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Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen (2013)

Teils urkomisch, teils nachdenklich machend, teils zu derb

Yasmina Reza gestaltet in diesem „Roman“ genannten Buch eine Reihe von kurzen Episoden aus dem alltäglichen Beziehungs- und Alltagsleben einiger Franzosen, wobei jedes Kapitel aus der Perspektive eines der Protagonisten geschrieben ist, so dass sich die verschiedenen Perspektiven und Episoden gegenseitig ergänzen und verweben, bis zu einem gewissen Finale am Schluss, wo alle zu einem Begräbnis zusammen kommen.

Teilweise sind diese Episoden urkomisch, kommen einem nur zu bekannt vor, und sind von einer herzlichen Skurrilität. Teilweise sind es traurige Begebenheiten, die nachdenklich machen: Krankheit, Verlust, Tod.

Leider sind die gezeigten Beziehungen zu einem guten Teil solche, in denen es eher recht derb, lieb- und geistlos zugeht, in denen z.B. „clever“ betrogen wird (Subtext: Wer treu bleibt ist ein Idiot), und in denen sich die Frauen dem übelsten Macho spontan hingeben. Solches mag es zwar in der Tat zuhauf geben in der Welt (vgl. Ortega y Gasset), aber was bitteschön soll daran interessant und was komisch sein? Interessant ist das andere: Beziehungen, die auf weniger derbe Art ihre Probleme haben und diese auch lösen, und die z.B. einen klaren Schnitt machen, wenn es nicht funktioniert, statt ein Leben lang Psychospiele zu spielen. Solche sind leider nur wenige dabei. Das verringert das Identifikationspotential des geistvollen Lesers doch ein wenig.

Etwas irritierend auch die Eingangsformel von Jorge Luis Borges: „Glücklich die …. die auf Liebe verzichten können.“ Das ist schon ein zur Weltanschauung gemachter Pessimismus. Und das als Eingangsformel?! Denn im Sinne des Schlusses von Goethes Faust II wird man wohl sagen dürfen, dass es ganz ohne Liebe nicht geht, und sei es nur die Liebe „von oben“.

Insofern sich in diesem Buch eine nihilistische Schickeria nicht nur bespiegelt, sondern in ihrem Versagen gewissermaßen auch selbst feiert, könnte es sogar ein schlechtes Buch sein, ein moralisch schlechtes Buch. Wir geben vorsichtig 3 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. August 2018)

Max Frisch: Homo faber – Ein Bericht (1957)

Tristesse des alternden, egozentrischen Materialisten – Ohne konstruktive Perspektive

Der Roman „Homo faber“ von Max Frisch zeigt den Schweizer Ingenieur Walter Faber im Alter von 50 Jahren, der für die Unesco Turbinen in Mittelamerika montiert, und der für seine Arbeit in New York wohnt und dabei auch nach Paris zu Konferenzen fliegt. Technisches Jet-Set sozusagen. Das Wort „faber“ bedeutet auf Lateinisch Handwerker oder Arbeiter.

Ein Hauptthema des Buches ist die bloß rationale, technische Intelligenz des egozentrischen Protagonisten. Für Faber gibt es praktisch keine Gefühle. Er ist immer sachlich. Alles ist planbar und erklärbar. Der Mensch ist für ihn eine schlecht konstruierte biologische Maschine. Roboter werden bald vieles besser können als der Mensch. Wenn nicht alles. Abtreibung ist für ihn eine Notwendigkeit zur Geburtenregelung, moralische Fragen nur sachfremd und störend. Literatur liest er keine. Er ist der perfekte Praktiker und Materialist. Die Welt des Geistes ist ihm verschlossen. Damit ist er natürlich auch etwas egozentrisch.

Das Buch ist als endloser Monolog gestaltet, den Walter Faber mit sich selbst führt, während er die Ereignisse aus der Erinnerung heraus nacherlebt. Dabei geht es immer praktisch zu. Und alles ist von einer gewissen Tristesse. Faber sieht das Schöne und Interessante nicht. Immer nur die Sache. Wir erleben die Tristesse des Fliegens und der Flughäfen, die Tristesse des mexikanischen Niemandslandes, wo seine Maschine notlandet, die Tristesse des Regenwaldes im Grenzgebiet von Mexiko und Guatemala, die Tristesse des Zusammenlebens mit dem geistlosen Mode-Flittchen Ivy in New York, die Tristesse der Party mit Arbeitskollegen. Immer wieder werden auch ekelhafte Bilder eingestreut, so z.B. die Zerreißung eines Eselkadavers durch Zopilote-Vögel.

Die geordnete Welt von Faber bekommt aber Risse: Die Tristesse richtet sich auf Erinnerungen und wird dann melancholisch. Seinen Jugendfreund Joachim trifft er erhängt im Regenwald von Guatemala. Wie er erfährt, hatte dieser einst seine Jugendfreundin Hanna geheiratet. Es kommen ihm Erinnerungen an das Aneinandervorbeireden mit Hanna, die Philologie studierte und ihn „homo faber“ nannte. Und wie Hanna – die Irrationalität in Person – ihn nicht heiraten wollte und sie schließlich voneinander schieden mit der Entscheidung, dass das gemeinsame Kind abgetrieben werden sollte. Außerdem beginnt der zuverlässige Ingenieur Faber, vor seinen Pflichten zu fliehen: In Houston versucht er spontan, das Flugzeug absichtlich zu verpassen. In Mexiko fährt er spontan zu seinem Jugendfreund statt zur Montage. In Rom begleitet er spontan das Mädchen Sabeth auf ihrem Trip nach Südfrankreich, Italien, Griechenland, wo deren Mutter lebt. In Avignon schläft er einmal mit ihr. Faber erlebt halbwegs frohe Tage.

Das zweite große Thema des Buch ist das Altern. Faber ist 50 geworden, und versucht mit Sabeth eine Art zweiten Frühling. Doch er bemerkt, dass er die Jugend nicht mehr richtig versteht. Es gibt keinen zweiten Frühling. Zweimal heißt es: Wir können nicht unsere eigenen Kinder heiraten. Man kann nicht unverändert leben, das Altern gehört zum Leben dazu.

In Griechenland erleidet Sabeth einen unnötigen Unfall und stirbt. Es stellt sich heraus, dass sie das nicht abgetriebene gemeinsame Kind mit Hanna war, die er nun in Griechenland wiedertrifft. Hanna arbeitet als Archäologin und Faber staunt, dass man davon leben kann. Die Situation ist schal und trist: Faber war also in seine eigene Tochter verliebt. Und Faber ist zwar nicht wirklich schuld am Tod der gemeinsamen Tochter, doch sein Wiederauftauchen im Leben von Hanna fällt mit diesem Ereignis zusammen. Hanna lässt Faber trotzdem bei sich wohnen. Faber will sein Leben ändern. Es bleibt aber unklar, wie. Schließlich muss sich Faber wegen eines Magenleidens einer Operation unterziehen. Er tut dies in Griechenland, bei Hanna. Zwei gescheiterte Existenzen nähern sich einander an.

Nebenthemen

Der Deutsche Herbert blamiert sich als Nachkriegsdeutscher vor dem Schweizer. Walter Faber mag die Deutschen nicht.

Es gibt antiamerikanische Passagen: Die Amerikaner würden angeblich die Welt kolonisieren und aus allem einen Highway machen. Sie seien fett, ungebildet, und herrschten mit ihren Dollars. Amerikaner seien geschminkt, und ihre Leuchtreklame bloße Kulisse und Kitsch. „Aber wir leben von ihren Dollars.“ – Intelligente Kritik an Amerika gibt es in diesem Buch nicht.

Mindestens zweimal wird das intuitive Verhalten von Frauen „weibisch“ genannt. Für die Toilettenfrau am Flughafen in Houston und für die Huren in Havanna wird das Wort „Neger“ verwendet. Damit wäre auch Max Frisch für den aktuell herrschenden hysterischen Zeitgeist nicht mehr akzeptabel.

Kritik

Literarisch und sprachlich ist das Buch sehr gut gelungen. Jeder Satz sitzt. Jede Stimmung wird verlässlich eingefangen. Rück- und Vorblenden sind geschickt ineinander verwoben. Unpassend vielleicht, dass das Zusammentreffen mit Sabeth ein literarisch schlecht motivierter, unglaubwürdiger Zufall ist, nachdem Faber bereits zuvor durch einen ebensolchen Zufall auf seinen alten Jugendfreund gestoßen war.

Die Frage ist, was das Buch aussagen will. Die Bearbeitung des Themas Altern ist zumindest nicht originell. Besser steht es um die Kritik an der allzu praktischen, materialistischen Einstellung des Protagonisten. Aber auch hier werden Alternativen nur angedeutet. Die Irrationalität der Frauen, speziell von Hanna, wird auch keiner Lösung zugeführt. Beide sind gescheiterte Existenzen, Faber und Hanna: Der eine ist an seiner ausschließlichen Rationalität, die andere ist an ihrer ausschließlichen Irrationalität gescheitert. Ein gelungenes Leben wäre es gewesen, so liest sich dieser Roman ex negativo, wenn sie geheiratet und das gemeinsame Kind gemeinsam aufgezogen hätten. Doch das ist nicht mehr rückholbar und alle leiden nur noch melancholisch daran, anstatt konstruktiv zu werden.

Das Buch hinterlässt den Leser eher ratlos als bereichert. Da hilft auch die literarische Qualität nicht. Max Frisch scheint ein guter Beobachter aber ein schlechter Denker zu sein. Etliche Elemente des Romans sind offensichtlich autobiographisch motiviert. Das Leben von Max Frisch liefert genauso gutes Anschauungsmaterial und ist genauso wenig überzeugend wie dieser Roman.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 08. August 2020)

Yaşar Nuri Öztürk: Der verfälschte Islam – Eine Kritik der Geschichte islamischen Denkens (2007)

Islamreform im Sinne des Kemalismus

Yasar Nuri Öztürk ist einer der Hauptvertreter eines Reformislam im Sinne des Kemalismus. Er ist einer der schärfsten Kritiker des Islamisten Recep Tayyip Erdogan und engagiert sich auch als Parlamentarier im türkischen Parlament.

