Autor: Thorwald C. Franke (Seite 1 von 23)

Manfred Fuhrmann: Rom in der Spätantike – Porträt einer Epoche (1994)

Extrem lehrreiches Buch über Antike, Mittelalter und europäische Kultur

Dieses Buch stellt eine Zeit in den Mittelpunkt, über die man sonst nur unzureichend informiert wird: Den Übergang von der Antike zum lateinischen Mittelalter. Obwohl man es nicht erwarten würde, lernt man hier enorm viel über die Antike, indem man sieht, auf was die Antike an ihrem Ende komprimiert wurde. Man lernt aber auch enorm viel über das Mittelalter, denn hier sieht man, wie es entstand. Vieles von dem, was wir für typisch mittelalterlich halten, ist in Wahrheit spätantik.

Für manche Leser mag der Ansatz ungewöhnlich sein, sich einem Zeitalter über seine Literatur zu nähern. Aber eigentlich ist das genau der richtige Ansatz: Hier diskutiert man die originalen Quellen, aus denen die Geschichtsschreiber dann die Erzählung der Geschichte ableiten. Mancher wird dabei die Seiten über Themen wie Bibelepik als langweilig überblättern, aber spätestens die Berichte über die Zustände während des schrittweisen Zusammenbruchs des römischen Reiches werden jeden fesseln.

Wir lesen von gebildeten Römern, die den bald kommenden Zusammenbruch nicht voraussehen. Wir lesen hier von Einzelschicksalen, die mit dem Zusammenbruch der staatlichen Strukturen zurecht kommen müssen. Wir sehen, wie es zu Arrangements mit den eindringenden germanischen Stämmen kommt. Wir sehen, wie die Kirche oft die letzte Institution ist, die noch funktioniert, und deshalb die Aufgabe des Staates übernimmt. Wir sehen, wie manche – als Bischöfe – die Verteidigung ihrer Heimat organisieren, andere von Germanen enteignet werden, wieder andere von ehrlichen Germanen unerwartet entschädigt werden, und wieder andere in noch sichere Gebiete des Reiches umgesiedelt werden. Wir sehen, wie die Bildung abnimmt und mit dem Schulwesen ihre Basis verliert. Wie die Bildung immer grobschlächtiger wird, bis sie ganz verschwindet. Wir sehen, wie manche Gebildete sich ins Mönchstum flüchten, um dort mit selbsterstellten Regeln für den Erhalt der Bildung zu sorgen (Cassiodor).

Über Antike und Mittelalter wusste man auch ohne dieses Buch Bescheid, und man wusste auch, dass es dazwischen die Völkerwanderung und überhaupt „irgendwie“ eine „dunkle“ Zeit gab, aber wie dies alles nun wirklich zusammenhängt, wie die Antike im Einzelnen zum Mittelalter transformiert wurde, dazu erfährt man in diesem Buch sehr viel. Man bekommt auch eine Ahnung davon, durch welche Zerrbrille wir die Antike teilweise noch heute sehen, wenn man sich klar macht, welche Prägungen die Wahrnehmung der Antike durch den Übergang zum Mittelalter erfahren hat.

Eine interessante Ergänzung zu diesem Buch könnte „Im Schatten des Schwertes“ von Tom Holland sein, das die Zeit der Spätantike im östlichen Mittelmeer schildert: Byzanz und Islam.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Juni 2015)

Stichworte: 5 von 5 Sternen, Antike, Bildungsverlust, Cassiodor, Dunkles Zeitalter, Europa, Germanen, Humanismus, Manfred Fuhrmann, Mittelalter, Mönchstum, Sachbuch, Spätantike, Völkerwanderung, Westeuropa

Marc-Antoine Mathieu: Gott höchstselbst (2009)

Gelungene Groteske über Gottes Besuch auf Erden

In „Gott höchstselbst“ spielt Marc-Antoine Mathieu den Gedanken durch, was wohl wäre, wenn Gott sich (nach höchst traditioneller Vorstellung) als alter Mann mit langem Bart auf Erden blicken lassen würde. Der Cartoon spießt nicht nur die theologischen bzw. philosophischen Probleme dieser Absurdität gekonnt auf, sondern entlarvt anhand der Reaktionen der Menschen auf das Ereignis deren allzu menschliche Menschlichkeit. Eingebaut ist auch eine subtile Reminiszenz an die Episode mit dem Computer Deep Thought und der Antwort „42“ auf die Frage nach dem Universum, dem Leben und überhaupt allem in „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ von Douglas Adams.

Die Zeichnungen sind ästhetisch ansprechend und nicht überladen, wechseln häufig in origineller Weise die Perspektive des Betrachters, und beleben die Story durch überraschende Übergänge.

