Monat: November 2023

Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie (1991)

Genialer Roman, geniale Philosophie-Einführung, nicht nur für Jugendliche

Die Grundidee von Jostein Gaarders „Sofies Welt“ ist genial: Philosophie wird nicht nur trocken abgehandelt, sondern auch gleich praktisch vorgeführt. Dabei ist dem Autor auch eine bemerkenswerte Buch-im-Buch-Konstruktion gelungen, die ihresgleichen sucht. Die Darlegung der philosophischen Ideen ist zudem sehr überzeugend und ausgewogen gelungen. Auch die Auswahl der dargestellten Philosophen geht in Ordnung und wird sinnvoll durch einen Gang in eine Buchhandlung und den Blick zum Sternenhimmel ergänzt. Die Story hat Esprit und saugt einen in sich hinein.

Wichtigster Schwachpunkt ist eine zu sanfte Kritik gegenüber Gottesglaube und Religion, die einen jungen Ministranten aus behütetem Hause kaum ins Grübeln bringen dürfte. – Gleich das nächste Problem ist die affirmative Übernahme des Zeitgeistes der 1980er Jahre, die mit den Stichworten „Öko“ und „Uno“ bezeichnet sei. Ein Philosoph ist eher linksliberal, so scheint es, während auf gesellschaftliche Ordnung bedachte Menschen eher keine Philosophen sind. Aber diese Ausfälle halten sich in Grenzen und haben teils ein inzwischen schon nostalgisches Flair an sich.

Zu Beginn des Romans hat man den Eindruck, dass zu wenig geschieht und zuviel über Philosophie doziert wird. Doch das legt sich schnell. – Schließlich scheint das Entkommen der beiden Hauptpersonen aus der Gedankenwelt des Majors nicht völlig überzeugend zu sein, da sie in einer Phantasiewelt landen; es wäre vielleicht besser gewesen, wenn sich Sofie und Alberto als Alter Egos von Hilde und dem Major herausgestellt hätten, dann wäre ihr Entkommen aus einer unterbewussten Existenz überzeugender gewesen.

Fazit: Genial mit kleinen Schwächen, ein guter Einstieg in die Philosophie nicht nur für Jugendliche, und eine verrückte, lesenswerte Geschichte. Lesen!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

Leonardo Sciascia: Mein Sizilien (1995)

Zahlreiche Einblicke in die historische Tiefenpsychologie Siziliens, doch etwas bedrückt

Der Band „Mein Sizilien“ von Leonardo Sciascia, erschienen im Wagenbach-Verlag 1995, vereinigt eine Reihe von Aufsätzen aus den 1970er und 80er Jahren, in denen Leonardo Sciascia über Wesen und Seele Siziliens und der Sizilianer berichtet, teilweise aus einer sehr persönlichen, teilweise aus einer allgemeinen Perspektive. Fast alle Aufsätze haben eine historische Dimension.

Wir erfahren von der Abgewandtheit der Sizilianer vom Meer, obwohl sie doch überall vom Meer umgeben sind, und von ihrem Charakter eines stummen Leidens. Wir hören von den vielen Eroberungen im Laufe der Geschichte und ihren psychologischen Folgen für die Sizilianer, und von einzelnen Helden, die aus den Umständen auszubrechen versuchten. Wir lesen von Sciascias Heimatort Racalmuto und vom Schweigen im Motto des Stadtwappens. Wir hören von dem Vorrecht Siziliens, das dem Papst abgetrotzt wurde, und von einer Stadt Mussolinis, die nie gebaut wurde. Es wird von einem Massaker berichtet, dass deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg an der Zivilbevölkerung anrichteten, aber auch von der Effektivität, mit der dieselben deutschen Soldaten die Invasion der Alliierten bekämpften und einen erfolgreichen Rückzug organisierten. Wir lesen von einer „Gebrauchsanweisung“ für Sizilien, die 1577 für einen neuen Vizekönig geschrieben wurde, und von der Beschreibung von Siziliens Küsten von 1584. Ebenso erfahren wir von den klugen Beobachtungen von Alexis de Tocqueville zur Landwirtschaft am Ätna und der besonderen Bedeutung von Grundbesitz auf der Insel. Wir erfahren einiges über die Hauptstadt Palermo und seine Beziehung zu Monreale. Wir hören von dem britischen Herzog von Bronte und von der sizilianischen Unabhängigkeitsbewegung. Aber auch von einer skurrilen Jugendbewegung in Catania, und davon, dass die Catanesen als die „exemplarischen“ Sizilianer gelten, während die Mafia sich, so Sciascia, eher im Westteil Siziliens austobte. Schließlich bekommen wir einen Überblick, wie sich die Präsenz der Mafia in der sizilianischen Literatur niederschlug.

Alles in allem hinterlässt das Bändchen einen etwas düsteren und bedrückten Eindruck. Lebensfreude scheint nicht die Sache der Sizilianer zu sein, eher eine gewisse Skurrilität. Auch scheint die Mafia von Leonardo Sciascia seltsam milde behandelt zu werden: Es ist zu viel von Ehre und Verteidigung gegen den Staat die Rede, und dass sie im Osten der Insel nicht präsent sei. Vom katholischen Glauben und seinen Festen hört man nicht viel. Man sollte unbedingt auch Sciascias Aufsatzsammlung „Das weinfarbene Meer“ lesen, um ein runderes und gegenwärtigeres Bild zu bekommen. Die darin enthaltenen Aufsätze stammen aus früheren Jahren: 1959-1972.