Problematisch ist, dass er sich einer bestimmten politischen Richtung verbunden fühlt, nämlich dem Kemalismus, und dass er den Islam etwas zu einfach und etwas zu holzschnittartig an die Erfordernisse einer modernen, säkularen Republik anpasst. Eine qualitativ hochwertige und dauerhafte Reform einer Religion erzielt man aber nur dann, wenn die Reform wahrhaftig und glaubwürdig ist, und über einen politischen Zeitgeist hinaus einer Prüfung stand hält. Eine Religion kann sich nicht allem anpassen. Im Zuge des Kemalismus kam es einerseits zu so zahlreichen theologische Anstößen, dass dieses Reformwirken eine dauerhafte Wirkung entfaltet hat. Eine Reform in der Breite des türkischen Islams ist aber offensichtlich nicht gelungen.

Manches ist wie gesagt zu einfach gedacht. Manches ist auch typisch türkischen und islamischen Ressentiments geschuldet. So wittert Öztürk z.B. die Quelle der Verfälschungen des Islam bei Juden, Christen oder den Arabern: Solche holzschnittartigen Zuschreibungen helfen nicht weiter.

Aber es sind auch einige interessante Punkte dabei.

So z.B. die Erkenntnis, dass das Wort „schlagen“ in dem Vers, der das Schlagen von Frauen erlaubt, möglicherweise gar nicht „schlagen“ bedeuten soll. Die arabische Sprache ist nämlich eine sehr polyseme Sprache, und so kann ein und dasselbe Wort viele verschiedene Bedeutungen annehmen. In Anlehnung an die Verwendung desselben Wortes an anderen Stellen des Koran will Öztürk lieber mit „wegschicken“ statt mit „schlagen“ übersetzen. Wenn das eine philologisch tragfähige Interpretation ist, wäre das eine kleine Sensation.

Öztürk überwindet auch die Trennung der Welt in „Haus des Krieges“ und „Haus des Islam“. Denn das „Haus des Islam“ sei überall dort, wo ein Rechtsstaat herrscht, auch wenn es kein islamischer Staat ist.

Generell will Öztürk die Koran-Auslegung von späteren arabischen Traditionen befreien und den Koran sprachlich und im historischen Kontext lesen. Die Richtung stimmt also, bei allen nicht zu leugnenden Schwierigkeiten.

PS: Öztürk ist kein Vertreter der „Schule von Ankara“. Diese Bezeichnung meint nur eine kleine Gruppe von Reformtheologen in der Türkei.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. April 2016, mit Korrektur vom 01.03.2017)

Kazuo Ishiguro: Der begrabene Riese (2015)

Literarisch Gelungenes inmitten einer billigen Computerspiel-Atmosphäre

Der Roman „Der begrabene Riese“ von Kazuo Ishiguro spielt im England des Frühmittelalters, als die Britannier und Sachsen die Insel gemeinsam bewohnten. Es beginnt mit einem alten Ehepaar, das offenbar an Demenz leidet und deshalb vieles vergessen hat. Mit Mühe klauben sie ihre letzten Erinnerungen zusammen und machen sich auf die Reise zu ihrem Sohn, der sich um sie kümmern soll. Die Begebenheiten rund um das alte Ehepaar sind literarisch anspruchsvoll und teilweise hochsymbolisch. Der Umgang mit der verlorenen Erinnerung bzw. mit wieder auftauchenden, schmerzlichen oder gefährlichen Erinnerungen ist literarisch gut gestaltet. Auch die Symbolik des Fährmanns am Ende der Reise vermag zu überzeugen.

Doch im Vordergrund des Romans steht ein Abenteuer, das literarisch vollkommen anspruchslos erzählt wird. Die Handlung geht voran von Ort zu Ort und von Szene zu Szene wie in einem Dungeons & Dragons Computerspiel. Im Fokus steht immer der Fortgang des Abenteuers. Mal bekommt man neue Hinweise, die zur nächsten Station führen. Mal trifft man neue Gefährten. Mal erhält man nützliche Artefakte. Das alles wird sehr kontextfrei erzählt. Von einem Roman über das englische Frühmittelalter hätte man sich einige Hintergrundinformationen erwartet. Doch ohne jede Erklärung wird unvermittelt von Pikten oder Britanniern erzählt, von verfallenen Römerstraßen oder neu ankommenden Sachsen. Und mit Gawain ist noch ein alter Ritter von König Artus‘ Tafelrunde in die Handlung eingebaut worden. Dessen Aufgabe wird wiederholt als „Queste“ bezeichnet, ein Wort, das es im Deutschen so nur in der Sprache der Computerspiele gibt, wo es achtlos aus dem Englischen übernommen wurde.

Genau diese Atmosphäre des Romans herrscht auch in einem Computerspiel vor, in dem man ein Abenteuer von Szene zu Szene durchspielen muss. Auch dort ist der Fokus vollkommen auf dem Abenteuer. Kontextinformation wird so gut wie keine gegeben, denn ein Computerspiel ist kein Buch. Bekannte literarische Charaktere wie z.B. Gawain werden häufig unpassend, weil ahistorisch und ohne weitere Erklärung, in die Handlung eingebunden. Gawain erinnert streckenweise an Don Quijote, den Ritter von der traurigen Gestalt. Und schließlich kippt die Handlung ins Esoterische. Kobolde, Mischwesen und eine eigene Spezies von Menschenfressern kommen vor. Und am Ende ein Drache. Die Kobolde mögen symbolisch sein, die Menschenfresser, das Mischwesen und der Drache sind es nicht.

– – – Spoilerwarnung – – –

Der Kern des Plots ist dieser: Einst hatte der britannische König Artus den Sachsen versprochen, ihre Frauen und Kinder in jedem Fall zu schonen. Doch irgendwann brach er dieses Versprechen und richtete ein Gemetzel unter der sächsischen Zivilbevölkerung an. Damit verriet er auch jene, die dieses Versprechen in seinem Namen verbreitet hatten. Um Britannier und Sachsen zu befrieden, brachte der Zauberer Merlin mithilfe des Atems eines Drachens ein großes Vergessen über das Land. Nicht nur die beiden Alten, sondern alle Menschen in diesem Roman haben mit einer gewissen Vergesslichkeit zu kämpfen. Das Ende des Drachens ist auch das Ende des Vergessens: Die Erinnerung, der lang begrabene Riese, wird wieder erwachen, und mit ihm Rache, Mord und Totschlag.

Fazit

Die literarische Gestaltung eines alten Ehepaares, das an Demenz leidet, wie sie um ihre Erinnerung kämpfen und mit schmerzlichen und gefährlichen Erinnerungen umgehen, ist gut gelungen. Aber das alles ist in ein Abenteuer eingebunden, das nur und ausschließlich als Abenteuer funktioniert, und nicht mehr ist als ein lediglich spannendes Jugendbuch. Karl May hat mehr zu bieten. Das verwundert, da der Autor Kazuo Ishiguro doch 2017 den Literaturnobelpreis bekommen hat.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Andreas Mäckler (Hrsg.): Schwarzbuch Wikipedia – Mobbing, Diffamierung und Falschinformation in der Online-Enzyklopädie und was jetzt dagegen getan werden muss (2020)

Der Wikipedia-Sumpf – Es fehlen diese grundsätzlichen Lösungsvorschläge

Dieses Buch versammelt eine ganze Reihe von namentlich gezeichneten Erfahrungsberichten, Recherchen und Interviews rund um das problematische Internet-Lexikon Wikipedia. Wer selbst schon bemerkt hat, dass Wikipedia seltsam einseitig ist, und wer vor allem selbst einmal versucht hat, bei Wikipedia mitzuarbeiten, oder gar Opfer von Falschinformationen in der Wikipedia wurde, wird dieses Buch als ein Trostbuch lesen können, denn man sieht, dass man seine leidvollen Erfahrung mit vielen anderen teilt, und manche sind noch weit schlimmer betroffen als man selbst.

Das Grundproblem der Wikipedia ist, dass es von einem einseitigen Meinungsmilieu beherrscht wird. Man könnte dieses Meinungsmilieu als links-grün beschreiben: Gesellschaftspolitisch ticken diese Leute links, sie sind EU-euphorisch während ihnen die eigene Nation nichts bedeutet, sie sind für radikalen Klimaschutz und schrankenlose Migration, aber zugleich sind sie auch bellizistisch für die NATO eingestellt. Eben genau wie die Grünen. Und die Grünen liegen ganz im Trend des Zeitgeistes. Gerade bei intellektuellen Charakteren, die bei Wikipedia mitmachen. In Wikipedia spiegelt sich also ganz einfach der links-grüne Zeitgeist. Wenn der Zeitgeist sich verändern würde, würde sich Wikipedia automatisch mitverändern. Das würde aber die Probleme nicht lösen.

