

Eine Frage, die J.D. Vance nicht aufwirft, ist die Problematik einer allzu großen Anpassung an ein Aufsteigermilieu. Es ist sicher richtig, dass man mit Kommuikation und Beziehungen nach oben kommt, aber allzu große Anpassung und Aalglattheit bergen natürlich die Gefahr, die eigene Seele zu verkaufen und zu einem Anzug ohne Inhalt zu werden. Über diese Balance hätte J.D. Vance mehr sagen sollen.

Die Hillbilly-Elegie von J.D. Vance ist alles andere als ein typisches Politiker-Buch voller Worthülsen und leerer Euphorie, sondern wahrhaft lesenswert und bereichernd. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass J.D. Vance dieses Buch schrieb, bevor er in die Politik einstieg.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Frank Kolb: Tatort „Troia“ – Geschichte, Mythen, Politik (2010)

Troja als Trojanisches Pferd der Türkei zum EU-Beitritt

Dieses Buch ist ein absolutes must-read für jeden historisch Interessierten. Frank Kolb entlarvt einen hochexplosiven Cocktail aus politischen und wirtschaftlichen Interessen, Verbiegungen und Fälschungen von Grabungsergebnissen und deren Deutung, bis hin zur Bedienung von Zeitgeist und Wunschdenkens des Publikums.

Grundlage

Wer verstehen will, was bei der Troja-Grabung schiefgelaufen ist, muss sich zunächst etwas mit der türkischen Staatsideologie vertraut machen: Atatürk schuf gewissermaßen eine Neugründung des osmanischen Vielvölkerstaates im Kleinformat, nämlich beschränkt auf die anatolische Halbinsel. Gemäß der neuen Ideologie des „Anatolismus“ gäbe es von Urzeiten an eine gemeinsame „anatolische“ Identität aller Völker auf türkischem Staatsgebiet. Auf diese Weise vereinnahmt die Türkei kulturell alles für sich, was auf ihrem Staatsgebiet jemals geschah: Die neolithische Agrarrevolution in der Jungsteinzeit, das Hethiterreich, aber auch die ionischen Naturphilosophen, Herodot von Halikarnassos oder Homer und eben Troja. Indem man Homer nicht zuerst als griechisch sondern als „anatolisch“ definiert, kommt man zu der (selbst dann noch ziemlich kurzschlüssigen) Behauptung, dass die griechische Kultur ihre Blüte allein der anatolischen Kultur verdanke. Kurz: Man beansprucht nichts weniger als die Wiege der Menschheitskultur, der Zivilisation schlechthin zu sein.

Gemäß der türkischen Staatsideologie steht die „Zivilisation“ über den einzelnen „Kulturen“, die gleichberechtigt nebeneinander leben würden. Diese scheinbare Selbstbescheidung der türkisch-islamischen Kultur als eine Kultur neben anderen im eigenen Land findet in der Realität natürlich nicht statt, wie das in allen Vielvölkerstaaten so üblich ist: So wie in der Sowjetunion unausgesprochen die russische Kultur die Leitkultur war und so wie in Jugoslawien Serbien den Ton angab, so ist in der Türkei natürlich eine massive türkisch-islamische Leitkultur am Werke. Der „Anatolismus“ ist nicht nur eine völlig ahistorische Konstruktion, sondern dient auch der Machtsicherung der türkisch-islamischen Leitkultur, die sich hinter einer offiziellen Ideologie von der Gleichberechtigung der Kulturen umso unhinterfragter ausleben kann, denn auf diese Weise muss man z.B. niemandem einen Minderheitenstatus einräumen. Der „Anatolismus“ existiert vor allem in den Köpfen von gebildeteren Türken, die breite Masse ist ohne ideologischen Umweg türkisch-nationalistisch orientiert.

Was hat das alles mit Troja zu tun?

Frank Kolb gibt uns die Antwort: Seit Manfred Korfmann 1988 in Troja zu graben begann, wurde die historische Interpretation von Troja und Homer Schritt für Schritt im Sinne des „Anatolismus“ umgebogen. Homer sei ein Anatolier, dem sich die europäische Kultur verdanke. Überhaupt müsse man die Entstehung der westlichen Kultur endlich „von Osten her“ verstehen lernen. Um den Mythos von Troja am Leben zu erhalten, wurde die Siedlung am Hissarlik zu einer bedeutenden „anatolischen“ Handelsmetropole hochgejubelt.

Der Sinn hinter all dem ist klar: Hier wollte sich die Türkei in ihrer Staatsideologie selbst bestätigt sehen und sich kulturell als ein Staat etablieren, der zur europäischen Kultur dazu gehört, ja mehr noch, der die Wiege der europäischen Kultur sei! Assistiert wurde Korfmann bei seinen Deutungen von dem Gräzisten Joachim Latacz, dessen Buch „Troia und Homer“ mit einer ganzen Reihe unhaltbarer Thesen zum Bestseller wurde.

Einflussnahme aus Politik und Wirtschaft

Laut Frank Kolb fanden die Ausgrabungen von Korfmann unter einem massiven politischen und ökonomischen Erwartungsdruck statt, und es sieht ganz so aus, als ob Korfmann das lieferte, was man von ihm erwartete. Dafür wurde Korfmann mit der türkischen Staatsbürgerschaft geehrt und bekam als zusätzlichen Vornamen den Namen „Osman“ verliehen. Deutsche Politiker mit Türkei-Ambitionen hofierten das SPD-Mitglied Manfred Osman Korfmann. Korfmann meinte, der Islam sei „nichts anderes als eine Reformation des Christentums.“ Auch „bezüglich der Blutcharakteristika“ (!) unterschieden sich die „heutigen Bewohner Anatoliens von den Europäern in Nichts“, meinte Korfmann, und lobte die „Bindungen an den Boden und seine Vergangenheit“ in der türkischen Kulturpolitik. Anstelle von Fachvorträgen habe Korfmann auch schon einmal längere Plädoyers für den EU-Beitritt der Türkei gehalten.

Hauptfinancier der Ausgrabungen Korfmanns sei die DaimlerChrysler AG gewesen, die einerseits in der Türkei ökonomisch sehr engagiert ist, andererseits mit Edzard Reuter einen Vorstandsvorsitzenden hatte, der über seine Familiengeschichte eng mit der Türkei verbunden war. Der Konzernsprecher sagte laut Kolb: „Wie er (Korfmann) es versteht, die Geschichte Troias immer wieder auch als ‚anatolische‘ Geschichte zu erzählen, fällt auch auf den Sponsor DaimlerChrysler … ein Gewinn an Glaubwürdigkeit, der angesichts des wirtschaftlichen Engagements des Konzerns in der Türkei, aber auch angesichts von drei Millionen in Deutschland lebenden Türken gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.“ Und: „Das homerische Troia ist für viele auch der erste Ort, der Ort nämlich, von dem aus man das Abendland, seine Literatur, seine Kultur, ja seinen Geist verstehen muss“. An Heinrich Schliemann habe der Konzernsprecher gelobt, dass dieser „möglicherweise angebrachte methodische oder wissenschaftliche Hinterfragungen hinter die Public-Relation-Notwendigkeit zurückstellte“, und: „Die Erfolgskontrolle des Sponsoring … ist die Medienresonanz.“

Die unerwünschte Kritik

Es ist klar, dass wissenschaftliche Kritiker, die das politisch erwünschte Traumbild angreifen, auf massiven Widerstand stoßen. Der Hügel von Hissarlik war nachweislich keine große Handelsmetropole und lag auch nicht an großen Handelsrouten. Es war vielmehr, so Kolb, eine erstaunlich unbedeutende „Burgsiedlung“. Das Projekt von Korfmann hat, so zeigt es Kolb, Grabungsergebnisse überinterpretiert und teilweise auch verfälscht.