Leider kann dieser Cartoon keine Lösung für die aufgeworfenen Fragen anbieten. Die großen (bekannten) Fragen werden zwar alle angerissen, aber nirgendwo wirklich weitergeführt. Damit bleibt am Ende nur die Groteske in der Erinnerung des Lesers zurück. Das ist ein wenig schade. Die Groteske ist aber gelungen. Wer sich noch nicht allzu sehr mit den Fragen rund um Gott befasst hat, könnte es auch als Anregung und Einstieg in weiteres Nachdenken begreifen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15. April 2019)

Norbert Bolz: Das Wissen der Religion – Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen (2008)

Allzu plumpe Religionsverneinung ist auch nicht rational

Sprache und Stil: Bolz spricht teilweise nicht sachlich und begründend, sondern in mythischer Sprache, in Andeutungen oder schwärmerisch. Auf diese Weise wird manches Richtige, was er zum Ausdruck bringen will, beschädigt. Bolz „raunt“ häufig, wie man es aus religiös motivierten Texten unserer Tage her nur allzu gut kennt; das kommt beim skeptischen Leser gar nicht gut an.

Geistesgeschichte überbewertet: Es ist ja richtig, dass Bolz die Geistesgeschichte anführt, um die allgemeinen Denkstrukturen der Gesellschaft kenntlich zu machen. Aber als Grund und Maßstab für das eigene Denken kann die Geistesgeschichte nicht dienen. Ich persönlich glaube doch nicht an x, nur weil sich x in der Gesellschaft als Denken entwickelt hat oder so und so bewährt hat. Etwas muss für mich ganz allein wahr sein, nicht allgemein oder bewährt, damit man es glauben kann. Diese persönliche, existentielle Perspektive kommt bei Bolz oft zu kurz.

Religion und Metaphysik werden bei Bolz nicht sauber unterschieden. Manches wäre richtig, wenn man es auf eine philosophische Metaphysik bezöge. Aber wenn man denselben Gedanken mit Religion statt Metaphysik formulliert, dann macht man eine viel zu weitgehende Aussage.

Alles in allem ein anregendes, aber über weite Strecken auch schwierig geschriebenes und deshalb anstrengend zu lesendes Buch, das gute Gedanken nicht sauber genug darlegt und eine viel zu große Nähe zur Religion pflegt; wer sich noch nie mit dieser Perspektive beschäftigt hat, sollte es lesen, aber die Wahrheit ist jenseits von Bolz und seinen Gegnern zu finden: Zwischen allen Stühlen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Februar 2012)

Peter Prange: Der letzte Harem (2007)

Übergang der Türkei vom Sultanat zur Republik mit Mord an den Armeniern

Historischer Hintergrund für diesen Roman ist das Ende des Sultanats in der Türkei, die Machtübernahme europäisch orientierter Kräfte, der Erste Weltkrieg und der Massenmord an den Armeniern, unter Anwesenheit von deutschen Verbündeten.

Das alles wird geschildert aus der Perspektive von zwei Frauen, die in den Harem des Sultans verschleppt werden, dort Karriere machen, und dann am Ende der Monarchie ihren eigenen Weg ins Leben finden müssen. Verstrickt darin ist ein fortschrittlicher türkischer Offizier und ein deutscher Mediziner. Das Ende des Romans ist teils melancholisch, teils sehr erfreulich.

Die literarische Qualität ist – wie so oft bei Peter Prange – gehobenes Mittelmaß und schöner Schmalz, der mehr sein könnte, aber leider nicht mehr ist. Worauf es aber wirklich ankommt bei diesem Historienroman ist in der Tat der historische Hintergrund, der durch die Handlung auch tatsächlich gut verlebendigt wird. Gerade deshalb ein lesenswertes Buch!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Januar 2015)

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie (2003)

Völlig am Ziel vorbei geredet

Wenn man von der „Macht der Philologie“ hört, dann denkt man an die große Bedeutung, die die richtige Interpretation alter (und neuer) Texte für die Gegenwart hat, insbesondere für Humanismus und Aufklärung. Man denkt an die historisch-kritische Methode, an Historisierung, korrekte Einordnung vergangener Zeiten, Korrekturen von bedeutsamen Schreibfehlern, oder die Wiedergewinnung bedeutender Texte. Und man denkt auch an die große Aufgabe, dies nun alles auch für den Koran und andere islamische Grundlagentexte durchzuführen, ohne Rücksicht auf die allzu Rücksichtsvollen.