Problematisch an diesem Buch ist, dass viele der Beiträger selbst einem recht „einseitigen“ Milieu angehören. Da sind z.B. Homöopathie-Anhänger, die auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit pochen und mit Recht eine unwissenschaftliche Wissenschaftsgläubigkeit des Wikipedia-Meinungsmilieus anprangern, aber dann ertappt man sie dabei, wie sie in der Corona-Krise einfachste epidemiologische Zusammenhänge nicht begreifen und die Erwartungshaltungen plumper Wutbürger bedienen. Oder sie beklagen, dass ein Homöopathie-Blogger dabei erwischt wurde, von der Homöopathie-Industrie bezahlt worden zu sein – woraufhin seine Finanzierung futsch war und er Suizid beging. So verständlich die Klage über den Suizid und die menschenverachtende Häme auch ist, so wird doch leider auch deutlich, dass diese Homöopathen kein hinreichendes Verständnis für die Richtigkeit und Wichtigkeit der Aufdeckung des Sachverhaltes haben. Eine andere Gruppe sind die NATO-Kritiker und Anti-Amerikaner, die oft auch Verschwörungstheorien zu 9/11 verbreiten. Was sie zu NATO und USA behaupten ist oft genauso leicht und schnell widerlegt wie ihre Verschwörungstheorien zu 9/11. Außerdem fragt man sich, was denn ihre Alternative zu USA und NATO ist. Etwa Russland?! Ein anderer Beiträger hat eine Internetseite für Männerrechte, auf der u.a. beklagt wird, dass der Mann nicht mehr das diktatorisch bestimmenden Oberhaupt der Familie ist. Gleich auf der ersten Seite begegnet einem ein Zitat des Sektenführers der Ahmadiyya-Muslime. Ein weiterer Beiträger ist ein jüdischer Einzelgänger, der den Islam pauschal verurteilt, statt zu differenzieren, und der zur Wahl der rechtsradikal gewordenen AfD aufruft. Seine berufliche Vita ist recht „bewegt“ und auf seiner Seite über jüdisches Leben bietet er sich als privater Kreditvermittler an: Nanu? Dann ist da noch eine libertäre Zeitschrift, die keine Hemmungen hat, sich mit durchgeknallten Politikern der rechtsradikal gewordenen AfD zu zeigen. Und schließlich ist noch ein Genetiker zu nennen, dessen Vererbungslehre gefährlich holzschnittartig anmutet, und der behauptet, dass Thilo Sarrazin angeblich mehr von ihm übernommen hätte, als Thilo Sarrazin zugeben will. Ironischerweise behauptet das linksgrüne Meinungsmilieu von Wikipedia genau dasselbe, worüber dieser Genetiker doch eigentlich froh sein sollte. Doch beide liegen falsch: Der eine will sich zu Unrecht mit dem Erfolg von Thilo Sarrazin schmücken, die anderen wollen Thilo Sarrazin zu Unrecht in die Nähe holzschnittartiger Thesen rücken.

Natürlich haben auch diese Leute ein Recht auf faire Behandlung und auf eine Erwähnung ihrer Minderheitsmeinungen in der Wikipedia, sofern sie nicht radikal sind. Und im Grunde ist das Wikipedia-Meinungsmilieu keinen Deut besser. Ob halbseiden „rechts“ oder halbseiden „links“, das gibt sich nicht viel.

Allerdings ist die Klage über das Wikipedia-Meinungsmilieu bei aller berechtigten Kritik teilweise überzogen. Viele der beklagten Wikipedia-Artikel stellen sich beim Nachschlagen dann doch als weniger schlimm heraus (einige sind aber wirklich schlimm). Und selbst in diesem Schwarzbuch sind zwei bis drei Geschichten enthalten, bei denen Wikipedia sich am Ende doch noch verbessert hat. Diverse Verschwörungstheorien, dass Wikipedia von bestimmten Interessengruppen unterwandert wäre, oder dass Wikipedia selbst eine solche Unterwanderung zulassen und fördern würde, können nur auf Einzelfälle verweisen, die z.T. von Wikipedia selbstkritisch aufgearbeitet wurden, und sind deshalb aufs Ganze gesehen nicht überzeugend. Dass es vor allem der Zeitgeist ist, der zur Einseitigkeit von Wikipedia führt, scheinen viele nicht glauben zu können. Der gesunde Menschenverstand weiß natürlich, dass es organisierte Versuche der Beeinflussung geben muss, aber die Macht über die Leitmedien scheint am Ende immer noch wichtiger zu sein als Wikipedia, weshalb sich machtvolle Einflussversuche wohl eher dort finden lassen als bei Wikipedia. Denn wenn man den Zeitgeist über die Leitmedien beeinflussen kann, hat man Wikipedia automatisch mitbeeinflusst.

Am Ende sind die Beiträger zu diesem Buch nicht besser als das Wikipedia-Meinungsmilieu, nur „andersrum“. Doch das zu begreifen, reicht ihre Intellektualität oft nicht aus.

Man sieht es an den Verbesserungsvorschlägen: Jeder Beiträger macht in kurzen Absätzen diesen oder jenen Verbesserungsvorschlag. Das ist nichts halbes und nichts ganzes. Sehr oft wird die komplette Aufhebung der Anonymität der Wikipedianer gefordert. Manche wollen zurück in die gute alte Zeit der Brockhaus-Lexika. Was aber notwendig wäre, wäre sich über die Niederungen des eigenen kleinen Meinungshorizontes zu erheben und grundsätzliche Analysen und Lösungsvorschläge zu präsentieren, die jenseits der einzelnen Meinung stehen, die Rationalität auf philosophischem Niveau diskutieren, und die die demokratische Gesellschaft als Ganzes in den Blick nehmen.

Solche grundsätzlichen Analysen und Lösungsvorschläge wären z.B.:

(x) Das Meinungsmilieu von Wikipedia singt – zurecht – das Hohelied des demokratischen Rechtsstaates, aber Wikipedia selbst entzieht sich der Regelung durch eben diesen demokratischen Rechtsstaat. Das ist ein eklatanter Selbstwiderspruch. Wikipedia muss ebenso effektiv verklagt werden können, wie jede Zeitung und jeder Verlag auch. Ob Wikipedia dazu eine Kollektivverantwortung übernimmt, oder ob zu diesem Zweck Anonymitäten einzelner Wikipedianer ganz oder teilweise aufgehoben werden, ist eine ganz andere Frage. Aber die Hoheit des Rechtsstaates ist herzustellen. Punktum. Der politische Wille aller Demokraten sollte sich dieses Ziel setzen. Es sollte auch das Ziel aller Wikipedianer sein. Alles andere wäre unglaubwürdig.

(x) Wikipedia fordert den sogenannten „neutralen“ Standpunkt. Also genau einen einzigen Standpunkt. Philosophisch betrachtet ist ein solcher für Menschen jedoch nicht zu erreichen. Wir alle nähern uns immer nur an die Wahrheit an, und zwar von verschiedenen Seiten. Und auch „die Wissenschaft“ hat gerade bei komplexen Fragestellungen keine einheitliche Meinung. Praktisch führt das dazu, dass Wikipedia-Artikel vom Standpunkt eines allwissenden, autoritären, übermenschlichen Erzählers verfasst werden, der ganz und gar nicht neutral ist, sondern der genau eine einzige Meinung als die lexikographisch geoffenbarte Wahrheit darlegt, während er alle anderen Meinungen folgerichtig entweder als Unsinn herabwürdigt oder als unwürdig ausblendet. Die Abfassung von Lexikonartikeln vom Standpunkt eines allwissenden Erzählers aus, der genau eine Meinung darlegt, hat zwar lexikographische Tradition, ist aber rational betrachtet Unsinn. Und eigentlich liegt dem Meinungsmilieu von Wikipedia doch sehr viel an Rationalität. – Besonders schön kann man diese Problematik bei der Wissenschaft sehen, die ja eben keinen „Mund der Wahrheit“ kennt, wie etwa die katholische Kirche mit Papst und Konzilien. In der Wissenschaft sind Minderheitsmeinungen nicht nur legitim sondern geradezu notwendig. Wo es zu komplexen Fragestellungen nur noch eine einzige Meinung gibt, dort ist die Wissenschaft meistens „verbogen“, z.B. durch politischen Einfluss. Wikipedia spielt sich genau als dieser „Mund der Wahrheit“ der Wissenschaft auf, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Das ist sehr unglaubwürdig. Wikipedia sollte also dringend auf einen anderen Standpunkt wechseln, der dann auch wirklich neutral ist, nämlich auf den Standpunkt eines neutralen Beschreibers der Gesamtwirklichkeit, der die ganze Wirklichkeit beschreibt, dass es also zu einem Thema zunächst unstrittige Aussagen gibt, dann eine Mehrheitsmeinung, und dann Minderheitsmeinungen. Die unstrittigen Aussagen kommen zuerst und ganz groß, dann die Mehrheitsmeinung ebenfalls groß, und schließlich Minderheitsmeinungen, nur klein und hinten. Aber sie werden eben doch dargestellt. Und zwar ohne dass sie herabgewürdigt werden. Und der Leser des Artikels bekommt nicht vorgeschrieben, was er nun glauben soll. In der Demokratie machen wir es übrigens genauso: Wer bei Wahlen unterliegt, darf trotzdem im Parlament sitzen, nur eben mit weniger Sitzen und weniger Zugang zu Geld und Mikrofonen. Alles andere wäre totalitär. Wikipedianer berufen sich gerne auf ihre Rationalität und ihre demokratische Gesinnung. Die sollten sie in dieser Frage zeigen, wenn sie es ernst meinen. Alles andere ist rational nicht darstellbar. Außen vor ist nur radikal Falsches und politischer Radikalismus.