Man hat den Eindruck, dass sich Leonardo Sciascias Stimmung in späteren Jahren eintrübte. Tatsächlich wechselte Sciascia 1977/79 von der kommunistischen Partei zu der radikallibertären Partei Partito Radicale, und redete Ermittlungserfolge gegen die Mafia durch Staatsanwälte wie Falcone und Borsellino schlecht. Angeblich wollte er damit sagen, dass man die Mafia nicht durch eine andere Mafia austreiben dürfe.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus (1953) – Teil 2 der Trilogie des Scheiterns

Blick eines Enttäuschten auf den Politikbetrieb der jungen BRD

Der Roman „Das Treibhaus“ von 1953 ist der zweite Teil der „Trilogie des Scheiterns“ von Wolfgang Koeppen. Während sich der erste Teil „Tauben im Gras“ dem Leben und Treiben der kleinen Leute widmete, deren kleines Leben und seine Probleme teils durchaus tragikomische Züge trug, begegnen wir hier nun dem Bundestagsabgeordneten Keetenheuve, der tatsächlich alle seine Träume tragisch scheitern sieht.

Wir verfolgen in konzentrierter Form den Ablauf zweier Tage Keetenheuves in der neuen Bundeshauptstadt Bonn, und bekommen dabei – buchstäblich en passant – ein detailreiches Gemälde der Zustände und der Atmosphäre im damaligen Bonn vor Augen geführt. Die Bundeshauptstadt gleicht einem Treibhaus, in dem sich alle wie im Hamsterrad abmühen, doch in der trägen Atmosphäre kommt kaum ein Erfolg aller Mühen zustande.

Der lose verfolgte rote Faden der politischen Handlung des Romans ist kurz erzählt: Keetenheuve stimmt Bauvorhaben für Arbeiterwohnungen zu, obwohl er sie für zu klein hält. Der Parlamentarier Korodin von der Gegenpartei hofft insgeheim, den Gewissensmenschen Keetenheuve auf seine (christliche) Seite herüberziehen zu können, doch Keetenheuve ahnt nicht und wird es auch nie erfahren, dass ihm vom politischen Gegner diese geradezu menschliche Anteilnahme entgegen gebracht wird. Keetenheuve erhält eine exklusive Information, mit der er die Regierung in einer Parlamentsrede unter Druck setzen kann. Doch kurz bevor er die Rede hält, erfährt er, dass die Meldung längst durchgesickert ist. Außerdem wird ihm, der als Gewissensmensch und unbequem gilt, der Posten des Botschafters in Guatemala angeboten, um ihn dorthin abzuschieben. Keetenheuve widersteht dieser Versuchung.

Keetenheuve übersetzt lieber Baudelaire als dass er seine Arbeit macht. Er träumt von Pazifismus und sozialer Gerechtigkeit, doch die Realität der Verhältnisse zerstört diese Träume gründlich. Die BRD steuert die Wiederbewaffnung an, und die sozialen Verhältnisse können nur in kleinen Schritten verbessert werden. Zudem befindet sich die BRD im „Käfig“ einer höheren Macht (USA), und man weiß nicht, wohin dieser „Käfigträger“ einen führen wird. Ständig tritt das Angsttrauma Keetenheuves zutage, dass auch die neuen Verhältnisse letztlich nur den Keim zu einem neuen Nationalsozialismus und zu einem neuen Krieg in sich tragen könnten. Kriege kämen zustande, weil die Denker der Nationen nicht gut genug gedacht haben. – Soeben ist auch die Ehefrau Keetenheuves gestorben, die er aber innerlich schon lange vorher verloren hatte, weil die politische Arbeit ihm die Zeit stahl, sich um sie zu kümmern. Teilweise fühlt sich Keetenheuve wie ein Ausländer im eigenen Land.

Am Ende vergreift sich Keetenheuve an einem Mädchen der Heilsarmee und begeht anschließend Suizid, indem er von einer Rheinbrücke springt.

Wir lernen in diesem Buch wieder viel über die Sinnlosigkeit menschlichen Strebens. Sogar mehr als genug: Offenbar war Koeppen maßlos von der neuen BRD enttäuscht, und weil er vom Nationalsozialismus und vom Krieg traumatisiert war, befürchtete er das Schlimmste – zu Unrecht. Es ist definitiv mehr Sinnlosigkeit und mehr Tragik in diesem Buch als in „Tauben im Gras“. Wir lernen zudem etwas über die 1950er Jahre, und wir lernen etwas über den Politikbetrieb, wie er im Grundsatz heute nicht viel anders sein wird als damals.

Eines fällt auf: In diesem Roman spielen Juden und der Holocaust keine besondere Rolle. Sie kommen praktisch so gut wie nicht vor. Überhaupt wird in diesem Roman der Tod vor allem als Tod im Krieg thematisiert. Vom Tod durch Verfolgung ist eher nicht die Rede. Es handelt sich offenbar um eine damals selbst bei kritischen Geistern verbreitete, verzerrte Wahrnehmung.

Auch dieses Werk ist dicht geschrieben, und voller skurriler Assoziationen und surrealen Szenen, aber stilistisch ist es nicht mehr so genial wie „Tauben im Gras“.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Juni 2018)

Dirk Liesemer: Café Größenwahn 1890-1915 – Als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde (2023)

Größenwahn und Traumtänzerei im Milieu des Kaffeehauses

Dirk Liesemers Buch über die großstädtische Kaffeehausszene in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ist ein weiteres Beispiel für ein inzwischen eingeführtes Genre: Man zeichnet nicht mehr das Leben einer einzelnen Person vom Leben bis zum Tode nach, wie dies in einer klassischen Biographie geschieht, sondern man zeichnet eine bestimmte Epoche oder Ära nach, innerhalb derer man die Lebensfäden verschiedener Akteure verwebt und in Interaktion zeigt, und zwar in literarischer Weise, während die klassische Biographie ein reines Sachbuch ist. Dieses Verfahren ist Dirk Liesemer hier meisterhaft gelungen: Sowohl literarisch als auch dokumentarisch genügt dieses Buch höchsten Ansprüchen. Man fühlt sich genötigt, lieber von einem Werk als von einem Buch zu sprechen.