Enttäuschte Erwartungshaltung

Aber in diesem Buch wird unter „Macht“ etwas anderes verstanden. Der Autor versteht unter „Macht“ die Ergriffenheit des Philologen während seiner philologischen Tätigkeit, bzw. den fast schon körperlichen (An-)Trieb, sich philologisch zu betätigen. Sozusagen den Eros der Philologie. Letztlich ist „Macht“ hier natürlich eine unpassende Wortbildung, weil das Wort „Macht“ üblicherweise so nicht gebraucht wird.

Und leider wird die Ausführung dieses Ansatzes den Erwartungen nicht gerecht. Man hätte sich gewünscht, von Platon und der intrinsischen Motivation des Philosophen zu hören, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, statt sich zurückzuziehen, oder von der Motivation der Stoiker versus der Demotivation der Epikureer, oder von Platons Mythen, die auch das Ziel verfolgen, die Rationalität emotional zu unterstützen. Oder ganz modisch: Von Schamanen und ihren Beschwörungen, von der Verschmelzung von Subjekt und Objekt, von Sigmund Freud und seinen zwei Antrieben Eros und Tod. Zum Beispiel.

Statt dessen: Langweilige Betrachtungen von Walter Benjamin über Wolken, die über das Heidelberger Schloss ziehen. Und vieles andere „gelehrige Geschwätz“. Durchaus nicht falsch. Aber immer am Punkt vorbei. Eine lange Kette von mühsamen Assoziationen, an deren Ende man sich fragt, was man jetzt eigentlich gelernt hat. Nutzlos in diesem Sinne wie die „Dialektik der Aufklärung“. Die einzelne Denkfigur kann nützen, wenn der Leser sie aus ihrem morastigen Zusammenhang befreit und selbst durch Klarheit zu neuem, besserem Leben erweckt.

Kein überzeugendes Buch. Habe es nach zwei Fünfteln abbrechen wollen –
– Habe es dann aber doch zu Ende gelesen. Man lernt so dies und das. Und bekommt diesen oder jenen Einblick. Aber eher im Sinne von Wissenschaftsgeschichte. Nicht im Sinne von Wissenschaft selbst.

Nach dem ersten Kapitel hört man dann nicht mehr viel von der „Macht“ der Philologie, und die Überlegungen geraten in das Fahrwasser von üblichen philologischen Überlegungen. Vieles ist „g’schwoll’nes G’schwätz“, das dem Leser gegenüber offenbar bewusst einen klaren und unzweideutigen Zugang zum Verständnis des Textes verstellt. Man kann streckenweise nur raten, was das Buch wohl meint. Am Ende zeigt sich oft, dass man dasselbe auch wesentlich klarer und einfacher hätte formulieren können. An so einem ärgerlichen Text möchte man nicht „scheitern“. So weit kommt’s noch …

Gegen Ende kommt das Buch wieder auf die Ergriffenheit, auf die „Macht“ der Philologie zurück, von der bisher nur im ersten Kapitel die Rede war. Das Erlebnis der Konfrontation mit einer komplexen zu lösenden Aufgabe, für deren Lösung man nicht unter Zeitdruck steht, wird als das Erlebnis bezeichnet, was die Faszination der Philologie ausmache. Das ist aber in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Diese Faszination kann man auch beim Schachspiel erleben, in einem schwierigen Stellungsspiel, ohne Schachuhr. Ja, das ist auch eine Faszination. Aber es ist nicht die Faszination der Philologie.

Die wahre Macht der Philologie

Aus irgendwelchen Gründen redet das Buch völlig am Kern der Sache vorbei. Die Faszination der Philologie besteht natürlich darin, dass die alten Texte elementare Einsichten über das Menschsein enthalten, die jeden betreffen und berühren. Deshalb u.a. haben sich diese alten Texte schließlich auch erhalten, und andere Texte nicht. Die Apologie des Sokrates hatte offenbar mehr Menschen zu allen Zeiten etwas zu sagen, als religiöse Hymnen oder technische Anleitungen, die verloren gegangen sind. Eine zweite Betroffenheit als Mensch ergibt sich aus der Erkenntnis, dass alte Texte über geistesgeschichtliche Entwicklungen Auskunft geben, die unser Denken bis heute prägen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind – und dass wir uns dessen nur bewusst werden und dadurch freier und verständiger werden können, wenn wir die alten Texte kennen. Hüter und Pfleger dieses wertvollen Erbes der Menschheit zu sein, das ist die faszinierende Aufgabe der Philologie. Dies ist die Faszination der Philologie, dies ist der Zauber, der von ihr ausgeht, dies ist die Ergriffenheit dessen, der mit alten Texten arbeitet.