(x) Wikipedia braucht dringend Konkurrenz, denn Wettbewerb spornt am besten zu Verbesserungen an. Eine solche Konkurrenz könnte eigentlich nur durch die weltweite Wissenschaftsgemeinde aufgebaut werden. Nur sie hat die Kompetenz und auch die Manpower. Ziel wäre ein von Fachwissenschaftlern aufgebautes, populärwissenschaftliches (nicht: wissenschaftliches!) Universallexikon, das nach Art klassischer Lexika mit namentlich verfassten und betreuten Artikeln arbeitet. Dazu müssten die Staaten der Welt ihren Wissenschaftlern Budget zu Verfügung stellen, und es müsste je Sprache ein Stab gegründet werden, der die Arbeit koordiniert. Das alte Prinzip der gedruckten Lexika würde endlich wieder eine Finanzierung haben und ins Internet gehoben werden. Damit würden sich zwei Wikipedias, die nach verschiedenen Prinzipien funktionieren, gegenüberstehen. Auf der einen Seite die Intelligenz namentlich zeichnender Wissenschaftler, auf der anderen Seite die zeitgeistige Schwarmintelligenz der anonymen Masse. Das wäre ein durchführbarer Plan, der von allen Demokraten politisch gewollt sein sollte, um die Pluralität und Qualität der zur Verfügung stehenden Information in der demokratischen Gesellschaft zu sichern und zu steigern. Also sollten auch alle Wikipedianer das wollen. Was jedoch nicht funktioniert, ist der Versuch, eine zweite Wikipedia nach gleichen oder ähnlichen Prinzipien aufzubauen.

(x) Es gibt auch rein praktische Vorschläge zur Verbesserung der real existierenden Wikipedia. Zum Beispiel bessere Anleitungen, wie man unter bestimmten Umständen vorgeht, oder Beschwerde-Buttons und -Formulare an Artikeln, um kritische Inhalte schnell und einfach melden zu können. – Insbesondere könnte eine schnellere und direkt anrufbare Schiedsgerichtsbarkeit bzw. schnell herbeirufbare Moderatoren, die sich auch wirklich als solche verstehen, sehr viel helfen. Heute läuft es ja so: Es gibt Streit im Diskussionsforum und einen Edit-War, aber lange taucht kein Admin auf, und wenn dann doch ein Admin auftaucht, ergreift er kurzerhand Partei für eine Seite, und bedroht die andere Seite mit Sperrung, wenn sie nicht still ist. Ganz schlechter Stil. Evtl. sollte Wikipedia solche Moderatoren sogar professionell anstellen. Sie sollen nur moderieren, nicht schreiben. Ebenso könnte man professionelle Schiedsrichter, die geschult sind und selbst nicht schreiben, anstellen.

(x) Wikipedia sollte sich Gedanken darüber machen, die Mitarbeiter philosophisch zu schulen, in dem Sinne, dass sie in die Lage kommen, zu erkennen, dass der Zeitgeist nur der Zeitgeist ist, um sich über den Zeitgeist erheben zu können. Und dass die Fiktion eines einzigen realisierbaren neutralen Standpunktes zutiefst irrational und unphilosophisch ist. Und dass nichtradikale Minderheitsmeinungen auch das Recht haben, dargestellt zu werden, ohne dass sie herabgewürdigt werden. Wikipedianer müssten eben weise werden. Das ist natürlich viel verlangt, aber zumindest das Ziel sollte formuliert werden, um das Problem zu kennzeichnen. Jede lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Im Idealfall würde eine Mitarbeit bei Wikipedia den Menschen demütiger und weiser machen, statt wie heute seine niederen Instinkte zu wecken.

Fazit

Bei allen Defiziten ist es trotzdem gut, dass dieses Buch erschienen ist. Es bietet zumindest eine Grundlage und einen Anfang, um sich der Probleme bewusst zu werden. Damit fängt alles an.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juni 2020)

Margaret Atwood: Die Penelopiade – Der Mythos von Penelope und Odysseus (2005)

Ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber eben doch nur ein Pamphlet

In der „Penelopiade“ erzählt Margaret Atwood die Geschichte der Odyssee aus Sicht von Penelope, der Ehefrau des Odysseus, und zwar im Rückblick nach ihrem Tod aus dem Hades heraus. Atwood gestaltet dieses Werk als ein Pamphlet, mit dem sie feministische und sozialkritische Themen in literarischer Form transportiert. Literarisch ist dieses Werk ein Erlebnis, doch inhaltlich kann es nicht überzeugen. Es handelt sich um ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber es ist eben doch nur das: Ein Pamphlet.

Kritik am feministischen Aspekt

  • Der feministische Ansatz, man müsse die Odyssee doch auch einmal aus weiblicher Perspektive, also aus Sicht der Penelope, erzählen, übersieht, dass die Odyssee des Homer von einem Sänger erzählt wird. Zudem geht es über lange Strecken der Odyssee hinweg nur um Penelope und die Situation in Ithaka, nicht aber um Odysseus. Wenn man nun Penelope selbst zu Wort kommen lässt, ist das in Wahrheit eine Bevorzugung der Frau, und nicht etwa eine nachgeholte Gleichberechtigung.
  • Atwood unterlegt die Geschichte mit viel Zynismus, vor allem gegen Männer: Gegen das Extrem einer rein romantischen Darstellung mit wahrer Liebe und echtem Heldentum stellt sie das andere Extrem von berechnenden Hintergedanken und bloß gespielter Tugend, hinter der sich Laster und List verbergen. Als clever gilt, wer zynisch ist. Tugend ist naive Dummheit. Doch auch hier ist die originale Odyssee besser: Denn sie geht einen Weg zwischen beiden Extremen. Penelope ist eben nicht die brave, dumme Ehefrau, die zuhause bleiben und dienen muss, während der Ehemann in die Welt zieht und das Leben kennenlernt. Dieses Klischee wird hier beschworen. Zugleich wird dieses Klischee konterkariert durch die Aussage, dass Penelope natürlich heimlich reihenweise mit den Freiern ins Bett gegangen wäre, denn wieso sollte nur der Mann Anspruch auf Laster haben? Es ist ein Feminismus, der die Parole ausgibt: Wir Frauen wollen endlich auch so schlecht sein, wie wir uns die Männer immer vorgestellt haben! Nicht gerade verlockend.
  • Atwood lässt Penelope ans Publikum appellieren, es ihr nicht gleichzutun! Bloß nicht tugendhaft sein! Die Botschaft ist also: Lebe Deine Lust aus, sei lasterhaft, sei nicht treu! Doch davon wollen wir allen Leserinnen (und Lesern) gründlich abraten. Tugend ist keine historische Worthülse, auch wenn jede Zeit die genauen Umrisse von Tugend neu bestimmen muss. Tugend kommt von innen, wirkt nach innen, und zahlt sich aus. In eigener seelischer Balance, in sozialer Balance, und auch sonst. Die „alten Regeln“ gelten trotz allem noch, wenn auch in stark erneuertem Gewand.
  • Irgendwie ist dieser Odysseus, den Atwood zeichnet, trotz allem sympathisch. Er ist klug, Penelope ist es auch. Die Hochzeitsnacht ist für damalige Verhältnisse wirklich ganz passabel. Beide haben Spaß aneinander und erzählen sich gerne Geschichten. Ich meine, dass Atwood bei allem Zynismus nicht darum herumgekommen ist, das Gute an Odysseus, das auch im Original steckt, durchscheinen zu lassen.
  • Atwood bürstet einen 3000 Jahre alten Stoff feministisch gegen den Strich und zielt mit ihrer Botschaft sichtlich auf ihre Gegenwart (das Buch wurde 2005 veröffentlicht). Doch die Sitten der Männer (und Frauen) vor 3000 unterscheiden sich doch erheblich von den Sitten in unseren Tagen. Auf diese Weise verfehlt Atwood beide Zeithorizonte: Sie ist einerseits nicht fair zur Gegenwart, aber sie ist andererseits auch nicht fair zur Vergangenheit, denn man kann moderne Maßstäbe nicht 1:1 an alte Zeiten anlegen. Atwood quetscht etwas in diese Geschichte hinein, was dort nicht hineinpassen will.
  • Atwood verbreitet die pseudowissenschaftliche Idee, dass es in der Vorzeit ein Matriarchat gegeben habe, das von patriarchalen Männern, für die Odysseus urbildlich steht, gestürzt worden sei. Diese Idee hat sie ganz offensichtlich von Robert von Ranke-Graves, denn sie nennt ihn als Inspirationsquelle für zahlreiche Aspekte ihres Werkes (allerdings nicht für diesen, seltsam). Die Wissenschaft hatte diese Idee schon zu Zeiten von Ranke-Graves verabschiedet, warum muss Atwood das 2005 immer noch verbreiten?

Kritik am sozialkritischen Aspekt

Neben dem feministischen Aspekt gibt es aber auch einen stark sozialkritischen Zug. Die niedere Stellung der Mägde gegenüber den Oberen Odysseus und Penelope, ihre Abhängigkeit und ihre Ermordung zur Rettung der Ehre ihrer Herrin Penelope zieht sich durch das ganze Buch durch, angefangen von der Geburt der Penelope. Die Mägde treten auch immer wieder als Chor verkleidet auf und singen Matrosen-Shantys und andere kommentierende Moritaten, die zu den literarischen Höhepunkten des Werkes zählen.

  • Durch diese zweite, sozialkritische Botschaft wirkt das Werk überfrachtet. Es gibt kein dominierendes Thema, und die beiden Themen Feminismus und Sozialkritik stehen sich gegenseitig im Weg herum und lassen den Leser ein wenig ratlos zurück, was Atwood jetzt genau sagen wollte. Eine solche Überfrachtung mit Themen ist auch in anderen Werken Atwoods zu beobachten.
  • Wie schon beim Feminismus wird auch bei der Sozialkritik eine moderne Interpretation an ein 3000 Jahre altes Geschehen angelegt, die unpassend ist.

Literarische Qualität

Auf literarischem Gebiet überzeugt Margaret Atwood sehr viel mehr: Es fällt dem Leser auf, dass sie Homers Odyssee sehr genau gelesen hat, denn sie greift geschickt Details auf, die von den meisten überlesen werden. Es beeindruckt die Vielzahl literarischer Formen: Prosa, Lieder, eine dramatische Gerichtsverhandlung. Auch das Angebot einer mythologischen Paraphrasierung des Geschehens gegen Ende ist interessant. Die Songs der Mägde sind jedoch das Größte. Es sind wahre Ohrwürmer voll saftiger Ironie und Sarkasmus.