Es ist überhaupt sehr zweifelhaft, ob der Trojanische Krieg um diesen Hügel geführt wurde, und nicht erst in mythischer Rückschau von einem Ort in Griechenland aus einer ferneren Vergangenheit an diesen erst später von Griechen besiedelten Ort transferiert wurde, wie es die historisch-kritische Textkritik glaubwürdig herausgearbeitet hat. Auch sind die östlichen Einflüsse bei Homer in der Wissenschaft schon längst bekannt, sie dürfen jedoch auch nicht übertrieben werden. Eine Einordnung von Troja und Homer als „anatolisch“ ist wissenschaftlicher Unsinn wie das ganze Konzept des „Anatolismus“. Frank Kolb kann das alles sehr überzeugend darlegen und belegen. Sein Buch ist auch fachlich äußerst lesenswert, es ist keineswegs nur eine wissenschaftspolitische Polemik. Zahlreiche Fußnoten lassen keine Wünsche nach Belegen und Literatur offen.

Politischer Gegenwind

Latacz schrieb zu dieser Kritik: „Ankara … ist, wie ich höre, über diesen unnützerweise vom Zaun gebrochenen Streit nicht erfreut. Es wäre nicht gut, wenn wir in politische Verwicklungen geraten würden mit der Türkei.“ Die türkische Altertumsbehörde bezeichnete die Kritik von Frank Kolb als Beleidigung des türkischen Staates. Ein Museumsdirektor, der Kritiker zu einer Podiumsdiskussion einlud, sei von Bundestagsabgeordneten damit bedroht worden, seinen Posten zu verlieren, sollte der die Einladung nicht rückgängig machen.

Bei der FAZ wurde die Kritik laut Frank Kolb zunächst abgewimmelt, u.a. von Patrick Bahners. Patrick Bahners schrieb damals an Kolb: „Ihre Vorwürfe … sind so abwegig, dass die Leser an unserem Vertrauen in die eigene Berichterstattung zweifeln müssen, würden wir solche Gegenreden publizieren.“ In dem Artikel „Warum Däniken?“ in der FAZ vom 11.10.2001 polemisierte Patrick Bahners dann gegen die Kritiker. Es handelt sich um denselben Patrick Bahners, der später Chef des FAZ-Feuilleton wurde und im Jahr 2011 mit dem unsäglichen Buch „Die Panikmacher“ an die Öffentlichkeit trat, in dem er berechtigte Islamkritik ganz im Sinne des türkischen Ministerpräsidenten Erdogans als intolerante Panikmache abqualifizierte.

Zangger und Atlantis

Eberhard Zangger vermutete bereits vor Korfmann, dass es am Hügel von Hissarlik eine große Unterstadt gäbe, und verknüpfte diese Idee mit der These, dass mit Platons Atlantis das bronzezeitliche Troja gemeint gewesen sei. Mit beiden Ideen lag Zangger falsch, doch griff Korfmann die irrige Idee von der Unterstadt später auf, ohne Zangger als Quelle anzugeben, so Kolb. Vielmehr war Zangger mit dem Vorwurf abgetan worden, er sei ein „Däniken“. Aber die Idee mit Atlantis und die daraus entstehende Kritik von Zangger an Korfmann war ein erster und öffentlichkeitswirksamer Querschläger gegen Korfmanns Deutungshoheit, mit dem Korfmann so wohl nicht gerechnet hatte.

Zanggers Atlantis-These ist zwar falsch, aber sie war fachlich eben doch viel zu gut und zu niveauvoll, so dass sie im Zusammenprall mit Korfmanns fragilen Thesen für ersten Zündstoff sorgte. Was Kolb so nicht darstellt, weil es nicht sein Thema ist: Die Zangger-Debatte hat auch eine enorme Bedeutung für die Atlantis-Forschung: Zangger hatte einen Maßstab für eine realistische Atlantisthese gesetzt, und damit einen wichtigen Beitrag geleistet, eine teils sehr pseudowissenschaftlich abgehandelte Fragestellung wieder ein gutes Stück näher an die Wissenschaft heranzuführen.

Fazit

Frank Kolb hat ein ganz großes Lehrstück geschrieben über die Verfälschung von Wissenschaft unter dem Einfluss von politischen und ökonomischen Erwartungshaltungen, und wie schwierig es ist, sich bei Medien und Publikum Gehör zu verschaffen und wissenschaftlichen Standards zur Geltung zu verhelfen. Es ist ebenso ein Lehrstück darüber, welche Fehler man bei der Interpretation alter Texte im Lichte von Ausgrabungsfunden nicht machen sollte; der historische Kern alter Texte kann manchmal gefalteter und geschachtelter sein, als man meint. Ohne eine fundierte historisch-kritische Textinterpretation hilft einem keine Ausgrabung weiter. Konkret konnte man wieder einmal einiges darüber lernen, wie tief sich türkische Interessenpolitik in Politik, Wirtschaft und Kultur Deutschlands hineingefressen hat.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. April 2011)

Manfred Fuhrmann: Rom in der Spätantike – Porträt einer Epoche (1994)

Extrem lehrreiches Buch über Antike, Mittelalter und europäische Kultur

Dieses Buch stellt eine Zeit in den Mittelpunkt, über die man sonst nur unzureichend informiert wird: Den Übergang von der Antike zum lateinischen Mittelalter. Obwohl man es nicht erwarten würde, lernt man hier enorm viel über die Antike, indem man sieht, auf was die Antike an ihrem Ende komprimiert wurde. Man lernt aber auch enorm viel über das Mittelalter, denn hier sieht man, wie es entstand. Vieles von dem, was wir für typisch mittelalterlich halten, ist in Wahrheit spätantik.

Für manche Leser mag der Ansatz ungewöhnlich sein, sich einem Zeitalter über seine Literatur zu nähern. Aber eigentlich ist das genau der richtige Ansatz: Hier diskutiert man die originalen Quellen, aus denen die Geschichtsschreiber dann die Erzählung der Geschichte ableiten. Mancher wird dabei die Seiten über Themen wie Bibelepik als langweilig überblättern, aber spätestens die Berichte über die Zustände während des schrittweisen Zusammenbruchs des römischen Reiches werden jeden fesseln.