Das gilt auch für zunächst unwichtig erscheinende Texte, denn man weiß nie, zu welchen Schlussfolgerungen sie führen können. Es ist ein komplexes, nie endendes Puzzlespiel, das ist richtig. Der Philologe ist Gralshüter und Schatzsucher zugleich. Auf dem Weg zum Schatz sind natürlich – Dan Brown lässt grüßen – einige faszinierende Rätsel zu lösen, aber das eigentlich faszinierende ist der Schatz. Der Weg ist nicht das Ziel.

Wilamowitz-Moellendorff ist da mit seiner Erkenntis der Pflichtethik aus dem humanistischen Menschenbild heraus erheblich näher am Thema dran als das Buch. Ein authentisches Verständnis von Pflicht, nicht als blinder Gehorsam, sondern als innerer Antrieb, das zu tun, was einem als Mensch zu tun zukommt, ein solches authentisches Verständnis von Pflicht kann z.B. aus alten Texten gewonnen werden, und den, der es begreift, ergreift es. Pflicht eben. Von dieser Ergriffenheit ist in diesem Buch aber nicht die Rede.

Demotivierender Defätismus

Statt dessen finden wir die völlig unverständliche Auffassung, dass niemand mehr an den Nutzen der Geisteswissenschaften glaube, und dass alle Versuche, einen Nutzen zu begründen, gewissermaßen unästhetisch seien. Unästhetisch? Wo doch das Schöne selbst der höchste Nutzen ist. Unverständlich.

Völlig unverständlich auch der folgende Satz: „Nie wieder möchte ich Behauptungen hören müssen wie den Satz, die Geisteswissenschaften seien ‚aufklärend‘, weil sie angeblich den Auftrag haben, ‚als Barriere gegen die Remythisierungstendenzen unserer Zeit‘ zu fungieren.“ – Gewiss, solche Anforderungen sind manchmal etwas oberflächlich. Die persönliche Ergriffenheit durch die Botschaft alter Texte ist immer zunächst intim und privat, und ihre Anwendung für die Öffentlichkeit erscheint manchmal als Schamverletzung und Profanierung. Aber solche Anforderungen sind eben auch nicht falsch, denn die Philologie kann das tatsächlich leisten. Fühlt sich der Autor dieses Buches denn nicht ergriffen von der Macht der Philologie, Einsichten bewirken zu können, zuerst bei sich selbst, und dann auch bei anderen?

Aber die Gedanken verlaufen seltsam krumm in diesem Buch. So heißt es z.B., dass Historisierung etwas „erschaffen“ würde, was sonst nicht da wäre. Das ist aber ganz falsch. Historisierung ist nichts anderes als eine richtige Erkenntnis von real existierenden Sachverhalten. Wer nicht erkennt, dass Dinge vergangen sind, einer anderen Zeit angehören, und unter der Perspektive dieser Zeit gesehen werden müssen, und nicht unter der Perspektive der Gegenwart, und dass die Perspektive der Vergangenheit einem Urteil unter der Perspektive der Gegenwart unterliegt, der schaut die Dinge nicht so an, wie sie sind, sondern der ist es, der den Dingen etwas zufügt, was sie nicht an sich haben. Ebenso ist es mit dem Klassischen. Klassisch ist, wo vergangene Perspektive und heutige Perspektive zusammenfallen. Etwas buchstäblich zeitloses. Auch da wird nichts „erschaffen“, sondern erkannt. Die Theorie dieses Buches, dass Historisierung sich nicht dem Streben nach richtiger Erkenntnis verdankt, sondern dem Streben nach der Überwindung des Todes, ist sehr schräg.

Es ist auch befremdlich, wie leicht sich der Autor dieses Buches der Auffassung hingibt, dass nach dem Tode nichts mehr komme. Woher will er das wissen? Das ist doch plumper Materialismus. Ein Geisteswissenschaftler weiß es doch besser. Es ist nicht so einfach. Es stört auch, wenn der Autor von seinen „sozialdemokratischen“ Instinkten spricht. Da fragt sich der Leser doch, ob das hier noch eine Abhandlung mit argumentativem Anspruch sein soll, oder eher ein persönliches Tagebuch? Seltsam auch, wenn die preußische Moral von Wilamowitz-Moellendorff mit „Eisen“ assoziiert wird und das für schlecht gehalten wird. Wäre eine Moral aus Gummi denn besser? Eisen ist doch für eine Moral eine sehr schöne Assoziation. Eisen lässt sich nämlich schmieden, verliert aber danach nicht so leicht seine Form, bricht aber andererseits auch nicht, sondern biegt sich, aber nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. Man vergleiche auch mit Granit.

