
Interessantes Thema durch Schnitzer des Lektorats getrübt
Die Tibet-Expedition von Ernst Schäfer geistert schon lange durch die Literatur, bleibt aber meistens wenig greifbar, und jeder projiziert in das Thema hinein, was er möchte. Deshalb ist es erfreulich, dass dieses Thema jetzt aufgegriffen und analysiert wurde. Der Autor hat dazu viel Material zusammengetragen und offenbar auch Originalschauplätze besucht und mit Zeitzeugen gesprochen, die teilweise erst vor relativ kurzer Zeit verstorben sind. Es wird also durchaus was geboten in diesem Buch.
Die Expedition wurde zwar von Heinrich Himmler mit gewissen okkulten Phantasien verbunden, doch der Expeditionsleiter Ernst Schäfer konnte sich dessen erwehren, so dass die Expedition wenigstens halbwegs wissenschaftlich war. Das schloss natürlich den Rassismus des Nationalsozialismus mit ein, der damals als Wissenschaft galt, aber das ist eben pseudowissenschaftlich, und nicht okkult, und insofern unspektakulär. Ebenfalls ein Malus dieser Expedition ist sicher der Opportunismus des Expeditionsleiters Ernst Schäfer, der sich dem Nationalsozialismus politisch offenbar allzu bereitwillig angebiedert hat. Das zeigt dieses Buch auch sehr gut.
Tibet selbst zeigt sich in diesem Buch ebenfalls von einer anderen Seite, als gedacht: Es wurde also viel getrunken, damals, in Tibet ….. und womöglich ist die Kritik der Expeditionsteilnehmer an der mittelalterlichen Mönchsherrschaft nicht völlig falsch. Das diplomatische Gerangel mit den Briten um den Einlass nach Tibet ist recht gut nachgezeichnet.
Sehr zu loben sind insbesondere auch die Kapitel über den weiteren Werdegang der Expeditionsteilnehmer während des Krieges und natürlich danach. Die Verstrickung in Schuld und der Umgang damit ist immer ein lehrreiches Thema über Fehlentscheidungen und den wahren Charakter von Menschen. Erst in diesen Kapiteln wird besonders deutlich, dass die ideologische Verstrickung eben kein harmloser Opportunismus war, so dass die Schuld eher abstrakt blieb, sondern dass die Ideologie sehr direkt mit dem Tod von Menschen in Zusammenhang gebracht werden kann.
Fehler
Der Autor des Buches ist eher Journalist als Wissenschaftler, doch der Theiss-Verlag erhebt einen wissenschaftlichen Anspruch: Deshalb seien die folgenden Fehler weniger dem Autor, sondern vor allem dem Lektorat des Verlags angelastet.
Obwohl der Autor letztlich klar herausarbeitet, dass die Expedition eben nichts mit okkultem Gedankengut zu tun hatte (z.B. S. 266), ist das Buch voller widersprüchlicher Aussagen zu diesem Thema. Man hat den Eindruck, dass der Verlag für dieses Buch ganz bewusst mit dem okkulten Thema gespielt hat, um Käufer zu finden.
Der Leser bekommt jedenfalls kein völlig klares Bild vom Zusammenhang von Nationalsozialismus und Okkultismus. Das Anfangskapitel vermittelt sogar die ewig falsche Legende von einer engen Verknüpfung von Nationalsozialismus und Okkultismus. Da wird die falsche These vom starken Einfluss der Ariosophie auf Hitler in dessen Wiener Zeit aufgewärmt. Doch Hitler war schon vor Wien stark durch die Schönerer-Bewegung geprägt und wurde durch die Ariosophie gewiss nicht stark beeinflusst. Liebenfels war eben nicht der Mann, der Hitler die Ideen gab. Und dass Hitler ein Gastredner bei der Thule-Gesellschaft war, lese ich hier zum ersten Mal (und selbst wenn: die Thule-Gesellschaft war ihrerseits nicht sonderlich okkult, und Gastredner treten oft bei Organisationen auf, denen sie sich nicht näher verbunden fühlen). Rosenberg war ebenfalls kein Mitglied der Thule-Gesellschaft, das kann man heute sogar bei Wikipedia nachlesen.
Eine intensive Lektüre von Goodrick-Clarke hätte eine Menge der falschen Informationen, die hier gegeben werden, zerstreuen können. Auf S. 267 lesen wir dann mit Klarheit, dass es Unsinn ist, den führenden Nationalsozialisten eine okkulte Lehre zu unterstellen. Ein gutes Lektorat hätte diese Klarheit schon früher im Buch hergestellt und solche populären pseudowissenschaftlichen Ansichten nicht durchgehen lassen. Oder hat das Lektorat diesen Mix erst mit angerührt, um den Verkauf zu steigern?!