Wir lesen von gebildeten Römern, die den bald kommenden Zusammenbruch nicht voraussehen. Wir lesen hier von Einzelschicksalen, die mit dem Zusammenbruch der staatlichen Strukturen zurecht kommen müssen. Wir sehen, wie es zu Arrangements mit den eindringenden germanischen Stämmen kommt. Wir sehen, wie die Kirche oft die letzte Institution ist, die noch funktioniert, und deshalb die Aufgabe des Staates übernimmt. Wir sehen, wie manche – als Bischöfe – die Verteidigung ihrer Heimat organisieren, andere von Germanen enteignet werden, wieder andere von ehrlichen Germanen unerwartet entschädigt werden, und wieder andere in noch sichere Gebiete des Reiches umgesiedelt werden. Wir sehen, wie die Bildung abnimmt und mit dem Schulwesen ihre Basis verliert. Wie die Bildung immer grobschlächtiger wird, bis sie ganz verschwindet. Wir sehen, wie manche Gebildete sich ins Mönchstum flüchten, um dort mit selbsterstellten Regeln für den Erhalt der Bildung zu sorgen (Cassiodor).

Über Antike und Mittelalter wusste man auch ohne dieses Buch Bescheid, und man wusste auch, dass es dazwischen die Völkerwanderung und überhaupt „irgendwie“ eine „dunkle“ Zeit gab, aber wie dies alles nun wirklich zusammenhängt, wie die Antike im Einzelnen zum Mittelalter transformiert wurde, dazu erfährt man in diesem Buch sehr viel. Man bekommt auch eine Ahnung davon, durch welche Zerrbrille wir die Antike teilweise noch heute sehen, wenn man sich klar macht, welche Prägungen die Wahrnehmung der Antike durch den Übergang zum Mittelalter erfahren hat.

Eine interessante Ergänzung zu diesem Buch könnte „Im Schatten des Schwertes“ von Tom Holland sein, das die Zeit der Spätantike im östlichen Mittelmeer schildert: Byzanz und Islam.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Juni 2015)

Stichworte: 5 von 5 Sternen, Antike, Bildungsverlust, Cassiodor, Dunkles Zeitalter, Europa, Germanen, Humanismus, Manfred Fuhrmann, Mittelalter, Mönchstum, Sachbuch, Spätantike, Völkerwanderung, Westeuropa

Norbert Bolz: Das Wissen der Religion – Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen (2008)

Allzu plumpe Religionsverneinung ist auch nicht rational

Sprache und Stil: Bolz spricht teilweise nicht sachlich und begründend, sondern in mythischer Sprache, in Andeutungen oder schwärmerisch. Auf diese Weise wird manches Richtige, was er zum Ausdruck bringen will, beschädigt. Bolz „raunt“ häufig, wie man es aus religiös motivierten Texten unserer Tage her nur allzu gut kennt; das kommt beim skeptischen Leser gar nicht gut an.

Geistesgeschichte überbewertet: Es ist ja richtig, dass Bolz die Geistesgeschichte anführt, um die allgemeinen Denkstrukturen der Gesellschaft kenntlich zu machen. Aber als Grund und Maßstab für das eigene Denken kann die Geistesgeschichte nicht dienen. Ich persönlich glaube doch nicht an x, nur weil sich x in der Gesellschaft als Denken entwickelt hat oder so und so bewährt hat. Etwas muss für mich ganz allein wahr sein, nicht allgemein oder bewährt, damit man es glauben kann. Diese persönliche, existentielle Perspektive kommt bei Bolz oft zu kurz.

Religion und Metaphysik werden bei Bolz nicht sauber unterschieden. Manches wäre richtig, wenn man es auf eine philosophische Metaphysik bezöge. Aber wenn man denselben Gedanken mit Religion statt Metaphysik formulliert, dann macht man eine viel zu weitgehende Aussage.

Alles in allem ein anregendes, aber über weite Strecken auch schwierig geschriebenes und deshalb anstrengend zu lesendes Buch, das gute Gedanken nicht sauber genug darlegt und eine viel zu große Nähe zur Religion pflegt; wer sich noch nie mit dieser Perspektive beschäftigt hat, sollte es lesen, aber die Wahrheit ist jenseits von Bolz und seinen Gegnern zu finden: Zwischen allen Stühlen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Februar 2012)

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie (2003)

Völlig am Ziel vorbei geredet

Wenn man von der „Macht der Philologie“ hört, dann denkt man an die große Bedeutung, die die richtige Interpretation alter (und neuer) Texte für die Gegenwart hat, insbesondere für Humanismus und Aufklärung. Man denkt an die historisch-kritische Methode, an Historisierung, korrekte Einordnung vergangener Zeiten, Korrekturen von bedeutsamen Schreibfehlern, oder die Wiedergewinnung bedeutender Texte. Und man denkt auch an die große Aufgabe, dies nun alles auch für den Koran und andere islamische Grundlagentexte durchzuführen, ohne Rücksicht auf die allzu Rücksichtsvollen.

Enttäuschte Erwartungshaltung

Aber in diesem Buch wird unter „Macht“ etwas anderes verstanden. Der Autor versteht unter „Macht“ die Ergriffenheit des Philologen während seiner philologischen Tätigkeit, bzw. den fast schon körperlichen (An-)Trieb, sich philologisch zu betätigen. Sozusagen den Eros der Philologie. Letztlich ist „Macht“ hier natürlich eine unpassende Wortbildung, weil das Wort „Macht“ üblicherweise so nicht gebraucht wird.

Und leider wird die Ausführung dieses Ansatzes den Erwartungen nicht gerecht. Man hätte sich gewünscht, von Platon und der intrinsischen Motivation des Philosophen zu hören, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, statt sich zurückzuziehen, oder von der Motivation der Stoiker versus der Demotivation der Epikureer, oder von Platons Mythen, die auch das Ziel verfolgen, die Rationalität emotional zu unterstützen. Oder ganz modisch: Von Schamanen und ihren Beschwörungen, von der Verschmelzung von Subjekt und Objekt, von Sigmund Freud und seinen zwei Antrieben Eros und Tod. Zum Beispiel.

Statt dessen: Langweilige Betrachtungen von Walter Benjamin über Wolken, die über das Heidelberger Schloss ziehen. Und vieles andere „gelehrige Geschwätz“. Durchaus nicht falsch. Aber immer am Punkt vorbei. Eine lange Kette von mühsamen Assoziationen, an deren Ende man sich fragt, was man jetzt eigentlich gelernt hat. Nutzlos in diesem Sinne wie die „Dialektik der Aufklärung“. Die einzelne Denkfigur kann nützen, wenn der Leser sie aus ihrem morastigen Zusammenhang befreit und selbst durch Klarheit zu neuem, besserem Leben erweckt.

Kein überzeugendes Buch. Habe es nach zwei Fünfteln abbrechen wollen –
– Habe es dann aber doch zu Ende gelesen. Man lernt so dies und das. Und bekommt diesen oder jenen Einblick. Aber eher im Sinne von Wissenschaftsgeschichte. Nicht im Sinne von Wissenschaft selbst.