Jahr um Jahr entfaltet Dirk Liesemer das Leben und Treiben an den drei Hauptorten des „Café Größenwahn“, Wien, Berlin und München, und bringt die Verhältnisse zum Tanzen. Dabei begegnen dem Leser nicht nur bekannte Literaten und Künstler wie z.B. Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Rainer Maria Rilke oder Arthur Schnitzler, sondern auch eine Menge „B-Prominenz“, deren Namen man zwar durchaus schon gehört hat, von denen man aber nicht viel mehr als den Namen weiß. Es gibt durchaus Gründe, warum diese Namen vergessen sind: Denn zum Erfolg der einen gehört das Scheitern der anderen dazu. Als Leser möchte man fast meinen, dass die Darstellung dieses Wurzelwerkes aus Gescheiterten fast wichtiger ist als die Darstellung der Erfolgreichen, die daraus hervorgingen: Gut, dass ihnen auf diese Weise ein Denkmal gesetzt wurde.

Der Leser erfährt jedenfalls zahlreiche Anregungen zu weiterer Beschäftigung. Man möchte mehr erfahren und wird deshalb nach Biographien und Dokumentationen Ausschau halten, oder gleich an Ort und Stelle fahren, um sich die Originalschauplätze direkt anzusehen bzw. eines der zahlreichen Museen besuchen, die diesem oder jenem Literaten bzw. dieser Epoche gewidmet sind. Stoff für Bildungsreisen gibt es hier genug. Es fällt auf, dass das Buch eine Schlagseite zugunsten von Wien hat. Und es scheint, dass die Milieus sich damals trotz allem Kosmopolitismus sehr national orientierten.

Etwas verblüffend ist der Umstand, dass die vorgestellten Literaten und Künstler alle mehr oder weniger „links“ waren. Ausnahmen bestätigen die Regel. Sie leben ein schwärmerisches Leben ohne Realismus, weder für ihre eigene Lebensplanung noch in ihren utopischen Ideen für die Gesellschaft. Der Name „Café Größenwahn“ scheint seine Berechtigung zu haben. Jedenfalls deutet nichts in dieser Gesellschaft auf den sturzartigen Zusammenbruch dieser relativ heilen Welt hin, den der Erste Weltkrieg bedeuten wird. Die Bohèmiens träumen in die blaue Luft hinein und bemerken dabei gar nicht, wie ihre Träume die Grundlage des guten Lebens, das sie haben, zu zerstören drohen bzw. völlig an dem vorbei gehen, was in der Wirklichkeit geschieht.

Dirk Liesemer hat in seine Erzählung immer wieder Abschnitte zu Kaiser Wilhelm II. eingestreut, die zeigen sollen, wie dessen Großmachtstreben auf die Katastrophe zusteuerte. Doch um ehrlich zu sein, scheinen die Literaten und Künstler keinen Deut besser zu sein als Kaiser Wilhelm II. Sie haben jedenfalls keine realistische Alternative zu bieten. Im Gegenteil. Wenn wir uns entscheiden müssten, würde Kaiser Wilhelm II. keinesfalls schlechter abschneiden als das „Café Größenwahn“. Man fasst es nicht, was wir hier für eine unpolitische (oder pseudopolitische) und unrealistische Traumtänzerei zu sehen bekommen, wenn man weiß, auf was für eine Katastrophe diese Zeit zusteuerte. Und man fühlt sich wiederholt an die Gegenwart erinnert, in der auch viel Traumtänzerei die Grundlagen des guten Lebens zerstört, das wir bislang hatten, und jeden Blick für die Realitäten verloren hat. Wir finden in diesem Buch viel gegenwartsbezogene Eitelkeit.

Die allergrößte Katastrophe von damals, die Reformunfähigkeit der österreichischen kuk Monarchie, wird überdies kaum thematisiert. Auch die Vorboten des Nationalsozialismus in Österreich, die Bewegung von Georg Ritter von Schönerer und das Leben des jungen Hitler in Wien, bleiben außen vor. Aber auch von Theodor Gomperz und Ernst Mach, um zwei positive Wiener Charaktere der Zeit zu nennen, erfahren wir nichts. Obwohl das Buch sehr reichhaltig ist, ist die Perspektive doch recht fokussiert.

Das Buch ist mit zahlreichen Fotographien und Zeichnungen angereichert, bietet die wichtigsten Kurzbiographien in einem „Ausblick“ am Ende und enthält eine wohlsortierte Bibliographie der wichtigsten Quellen. Wünschenswert wäre ein Index gewesen, und zwar für Personen und für Orte. Auch weitere Techniken, die Überblick verschafft hätten, wären wünschenswert gewesen. So hätte man z.B. im Inhaltsverzeichnis zu jedem Abschnitt kurz die Personen auflisten können, die darin vorkommen. Oder umgekehrt, in der Kurzbiographie im „Ausblick“ jeden Abschnitt auflisten können, in dem diese Person vorkommt. Auch eine Zeitstrahl-Graphik wäre eine Möglichkeit gewesen. Eine Aufzählung von Museen wäre hilfreich.

Fazit: Eine wertvolle Schatztruhe von Informationen und Zusammenhängen für diese Zeit und dieses Milieu, die sich wie ein gut geschriebener Roman liest, und die man jedem Interessierten nur empfehlen kann. Das Format stößt allerdings an Grenzen, nicht zuletzt auch an die Begrenztheit der Seitenzahl, die zwischen zwei Buchdeckel passt.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Ein Rezensionsexemplar wurde gestellt.)