Fazit

Das Ziel von Margaret Atwood war es offensichtlich, mit der Odyssee einen Grundlagentext unserer Kultur zu konterkarieren, indem sie ihn scheinbar „realistisch“ ausdeutete, nämlich respektlos zynisch und lächerlich, um auf diese Weise seine Autorität infrage zu stellen. Denn Atwood sieht in der Odyssee einen Grundlagentext des Patriarchats, gegen das sie anschreibt. Doch ihr Pamphlet verfehlt die Wirklichkeit der Odyssee ebenso wie die Wirklichkeit unserer Tage. Es ist eine Rebellion der Unvernunft gegen die Sinnhaftigkeit der Tradition selbst. Eine solche Perspektive wird den alten Texten grundsätzlich nicht gerecht und verfehlt deren Weisheit, die trotz ihres Alters noch in ihnen steckt. Man enthebt sich der Mühe, diese Weisheit zu entdecken und für die Gegenwart zu aktualisieren. Darum müsste es eigentlich gehen. Im Grunde befasst sich Atwood gar nicht mit der Überlieferung, sondern drückt umgekehrt der Überlieferung etwas aufs Auge, was gar nicht in dieser drin steckt. Was bleibt ist ein literarisch gelungenes Pamphlet. Am Ende entpuppt sich Margaret Atwood als mindestens genauso listenreich wie jener Odysseus, den sie uns vor Augen führt: Die allzu listenreiche Autorin kritisiert den allzu listenreichen Odysseus – und es fällt auf sie zurück.

Bertolt Brecht

Der naheliegendste literarische Vergleich ist Bertolt Brecht. Auch Brecht war literarisch genial und hatte ein politisches Anliegen, mit dem er letztlich auf dem Holzweg war. Auch bei Brecht finden wir diesen Zynismus, aber auch solche Lieder wie in Atwoods „Penelopiade“. Einen direkten Vergleich können wir in Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ sehen. Dort fragt Brecht u.a.: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ – Es ist dieselbe Respektlosigkeit vor der Überlieferung wie bei Atwood. Es ist wahnsinnig sozial gedacht, geht aber an der Wirklichkeit völlig vorbei. Denn Alexander und Caesar waren jeweils der „spiritus rector“ ihrer Feldzüge, und nicht ihre Soldaten. Es ist ein Anschlag auf die Überlieferung, im Grunde eine Lächerlichmachung. Caesars Gallienfeldzug war eine echte Leistung von Caesar, in vielerlei Hinsicht – und dann kommt der respektlose Herr Brecht, der wischt das alles beiseite, und fragt pseudo-realistisch nach dem Koch, und dass die eigentliche Leistung doch von den Legionären erbracht worden sei. Was so eben nicht stimmt. Aber ja … auch Brecht war literarisch genial, kein Zweifel.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Mai 2020)

Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus (1953) – Teil 2 der Trilogie des Scheiterns

Blick eines Enttäuschten auf den Politikbetrieb der jungen BRD

Der Roman „Das Treibhaus“ von 1953 ist der zweite Teil der „Trilogie des Scheiterns“ von Wolfgang Koeppen. Während sich der erste Teil „Tauben im Gras“ dem Leben und Treiben der kleinen Leute widmete, deren kleines Leben und seine Probleme teils durchaus tragikomische Züge trug, begegnen wir hier nun dem Bundestagsabgeordneten Keetenheuve, der tatsächlich alle seine Träume tragisch scheitern sieht.

Wir verfolgen in konzentrierter Form den Ablauf zweier Tage Keetenheuves in der neuen Bundeshauptstadt Bonn, und bekommen dabei – buchstäblich en passant – ein detailreiches Gemälde der Zustände und der Atmosphäre im damaligen Bonn vor Augen geführt. Die Bundeshauptstadt gleicht einem Treibhaus, in dem sich alle wie im Hamsterrad abmühen, doch in der trägen Atmosphäre kommt kaum ein Erfolg aller Mühen zustande.

Der lose verfolgte rote Faden der politischen Handlung des Romans ist kurz erzählt: Keetenheuve stimmt Bauvorhaben für Arbeiterwohnungen zu, obwohl er sie für zu klein hält. Der Parlamentarier Korodin von der Gegenpartei hofft insgeheim, den Gewissensmenschen Keetenheuve auf seine (christliche) Seite herüberziehen zu können, doch Keetenheuve ahnt nicht und wird es auch nie erfahren, dass ihm vom politischen Gegner diese geradezu menschliche Anteilnahme entgegen gebracht wird. Keetenheuve erhält eine exklusive Information, mit der er die Regierung in einer Parlamentsrede unter Druck setzen kann. Doch kurz bevor er die Rede hält, erfährt er, dass die Meldung längst durchgesickert ist. Außerdem wird ihm, der als Gewissensmensch und unbequem gilt, der Posten des Botschafters in Guatemala angeboten, um ihn dorthin abzuschieben. Keetenheuve widersteht dieser Versuchung.

Keetenheuve übersetzt lieber Baudelaire als dass er seine Arbeit macht. Er träumt von Pazifismus und sozialer Gerechtigkeit, doch die Realität der Verhältnisse zerstört diese Träume gründlich. Die BRD steuert die Wiederbewaffnung an, und die sozialen Verhältnisse können nur in kleinen Schritten verbessert werden. Zudem befindet sich die BRD im „Käfig“ einer höheren Macht (USA), und man weiß nicht, wohin dieser „Käfigträger“ einen führen wird. Ständig tritt das Angsttrauma Keetenheuves zutage, dass auch die neuen Verhältnisse letztlich nur den Keim zu einem neuen Nationalsozialismus und zu einem neuen Krieg in sich tragen könnten. Kriege kämen zustande, weil die Denker der Nationen nicht gut genug gedacht haben. – Soeben ist auch die Ehefrau Keetenheuves gestorben, die er aber innerlich schon lange vorher verloren hatte, weil die politische Arbeit ihm die Zeit stahl, sich um sie zu kümmern. Teilweise fühlt sich Keetenheuve wie ein Ausländer im eigenen Land.

Am Ende vergreift sich Keetenheuve an einem Mädchen der Heilsarmee und begeht anschließend Suizid, indem er von einer Rheinbrücke springt.

Wir lernen in diesem Buch wieder viel über die Sinnlosigkeit menschlichen Strebens. Sogar mehr als genug: Offenbar war Koeppen maßlos von der neuen BRD enttäuscht, und weil er vom Nationalsozialismus und vom Krieg traumatisiert war, befürchtete er das Schlimmste – zu Unrecht. Es ist definitiv mehr Sinnlosigkeit und mehr Tragik in diesem Buch als in „Tauben im Gras“. Wir lernen zudem etwas über die 1950er Jahre, und wir lernen etwas über den Politikbetrieb, wie er im Grundsatz heute nicht viel anders sein wird als damals.

Eines fällt auf: In diesem Roman spielen Juden und der Holocaust keine besondere Rolle. Sie kommen praktisch so gut wie nicht vor. Überhaupt wird in diesem Roman der Tod vor allem als Tod im Krieg thematisiert. Vom Tod durch Verfolgung ist eher nicht die Rede. Es handelt sich offenbar um eine damals selbst bei kritischen Geistern verbreitete, verzerrte Wahrnehmung.

Auch dieses Werk ist dicht geschrieben, und voller skurriler Assoziationen und surrealen Szenen, aber stilistisch ist es nicht mehr so genial wie „Tauben im Gras“.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Juni 2018)

Mouhanad Khorchide: Gott glaubt an den Menschen – Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus (2015)

Abrundung einer echten Islamreform / Linkslastiger Humanismus

Mit diesem Werk versucht Mouhanad Khorchide zwei Dinge zugleich: Zum einen rundet er seine Reformtheologie ab, die er in zwei vorangegangenen Büchern zu entfalten begonnen hat („Islam ist Barmherzigkeit“ und „Scharia, der missverstandene Gott“). Zum anderen versucht er, den Islam in die Tradition des Humanismus einzuordnen.

Dieses Buch leidet etwas darunter, dass diese zwei Themen in ein Buch gepackt wurden und sich auf verwirrende Weise von Kapitel zu Kapitel abwechseln. Der Leser tut gut daran, beide Themen zunächst getrennt wahrzunehmen, und erst nach der Lektüre des gesamten Buches über eine Synthese nachzudenken.

Thema 1 – Die Abrundung der Reformtheologie

Am Anfang des Buches wird die in früheren Werken entwickelten Reformtheologie in geraffter Form und unter einer etwas anderen Perspektive wiederholt: Die Offenbarung des Koran ist von dem zentralen Satz aus aufzudröseln, dass Gott allbarmherzig ist, und Mohammed zur Barmherzigkeit gesandt wurde, und nicht, um Menschen zu zwingen. Der Mensch ist anders als die Engel kein Befehlsempfänger. Die richtige Haltung des Muslims ist das Sich-Öffnen im Gegensatz zum Sich-Verschließen. Der Koran muss historisch kontextualisiert gelesen werden. Es gibt ewig gültige und situativ gültige Verse. Die Sunna (Hadithe) müssen immer wieder auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden.