Nach dem ersten Kapitel hört man dann nicht mehr viel von der „Macht“ der Philologie, und die Überlegungen geraten in das Fahrwasser von üblichen philologischen Überlegungen. Vieles ist „g’schwoll’nes G’schwätz“, das dem Leser gegenüber offenbar bewusst einen klaren und unzweideutigen Zugang zum Verständnis des Textes verstellt. Man kann streckenweise nur raten, was das Buch wohl meint. Am Ende zeigt sich oft, dass man dasselbe auch wesentlich klarer und einfacher hätte formulieren können. An so einem ärgerlichen Text möchte man nicht „scheitern“. So weit kommt’s noch …

Gegen Ende kommt das Buch wieder auf die Ergriffenheit, auf die „Macht“ der Philologie zurück, von der bisher nur im ersten Kapitel die Rede war. Das Erlebnis der Konfrontation mit einer komplexen zu lösenden Aufgabe, für deren Lösung man nicht unter Zeitdruck steht, wird als das Erlebnis bezeichnet, was die Faszination der Philologie ausmache. Das ist aber in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Diese Faszination kann man auch beim Schachspiel erleben, in einem schwierigen Stellungsspiel, ohne Schachuhr. Ja, das ist auch eine Faszination. Aber es ist nicht die Faszination der Philologie.

Die wahre Macht der Philologie

Aus irgendwelchen Gründen redet das Buch völlig am Kern der Sache vorbei. Die Faszination der Philologie besteht natürlich darin, dass die alten Texte elementare Einsichten über das Menschsein enthalten, die jeden betreffen und berühren. Deshalb u.a. haben sich diese alten Texte schließlich auch erhalten, und andere Texte nicht. Die Apologie des Sokrates hatte offenbar mehr Menschen zu allen Zeiten etwas zu sagen, als religiöse Hymnen oder technische Anleitungen, die verloren gegangen sind. Eine zweite Betroffenheit als Mensch ergibt sich aus der Erkenntnis, dass alte Texte über geistesgeschichtliche Entwicklungen Auskunft geben, die unser Denken bis heute prägen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind – und dass wir uns dessen nur bewusst werden und dadurch freier und verständiger werden können, wenn wir die alten Texte kennen. Hüter und Pfleger dieses wertvollen Erbes der Menschheit zu sein, das ist die faszinierende Aufgabe der Philologie. Dies ist die Faszination der Philologie, dies ist der Zauber, der von ihr ausgeht, dies ist die Ergriffenheit dessen, der mit alten Texten arbeitet.

Das gilt auch für zunächst unwichtig erscheinende Texte, denn man weiß nie, zu welchen Schlussfolgerungen sie führen können. Es ist ein komplexes, nie endendes Puzzlespiel, das ist richtig. Der Philologe ist Gralshüter und Schatzsucher zugleich. Auf dem Weg zum Schatz sind natürlich – Dan Brown lässt grüßen – einige faszinierende Rätsel zu lösen, aber das eigentlich faszinierende ist der Schatz. Der Weg ist nicht das Ziel.

Wilamowitz-Moellendorff ist da mit seiner Erkenntis der Pflichtethik aus dem humanistischen Menschenbild heraus erheblich näher am Thema dran als das Buch. Ein authentisches Verständnis von Pflicht, nicht als blinder Gehorsam, sondern als innerer Antrieb, das zu tun, was einem als Mensch zu tun zukommt, ein solches authentisches Verständnis von Pflicht kann z.B. aus alten Texten gewonnen werden, und den, der es begreift, ergreift es. Pflicht eben. Von dieser Ergriffenheit ist in diesem Buch aber nicht die Rede.

Demotivierender Defätismus

Statt dessen finden wir die völlig unverständliche Auffassung, dass niemand mehr an den Nutzen der Geisteswissenschaften glaube, und dass alle Versuche, einen Nutzen zu begründen, gewissermaßen unästhetisch seien. Unästhetisch? Wo doch das Schöne selbst der höchste Nutzen ist. Unverständlich.

Völlig unverständlich auch der folgende Satz: „Nie wieder möchte ich Behauptungen hören müssen wie den Satz, die Geisteswissenschaften seien ‚aufklärend‘, weil sie angeblich den Auftrag haben, ‚als Barriere gegen die Remythisierungstendenzen unserer Zeit‘ zu fungieren.“ – Gewiss, solche Anforderungen sind manchmal etwas oberflächlich. Die persönliche Ergriffenheit durch die Botschaft alter Texte ist immer zunächst intim und privat, und ihre Anwendung für die Öffentlichkeit erscheint manchmal als Schamverletzung und Profanierung. Aber solche Anforderungen sind eben auch nicht falsch, denn die Philologie kann das tatsächlich leisten. Fühlt sich der Autor dieses Buches denn nicht ergriffen von der Macht der Philologie, Einsichten bewirken zu können, zuerst bei sich selbst, und dann auch bei anderen?

Aber die Gedanken verlaufen seltsam krumm in diesem Buch. So heißt es z.B., dass Historisierung etwas „erschaffen“ würde, was sonst nicht da wäre. Das ist aber ganz falsch. Historisierung ist nichts anderes als eine richtige Erkenntnis von real existierenden Sachverhalten. Wer nicht erkennt, dass Dinge vergangen sind, einer anderen Zeit angehören, und unter der Perspektive dieser Zeit gesehen werden müssen, und nicht unter der Perspektive der Gegenwart, und dass die Perspektive der Vergangenheit einem Urteil unter der Perspektive der Gegenwart unterliegt, der schaut die Dinge nicht so an, wie sie sind, sondern der ist es, der den Dingen etwas zufügt, was sie nicht an sich haben. Ebenso ist es mit dem Klassischen. Klassisch ist, wo vergangene Perspektive und heutige Perspektive zusammenfallen. Etwas buchstäblich zeitloses. Auch da wird nichts „erschaffen“, sondern erkannt. Die Theorie dieses Buches, dass Historisierung sich nicht dem Streben nach richtiger Erkenntnis verdankt, sondern dem Streben nach der Überwindung des Todes, ist sehr schräg.

Es ist auch befremdlich, wie leicht sich der Autor dieses Buches der Auffassung hingibt, dass nach dem Tode nichts mehr komme. Woher will er das wissen? Das ist doch plumper Materialismus. Ein Geisteswissenschaftler weiß es doch besser. Es ist nicht so einfach. Es stört auch, wenn der Autor von seinen „sozialdemokratischen“ Instinkten spricht. Da fragt sich der Leser doch, ob das hier noch eine Abhandlung mit argumentativem Anspruch sein soll, oder eher ein persönliches Tagebuch? Seltsam auch, wenn die preußische Moral von Wilamowitz-Moellendorff mit „Eisen“ assoziiert wird und das für schlecht gehalten wird. Wäre eine Moral aus Gummi denn besser? Eisen ist doch für eine Moral eine sehr schöne Assoziation. Eisen lässt sich nämlich schmieden, verliert aber danach nicht so leicht seine Form, bricht aber andererseits auch nicht, sondern biegt sich, aber nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. Man vergleiche auch mit Granit.

