Schlagwort: Ehrenmord

Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können (2007)

Hört auf diese Frau! – Goldene Worte in Marmor gemeißelt

Die Probleme der Integration lösen sich leider nicht von selbst, wie viele noch vor Jahren gehofft haben. Die Probleme müssen also analysiert und angepackt werden. Aber der gelernte BRD-Bürger weiß: Das Thema Integration ist ein ideologisch hochgradig vermintes Gelände. Und im Stillen ahnt er, dass eine echte Problemlösung bereits an der äußerst mangelhaften öffentlichen Problemanalyse scheitert.

Und genau hier überrascht das Buch „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates: Sie kennt keine ideologischen Scheuklappen und wagt es, sich ihrer Vernunft ohne die Anleitung eines anderen zu bedienen, um die Dinge so zu beschreiben, wie sie nun einmal sind; darauf aufbauend kann sie intelligente Lösungsansätze entwerfen. Diese Natürlichkeit des Denkens und ihre herzerfrischende Menschlichkeit lassen Seyran Ates alle Sympathien des Lesers zufliegen. Ihre Glaubwürdigkeit baut auf ihrer Lebenserfahrung auf: Selbst eine transkulturelle „Deutschländerin“ – ein Begriff, den Ates positiv besetzt – arbeitet sie in Berlin als Rechtsanwältin für Migrantinnen, wofür sie mitunter mit dem Tod bedroht wird; einen Mordanschlag hat sie bereits mit Müh und Not überlebt. Als Teilnehmerin an der Islamkonferenz des Bundesinnenministers wird sie von den dort vertretenen Islam-Funktionären angefeindet, an deren Verfassungstreue – nach eigenen Angaben – nicht einmal der einladende Innenminister glauben will.

Das Buch ist umfassend und lässt keinen Aspekt aus: Die unumgängliche Notwendigkeit einer Reform und Aufklärung des Islam wird genauso angesprochen wie die „schwere Schuld“ (sic!) der „urdeutschen Multikulti-Fanatiker“ und ihre vollkommen gescheiterte Gesellschaftspolitik. Ohne mit der Wimper zu zucken entlarvt Seyran Ates die politisch korrekten „Lösungen“ als fatale Irrwege: Nicht ein islamischer Religionsunterricht unter der Kontrolle der oben angesprochenen Islam-Funktionäre führt zu Integration und freiheitlicher Gesinnung, sondern z.B. ein gemeinsamer, weltanschaulich orientierender und aufklärender Unterricht für alle Kinder unter demokratischer Kontrolle. Nicht die servile Anbiederung an Migranten in deren Herkunftssprache führt zu einem guten Miteinander und gegenseitigem Respekt, sondern die konsequente Etablierung der deutschen Sprache als der in Deutschland geltenden lingua franca. Nicht die als Toleranz getarnte Akzeptanz einer wie auch immer motivierten Diskriminierung von Frauen und Mädchen bricht die Abschottung von Parallelgesellschaften auf, sondern die kompromisslose Durchsetzung der Gleichberechtigung.

Sehr wertvoll und für den Leser von unschätzbarem Wert sind die Einblicke in das Denken und Fühlen der türkischen Migranten, die uns Seyran Ates als Insiderin vermittelt: Wie verstehen die Zuwanderer den Islam konkret und praktisch, jenseits aller Theorie? Wie definieren sie Ehre, Respekt und Sexualität? Und was denken türkische Migranten über deutsche Behutsamkeiten, wenn gleichzeitig im türkischen Fernsehen eine tabulose Kampagne gegen häusliche Gewalt läuft und hunderttausende Türken in ohnmächtiger Wut gegen die Islamisierung ihres Landes auf die Straße gehen?

Wer das und noch viel mehr erfahren will, der sollte ARD und ZDF abschalten, Frankfurter Rundschau und FAZ in die Tonne treten und statt dessen zum Buch greifen: Zum „Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates, einem Buch, dessen analytische Schärfe und programmatische Kraft von manchen inzwischen mit den Standardwerken der 68er-Bewegung verglichen wird. Es bewegt sich wieder etwas in Deutschland. Es wurde auch Zeit.

PS 11.03.2016

Ein Grundkonzept von Seyran Ates ist die Transkulturalität:

Die geniale Grundidee von Transkulti ist die Erkenntnis, dass ein Mensch sich nicht zwischen Kulturen aufteilen muss. Ein Mensch ist nicht 50:50 deutsch-türkisch, oder 30:70, oder 100:0 (was eine hundertprozentige Assimilation bedeuten würde). In Wahrheit ist es ganz anders: Es ist gar kein Nullsummenspiel, sondern ein Mensch kann zwei Kulturen gleichzeitig beherrschen, also 100:100! Man verlernt ja nicht mit jedem Wort der deutschen Sprache ein Wort der Herkunftssprache, sondern beherrscht am Ende beide Sprachen. So ist es auch mit der Kultur.

Dieses Konzept nimmt alle Spannungen und alle Ängste aus der Integrationsdebatte: Die Zuwanderer müssen nicht befürchten, dass sie ihre Herkunftskultur aufgeben und sich bedingungslos assimilieren müssen. Und die Aufnahmegesellschaft muss nicht befürchten, dass sich die Zuwanderer die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht zu eigen machen und sich nicht integrieren: Man darf das Erlernen und Akzeptieren von Sprache und Kultur der Aufnahmegesellschaft durchaus abverlangen, ohne dem Zuwanderer dadurch etwas wegzunehmen – denn er gewinnt es ja nur hinzu, ohne etwas zu verlieren!