Alejandro Amenábar: Agora (Film 2009)

Wie sich eine kollektive Weltanschauung Schritt für Schritt durchsetzt

Der Film „Agora“ ist gut, sehr gut sogar – verstörend gut. Er zeigt, wie eine kollektive Weltanschauung X – in diesem Fall das Christentum – sich in einer Gesellschaft Zug um Zug durchsetzt, und andere kollektive Weltanschauungen Y oder Z – in diesem Fall Serapis-Kult und Judentum – dabei schrittweise an Boden verlieren. Nebenbei kommen Freidenker, die mit den bisherigen kollektiven Weltanschauungen ein Arrangement gefunden hatten, unter die Räder, weil sie ein solches Arrangement mit der neuen kollektiven Weltanschauung eben noch nicht gefunden haben.

Der Film zeigt sehr gut, dass guter Wille allein nicht genügt, um widerstreitende kollektive Weltanschauungen zu befrieden. Denn die Dinge schaukeln sich hoch und haben eine Dynamik, die nicht beherschbar ist. Es nützt nichts, auf die Vereinfacher und Hetzer zu schimpfen – sie sind nun einmal immer da, man muss sie mitdenken, sonst hat man kein volles Bild der Wirklichkeit. Man sieht, wie auch vernünftige Menschen auf allen Seiten – auch wenn sie Macht haben – gegen die Neigung zur Dummheit, die in jeder kollektiven Weltanschauung angelegt ist, nichts ausrichten können.

Das Dumme an der Dummheit ist, dass man sie vollkommen gleichberechtigt mit der Realität behandeln muss, wenn sie nur gesellschaftliche Macht hat. Man muss mit ihr verhandeln. „Seit wann gibt es in Alexandria so viele Christen?“ lautet einer der Schlüsselsätze im Film. Dass in den Verfassungstexten einer Gesellschaft irgend etwas kodifiziert ist, spielt dann keine Rolle mehr – das wird alles gnadenlos Bestandteil der Verhandlungsmasse, wenn die Gewichte in der Gesellschaft sich verschieben.

Und dann gibt es noch die Möglichkeit, mit den Wölfen zu heulen, nur lauter. Im Film scheitert dieser Weg, weil der Protagonist nicht laut genug „mit den Wölfen heulte“ (der Moment, wo Orestes sich nicht niederkniet).

Natürlich denkt man bei all dem an das derzeitige Erstarken von Formen des Islams, die fern von der Vernunft sind (womit gesagt sein soll, dass der Islam auch vernünftig sein kann). Man kann die Sache aber auch tiefer hängen. Welcher Politiker z.B. könnte es sich leisten, Kohlendioxid als Verursacher des Klimawandels anzuzweifeln? Wer könnte es wagen, gegen das gedankenlose Multikulti und den Softsozialismus in der Gesellschaft anzugehen? Usw. usf.

Auch dies: Noch nie jedenfalls habe ich das Christentum so hinterfragt gesehen. Die meisten von uns sind ja mit einem „lieben“ Bild von Christentum aufgewachsen, und auch wenn wir alle es längst hinterfragt haben: So krass wie in diesem Film hat man es noch nie gesehen, und der Eindruck ist gerade auch deshalb so stark, weil der Film nicht übertreibt, sondern glaubwürdig bleibt: Auch wenn die wahre Story um Hypatia nicht exakt genau so gewesen ist, so kann man sich dennoch nur zu gut vorstellen, dass das Christentum diese üble Rolle auf diese Weise spielen kann und auch oft genug gespielt hat. „Halleluja“ statt „Allahu akbar“ – das kann man sich nur zu gut vorstellen.

Der Film war fast zu perfekt. Sogar die Aussprache von „Agora“ war richtig. Die meisten sagen ja „Agoora“, aber es heißt natürlich „Agoraa“ 🙂

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. März 2010; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden.)

Mouhanad Khorchide: Gott glaubt an den Menschen – Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus (2015)

Abrundung einer echten Islamreform / Linkslastiger Humanismus

Mit diesem Werk versucht Mouhanad Khorchide zwei Dinge zugleich: Zum einen rundet er seine Reformtheologie ab, die er in zwei vorangegangenen Büchern zu entfalten begonnen hat („Islam ist Barmherzigkeit“ und „Scharia, der missverstandene Gott“). Zum anderen versucht er, den Islam in die Tradition des Humanismus einzuordnen.

Dieses Buch leidet etwas darunter, dass diese zwei Themen in ein Buch gepackt wurden und sich auf verwirrende Weise von Kapitel zu Kapitel abwechseln. Der Leser tut gut daran, beide Themen zunächst getrennt wahrzunehmen, und erst nach der Lektüre des gesamten Buches über eine Synthese nachzudenken.

Thema 1 – Die Abrundung der Reformtheologie

Am Anfang des Buches wird die in früheren Werken entwickelten Reformtheologie in geraffter Form und unter einer etwas anderen Perspektive wiederholt: Die Offenbarung des Koran ist von dem zentralen Satz aus aufzudröseln, dass Gott allbarmherzig ist, und Mohammed zur Barmherzigkeit gesandt wurde, und nicht, um Menschen zu zwingen. Der Mensch ist anders als die Engel kein Befehlsempfänger. Die richtige Haltung des Muslims ist das Sich-Öffnen im Gegensatz zum Sich-Verschließen. Der Koran muss historisch kontextualisiert gelesen werden. Es gibt ewig gültige und situativ gültige Verse. Die Sunna (Hadithe) müssen immer wieder auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden.