Und ach ja: Werner Jaeger … und dass man so heute nicht mehr denken könne. Nicht wirklich eine neue Einsicht. Aber was dann? Wie sollen wir denn Identität sinnvoll konstruieren? Denn ohne Identität lebt es sich nicht gut. Werner Jaeger hat uns eine Aufgabe gestellt, die wir noch nicht gelöst haben. Immer diese abwehrenden Reden gegen Jaeger, deren bloße Existenz das Eingeständnis ist, dass an Jaeger doch was dran war. Wenn an Jaeger nichts dran gewesen wäre, würde man von ihm nämlich schweigen. Es ist also ein komplexes Problem, das schon Jahrzehnte ungelöst vor uns liegt. Man könnte das faszinierend finden. Und sich zur Tat animiert fühlen.

Wir leben in einer Zeit, in der das Wort „Humanismus“ eine äußerst bedenkenswerte Bedeutungsverschiebung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit erfährt: Unter „Humanismus“ verstehen heute viele eine auf Atheismus gegründete Weltanschauung. Es ist so töricht. Und so elend. Man könnte sich dagegen empören. Aus innerster Seele. Dieses ganze gegenwärtige Unverständnis für das Erbe der Vergangenheit, für Tradition, für die Tiefe der Geschichte, für die conditio humana, und wie darüber die Errungenschaften des Westens aufgegeben werden zugunsten eines kulturvergessenen Kulturrelativismus: Man könnte sich darüber empören und kreativ werden. Daran geht dieses Buch aber vorbei.

Fazit

Ein Buch, das vor manche Tür geführt hat. Hineingehen musste man aber immer selber. Das Buch blieb draußen.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. Oktober 2017)

Theodor Gomperz: Griechische Denker – Eine Geschichte der Antiken Philosophie (1896-1909)

Aufklärung über die Aufklärung anhand der griechischen Aufklärung

Das Werk

Obwohl Gomperz‘ dreibändiges Werk über die „Griechischen Denker“ in den Jahren 1896-1909 veröffentlich wurde, ist es dennoch erstaunlich modern: Der Grund dafür ist, dass der Verfasser politisch-weltanschaulich ein klassischer Liberaler war, der auch mit den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit bestens vertraut war, die bis heute die Grundlage unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes bilden: Evolutionstheorie, Psychologie, Religionskritik, Ethnologie, Ökonomie, Atomphysik und Astrophysik, bis hin zu den Gedanken, dass hinter den Atomen noch kleinere Teilchen stehen könnten oder dass es im Weltraum noch andere Planeten mit Leben geben müsste. Teilweise stand der Autor mit den Vordenkern der Moderne in persönlichem Kontakt, etwa mit Sigmund Freud oder dem Physiker Ernst Mach. Aber auch unter historisch-kritischen Gesichtspunkten ist Gomperz immer noch modern genug: Eine gläubige Verklärung der Antike findet sich bei ihm nicht, auch wenn er noch nicht jede Hinterfragung kennt, von der wir heute, 100 Jahre später, wissen.

Das Werk nimmt mit seiner Eindringtiefe in den behandelten Stoff eine Mittelstellung zwischen kurzer Einführung und tiefgehender Einzelabhandlung ein. Dadurch kann Gomperz etwas bieten, was es heute so nicht mehr gibt: Neben der Behandlung der großen und bekannten Denker wie Demokrit, Platon oder Aristoteles, geht Gomperz einerseits auch auf viele „kleinere“ Denker ein, von denen man sonst eher selten liest, so z.B. die Megariker, die Kyrenaiker und die Kyniker, oder Theophrast und Straton. Andererseits kann Gomperz so viel besser die Entwicklungszusammenhänge zwischen den Denkern aufzeigen, so z.B. die Einteilung der Vorsokratiker in die Ionischen Naturphilosophen, die Eleaten und spätere komplexere Denker, oder die Entstehung der Stoiker und Epikureer aus den Kynikern und Kyrenaikern, über die man nur selten liest. Gomperz breitet den ganzen Horizont vor seinen Lesern aus: Nicht nur Philosophen im engeren Sinne, sondern das ganze geistige Umfeld wird erfasst: Er beginnt mit Religion und Mythos, und vergisst nicht den wesentlichen Einfluss von Dichtern und Geschichtsschreibern. Gleichzeitig verliert sich Gomperz aber auch nicht in Teilproblemen, wie dies Spezialabhandlungen tun. Gomperz geht teilweise recht tief, bleibt dabei aber doch immer klar.

Gomperz bringt die Dinge auf den Punkt, und zwar ihren eigenen Punkt. Wo andere eher beschreiben als erklären, oder ihre moderne Ideologie in der antiken Philosophie wieder entdecken wollen, dort ist Gomperz ein Meister in der Kunst, den entscheidenden Punkt, die innere Motivation, die tiefere Triebkraft herauszuarbeiten, die hinter den antiken Entwicklungen steht. So erst werden Inhalte und Entwicklungen der antiken Philosophie wirklich verständlich.

Wer Gomperz lesen will, muss vor allem Geduld und Konzentration mitbringen. Pausen empfehlen sich. Notizen ebenfalls. Man wird später auch immer wieder noch einmal nachlesen, was Gomperz sagte, und dabei immer noch neues entdecken. Man hätte sich eine bessere Gliederung des Stoffes in einer Hierarchie von Unterkapiteln wünschen können, um dadurch einenn besseren Überblick und eine mnemotechnisch nützliche Wissensordnung zu haben. Besonders ungünstig ist die Kapiteleinteilung im dritten Band, aber auch im ersten Band ist z.B. das Kapitel über Demokrit und die Atomlehre ungünstig gehalten. Die Sätze sind manchmal etwas verwickelt und altertümlich, hier hilft lautes Lesen.

Der Inhalt

Das Hauptthema der Antike ist natürlich der Prozess der Aufklärung und die Gewordenheit unserer heutigen geistigen Welt. Gomperz weiß noch ganz genau, warum die Beschäftigung mit der Antike so wichtig ist, während der Zeitgeist uns weismachen will, die Antike sei von gestern.

Gomperz legt aber nicht nur die Entwicklung der Aufklärung in der Antike dar, sondern zeigt ständig die Zusammenhänge und Parallelen zur modernen Aufklärung und Wissenschaft auf. Er erklärt anhand der Antike die aufklärerischen Prinzipien von philosophischem und wissenschaftlichem Denken im allgemeinen, so dass der der Leser nicht nur die Schritte der Aufklärung der griechischen Denker kennenlernt, sondern auch selbst Schritt für Schritt aufgeklärt wird.

Man kann mit Fug und Recht sagen: Bei Gomperz lernt man das Denken selbst. Dazu gehört nicht nur exakte Berechnung und konsequente Logik, sondern vor allem auch die Fähigkeit der richtigen Einschätzung. Die Kunst des Abwägens. Das Maß der Erkenntnis. Das richtige Interpretieren anhand von Indizien. Man lernt auch, wie Dinge sich entwickeln, und dass vieles nur schrittweise voran geht, dass auch Irrwege nützlich sein können, usw.