Und ach ja: Werner Jaeger … und dass man so heute nicht mehr denken könne. Nicht wirklich eine neue Einsicht. Aber was dann? Wie sollen wir denn Identität sinnvoll konstruieren? Denn ohne Identität lebt es sich nicht gut. Werner Jaeger hat uns eine Aufgabe gestellt, die wir noch nicht gelöst haben. Immer diese abwehrenden Reden gegen Jaeger, deren bloße Existenz das Eingeständnis ist, dass an Jaeger doch was dran war. Wenn an Jaeger nichts dran gewesen wäre, würde man von ihm nämlich schweigen. Es ist also ein komplexes Problem, das schon Jahrzehnte ungelöst vor uns liegt. Man könnte das faszinierend finden. Und sich zur Tat animiert fühlen.

Wir leben in einer Zeit, in der das Wort „Humanismus“ eine äußerst bedenkenswerte Bedeutungsverschiebung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit erfährt: Unter „Humanismus“ verstehen heute viele eine auf Atheismus gegründete Weltanschauung. Es ist so töricht. Und so elend. Man könnte sich dagegen empören. Aus innerster Seele. Dieses ganze gegenwärtige Unverständnis für das Erbe der Vergangenheit, für Tradition, für die Tiefe der Geschichte, für die conditio humana, und wie darüber die Errungenschaften des Westens aufgegeben werden zugunsten eines kulturvergessenen Kulturrelativismus: Man könnte sich darüber empören und kreativ werden. Daran geht dieses Buch aber vorbei.

Fazit

Ein Buch, das vor manche Tür geführt hat. Hineingehen musste man aber immer selber. Das Buch blieb draußen.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. Oktober 2017)

Elif Shafak: Der Architekt des Sultans (2013)

Erzählter Traum von einer besseren Türkei

Der Roman „Der Architekt des Sultans“ von Elif Shafak ist weniger ein realistischer Historienroman, der die wahre Historie trickreich mit einer spannenden Geschichte hinterlegen würde. Vielmehr ist es ein fast schon märchenhaftes Geschehen, das sich vor dem nur blass gezeichneten Hintergrund der Geschichte Istanbuls im 16. Jahrhundert entfaltet. Im Zentrum steht die Geschichte des Jungen Jahan, der als Elefantenführer nach Istanbul kommt und dort Schüler des berühmten Hofarchitekten Sinan wird.

Zentrale Themen des Buches sind Liebe, Vertrauen und Wohlwollen, dann auch Wissen und Bildung, und als Gegensatz dazu Hass, Verbitterung und religiöse Engstirnigkeit. Da ist zunächst die Liebe des Jungen zu seinem klugen Elefanten. Dann die mordende Geldgier des Kapitäns, der ihn nach Istanbul brachte. Dann der Hofarchitekt, der seine Schüler seltsamerweise danach aussucht, ob sie seelisch heilungsbedürftig sind. Die Sultane, die ihre Konkurrenten um den Thron ermorden lassen. Der schwelende Hass diverser Romanfiguren auf das Osmanische Reich, weil es ihr Land erobert und ihre Familien ermordet hat. Der Forscherdrang des Hofastronomen. Die Engstirnigkeit der Religionsgelehrten. Die Buchhändler voller Weisheit. Die Zusammenarbeit von Menschen verschiedener Religion und Herkunft. Eine islamische Gläubigkeit getragen von Liebe und Barmherzigkeit. Idyllische Zigeuner mit dem Herz am rechten Fleck. Usw. usf.

Shafaks Roman ist im Grunde ein Märchen, das auf die heutige Türkei abzielt, in der dieselben Kräfte wie im Roman immer noch schwer miteinander ringen.

Erzählerisch ist der Roman stark, die Sprache angenehm und gefällig. Man ist durch jede einzelne Episode aufs neue gefesselt. Eine Schwäche ist jedoch, dass der Roman nur einen dünnen roten Faden hat, in den viele kleine Nebenerzählungen eingewoben sind, die nicht dazu beitragen, die Geschichte voranzutreiben, und die teilweise so dramatisch sind, dass man jeweils einen eigenen Roman daraus hätte machen können. Auch die Auflösung diverser Verwicklungen am Schluss des Romans kommt etwas überraschend und hat sich eher nicht im Verlauf des Romans abgezeichnet. Auch die dramatische Eingangsszene wird im Roman dann eher beiläufig abgearbeitet, und auch der Prolog mit dem „Mittelpunkt des Universums“ ist am Ende nicht so zentral für diesen Roman, wie man erwarten könnte. Der Roman krankt ein wenig daran, dass er zu viele „zentrale“ Themen aufmacht, so dass am Ende keines davon mehr wirklich „zentral“ ist.