Richtig ist aber, dass Heinrich Himmler einen Hang zum Okkulten hatte. Damit war er aber in der Führungsriege des Nationalsozialismus ziemlich allein. Und Himmler hielt seine okkulten Vorstellungen vorwiegend privat. Auch im Ahnenerbe, das ihm direkt unterstand, wurden Forschungsaufträge mit okkultem Inhalt nicht offiziell deklariert. Die okkulten Absichten Himmlers blieben inoffiziell und wurden allein durch persönliche Beziehungen transportiert (z.B. zu Edmund Kiß oder Herman Wirth).
Bei Ernst Schäfer kam er damit aber nicht an, wie das Buch an manchen Stellen richtig zeigt (an manchen Stellen leider nicht). Richtig ist, dass Schäfer ein skrupelloser Opportunist und mehr als nur ein „Mitläufer“ war, aber er teilte die okkulten Ideen von Himmler eben nicht, wie das Buch selbst klarstellt (S. 55). Schäfer wehrte sich auch erfolgreich gegen das Ansinnen von Himmler, den Atlantissucher Edmund Kiß oder Welteislehreanhänger mit auf die Expedition zu nehmen (S. 60). Auch bei der Finanzierung des Unternehmens achtete Schäfer darauf, nicht nur vom Ahnenerbe der SS abhängig zu sein. Obwohl Ahnenerbe-Geschäftsführer Sievers von der Expedition abriet, weil ihm Schäfer zu unabhängig war, entschied sich Himmler doch für die Expedition (S. 60).
Richtig ist ebenfalls, dass die Expedition u.a. auch Rasseforschung betrieb. Das geschah aber im Rahmen der damals üblichen und öffentlichen NS-Rassetheorien, und nicht mit einem okkulten Hintergedanken oder einem „Atlantis-Glauben“. Diese Hintergedanken blieben in Himmlers Kopf, sie gingen nicht mit auf die Expedition. Der mitreisende Rasseforscher Beger soll sogar unzufrieden mit der Expeditionsleitung durch Schäfer gewesen sein, und nach der Expedition entwarf Beger eine Expedition nach seinen eigenen Wünschen (S. 161).
Sehr positiv zu vermerken ist die historische Rekonstruktion des rassistisch motivierten Tibet-Interesses über Blumenbach und den Wagner-Schwiegersohn Chamberlain. Doch es fehlen natürlich die französischen Naturforscher wie Bailly, Buffon und Delisle de Sales, die die Menschheit von Norden und den höchsten Bergen in Innerasien her entstehen ließen, oder Burnouf, und natürlich Richard Wagner selbst! Und wie diese Vorstellungen über Gleizès und Richard Wagner dann zu Chamberlain, Schönerer und Hitler kamen.
Die Tibet-Zusammenhänge von Bailly, Buffon, Delisle de Sales, Blumenbach, Burnouf, Gleizès, Richard Wagner und Chamberlain werden z.B. in dem Buch „Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis“, 2016, von Thorwald C. Franke, behandelt. Auch hier das Ergebnis: Von Heinrich Himmler abgesehen war da „nur“ Pseudowissenschaft, aber nichts Okkultes, und der ganze Hype um die Nazi-Esoterik ist maßlos übertrieben. Der Nationalsozialismus war eben ein Hitlerismus, und kein Himmlerismus, das wird gerne übersehen.
Leider arbeitet das Buch den Unterschied zwischen Pseudowissenschaft und Okkultismus nicht klar heraus. Das hätte ganz an den Anfang gehört. Es ist übrigens durchaus nicht so, wie das Buch meint, dass Hitler an Tibet kein Interesse gehabt hätte. Hitler hatte durchaus ein gewisses Interesse an Tibet. Aber eben ein pseudowissenschaftliches Interesse im Sinne seines Idols Richard Wagner, kein okkultes Interesse. Allerdings gilt auch, dass Hitler die Herkunft der „arischen Rasse“ stets für unwichtig hielt. Für ihn war vor allem wichtig, dass es sie überhaupt gab. Das hatte er mit Chamberlain gemeinsam.
Ein weiteres Problem dieses Buches sind vielfache chronologische Sprünge vor und zurück in der Zeit. Hinzu kommen zahlreiche Tippfehler, und auch nicht wenige sprachliche Schiefheiten. Hier hat wirklich das Lektorat versagt. Schließlich hat das Buch eine Neigung dazu, den Geist der damaligen Zeit aus einer etwas selbstgerechten Haltung der Moderne zu beurteilen. Dadurch kommt manchmal ein fieser Ton in die Darstellung, der stört, selbst wenn der verurteilende Blick berechtigt ist, wie sich teilweise zeigt.
Fazit
Man bekommt eine Menge Material geboten, das interessant und lesenswert ist. Ein richtiges und wichtiges Buch. Man muss sich aber leider teilweise selbst seine Gedanken machen, wie sich alles zusammenpuzzelt. Von einem Verlag wie Theiss hätte man ein besseres Lektorat erwarten können.
Bewertung: 4 von 5 Sternen.
(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. September 2017)