Aus heutiger Sicht ist Gomperz erfrischend vernünftig und unideologisch. Die Lektüre dieser 100 Jahre alten Abhandlung ist eine wahre Labsal für die vom Zeitgeist geplagte Vernunft. Gomperz hat in vielen Punkten den richtigen, differenzierten Ansatz, er trifft an den entscheidenden Weggabelungen der Erkenntnis die richtigen Entscheidungen, während ein irriger Zeitgeist die falschen Abzweigungen nimmt und eine schiefe Ideologie entwickelt.

Die Sophisten werden von Gomperz korrekt als eine Stufe des Fortschreitens der Aufklärung gesehen; man darf dabei nur nicht vergessen, dass Sokrates die nächste, höhere Stufe ist: Nach der De-konstruktion kommt die Re-konstruktion. – Bei Platon ist Gomperz ungewöhnlich kritisch: Fast schon respektlos kritisiert er Platon als einen Denker des Absoluten, der in seiner absoluten Präzision oft genug absolut falsch lag. Auch wenn Gomperz hier nicht immer Platons Genialität voll erfasst hat, so ist sein respektlos kritischer Ansatz berechtigt und anregend. – Platon wird bei Gomperz einseitig Demokratie-kritisch und Tyrannen-freundlich gesehen. Hier und in anderen Punkten erliegt Gomperz dem Geist seiner Zeit. – Aristoteles erscheint bei Gomperz als ein Ausbund an Inkonsequenz und kompromisslerischem Pragmatismus. Was für die Philosophie im engeren Sinne eher fragwürdig ist, hat sich für Politik und Wissenschaft jedoch als Segen erwiesen: Hier hat Aristoteles mehr Erfolge bewirkt als Platon. Im letzten dürften sich beide Ansätze jedoch in der Mitte treffen, zumal Platon in den Nomoi bereits den Weg hin zu mehr Pragmatismus zu gehen begonnen hatte, und Aristoteles nicht zufällig ein Schüler Platons war. Diese Erkenntnis deutet sich bei Gomperz an, wird jedoch nicht in dieser Klarheit formuliert.

Der Autor

Erschreckend ist es zu lesen, wie Gomperz kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Auffassung vertritt, die Staaten Europas seien auf einem guten Wege des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes, und würden immer enger zusammenrücken; Krieg sei undenkbar geworden. Im Sinne des „Zauberberges“ von Thomas Mann ist Gomperz ein wahrer „Settembrini“, ein durchaus sympathischer aber vielleicht doch allzu optimistischer klassischer Liberaler mit etwas zu wenig Einfühlungsvermögen in das „absolute“ Denken Platons. Da es aber besser so als andersherum ist, verzeiht man ihm diese Schwäche gern.

Wer ein vernünftiges, rundes, schönes, klares, erhellendes, bildungsbürgerliches, vollständiges, gutes, menschenfreundliches Buch über die antiken Denker lesen möchte, das nicht angekränkelt ist von den Irrtümern unserer Zeit, sondern wesentliche und richtige zeitlose Einsichten als Basis für eigenes Weiterdenken vermittelt, der ist mit den „Griechischen Denkern“ von Gomperz bestens bedient. Sicher eines der Bücher, die man gelesen haben sollte.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juni 2013)

Andreas W. Müller: Der Westen – Ein Nachruf (2012)

Philosophische Denkanstöße für Umdenker und Querdenker

Dieses Buch ist ein thematisch gruppiertes Sammelsurium von kürzeren Texten über Dinge wie Kunst, Politik, Geschichte, Krieg, Moral, Menschenrechte, Tierrechte, Hirnforschung, und die Kernthemen der Philosophie. Was auf den ersten Blick etwas willkürlich und oberflächlich erscheint, hat es aber faustdick in sich! Der Autor ist nämlich Objektivist, d.h. ein Anhänger der Philosophie des Objektivismus, die von der russisch-amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand begründet wurde. Und das bedeutet, dass die gebotenen Texte sich durch ein hohes Maß an Rationalität und Realismus auszeichen. Das macht sie interessant und lesenswert, auch wenn man gewiss nicht allem zustimmen kann. Eine dogmatische Überwältigung des Lesers durch den Objektivismus findet in diesem Buch definitiv nicht statt, es geht durchweg rational zu.

Die gebotenen Texte sind hervorragende Denkanstöße, denn wegen ihrer Rationalität kann der Leser sie nicht einfach pauschal ablehnen. Vielmehr ist der Leser gezwungen, mit einem „ja aber“ sein eigenes differenzierendes Nachdenken darüber zu beginnen, wie es denn nun wirklich ist – und schon ist man mitten drin im eigenen Denken. Wer sein Denken öffnen will, wer sich prüfen will, wer entschlossen ist, sich hinterfragen zu lassen, für den ist dieses Büchlein eine große Hilfe. Wer hingegen mit Vorurteilen an die Lektüre geht, und Denkfehler weder verzeiht noch als Einladung zum Selberdenken versteht, dem ist von diesem Buch abzuraten.

Als Objektivist kann der Autor manchen Kontrapunkt gegen den herrschenden Zeitgeist setzen: Warum echter Egoismus gar kein solcher ist. Warum soziale Wohltaten und Tierrechte nett aber falsch sind. Warum Sexualität weder unterdrückt noch wild ausgelebt werden sollte. Warum wir zusätzlich zu den Naturwissenschaften trotzdem noch Philosophie brauchen. Usw. Der absolute Hit dürfte aber das philosophische Konzept einer Metaphysik sein, die an die Materie gebunden ist. Also die Ablehnung von Materialismus und Religion gleichermaßen. Die allermeisten Menschen wissen vermutlich gar nicht, dass es diese Denkmöglichkeit überhaupt gibt. Deshalb verharren sie in den Extremen Materialismus und Religion, aus denen so viele Übel hervorgehen.

Neben einigen Gastbeiträgen anderer Autoren enthält das Buch auch eine Untersuchung der Philosophie der Harry-Potter-Welt. Zahlreiche Weblinks und Literaturangaben geben nützliche Hinweise für das eigene Weiterlesen. Einzig ärgerlich ist vielleicht der Titel des Buches: Denn statt einem defätistischen Abgesang auf den Westen liefert das Buch zahlreiche Anstöße für die Renaissance des Westens.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 20. September 2013)

PS 16. Mai 2025

Der Autor Andreas W. Müller hat sich inzwischen von der Philosophie des Objektivismus entfernt und deshalb den Vertrieb dieses Kindle-Buches eingestellt. Zum Blog des Autors hier: https://feuerbringer.wordpress.com/autorundwerk/

Niccolò Machiavelli: Der Fürst (1513)

Der erwartete Klassiker mit Einsichten am Rande

Das bekannte Buch von Machiavelli liest sich recht schnell und bietet im Original tatsächlich ungefähr das, was man überall darüber lesen kann: Es ist eine Anleitung für Fürsten, wie sie die Macht erlangen und erhalten, wobei die Wahl der Mittel ohne Rücksicht auf moralische Bedenken geschieht. Auch der immer wieder zitierte Rat kommt vor, dass man den Untertanen nicht an den Geldbeutel oder die Frau gehen soll, was fast schon tröstlich ist, da dadurch eine gewisse Grenze und ein gewisser Schutz für die Untertanen vor ihren Fürsten definiert wird, auch wenn es ein rein egoistischer Rat ist.