Überdies hatte Seyran Ates klipp und klar gemacht, dass bei Konflikten zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur die Aufnahmekultur Priorität haben muss. Dort, wo die Herkunftskultur nicht parallel zur Aufnahmekultur gepflegt werden kann, weil sie mit ihr im Widerspruch steht, dort darf und soll die Aufnahmegesellschaft ein Stück Assimilation abverlangen. Das ist ihr gutes Recht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 4. August 2012)

Rafik Schami: Die dunkle Seite der Liebe (2004)

Ein Meisterwerk der Erzählkunst – eine Warnung vor schrankenlosem Multikulti

Der Roman „Die dunkle Seite der Liebe“ von Rafik Schami ist ein Glanzstück erzählerischer Prosa und sprachlich ein wahrer Hochgenuß. Voller Geduld und in aller Seelenruhe entspinnt sich vor den Augen des Lesers ein gigantisches Geflecht von ineinander greifenden Einzelerzählungen, die sich unendlich langsam aber doch beharrlich zu einem gewaltigen Gesamtbild zusammenfügen. In weiten Bögen schweift die Erzählung vom roten Faden ab, verliert sich scheinbar im Unendlichen, und kommt doch immer wieder überraschend treffsicher zum Ausgangspunkt zurück. Durch dieses Umkreisen und Vor- und Zurückblenden entfaltet sich ein großer Bilderbogen der arabischen Kultur in Syrien Mitte des 20. Jahrhunderts. Dieser Roman ist eine wahre Bereicherung der deutschen Literatur durch die Synthese von orientalischer Erzählkunst und der deutschen Sprache.

Handlung des Romans ist eine Familienfehde zwischen zwei christlichen arabischen Clans über mehrere Generationen hinweg, die die Liebe zwischen Farid und Rana, die jeweils einem der beiden Clans angehören, zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit macht.

Thema des Romans ist damit die Familiensoziologie der arabischen Kultur. Und hier ist alles drin: Ob Ehrenmord oder Zwangsverheiratung, nicht nur an Frauen, auch an Männern, ob Verhätschelung des Sohnes und Demütigung der Tochter, ob Machokultur und Patriarchat oder Verrat der Mütter an ihren Töchtern, ob Familienfehde oder Blutrache über Jahrzehnte hinweg, ob unhinterfragte Religiosität oder Aufklärungsfeindlichkeit: Hier ist einfach alles drin. Es ist eine schlichtweg verrückte Welt, ein einziges Irrenhaus, und je aufgeklärter die Protagonisten im Roman sind, desto mehr empfinden sie es ebenso: Es ist eine einzige Katastrophe, einfach nur zum Davonlaufen.

Interessant für den europäischen Leser ist, dass sich hier in christlichen Familien all die Phänomene wieder finden lassen, die man sonst eher in islamischen Familien vermuten würde. Die Ursache für solche Zustände ist ein Gesamtkonglomerat aus unaufgeklärter Religiosität und kulturellem Traditionalismus, Bildungsferne und dem Leben in einem islamisch dominierten Land. Das Fehlen von Aufklärung und humanistischer Bildung ist das Hauptproblem.

Interessant ist auch, wie sich die syrische Gesellschaft aufspaltet: Es sind dort nicht alles traditionalistische Muslime, wie manche vielleicht meinen, sondern es gibt dort alle politischen und weltanschaulichen Schattierungen, die es auch im Westen gibt. Nur, dass das Spektrum anders proportioniert ist, so dass moderate, aufgeklärte Demokraten keine Chance haben.

Viele europäische Intellektuelle scheinen diesen Roman falsch verstanden zu haben: Sie loben ihn als Werk des Multikulturalismus, der uns durch orientalische Sprache bereichere und der zeige, dass in der islamischen Welt auch vernünftige Menschen lebten bzw. dass auch Christen traditionalistisch sein können. Das ist alles nicht falsch, aber doch haarscharf an der Wahrheit vorbei gedacht: Der Roman zeigt doch vielmehr, dass man Christentum und Islam nicht gegeneinander ausspielen sollte, sondern unabhängig von der Väterreligion das Fehlen von Aufklärung und humanistischer Bildung das Problem sind.

Man kann diesen Roman auch als eine Warnung an Europa lesen, die von europäischen Intellektuellen gerne übersehen wird: Wollen wir wirklich tatenlos dabei zusehen, dass sich im Namen der Toleranz und der kulturellen Vielfalt auch diese arabische Familienkultur bei uns einnistet? Vor der so viele arabische Intellektuelle zu uns geflohen sind, darunter auch der Autor dieses Romans, Rafik Schami? Wollen wir Zufluchtsort sein, oder ein Ort, von dem man flüchtet?

Der Leser sollte für dieses Werk viel Zeit mitbringen: Das ganze erste Drittel des Romans ist der Vorgeschichte der beiden Clans gewidmet, es ist eine einzige schier endlose Orgie aus Ehrenmorden und Zwangsheiraten. Danach folgt bis zur Mitte des Romans die Kindheit der Hauptperson. Bis zu diesem Punkt muss man einfach durchhalten, die Schönheit der Sprache wird es einem erleichtern. Und es lohnt sich! Denn auf dieser notwendigen Grundlage kommt die Geschichte dann in Fahrt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Geschrieben 27. November 2001.