Die Reformtheologie wird abgerundet durch folgende Aussagen:

  • Ablehnung der fatalistischen Prädestinationslehre (S. 29).
  • Die Welt funktioniert nach Naturgesetzen, die der Mensch erkennen soll. Khorchide ist strikt dagegen, naturwissenschaftliche Aussagen im Koran erkennen zu wollen. Denn solche Aussagen sind bedingt durch den historischen Kontext, in den die Offenbarung hineingesprochen wurde. Der Koran verlangt nach der Benutzung der Vernunft, die die Gläubigen zu jeder Zeit neu einsetzen müssen (S. 33 ff.).
  • Die Verweigerung des Vernunftgebrauchs erregt den Zorn Gottes (S. 52).
  • Jetzt gesteht Khorchide auch einen strafenden Gott zu, im Verhältnis 18:1 barmherzig vs. strafend (S. 84). Die Strafe Gottes richtet sich nur gegen die Sünde, nicht gegen den Sünder.
  • Der Mensch soll danach streben, Gottes Eigenschaften ähnlich zu werden, doch Gott ist absolut, und der Mensch nur relativ und unvollkommen, ein ewig Strebender. Sogar im Paradies ginge das Streben noch weiter, meint Khorchide (S. 81).
  • Khorchide sagt jetzt, dass er Glaube nicht gegen Handeln ausspielen möchte, sondern dass das richtige Handeln ein Ausdruck des richtigen Glaubens ist (S. 198). Gut so.
  • Der Islam enthält in sich Aufforderungen zu Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen, und strebt keine Weltherrschaft des Islam an. Ein Kafir ist kein Ungläubiger, sondern ein Leugner. Christen und Juden werden z.B. keineswegs pauschal als Kafir bezeichnet. Khorchide schließt jetzt explizit alle Andersgläubigen in sein Toleranzkonzept mit ein, bis hin zu Atheisten (S. 209, 248).

Sehr stark sind Khorchides Aussagen zur Gewalt im Islam:

  • Khorchide hat ein großes Kapitel eingefügt (S. 167 ff.), in dem er klarstellt, dass der Dschihad als Angriffskrieg gegen alle Nichtmuslime eine starke Tradition in der islamischen Theologie hat, und dass es heute darum geht, eine friedliche, in der Geschichte des Islam meist schwächere Tradition, zum heute vorherrschenden Narrativ im Islam zu machen.
  • Khorchide zeigt die einzelnen Gelehrten auf, die durch die Jahrhunderte diese oder jene Lehre vertreten haben: Das ist sehr interessant.
  • Khorchide widerlegt die verschiedenen Argumente der Tradition: Die verschiedenen Schwertverse; die Problematik der Abrogation, die auch in der Tradition sehr umstritten ist (S. 178, 219 f.); usw. (Unerwähnt bleibt, dass auch die chronologische Reihenfolge der Koranverse, von der die Abrogation abhängt, in der Tradition umstritten ist.)
  • Khorchide zeigt, dass das Massaker an den Juden durch Mohammed nicht historisch ist. (Unerwähnt bleibt, dass moderne Historiker das Massaker als spätere Erfindung einordnen, mit der die Entfernung der Juden aus der Umma gerechtfertigt werden sollte.)
  • Khorchide sagt klar, dass das Problem nicht nur die Islamisten sind, die Gewalt und Terror anwenden, sondern bereits der traditionalistische Mainstream des Islam, der sich für ein Nachdenken über die Tradition nicht öffnet sondern verschließt, und damit notwendige Reformen verhindert. Der traditionalistische Mainstream tut auf der einen Seite so, als gäbe es die vorherrschende Tradition nicht, auf der anderen Seite wehrt er sich gegen jede Kritik an der Tradition.
  • Khorchide klagt einen Teil der Muslime der „Westophobie“ an, weil sie eine Islamreform pauschal mit dem falschen Argument ablehnen, dass man eine solche Reform nur deshalb durchführe, weil man damit dem Westen zu Gefallen wäre. Doch der Islam hat Reformen in seinem eigenen Interesse nötig.

Khorchides Reformtheologie ist teilweise links und postmodern:

  • Khorchide wendet sich gegen jede Autorität im Islam (S. 115 f., 222 ff.). Es ist zwar richtig, den einzelnen Gläubigen zu Eigenverantwortung aufzurufen, aber die Ablehnung jeder Form von Autorität ist überzogen und entspricht auch nicht dem Wesen des Menschen. Hier verfolgt Khorchide eine Utopie, mit der er keinen Erfolg haben wird. Statt Autoritäten pauschal abzulehnen sollte man sich lieber überlegen, wie man Autoritäten so installiert, dass sie nicht autoritär sind. Man muss auch bedenken, dass eine Organisation wichtig für die Meinungsbildung ist. Eine Organisation kann sich entwickeln, streiten, Lehren aussprechen oder verwerfen. Ohne das ist eine Reform praktisch nicht möglich. Die Masse der unorganisierten Muslime würde von Reformdenken sonst nie erfasst.
  • Teilweise übertreibt es Khorchide mit dem Sich-Öffnen. Bei ihm ist alles prozesshaft und im Fluss, alles wird ausgehandelt, der Dialog ist alles. Der Satz „Das ist der wahre Islam“ sei obsolet geworden, meint Khorchide (S. 45). Damit schwächt Khorchide aber auch seine eigene Position gegenüber den Traditionalisten. Khorchide muss schon klar sagen können, dass die Theologie der Gewalt falsch ist und schon immer falsch war, und deshalb zu verurteilen ist.
  • Khorchide schreckt davor zurück, große Gelehrte der islamischen Tradition für ihre theologischen Positionen zu verurteilen, weil es eine andere Zeit war (S. 187 f.). Doch so geht es nicht. Auch im Christentum waren Hexenverbrennungen schon immer falsch. Hexenverbrennungen sind nicht erst heute falsch.
  • Die Absicht zur Verwerfung der Hadithe, die nicht zur zentralen Botschaft der Allbarmherzigkeit passen, ist zwar grundsätzlich richtig, wird von Khorchide aber allzu leichtfertig formuliert (S. 176). Auch manche Koranverse sind etwas sperrig, können aber dennoch zur zentralen Botschaft in einen guten Bezug gesetzt und historisch kontextualisiert gelesen werden, ohne dass man sie verwirft.
  • Die Darstellung der Geschichte von Islam und Christentum unter der Perspektive des Sich-Öffnens und Sich-Verschließens ist grundsätzlich richtig gedeutet, aber im Detail zeichnet Khorchide ein zu weiches Bild: Das Kalifat von Cordoba in Al-Andalus sei ein wahres Paradies auch für Christen und Juden gewesen, die dort auch zur Universität gingen; im Islam hätte es damals keine Autoritäten gegeben, deshalb sei alles geistig frei gewesen; das wissenschaftliche Denken in Europa sei maßgeblich durch Al-Andalus und die Übersetzerschule von Toledo angestoßen worden; vor Anselm von Canterbury hätte es keine Beschäftigung mit Wissenschaft und Philosophie in Europa gegeben. Das alles ist so höchstens halbwahr und deshalb leider geeignet, wohlmeinende Islamkritiker abzuschrecken, weil sie solche Weichzeichnungen schon zu oft aus unglaubwürdigem Munde gehört haben. Die beabsichtigte Grundaussage ist aber trotzdem richtig: Man muss sich geistig öffnen.

Khorchide streut immer wieder Seitenhiebe gegen das Christentum ein. Als Nichtchrist ist das völlig legitim, man müsste es aber etwas breiter diskutieren:

  • Der Islam kennt keine Erbsünde, es gibt keine Kollektivschuld (S. 25). – Schön und gut, aber die Unvollkommenheit des Menschen als Geschöpf eines vollkommenen Gottes erklärt Khorchide damit nicht. Warum scheitert der von Gott geschaffene Mensch in der von Gott geschaffenen Welt immer wieder und wieder und muss sterben? Warum ist die Welt nicht vollkommen?
  • Gott wird nicht Mensch, die Distanz zwischen Gott und Mensch bleibt gewahrt (S. 81 f., 85). – Da Khorchide seinen Gott ähnlich wie den christlichen Gott als liebenden Gott darstellt, bleibt die Frage, wie Gott die damit entstehende Kluft zum Menschen überwinden will. Und wie errettet der islamisch verstandene Gott den bleibend sündigen Menschen, ohne ihm Anteil an der Göttlichkeit zu geben?
  • Sexualität sei auch zur Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse da, deshalb gebe es im Islam kein Verbot von Verhütungsmitteln (S. 243 f.). – Khorchide hat hier den christlichen bzw. katholischen Standpunkt nicht ganz verstanden, scheint es.

Thema 2 – Islam und Humanismus

Den Islam in die humanistische Tradition einzubetten ist ein großer Wurf. Denn damit verlässt Khorchide die Defensive und bringt den Islam offensiv in unsere Kultur hinein. Muslime werden so zu einer Islamreform motiviert, denn sie dürfen auf einen würdigen Platz für den Islam im Kreis der humanistischen Weltanschauungen hoffen. Im Kern geht es Khorchide um das Sich-Öffnen als einem humanistischen Grundgedanken. Das ist sicher richtig, aber leider ist die Ausführung des Ansatzes nicht ausreichend gelungen.