Der Gipfel der Skrupellosigkeit ist der Mord von Cesare Borgia an diversen Verschwörern in Senigallia 1502, wohin er sie eingeladen hatte. Machiavelli stellt diese Beseitigung von Rivalen als herrschaftssichernde Maßnahme dar, die sehr erfolgreich und deshalb legitim war.

Interessant ist das „Schachspiel“ der Mächte untereinander: Wer mit wem gegen wen, und wie man jemanden in Schach hält, oder ihn unfreiwillig zur Eroberung einlädt usw. Hier können naive Menschen gut lernen, dass gutgemeinte Taten oft das Gegenteil dessen zur Folge haben, was beabsichtigt war. Man bekommt zudem Einblicke in die politischen Verhältnisse im Italien der damaligen Zeit: Franzosen, Venezianer, der Papst … alle ringen um Einfluss und Herrschaft.

Interessant sind auch die Ratschläge, wie man verschiedene Länder zu einem Land zusammenschließt. Der Fürst sollte entweder Teile der Bevölkerung umsiedeln, oder seine Residenz im neu eroberten Gebiet nehmen. Republiken könne man nur durch Zerstreuung der Bevölkerung dauerhaft in den Griff bekommen, weil die Erinnerung an die einstige Freiheit zu stark ist. Für die Konstrukteure des EU-Überstaates sind hier wertvolle Einsichten zu finden, die zeitlos gültig sind.

Der viel beschworene Begriff der „virtù“ fiel mir bei der Lektüre der Übersetzung nicht auf. Vermutlich fällt er bei Machiavelli in einem eher unscheinbaren Nebensatz, und man muss schon einen Blick dafür haben, dies zu erkennen und die Neuerung im Denken darin zu sehen. Das Denken Machiavells ist sicher eine Befreiung gegenüber einem scholastischen Denken, aber es ist andererseits doch wieder zu zügellos.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Dezember 2017)

Joachim Nikolaus Steinhöfel: Die digitale Bevormundung – Wie Facebook, X (Twitter) und Google uns vorschreiben wollen, was wir denken, schreiben und sagen dürfen (2023)

Einblick in die aktuelle Repression der Meinungsfreiheit

Joachim Nikolaus Steinhöfel ist ein Anwalt, der sich dem Kampf für die Meinungsfreiheit verschrieben und dadurch Berühmtheit erlangt hat. In zahlreichen Gerichtsverfahren durchleuchtete und durchkreuzte er die real existierenden Formen der Meinungsrepression in Deutschland. Die Verfahren und die Erkenntnisse, die Steinhöfel daraus gezogen hat, dokumentiert er in diesem Buch.

Grundsätzlich ist die Meinungsfreiheit in Deutschland und Europa tatsächlich in Gefahr. Die Meinungsfreiheit wird dabei nicht unbedingt offen und direkt, sondern indirekt und schleichend unterminiert. Ganz so, wie Karl Jaspers schon 1966 konstatierte: „Die Tendenz, eine Zensur auszuüben im Interesse der autoritären politischen Herrschaft, nimmt zu. Sie zeigt sich heute durch indirekte Maßnahmen.“ Auch, um die Systematik hinter den Einzelfällen zu erkennen, ist dieses Buch äußerst wertvoll. – Steinhöfel bringt u.a. folgendes zum Vorschein:

Die Plattformen

  • Große Plattformen wie facebook, Twitter (X), Google & Co. werden von linksorientierten CEOs und Machern beherrscht.
  • Die Meinungsfreiheit müsste auch auf diesen Plattformen gelten, da sie groß sind und das Feld des gesellschaftlichen Meinungsaustausches beherrschen, doch statt nach dem Strafgesetz wird mit schwammigen Begriffen wie „Hass und Hetze“ und mit einem „Hausrecht“ operiert.
  • Diese Plattformen zensieren gerne gemäß des vorherrschenden linken Zeitgeistes. Für den Moment bedeutet dies: „Rechte“ werden gegängelt, „Linke“ und Islamisten haben freie Bahn. Wenn der vorherrschende Zeitgeist dreht, kann es morgen schon wieder anders sein.
  • Schreckliche Doppelstandards werden sichtbar: „Linke“ dürfen oft etwas, was „Rechte“ nicht dürfen.
  • Teilweise wird auf Zuruf von Regierungen oder „linken“ pressure groups Zensur ausgeübt, völlig willkürlich und gegen jede demokratische Gepflogenheit.
  • Die Plattformen binden vom Staat per Gesetz gewollte „Faktenchecker“ ein, die Zensur ausüben, und zwar sichtlich einseitig.
  • Auf bloßen Verdacht hin werden zahllose Postings durch automatische Erkennung gelöscht; wiederhergestellt werden jedoch nur die Postings, gegen deren Löschung umständlich geklagt wurde. Alle anderen bleiben gelöscht.
  • Gegen Klagen wird der Rechtsweg von diesen Plattformen bis zum Geht-nicht-mehr ausgeschöpft, auch wenn es absurd ist. Offenbar, um die Gegenseite zu zermürben.
  • Sich selbst verstecken diese Plattformen vor dem rechtsuchenden Bürger häufig über Adressen in Irland u.a. Tricks.
  • Die Plattformen unterdrücken auch wichtige, wahlentscheidende Nachrichten, wie z.B. die von Hunter Bidens Laptop.
  • Zensiert werden auch völlig harmlose Dinge, wie Sheepworld-Karikaturen, Gemälde von Pieter Bruegel d.Ä. oder historische Zitate von Heinrich Heine.
  • In der Corona-Krise wurde alles zensiert, was nicht der vorgegebenen, staatlichen Linie entsprach.
  • Besonders unangenehm wird es – unter demokratischen Gesichtspunkten – wenn die Zensur alternative Medien trifft, wie z.B. die „Achse des Guten“ oder Julian Reichelt von Nius.

Die Gerichte

  • Es gibt tatsächlich nicht wenige Richter, die ihr Handwerk verstehen und gutes Recht sprechen. Das ist eine der guten Nachrichten dieses Buches.
  • Es gibt aber auch Gerichte, die inkompetent und voreingenommen urteilen. Das wird hier dokumentiert.

Der Staat

  • Politiker gehen als Minister gegen unliebsame Meinungen mit Anwälten vor. Dabei geht der Politiker kein Risiko ein, denn die Prozesskosten werden im Notfall vom Steuerzahler übernommen. Der beklagte Bürger oder Journalist jedoch trägt das volle Prozesskostenrisiko auf eigene Kosten.
  • Der Staat finanziert sogenannte „Faktenchecker“, d.h. regierungsnahe Organisationen, die per Gesetz in Plattformen als „Faktenchecker“ zum Einsatz kommen. Darunter so zwielichtige Organisationen wie Correctiv.
  • Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz wird als verfassungswidrig entlarvt. Es wurde von zahlreichen autoritären Staaten kopiert. In Zukunft wird es den Digital Services Act DSA der EU geben, der noch schlimmer ist (mit „Trusted Flaggern“).
  • Der erste offiziell registrierte „Trusted Flagger“ in Deutschland ist die „Meldestelle Respect!“, deren Symbol ein roter Stern ist.
  • Eine entsprechende Organisation aus den USA ist Newsguard, die offenbar eng mit der Pharma-Lobby verbandelt ist und bis nach Deutschland hinein agiert.