Die Reformtheologie wird abgerundet durch folgende Aussagen:

  • Ablehnung der fatalistischen Prädestinationslehre (S. 29).
  • Die Welt funktioniert nach Naturgesetzen, die der Mensch erkennen soll. Khorchide ist strikt dagegen, naturwissenschaftliche Aussagen im Koran erkennen zu wollen. Denn solche Aussagen sind bedingt durch den historischen Kontext, in den die Offenbarung hineingesprochen wurde. Der Koran verlangt nach der Benutzung der Vernunft, die die Gläubigen zu jeder Zeit neu einsetzen müssen (S. 33 ff.).
  • Die Verweigerung des Vernunftgebrauchs erregt den Zorn Gottes (S. 52).
  • Jetzt gesteht Khorchide auch einen strafenden Gott zu, im Verhältnis 18:1 barmherzig vs. strafend (S. 84). Die Strafe Gottes richtet sich nur gegen die Sünde, nicht gegen den Sünder.
  • Der Mensch soll danach streben, Gottes Eigenschaften ähnlich zu werden, doch Gott ist absolut, und der Mensch nur relativ und unvollkommen, ein ewig Strebender. Sogar im Paradies ginge das Streben noch weiter, meint Khorchide (S. 81).
  • Khorchide sagt jetzt, dass er Glaube nicht gegen Handeln ausspielen möchte, sondern dass das richtige Handeln ein Ausdruck des richtigen Glaubens ist (S. 198). Gut so.
  • Der Islam enthält in sich Aufforderungen zu Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen, und strebt keine Weltherrschaft des Islam an. Ein Kafir ist kein Ungläubiger, sondern ein Leugner. Christen und Juden werden z.B. keineswegs pauschal als Kafir bezeichnet. Khorchide schließt jetzt explizit alle Andersgläubigen in sein Toleranzkonzept mit ein, bis hin zu Atheisten (S. 209, 248).

Sehr stark sind Khorchides Aussagen zur Gewalt im Islam:

  • Khorchide hat ein großes Kapitel eingefügt (S. 167 ff.), in dem er klarstellt, dass der Dschihad als Angriffskrieg gegen alle Nichtmuslime eine starke Tradition in der islamischen Theologie hat, und dass es heute darum geht, eine friedliche, in der Geschichte des Islam meist schwächere Tradition, zum heute vorherrschenden Narrativ im Islam zu machen.
  • Khorchide zeigt die einzelnen Gelehrten auf, die durch die Jahrhunderte diese oder jene Lehre vertreten haben: Das ist sehr interessant.
  • Khorchide widerlegt die verschiedenen Argumente der Tradition: Die verschiedenen Schwertverse; die Problematik der Abrogation, die auch in der Tradition sehr umstritten ist (S. 178, 219 f.); usw. (Unerwähnt bleibt, dass auch die chronologische Reihenfolge der Koranverse, von der die Abrogation abhängt, in der Tradition umstritten ist.)
  • Khorchide zeigt, dass das Massaker an den Juden durch Mohammed nicht historisch ist. (Unerwähnt bleibt, dass moderne Historiker das Massaker als spätere Erfindung einordnen, mit der die Entfernung der Juden aus der Umma gerechtfertigt werden sollte.)
  • Khorchide sagt klar, dass das Problem nicht nur die Islamisten sind, die Gewalt und Terror anwenden, sondern bereits der traditionalistische Mainstream des Islam, der sich für ein Nachdenken über die Tradition nicht öffnet sondern verschließt, und damit notwendige Reformen verhindert. Der traditionalistische Mainstream tut auf der einen Seite so, als gäbe es die vorherrschende Tradition nicht, auf der anderen Seite wehrt er sich gegen jede Kritik an der Tradition.
  • Khorchide klagt einen Teil der Muslime der „Westophobie“ an, weil sie eine Islamreform pauschal mit dem falschen Argument ablehnen, dass man eine solche Reform nur deshalb durchführe, weil man damit dem Westen zu Gefallen wäre. Doch der Islam hat Reformen in seinem eigenen Interesse nötig.

Khorchides Reformtheologie ist teilweise links und postmodern:

  • Khorchide wendet sich gegen jede Autorität im Islam (S. 115 f., 222 ff.). Es ist zwar richtig, den einzelnen Gläubigen zu Eigenverantwortung aufzurufen, aber die Ablehnung jeder Form von Autorität ist überzogen und entspricht auch nicht dem Wesen des Menschen. Hier verfolgt Khorchide eine Utopie, mit der er keinen Erfolg haben wird. Statt Autoritäten pauschal abzulehnen sollte man sich lieber überlegen, wie man Autoritäten so installiert, dass sie nicht autoritär sind. Man muss auch bedenken, dass eine Organisation wichtig für die Meinungsbildung ist. Eine Organisation kann sich entwickeln, streiten, Lehren aussprechen oder verwerfen. Ohne das ist eine Reform praktisch nicht möglich. Die Masse der unorganisierten Muslime würde von Reformdenken sonst nie erfasst.
  • Teilweise übertreibt es Khorchide mit dem Sich-Öffnen. Bei ihm ist alles prozesshaft und im Fluss, alles wird ausgehandelt, der Dialog ist alles. Der Satz „Das ist der wahre Islam“ sei obsolet geworden, meint Khorchide (S. 45). Damit schwächt Khorchide aber auch seine eigene Position gegenüber den Traditionalisten. Khorchide muss schon klar sagen können, dass die Theologie der Gewalt falsch ist und schon immer falsch war, und deshalb zu verurteilen ist.
  • Khorchide schreckt davor zurück, große Gelehrte der islamischen Tradition für ihre theologischen Positionen zu verurteilen, weil es eine andere Zeit war (S. 187 f.). Doch so geht es nicht. Auch im Christentum waren Hexenverbrennungen schon immer falsch. Hexenverbrennungen sind nicht erst heute falsch.
  • Die Absicht zur Verwerfung der Hadithe, die nicht zur zentralen Botschaft der Allbarmherzigkeit passen, ist zwar grundsätzlich richtig, wird von Khorchide aber allzu leichtfertig formuliert (S. 176). Auch manche Koranverse sind etwas sperrig, können aber dennoch zur zentralen Botschaft in einen guten Bezug gesetzt und historisch kontextualisiert gelesen werden, ohne dass man sie verwirft.
  • Die Darstellung der Geschichte von Islam und Christentum unter der Perspektive des Sich-Öffnens und Sich-Verschließens ist grundsätzlich richtig gedeutet, aber im Detail zeichnet Khorchide ein zu weiches Bild: Das Kalifat von Cordoba in Al-Andalus sei ein wahres Paradies auch für Christen und Juden gewesen, die dort auch zur Universität gingen; im Islam hätte es damals keine Autoritäten gegeben, deshalb sei alles geistig frei gewesen; das wissenschaftliche Denken in Europa sei maßgeblich durch Al-Andalus und die Übersetzerschule von Toledo angestoßen worden; vor Anselm von Canterbury hätte es keine Beschäftigung mit Wissenschaft und Philosophie in Europa gegeben. Das alles ist so höchstens halbwahr und deshalb leider geeignet, wohlmeinende Islamkritiker abzuschrecken, weil sie solche Weichzeichnungen schon zu oft aus unglaubwürdigem Munde gehört haben. Die beabsichtigte Grundaussage ist aber trotzdem richtig: Man muss sich geistig öffnen.