Ein linkslastiger Humanismus-Begriff:

  • Zentraler Fehler ist die Unterschätzung der Antike als Grundlage des Humanismus. Der Humanismus der Antike ist nicht einfach nur der erste Humanismus, und nicht einfach nur ein Humanismus unter mehreren, sondern es ist der Humanismus schlechthin, der zur Grundlage für alle späteren Humanismen wurde. Man kann sich nicht vom Humanismus der Antike lösen, so wie man auch das Rad nicht noch ein zweites Mal erfinden kann. Das Herunterspielen der Bedeutung der Antike ist typisch für linkes Denken.
  • Bei der Nachzeichnung der Geschichte des Humanismus stützt sich Khorchide vor allem auf linke Humanisten und Möchtegern-Humanisten bzw. deren Vordenker: Herder, Hegel, Marx, der Linkshegelianer Ruge, Sartre, Erich Fromm, den Humanismus des heutigen HVD-Verbandes, und den evolutionären Humanismus von Michael Schmidt-Salomon und seiner Giordano-Bruno-Stiftung. Man mag es kaum glauben, aber es fehlen u.a. Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt, Werner Jaeger oder Romano Guardini. Der Dritte Humanismus wird mit einem kurzen Absatz abgehandelt, der christliche Humanismus bleibt praktisch unerwähnt. Kurz: Der „bürgerliche“ Humanismus fehlt fast komplett! Für einen Überblick über den Humanismus ist das ein Totalschaden. Vermutlich hatte Khorchide die falschen Ratgeber.
  • Bei der Klage über anti-humanistische Zustände in der modernen Welt fühlt man sich an typisch linke Selbstanklagen gegen die die westliche Moderne erinnert, die man für alle Übel der Welt verantwortlich macht (S. 141 ff.): Da wird z.B. die Leistungsgesellschaft kritisiert, ohne deren guten Sinn zu würdigen. Schräge Beispiele werden herbeigezogen: Etwa eine Uni-Prüfung, bei der der Dozent festsetzt, dass genau die ersten zehn Studenten durchkommen, aber alle anderen nicht. Das ist natürlich das Gegenteil einer Prüfung nach Leistung: Es geht nämlich gar nicht um die Leistung der Studenten, sondern nur um den Bedarf an Absolventen, egal wie gut oder wie schlecht sie sind – und das ist Planwirtschaft, nicht Leistungsgesellschaft.
  • Khorchide versucht Verständnis für die Meinungen der „anderen Seite“, d.h. von Muslimen, zu heischen, indem er seitenweise Anklagen von Jürgen Todenhöfer an den Westen zitiert, deren Qualität sich auf dem Niveau von politischen Verschwörungstheorien bewegt. Man kann Verständnis für manchen Irrtum haben, der sich bei Muslimen über den Westen festgesetzt hat. Aber im Kern sind es nun einmal Irrtümer, und sie müssen überwunden werden. Verständnis hilft da nicht viel. Man könnte höchstens hinzufügen, dass nicht nur Muslime, sondern auch westliche Linke und Verschwörungstheoretiker diese Irrtümer überwinden müssen. Dazu sagt Khorchide aber nichts. Vermutlich ist er selbst in manchem dieser Irrtümer befangen.
  • Zu Anfang des Buches benutzt Khorchide den Begriff Humanismus als Synonym für Atheismus, so wie es heute in Mode gekommen ist. Zur Mitte des Buches hin überwindet Khorchide diesen Gebrauch des Wortes Humanismus zum Glück.

Khorchide entdeckt erstaunlich wenig Humanismus im Islam:

  • Einen Humanismus schon in den Anfängen nimmt Khorchide kaum ernst (z.B. Muhammad’s Humanism von Minou Reeves; S. 121).
  • Erst im 10. Jahrhundert will Khorchide so etwas wie Humanismus erkennen (Mutazila).
  • Im 14. Jahrhundert dann asch-Schatibi und dessen Normenlehre nach den Bedürfnissen des Menschen.

Khorchide hängt an einem völlig falschen Humanismus-Begriff:

  • Khorchide schreckt davor zurück, den Begriff „Humanismus“ im Zusammenhang mit dem Islam überhaupt zu gebrauchen, weil er zu eng mit der europäischen Entwicklung verknüpft wäre (S. 117 f.). Aber das ist Unfug, denn der Humanismus geht auf die Antike zurück, und diese wurde von Ost und West gleichermaßen rezipiert.
  • Bei Mohammed Arkoun schreibt Khorchide, dieser würde Rationalismus und Humanismus verknüpfen (S. 121). Aber ist das nicht von allem Anfang in der Antike her klar, dass ein Humanismus ohne Rationalismus überhaupt nicht denkbar ist?
  • Nach Schöller meint Khorchide, dass es eine Eigenheit des islamischen Humanismus sei, dass er keinen Gegensatz zur Religion bilde (S. 122 f). Aber das ist doch beim europäischen Humanismus ganz genauso! Humanismus bedeutet keineswegs automatisch Atheismus! Den Humanismus gegen die Religion zu positionieren ist eine postmoderne, linke Fehlwahrnehmung.

Khorchide verkennt den humanistischen Kern im Islam:

Es ist schon fast tragisch, dass Khorchide das Entscheidende völlig übersieht. Grund dafür ist nicht zuletzt Khorchides linkslastige Sicht auf den Humanismus, der die Antike völlig unterbelichtet. Denn wie auch beim Christentum so sind auch beim Islam von allem Anfang an humanistische Elemente eingeflossen. Mithilfe eines „bürgerlichen“ Humanismus hätte Khorchide erkennen können:

  • Bereits der Koran korrespondiert zu antiken Vorstellungen, z.B. die kosmologischen Vorstellungen in Platons Timaios. Dass der offenbarende Gott die Menschen im Kontext ihrer Zeit anspricht ist ja Khorchides eigene Meinung, also darf auch im Koran nach Spuren der Antike gesucht werden.
  • Auch in der Sunna finden sich viele Elemente antiken Denkens. So mancher Hadith wurzelt vielleicht eher in antiker Tradition als in einer Aussage des Propheten? Oder vielleicht beides zugleich?!
  • Die islamische Tradition der Auslegung von Koran und Sunna hat sich oft an antikem Denken orientiert. So korrespondiert z.B. die Dschihad-Lehre auffällig mit Platons Lehre von Krieg und Frieden in dessen Dialog Nomoi: So auch die Lehre vom großen und vom kleinen Kampf, die dem großen bzw. kleinen Dschihad entspricht. Khorchide selbst erwähnt die Übersetzungsbewegung von Baghdad: Was haben die denn da übersetzt? Natürlich antike Werke!
  • Die großen islamischen Philosophen wurden von antikem Denken geprägt, wie Khorchide selbst darlegt (z.B. S. 131 f.).

Der Islam kann sich also nicht nur in den in der Antike wurzelnden Humanismus einfügen, er enthält ihn bereits selbst. Der Islam trägt nicht nur etwas zum Humanismus bei, er trägt denselben antiken Humanismus bereits in sich, der auch die anderen Humanismen inspiriert hat. Das kann man allerdings nur erkennen, wenn man die besondere Bedeutung des antiken Humanismus erkannt hat. Im Grunde hat Khorchide mit einem gewissen Erfolg jenen Humanismus aus dem Islam herausgeholt, der von der Antike in den Islam hineingelegt wurde, ohne dass sich Khorchide dessen bewusst war. Bis hin zu der These, dass ein Humanist Individualist und Kollektivwesen zugleich ist (S. 239 ff.): Auch das natürlich ein antiker Gedanke.

Fazit

Khorchide ist ein echter Islamreformer, der mit seinem Denken auf dem richtigen Weg ist. Die Abrundung seiner Reformtheologie in diesem Werk beweist es. Es liegen allerdings einige dicke Steine auf seinem Weg: (1) Khorchide ist eindeutig zu linkslastig und postmodern eingestellt. (2) Khorchide fehlt in manchen Bereichen die Bildung: Das ist kein Beinbruch, denn das Thema greift in der Tat sehr weit aus. „Der gute Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst“ (Goethe, Faust). (3) Und drittens ist Khorchide zu wenig dem praktischen Leben zugewandt, wo seine Reformen umgesetzt werden müssen: Mit Autoritäten, mit Moscheen, mit einem klaren Katechismus, mit Verurteilungen von Irrlehren, usw. – Keines dieser Probleme ist unlösbar, aber vielleicht wird es nicht mehr Khorchide sein, der sie löst.

Das große Ziel, den Islam in den Kreis der humanistisch orientierten Religionen einzuführen, ist erreichbar. Zwar hat der Islam im Lauf seiner Geschichte großes Pech gehabt, und der gegenwärtige Zustand des Islam lässt keine schnellen Erfolge erwarten, aber grundsätzlich sind alle Voraussetzungen vorhanden, um das Ziel zu erreichen. Bis es soweit ist, dass Khorchides Ideen irgendwann einmal eines Tages in der Breite des Islam zu wirken beginnen, wird die westliche Welt allerdings geeignete Abwehrmaßnahmen gegen den traditionalistischen Islam ergreifen müssen. Auch zu diesen notwendigen Maßnahmen sagt Khorchide leider nichts. Das sollte er aber, wenn er Humanist sein will.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. April 2016.

Tobias Engelsing: „Jetzt machen wir Republik!“ – Die Revolution von 1848/49 in Baden und am Bodensee (2023)

Hervorragende Materialsammlung mit ideologischer Schlagseite

Dieser Katalog zur Sonderausstellung des Rosgartenmuseums Konstanz 2023 versammelt eine beeindruckende und wohlgeordnete Fülle von Bildern und Texten zum 175. Jahrestag der Revolution von 1848/49 in Baden. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Stadt Konstanz und den berühmten „Heckerzug“ gelegt, der unter Führung von Friedrich Hecker am 13. April 1848 in Konstanz aufbrach, um erst in Baden und dann in ganz Deutschland auf gewaltsame Weise die Monarchie abzuschaffen und eine Republik zu errichten. Der Katalog ist textuell und graphisch ganz analog zur Ausstellung gestaltet, die sich dem Besucher sehr ansprechend präsentierte.

Leider erlagen die Ausstellungsmachern einem typische Denkfehler: Sie gaben der Versuchung nach, ihr Thema enthusiastisch zu überhöhen und kritische Gesichtspunkte herunterzuspielen, während sie gleichzeitig die Gegenseite in rabenschwarzen Farben malen. So etwas erlebt man leider öfter in Ausstellungen.

Welche Revolution?