Was fehlt

  • Nicht in diesem Buch besprochen wird der neue Majestätsbeleidigungsparagraph 188, nach dem völlig groteske Hausdurchsuchungen und Urteile gegen unbescholtene Bürger ergehen. Stichwort „Schwachkopf“.
  • Die Problematik von Upload-Filtern wird nicht thematisiert.
  • Ebenso fehlt der Schwenk der großen Plattformen durch den Kauf von X (Twitter) durch Elon Musk 2022 und durch den Amtsantritt von Donald Trump 2025. Hier wäre insbesondere die Rede von Mark Zuckerberg vom 07. Januar 2025 zu nennen, der ankündigte, in Zukunft keine Faktenchecker mehr zuzulassen, sondern auf mehr Freiheit und Selbstregulation zu setzen.
  • Auch weiterführenden Gedanken fehlen in diesem Buch: Letztlich hat sich in Deutschland und Europa eine Kaste von Politikern, Journalisten und anderen Linksliberalen herausgebildet, die dem eigenen Volk nicht mehr traut. Die deshalb auch den Grundgedanken der Demokratie gerne aushebeln möchte. Dazu muss vor allem die Meinungsfreiheit ausgeschaltet werden. Aber eine Demokratie verträgt sich grundsätzlich nicht mit der Herausbildung einer vom Volk abgehobenen Kaste.

Fazit

Wer die alternativen Medien über die Jahre aufmerksam mitgelesen hat, kennt fast alles schon, was Steinhöfel hier ausbreitet. Als Zusammenfassung, Überblick und dauerhafte Dokumentation für alle Zukunft ist das Buch hervorragend geeignet. Hinzu kommt das Lesevergnügen, denn Steinhöfel stellt die Fälle mit seinem ganz eigenen, trockenen Humor dar. Das Vorwort hat Henryk M. Broder geschrieben. Ein systematischer Überblick über alle Probleme mit sozialen Netzwerken ist das Buch aber nicht.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834)

Anregende und wirkmächtige Geistesgeschichte Deutschlands

Heinrich Heines „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ von 1834/5 ist aus mehreren Gründen absolut lesenswert: Zum einen, weil es eine sehr persönliche Sicht auf den Verlauf der Geistesgeschichte in Deutschland bietet, die durch Ehrlichkeit, Individualität und Offenheit überzeugt. Hier geht es nicht darum, Objektivität vorzutäuschen, sondern hier sagt jemand seine Meinung, und der Leser ist zum Selberdenken aufgefordert. Auch dort, wo man die Darstellung für zu oberflächlich und einseitig hält, hat Heine doch immer einen guten Punkt getroffen. Heine hat hier einige Einsichten mit Worten geprägt, die fast zu Sprichworten geworden sind.

Zum anderen sollte man dieses Buch deshalb lesen, weil es von vielen gelesen wurde, und ein Bild der deutschen Geistesgeschichte erzeugt hat, das von vielen geteilt wird. Auch und gerade, weil es auch Fehler hat, sollte man um die Wirkmächtigkeit dieser Irrtümer wissen. Schließlich ist Heines Werk aber auch ein Zeitdokument, das einem die Augen öffnet, wie die Dinge in den damaligen Zeiten gelaufen sind – und wie sie wohl zu allen Zeiten laufen bzw. laufen könnten.

Für Heinrich Heine mündet die Reihe Kant, Fichte, Schelling, Hegel in Pantheismus, in „Naturphilosophie“. Im Pantheismus, in der Romantik, lebt auch das alte Germanentum wieder auf, während die Juden als „Schweizergarde des Deismus“ nicht in das pantheistische Bild passen. Heine weiß, dass in der Naturphilosophie auch Gefahren liegen: Das Wiederaufleben der „Berserkerwut“ des Germanentums aus „tausendjährigem Schlummer“. Man meint, eine Prophezeiung auf Marx und Hitler zu lesen.

Hier gibt es eigentlich keinen Grund für Optimismus und Fortschrittsglaube. Es ist unverständlich, wie Heine den Gang der Geistesgeschichte einschließlich ihrer Gefahren so beschreiben kann, aber dann relativ optimistisch dabei ist. Heine hätte hier die Frage nach einer besseren Alternative stellen müssen. Aber das tut er nicht. Heine scheint vielmehr im Ganzen recht einverstanden zu sein mit der „Naturphilosophie“. Die Gefahren scheint er nicht ernst zu nehmen.

In diesen Zusammenhang muss wohl auch die Aussage Heines eingeordnet werden, dass er das Christentum selbst dann noch erhalten wollte, wenn der Glaube geschwunden ist. Das ist eine sehr unphilosophische Aussage. Hier wird deutlich, dass Heine selbst kein ganz klarer Kopf ist. An anderer Stelle äußert er, wie ihm unwohl ist, wenn Kant Gott seziert; damit zeigt er eine unphilosophische Religiosität. Von diesem Punkt aus lassen sich Heines Irrtümer und Fehlurteile verstehen.

Hierher gehört wohl auch, dass Heine seinen eigenen Fortschrittsoptimismus ein wenig relativiert, ohne ihn im Kern zu hinterfragen. Man kann sicher sein, dass Heine vor ideologischem Handeln und Fanatismus zurückgeschreckt wäre. Aber Heine mäßigt seinen Optimismus nur, statt dass er ihn grundsätzlich hinterfragt. Auch hier wird die Gefahr von Heine gesehen, aber kleingeredet. Eine bessere Alternative zum naiven Fortschrittsoptimismus wird nicht gegeben. Heine ist ganz offenkundig fasziniert von dem Neuen und will daran nur das vermeintlich Gute sehen. Heinrich Heine ist einer der ersten, die die Greuel von Kommunismus und Nationalsozialismus vor lauter Faszination nicht sehen wollten – wenn auch nur auf einer theoretischen Ebene.

Die Aufgabe des modernen Lesers ist es, sich dieser Faszination Heinrich Heines zu entziehen, und bessere Alternativen zu suchen.

Interessant die Aussagen über das deutsche Wesen: Methodisch, gründlich, langsam, auch im Hass, und mit einer Wirkung aufgrund der Gedankentiefe, die die Welt erschüttern wird. Die Deutschen sind generell langsam, wenn sie aber einmal eine Bahn eingeschlagen haben, verfolgen sie diese bis zum Ende.

Ein Irrtum ist u.a. die Auffassung, dass es eines Luthers bedarf, um etwas zu bewegen, und dass ein Erasmus und Melanchthon es allein nicht geschafft hätten. Denn Heine selbst spricht später davon, dass Kant und seine Nachfolger eine Wirkung entfalten würden, gegen die die französische Revolution nichts sei.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. August 2014)

« Ältere Beiträge