Khorchide streut immer wieder Seitenhiebe gegen das Christentum ein. Als Nichtchrist ist das völlig legitim, man müsste es aber etwas breiter diskutieren:

  • Der Islam kennt keine Erbsünde, es gibt keine Kollektivschuld (S. 25). – Schön und gut, aber die Unvollkommenheit des Menschen als Geschöpf eines vollkommenen Gottes erklärt Khorchide damit nicht. Warum scheitert der von Gott geschaffene Mensch in der von Gott geschaffenen Welt immer wieder und wieder und muss sterben? Warum ist die Welt nicht vollkommen?
  • Gott wird nicht Mensch, die Distanz zwischen Gott und Mensch bleibt gewahrt (S. 81 f., 85). – Da Khorchide seinen Gott ähnlich wie den christlichen Gott als liebenden Gott darstellt, bleibt die Frage, wie Gott die damit entstehende Kluft zum Menschen überwinden will. Und wie errettet der islamisch verstandene Gott den bleibend sündigen Menschen, ohne ihm Anteil an der Göttlichkeit zu geben?
  • Sexualität sei auch zur Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse da, deshalb gebe es im Islam kein Verbot von Verhütungsmitteln (S. 243 f.). – Khorchide hat hier den christlichen bzw. katholischen Standpunkt nicht ganz verstanden, scheint es.

Thema 2 – Islam und Humanismus

Den Islam in die humanistische Tradition einzubetten ist ein großer Wurf. Denn damit verlässt Khorchide die Defensive und bringt den Islam offensiv in unsere Kultur hinein. Muslime werden so zu einer Islamreform motiviert, denn sie dürfen auf einen würdigen Platz für den Islam im Kreis der humanistischen Weltanschauungen hoffen. Im Kern geht es Khorchide um das Sich-Öffnen als einem humanistischen Grundgedanken. Das ist sicher richtig, aber leider ist die Ausführung des Ansatzes nicht ausreichend gelungen.

Ein linkslastiger Humanismus-Begriff:

  • Zentraler Fehler ist die Unterschätzung der Antike als Grundlage des Humanismus. Der Humanismus der Antike ist nicht einfach nur der erste Humanismus, und nicht einfach nur ein Humanismus unter mehreren, sondern es ist der Humanismus schlechthin, der zur Grundlage für alle späteren Humanismen wurde. Man kann sich nicht vom Humanismus der Antike lösen, so wie man auch das Rad nicht noch ein zweites Mal erfinden kann. Das Herunterspielen der Bedeutung der Antike ist typisch für linkes Denken.
  • Bei der Nachzeichnung der Geschichte des Humanismus stützt sich Khorchide vor allem auf linke Humanisten und Möchtegern-Humanisten bzw. deren Vordenker: Herder, Hegel, Marx, der Linkshegelianer Ruge, Sartre, Erich Fromm, den Humanismus des heutigen HVD-Verbandes, und den evolutionären Humanismus von Michael Schmidt-Salomon und seiner Giordano-Bruno-Stiftung. Man mag es kaum glauben, aber es fehlen u.a. Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt, Werner Jaeger oder Romano Guardini. Der Dritte Humanismus wird mit einem kurzen Absatz abgehandelt, der christliche Humanismus bleibt praktisch unerwähnt. Kurz: Der „bürgerliche“ Humanismus fehlt fast komplett! Für einen Überblick über den Humanismus ist das ein Totalschaden. Vermutlich hatte Khorchide die falschen Ratgeber.
  • Bei der Klage über anti-humanistische Zustände in der modernen Welt fühlt man sich an typisch linke Selbstanklagen gegen die die westliche Moderne erinnert, die man für alle Übel der Welt verantwortlich macht (S. 141 ff.): Da wird z.B. die Leistungsgesellschaft kritisiert, ohne deren guten Sinn zu würdigen. Schräge Beispiele werden herbeigezogen: Etwa eine Uni-Prüfung, bei der der Dozent festsetzt, dass genau die ersten zehn Studenten durchkommen, aber alle anderen nicht. Das ist natürlich das Gegenteil einer Prüfung nach Leistung: Es geht nämlich gar nicht um die Leistung der Studenten, sondern nur um den Bedarf an Absolventen, egal wie gut oder wie schlecht sie sind – und das ist Planwirtschaft, nicht Leistungsgesellschaft.
  • Khorchide versucht Verständnis für die Meinungen der „anderen Seite“, d.h. von Muslimen, zu heischen, indem er seitenweise Anklagen von Jürgen Todenhöfer an den Westen zitiert, deren Qualität sich auf dem Niveau von politischen Verschwörungstheorien bewegt. Man kann Verständnis für manchen Irrtum haben, der sich bei Muslimen über den Westen festgesetzt hat. Aber im Kern sind es nun einmal Irrtümer, und sie müssen überwunden werden. Verständnis hilft da nicht viel. Man könnte höchstens hinzufügen, dass nicht nur Muslime, sondern auch westliche Linke und Verschwörungstheoretiker diese Irrtümer überwinden müssen. Dazu sagt Khorchide aber nichts. Vermutlich ist er selbst in manchem dieser Irrtümer befangen.
  • Zu Anfang des Buches benutzt Khorchide den Begriff Humanismus als Synonym für Atheismus, so wie es heute in Mode gekommen ist. Zur Mitte des Buches hin überwindet Khorchide diesen Gebrauch des Wortes Humanismus zum Glück.