Eine weitere Schwäche ist eine teilweise zu sehr zur Schau gestellte Freundlichkeit und Rücksichtnahme. Im wirklichen Leben geht es manchmal doch robuster zu, ohne dass es weniger herzlich wäre. Hier ist man versucht, das Wort vom „Frauenroman“ zu bemühen. Schließlich wurde das ganz am Anfang des Romans angeschlagene Gegensatzpaar „Liebe“ vs. „Liebe zum Lernen“ bzw. zur Wahrheit nicht wirklich bearbeitet. Richtig ist, dass Jahan kein Glück in der Liebe hat. Aber der Grund dafür scheint mir keineswegs seine Liebe zum Lernen und zur Wahrheit zu sein, die übrigens nur recht selten im Roman aufscheint. Beide Dimensionen bleiben unverbunden nebeneinander stehen, und stoßen sich nicht gegenseitig. Aus diesem Thema hätte man mehr machen können.

Eine kleine Liste weiterer Themen, die der Roman bearbeitet:

  • Das Verhältnis von Meister und Schüler.
  • Ein Leben voll begeisternder Arbeit, über der das Leben selbst zu kurz kommt.
  • Unerfüllte Liebe. Einsamkeit.
  • Abschied, Tod, Verlust, Verrat.
  • Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft, Verkleidung als Mann.
  • Studienreisen von osmanischen Architekten nach Rom.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juli 2017)

Theodor Gomperz: Griechische Denker – Eine Geschichte der Antiken Philosophie (1896-1909)

Aufklärung über die Aufklärung anhand der griechischen Aufklärung

Das Werk

Obwohl Gomperz‘ dreibändiges Werk über die „Griechischen Denker“ in den Jahren 1896-1909 veröffentlich wurde, ist es dennoch erstaunlich modern: Der Grund dafür ist, dass der Verfasser politisch-weltanschaulich ein klassischer Liberaler war, der auch mit den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit bestens vertraut war, die bis heute die Grundlage unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes bilden: Evolutionstheorie, Psychologie, Religionskritik, Ethnologie, Ökonomie, Atomphysik und Astrophysik, bis hin zu den Gedanken, dass hinter den Atomen noch kleinere Teilchen stehen könnten oder dass es im Weltraum noch andere Planeten mit Leben geben müsste. Teilweise stand der Autor mit den Vordenkern der Moderne in persönlichem Kontakt, etwa mit Sigmund Freud oder dem Physiker Ernst Mach. Aber auch unter historisch-kritischen Gesichtspunkten ist Gomperz immer noch modern genug: Eine gläubige Verklärung der Antike findet sich bei ihm nicht, auch wenn er noch nicht jede Hinterfragung kennt, von der wir heute, 100 Jahre später, wissen.

Das Werk nimmt mit seiner Eindringtiefe in den behandelten Stoff eine Mittelstellung zwischen kurzer Einführung und tiefgehender Einzelabhandlung ein. Dadurch kann Gomperz etwas bieten, was es heute so nicht mehr gibt: Neben der Behandlung der großen und bekannten Denker wie Demokrit, Platon oder Aristoteles, geht Gomperz einerseits auch auf viele „kleinere“ Denker ein, von denen man sonst eher selten liest, so z.B. die Megariker, die Kyrenaiker und die Kyniker, oder Theophrast und Straton. Andererseits kann Gomperz so viel besser die Entwicklungszusammenhänge zwischen den Denkern aufzeigen, so z.B. die Einteilung der Vorsokratiker in die Ionischen Naturphilosophen, die Eleaten und spätere komplexere Denker, oder die Entstehung der Stoiker und Epikureer aus den Kynikern und Kyrenaikern, über die man nur selten liest. Gomperz breitet den ganzen Horizont vor seinen Lesern aus: Nicht nur Philosophen im engeren Sinne, sondern das ganze geistige Umfeld wird erfasst: Er beginnt mit Religion und Mythos, und vergisst nicht den wesentlichen Einfluss von Dichtern und Geschichtsschreibern. Gleichzeitig verliert sich Gomperz aber auch nicht in Teilproblemen, wie dies Spezialabhandlungen tun. Gomperz geht teilweise recht tief, bleibt dabei aber doch immer klar.

Gomperz bringt die Dinge auf den Punkt, und zwar ihren eigenen Punkt. Wo andere eher beschreiben als erklären, oder ihre moderne Ideologie in der antiken Philosophie wieder entdecken wollen, dort ist Gomperz ein Meister in der Kunst, den entscheidenden Punkt, die innere Motivation, die tiefere Triebkraft herauszuarbeiten, die hinter den antiken Entwicklungen steht. So erst werden Inhalte und Entwicklungen der antiken Philosophie wirklich verständlich.