Eines der Probleme ist der Eindruck, der Heckerzug wäre hauptsächlich die Revolution gewesen. Es wird zwar hie und da eingestreut, geht aber dennoch ein wenig unter, dass es parallel dazu ein ganz anderes, viel wichtigeres Revolutionsgeschehen gab, nämlich die Einberufung der Nationalversammlung in Frankfurt am Main und die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung für Deutschland. Friedrich Hecker und die Seinen waren damals weder die führenden Revolutionäre, noch waren sie die unbestritten „Guten“, sondern sie spielten vielmehr die Rolle der radikalen Fanatiker und Störenfriede.

Es gab Anfang 1848 gewiss keinen Grund für Gewalt, denn mit der Frankfurter Nationalversammlung war ein friedlicher Weg der Revolution eröffnet und im Gange. Die gewaltsame Aktion von Friedrich Hecker hatte vielmehr das Potential, diese friedlichen Bemühungen zu desavouieren, und das wurde von den Frankfurter Abgeordneten auch deutlich zum Ausdruck gebracht. Zumal es völlig utopisch war, mit einem Haufen von Bauern und Bürgern gegen ausgebildetes Militär vorzugehen. Mit Karl Mathy wird nur ein einziger dieser friedlichen Revolutionäre der Frankfurter Nationalversammlung dargestellt. Karl Mathy war entschieden für demokratische Reformen, aber gegen jede gewaltsamen Umsturzpläne. Deshalb unterstützte er auch konsequent das Vorgehen des preußischen Militärs gegen die radikalen Fanatiker in allen Phasen der Revolution.

Obwohl dieser Ausstellungskatalog so reich an Material ist, fehlt darin doch ein markantes Detail, nämlich der kurze Dialog, der sich zwischen Friedrich Hecker und General Friedrich von Gagern vor der Schlacht bei Kandern entspann, in der der Heckerzug dem Militär unterlag. Friedrich von Gagern wollte unnötiges Blutvergießen vermeiden und forderte Hecker zur Kapitulation auf. Als dieser sich verweigerte, sagte von Gagern angeblich den denkwürdigen Satz: „Sie sind gescheit, aber fanatisch!“ – Se non è vero è ben trovato, kann man da nur sagen.

Wer diesen Ausstellungskatalog liest, denkt: Mit der Niederlage von Hecker war die Revolution gescheitert. Die „Reaktion“ hatte mit der Niederschlagung des Heckerzuges gesiegt. Doch weit gefehlt. Die eigentliche Revolution, die Nationalversammlung in Frankfurt am Main, lief weiter. Und die Niederschlagung des Heckerzuges wurde von den Frankfurter Parlamentarieren begrüßt.

Preußen

Die Rolle Preußens und der Hohenzollern wird in diesem Ausstellungskatalog rabenschwarz gemalt. Es bleibt ungesagt, dass die Barrikadenkämpfe in Berlin durch einen einzelnen Schuss ausgelöst wurden, von dem bis heute nicht klar ist, woher er kam. Jedenfalls gab es keinen Befehl zum Schießen und die Kämpfe begannen in jedem Fall ungewollt. Ebenso wurden die Berliner Straßenkämpfe nicht erst beendet, nachdem alle Revolutionäre besiegt waren, sondern der König selbst ließ den ohne Befehl spontan ausgebrochenen Kampf wieder beenden, zeigte sich mit der schwarz-rot-goldenen Fahne und ehrte die Getöteten. Man kann ehrlicherweise nicht behaupten, dass Preußen die Revolutionäre zusammenschießen ließ wie es die Kommunisten am 17. Juni 1953 taten. Alles andere als das.

Man beachte auch, dass die Frankfurter Nationalversammlung dem preußischen Königshaus die deutsche Kaiserkrone antrug. Es war also von den Hauptvertretern der Revolution weder geplant, die Monarchie abzuschaffen, noch scheint Preußen in den Augen der Frankfurter Parlamentarier der Inbegriff alles Bösen gewesen zu sein. Es ist den Ausstellungsmachern auch entgangen, dass Preußen die Kaiserkrone u.a. auch wegen Österreich ablehnen musste, um einen innerdeutschen Krieg zu vermeiden (der dann 1866 doch noch kam). Auch die Erschießung des Abgeordneten Robert Blum war ein Werk der Österreicher, nicht der Preußen. Der ganze Vormärz wurde von den Österreichern und ihrem Staatskanzler Metternich beherrscht. Davon liest man in diesem Ausstellungskatalog aber nicht viel.

Völlig obskur ist die Zeichnung der Hohenzollernherrscher und des Kaiserreiches. Wilhelm I. wird z.B. die Niederschlagung der gewaltsamen Umsturzversuche zur Last gelegt, ohne dabei an den Standpunkt von Karl Mathy (siehe oben) zu erinnern. Das Wahlrecht des Kaiserreiches wird als „stark beschränkt“ beschrieben. Das ist objektiv falsch. Historiker wie Hedwig Richter weisen darauf hin, dass das Wahlrecht des Kaiserreiches demokratischer war als in manchen Demokratien. Auch sei das Kaiserreich „militärisch strukturiert“ gewesen: Das ist mindestens eine Übertreibung. Wir verzichten auf eine Auflistung weiterer Irrtümer, der ideologische Tenor dieses Ausstellungskataloges ist klar.

Der Vogel wird aber ganz am Ende auf S. 148, schon mitten im Bildnachweis, abgeschossen: Dort ist das bekannte Vier-Generationen-Foto der Hohenzollern (Wilhelm I., Friedrich III, Wilhelm II. und Kronprinz Wilhelm als Baby) abgedruckt und mit den Worten versehen: „Diese Drei herrschen bis 1918 über das neue Kaiserreich: … Das Baby Wilhelm dient sich als Kronprinz a.D. schon vor 1933 dem „Führer“ Adolf Hitler als Wahlkämpfer an.“ – Hier wird schamlos die schwarze Legende von einer direkten Kontinuität der deutschen Geschichte im Nationalsozialismus behauptet! Wir sahen schon, dass die Rolle Preußens in der Revolution völlig falsch dargestellt wurde. Soviel also zu Wilhelm I. Von Friedrich III. haben die Autoren dieses Ausstellungskataloges offenbar nie gehört, dass er ein Liberaler war, und dass Deutschland zweifelsohne einen liberalen Kurs eingeschlagen hätte, wäre er nicht viel zu früh an Krebs gestorben. Und Wilhelm II. hat immerhin Bismarcks Sozialistengesetze aufgehoben und die Sozialdemokratie wieder zugelassen, und war auch sonst moderner, als manche meinen. Einer Kooperation mit dem Nationalsozialismus hat sich Wilhelm II. stets verweigert.

Vermutlich muss man diese zynische Bildlegende, die gnadenlos in die Irre führt und zudem einem Baby (!) gewissermaßen eine historische Erbschuld zuschreibt, als eine Reaktion auf die aktuell laufende öffentliche Debatte um die Rolle der Hohenzollern im Nationalsozialismus deuten. Diese Debatte wurde durch Rückforderungsklagen des Hauses Hohenzollern ausgelöst. Kein Historiker sollte sich zu einem solchen kurzsichtigen, politischen und falschen Denken hinreißen lassen. – Ebenso aktuell und zugleich verfehlt ist der Bezug zum sogenannten „Synodalen Weg“ der deutschen katholischen Kirche in diesen Tagen (S. 87). Dieser wird weltweit auch von liberalen Bischöfen und Theologen als zu radikal kritisiert, ganz wie damals der Heckerzug. Aber dieser Ausstellungskatalog hat ganz offensichtlich kein Gespür für die Übertreibung und die Gefährlichkeit von Radikalität. Dass auf dem hinteren Klappentext Friedrich Engels zur Notwendigkeit von Revolutionen zitiert wird, wundert dann schon nicht mehr.

Anderes

Eine Stärke dieses Ausstellungskataloges ist die Beleuchtung zahlreicher Nebenaspekte, die sonst in den Geschichtsbüchern unterbelichtet bleiben, z.B.:

  • Der Aufbau eines Netzwerkes bzw. einer Partei durch Johann Adam von Itzstein durch Treffen auf seinem Weingut in Hallgarten nahe des Klosters Eberbach im Rheingau.
  • Die Rolle von Frauen und die Frage des Frauenwahlrechts.
  • Der Antisemitismus mancher Revolutionäre.
  • Der Abriss der historischen Stadtmauer in Konstanz als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Zeiten der Not.
  • Die Verfassungsentwicklung in der Schweiz (Sonderbundskrieg) und die Verflechtungen von Schweizer Persönlichkeiten mit Deutschland.
  • Die Dialektik der Revolution und der Schweiz: Schweizer Verleger drucken Revolutionsschriften und schmuggeln sie nach Deutschland. Schweizer Waffenfabrikanten liefern Waffen an die deutschen Revolutionäre. Die Schweiz nimmt fliehende Revolutionäre auf. Es kommt zu den üblichen Migrationsquerelen.
  • Das spätere Wirken zahlreicher Revolutionäre in den USA wird ebenfalls recht ausführlich beleuchtet. So kämpften sie vielfach gegen die Sklaverei, auch als Soldaten im Bürgerkrieg. Oder sie setzten sich gegen die Vertreibung und für die Integration der Indianer in die moderne Gesellschaft durch Bildung ein (was heute in manchen Kreisen auch schon als rassistische Anmaßung gewertet wird; gut, dass dieser Ausstellungskatalog da nicht mitmacht).

Man muss in diesen Tagen auch dankbar sein, dass die Texte nicht gegendert sind.

Fazit

Eine höchst brauchbare und ansprechend gestaltete Materialsammlung, die mancherlei Anregung zu geben vermag. Der Leser sollte allerdings beim Lesen den Verstand nicht ausschalten und die Schlagseite dieser Publikation mitbedenken.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

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