Khorchide entdeckt erstaunlich wenig Humanismus im Islam:

  • Einen Humanismus schon in den Anfängen nimmt Khorchide kaum ernst (z.B. Muhammad’s Humanism von Minou Reeves; S. 121).
  • Erst im 10. Jahrhundert will Khorchide so etwas wie Humanismus erkennen (Mutazila).
  • Im 14. Jahrhundert dann asch-Schatibi und dessen Normenlehre nach den Bedürfnissen des Menschen.

Khorchide hängt an einem völlig falschen Humanismus-Begriff:

  • Khorchide schreckt davor zurück, den Begriff „Humanismus“ im Zusammenhang mit dem Islam überhaupt zu gebrauchen, weil er zu eng mit der europäischen Entwicklung verknüpft wäre (S. 117 f.). Aber das ist Unfug, denn der Humanismus geht auf die Antike zurück, und diese wurde von Ost und West gleichermaßen rezipiert.
  • Bei Mohammed Arkoun schreibt Khorchide, dieser würde Rationalismus und Humanismus verknüpfen (S. 121). Aber ist das nicht von allem Anfang in der Antike her klar, dass ein Humanismus ohne Rationalismus überhaupt nicht denkbar ist?
  • Nach Schöller meint Khorchide, dass es eine Eigenheit des islamischen Humanismus sei, dass er keinen Gegensatz zur Religion bilde (S. 122 f). Aber das ist doch beim europäischen Humanismus ganz genauso! Humanismus bedeutet keineswegs automatisch Atheismus! Den Humanismus gegen die Religion zu positionieren ist eine postmoderne, linke Fehlwahrnehmung.

Khorchide verkennt den humanistischen Kern im Islam:

Es ist schon fast tragisch, dass Khorchide das Entscheidende völlig übersieht. Grund dafür ist nicht zuletzt Khorchides linkslastige Sicht auf den Humanismus, der die Antike völlig unterbelichtet. Denn wie auch beim Christentum so sind auch beim Islam von allem Anfang an humanistische Elemente eingeflossen. Mithilfe eines „bürgerlichen“ Humanismus hätte Khorchide erkennen können:

  • Bereits der Koran korrespondiert zu antiken Vorstellungen, z.B. die kosmologischen Vorstellungen in Platons Timaios. Dass der offenbarende Gott die Menschen im Kontext ihrer Zeit anspricht ist ja Khorchides eigene Meinung, also darf auch im Koran nach Spuren der Antike gesucht werden.
  • Auch in der Sunna finden sich viele Elemente antiken Denkens. So mancher Hadith wurzelt vielleicht eher in antiker Tradition als in einer Aussage des Propheten? Oder vielleicht beides zugleich?!
  • Die islamische Tradition der Auslegung von Koran und Sunna hat sich oft an antikem Denken orientiert. So korrespondiert z.B. die Dschihad-Lehre auffällig mit Platons Lehre von Krieg und Frieden in dessen Dialog Nomoi: So auch die Lehre vom großen und vom kleinen Kampf, die dem großen bzw. kleinen Dschihad entspricht. Khorchide selbst erwähnt die Übersetzungsbewegung von Baghdad: Was haben die denn da übersetzt? Natürlich antike Werke!
  • Die großen islamischen Philosophen wurden von antikem Denken geprägt, wie Khorchide selbst darlegt (z.B. S. 131 f.).

Der Islam kann sich also nicht nur in den in der Antike wurzelnden Humanismus einfügen, er enthält ihn bereits selbst. Der Islam trägt nicht nur etwas zum Humanismus bei, er trägt denselben antiken Humanismus bereits in sich, der auch die anderen Humanismen inspiriert hat. Das kann man allerdings nur erkennen, wenn man die besondere Bedeutung des antiken Humanismus erkannt hat. Im Grunde hat Khorchide mit einem gewissen Erfolg jenen Humanismus aus dem Islam herausgeholt, der von der Antike in den Islam hineingelegt wurde, ohne dass sich Khorchide dessen bewusst war. Bis hin zu der These, dass ein Humanist Individualist und Kollektivwesen zugleich ist (S. 239 ff.): Auch das natürlich ein antiker Gedanke.