Wer Gomperz lesen will, muss vor allem Geduld und Konzentration mitbringen. Pausen empfehlen sich. Notizen ebenfalls. Man wird später auch immer wieder noch einmal nachlesen, was Gomperz sagte, und dabei immer noch neues entdecken. Man hätte sich eine bessere Gliederung des Stoffes in einer Hierarchie von Unterkapiteln wünschen können, um dadurch einenn besseren Überblick und eine mnemotechnisch nützliche Wissensordnung zu haben. Besonders ungünstig ist die Kapiteleinteilung im dritten Band, aber auch im ersten Band ist z.B. das Kapitel über Demokrit und die Atomlehre ungünstig gehalten. Die Sätze sind manchmal etwas verwickelt und altertümlich, hier hilft lautes Lesen.

Der Inhalt

Das Hauptthema der Antike ist natürlich der Prozess der Aufklärung und die Gewordenheit unserer heutigen geistigen Welt. Gomperz weiß noch ganz genau, warum die Beschäftigung mit der Antike so wichtig ist, während der Zeitgeist uns weismachen will, die Antike sei von gestern.

Gomperz legt aber nicht nur die Entwicklung der Aufklärung in der Antike dar, sondern zeigt ständig die Zusammenhänge und Parallelen zur modernen Aufklärung und Wissenschaft auf. Er erklärt anhand der Antike die aufklärerischen Prinzipien von philosophischem und wissenschaftlichem Denken im allgemeinen, so dass der der Leser nicht nur die Schritte der Aufklärung der griechischen Denker kennenlernt, sondern auch selbst Schritt für Schritt aufgeklärt wird.

Man kann mit Fug und Recht sagen: Bei Gomperz lernt man das Denken selbst. Dazu gehört nicht nur exakte Berechnung und konsequente Logik, sondern vor allem auch die Fähigkeit der richtigen Einschätzung. Die Kunst des Abwägens. Das Maß der Erkenntnis. Das richtige Interpretieren anhand von Indizien. Man lernt auch, wie Dinge sich entwickeln, und dass vieles nur schrittweise voran geht, dass auch Irrwege nützlich sein können, usw.

Aus heutiger Sicht ist Gomperz erfrischend vernünftig und unideologisch. Die Lektüre dieser 100 Jahre alten Abhandlung ist eine wahre Labsal für die vom Zeitgeist geplagte Vernunft. Gomperz hat in vielen Punkten den richtigen, differenzierten Ansatz, er trifft an den entscheidenden Weggabelungen der Erkenntnis die richtigen Entscheidungen, während ein irriger Zeitgeist die falschen Abzweigungen nimmt und eine schiefe Ideologie entwickelt.

Die Sophisten werden von Gomperz korrekt als eine Stufe des Fortschreitens der Aufklärung gesehen; man darf dabei nur nicht vergessen, dass Sokrates die nächste, höhere Stufe ist: Nach der De-konstruktion kommt die Re-konstruktion. – Bei Platon ist Gomperz ungewöhnlich kritisch: Fast schon respektlos kritisiert er Platon als einen Denker des Absoluten, der in seiner absoluten Präzision oft genug absolut falsch lag. Auch wenn Gomperz hier nicht immer Platons Genialität voll erfasst hat, so ist sein respektlos kritischer Ansatz berechtigt und anregend. – Platon wird bei Gomperz einseitig Demokratie-kritisch und Tyrannen-freundlich gesehen. Hier und in anderen Punkten erliegt Gomperz dem Geist seiner Zeit. – Aristoteles erscheint bei Gomperz als ein Ausbund an Inkonsequenz und kompromisslerischem Pragmatismus. Was für die Philosophie im engeren Sinne eher fragwürdig ist, hat sich für Politik und Wissenschaft jedoch als Segen erwiesen: Hier hat Aristoteles mehr Erfolge bewirkt als Platon. Im letzten dürften sich beide Ansätze jedoch in der Mitte treffen, zumal Platon in den Nomoi bereits den Weg hin zu mehr Pragmatismus zu gehen begonnen hatte, und Aristoteles nicht zufällig ein Schüler Platons war. Diese Erkenntnis deutet sich bei Gomperz an, wird jedoch nicht in dieser Klarheit formuliert.