Fazit

Khorchide ist ein echter Islamreformer, der mit seinem Denken auf dem richtigen Weg ist. Die Abrundung seiner Reformtheologie in diesem Werk beweist es. Es liegen allerdings einige dicke Steine auf seinem Weg: (1) Khorchide ist eindeutig zu linkslastig und postmodern eingestellt. (2) Khorchide fehlt in manchen Bereichen die Bildung: Das ist kein Beinbruch, denn das Thema greift in der Tat sehr weit aus. „Der gute Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst“ (Goethe, Faust). (3) Und drittens ist Khorchide zu wenig dem praktischen Leben zugewandt, wo seine Reformen umgesetzt werden müssen: Mit Autoritäten, mit Moscheen, mit einem klaren Katechismus, mit Verurteilungen von Irrlehren, usw. – Keines dieser Probleme ist unlösbar, aber vielleicht wird es nicht mehr Khorchide sein, der sie löst.

Das große Ziel, den Islam in den Kreis der humanistisch orientierten Religionen einzuführen, ist erreichbar. Zwar hat der Islam im Lauf seiner Geschichte großes Pech gehabt, und der gegenwärtige Zustand des Islam lässt keine schnellen Erfolge erwarten, aber grundsätzlich sind alle Voraussetzungen vorhanden, um das Ziel zu erreichen. Bis es soweit ist, dass Khorchides Ideen irgendwann einmal eines Tages in der Breite des Islam zu wirken beginnen, wird die westliche Welt allerdings geeignete Abwehrmaßnahmen gegen den traditionalistischen Islam ergreifen müssen. Auch zu diesen notwendigen Maßnahmen sagt Khorchide leider nichts. Das sollte er aber, wenn er Humanist sein will.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. April 2016.

Asterix Band 40: Die Weiße Iris (2023)

Bester Asterix seit langem: Massive Zeitkritik am Wokismus

Nachdem die Gestaltung der Asterix-Bände vor einigen Jahren endgültig auf ein neues Zeichner-Texter-Duo übergegangen war, hat die Asterix-Reihe nach einem Tiefpunkt wieder an alte Erfolge anknüpfen können. Mit traditionellen Rezepten entstanden einige Bände, die vor allem als skurrile Abenteuer und als Verballhornung der bereisten Länder gut funktionierten. Doch was den zeitkritischen Aspekt anbelangt, fehlte der richtige Biss noch. Das holt der aktuelle Band nun nach! Während der Zeichner Didier Conrad beibehalten wurde, wechselte der Texter von Jean-Yves Ferri zu Fabcaro. Und der hat ganze Arbeit geleistet.

Im neuen Band sehen wir, wie das Gallische Dorf von einer schrecklichen Ideologie namens „Weiße Iris“ befallen wird: Plötzlich wollen alle achtsam sein und positiv denken! Alles säuselt sich an, nirgendwo fliegt eine Faust. Und statt Fleisch essen alle nur noch Fisch. Darüber gehen die Traditionen und die Wehrhaftigkeit des Dorfes verloren. – Das Phänomen der „sozialen Ansteckung“ durch neue, verrückte Ideen und Moden wird von Fabcaro hervorragend eingefangen, aber auch, dass eine solche Ideologie nicht wirklich „von selbst“ um sich greift, und nur bei bestimmten Charakteren. Natürlich zielt die Kritik auf den aktuell grassierenden Wokismus ab, der seinen Zenit inzwischen wohl überschritten haben dürfte. Dessen Irrsinn wird, ohne ihn direkt zu nennen, in einem Feuerwerk der Einfälle durch den Kakao gezogen.

Aber auch darüber hinaus hat dieser Band eine ganze Reihe interessanter Gags zu bieten. So z.B. den Zenturio Daximplus, der durch seinen Realismus zu überzeugen vermag, eine Satire auf moderne Kunst oder die Verballhornung der Durchsagen der Deutschen Bahn. Viele dieser Witze verdanken die deutschen Leser wohl vor allem der Übersetzung.

Fazit: Mit diesem Band ist die Asterix-Reihe wieder zur Hoch- und Bestform aufgelaufen! So muss ein Asterix sein. An manchen Stellen wird der deutsche Leser denken: Oh oh, die Franzosen sind einfach die besseren Revolutionäre, und ein deutscher Autor würde sich manches wohl nicht getrauen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Robert Löhr: Der Schachautomat – Roman um den brillantesten Betrug des 18. Jahrhunderts (2005)

Gelungener, leichter Historien-Roman

Löhr versteht es, die Charaktere glaubwürdig nach der damaligen Zeit zu gestalten, aber auch eine lebendige, glaubhafte Geschichte um die historische Begebenheit zu stricken. Die Tatsache, dass die frühe Geschichte des Schachautomaten relativ unbekannt ist, gibt dem Autor dabei einige Freiheiten: Ein höchst eigenwilliger Charakter soll der Zwerg im Automaten gewesen sein. Dem „Erfinder“ geht es darum, bei Hof zu imponieren. Ein Zweifler schickt eine Spionin. Eine ehemalige Geliebte kommt im Beisein des Automaten ums Leben. Ein rachsüchtiger Ungar will ein Duell. Löhr spielt auch mit philosophischen Überlegungen, die wir sonst nur aus unserem modernen Computerzeitalter kennen.

Für ein Meisterwerk ist es jedoch zu leicht geschrieben, Gedankentiefe gibt es nicht. Es ist sehr gute Unterhaltungsliteratur mit einem mittelmäßigen Bildungseffekt. Das melancholische Ende macht wenig Freude, entspricht aber ganz den inneren Anlagen der Charaktere, und ist deshalb zu akzeptieren. Eher störend ist, dass die Verwebung der Rückblenden mit dem Zeitstrang in der Gegenwart etwas unglücklich geraten ist, so dass die Erzählung nach dem eigentlichen, melancholischen Ende der Geschichte noch ein kleines Stück weitergeht.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. November 2014)