Der Autor

Erschreckend ist es zu lesen, wie Gomperz kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Auffassung vertritt, die Staaten Europas seien auf einem guten Wege des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes, und würden immer enger zusammenrücken; Krieg sei undenkbar geworden. Im Sinne des „Zauberberges“ von Thomas Mann ist Gomperz ein wahrer „Settembrini“, ein durchaus sympathischer aber vielleicht doch allzu optimistischer klassischer Liberaler mit etwas zu wenig Einfühlungsvermögen in das „absolute“ Denken Platons. Da es aber besser so als andersherum ist, verzeiht man ihm diese Schwäche gern.

Wer ein vernünftiges, rundes, schönes, klares, erhellendes, bildungsbürgerliches, vollständiges, gutes, menschenfreundliches Buch über die antiken Denker lesen möchte, das nicht angekränkelt ist von den Irrtümern unserer Zeit, sondern wesentliche und richtige zeitlose Einsichten als Basis für eigenes Weiterdenken vermittelt, der ist mit den „Griechischen Denkern“ von Gomperz bestens bedient. Sicher eines der Bücher, die man gelesen haben sollte.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juni 2013)

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse (2018)

Einsamkeit, asoziale Eigenheiten, Naturverbundenheit, Liebe und Mord

Der Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ erzählt die Lebensgeschichte von Kya, die in einer Hütte im Marschland an der Küste von North Carolina lebt. Der Roman lässt sich grob in vier Phasen gliedern.

Zuerst wird Kya als 6jährige nach und nach von allen Familienmitgliedern verlassen und bleibt allein in der Hütte zurück. Sie muss sich nun allein durchschlagen und bekommt dabei unmerklich Hilfe von verschiedener Seite: Die Verkäuferin rechnet ihr weniger Geld ab als nötig, sie bekommt „zufällig“ alte Kleider, und der etwas ältere Tate bringt ihr Lesen bei und versorgt sie mit Literatur über die Biologie der Marsch, wodurch sie sich autodidaktisch zu einer Expertin für die Biologie der Marsch entwickelt. – Im zweiten Teil geht es um die Liebe zu Tate, der sie jedoch verlässt. Und darum, dass sie sich dem Gecken Chase hingibt, weil sie nicht allein sein will, obwohl der sie nur ausnutzt. – Im dritten Teil ist der Roman ein Gerichtskrimi, denn Kya ist angeklagt, Chase ermordet zu haben. – Im vierten Teil kommt es zu einem Happy End mit Tate, und ganz am Ende gibt es noch einen Paukenschlag.

Der Roman ist dort stark, wo er über die Natur der Marsch und die Verbundenheit von Kya mit ihr erzählt. Auch das Alleinsein von Kya, ihre Einsamkeit, ihre Fähigkeit sich selbst durchzuschlagen, aber auch ihre asozialen, sonderlichen Eigenheiten, die sie sich durch ihr Alleinsein erworben hat, ihr Misstrauen und ihre Naivität gegenüber anderen Menschen, werden überzeugend thematisiert. Das sind die stärksten Aspekte des Buches. Die Liebesgeschichten sind hingegen flacher und nur unter dem Aspekt ihrer Einsamkeit von Interesse. Die erstaunliche Sensibilität von Tate ist das einzig Unglaubwürdige an dem Buch. Der Gerichtskrimi ist ein richtiger Gerichtskrimi zum Mitraten beim Kreuzverhör der verschiedenen Zeugen. Es werden die üblichen Vorurteile der Gesellschaft in den US-Südstaaten thematisiert, aber nicht zu penetrant. Einige Nebenfiguren sind interessant, so z.B. der Vater von Tate, der als Krabbenfischer Gedichte liest und Opernmusik hört.

Das Buch arbeitet viel mit Rückblenden. Während die Lebensgeschichte von Kya voranschreitet, rekonstruieren die Ermittlungen des Scheriffs parallel dazu das Geschehen in der Rückschau. Vor allem aber geben einige Rückblenden zusätzliche Informationen über bereits geschilderte Ereignisse, so dass diese für den Leser plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Auch der Paukenschlag am Schluss ist eine solche Rückblende, die die Perspektive verändert.

Alles in allem ein gutes, berührendes und überzeugendes Buch. Etwa von der Qualität des „Medicus“, aber noch kein Jahrhundertklassiker.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. Februar 2021)

Ronald B. Schill: Der Provokateur – Autobiographie (2014)

Tapferer Einzelkämpfer scheiterte an linksliberalen Eliten und „Parteifreunden“

Dieses Buch wurde anlässlich Ronald B. Schills Aufenthalt in einem Fernsehcontainer über zehn Jahre nach seinem politischen Engagement geschrieben. Obwohl dieses Buch – offenbar im Hinblick auch auf ein wenig anspruchsvolles Publikum – in einfacher Sprache geschrieben wurde und teilweise auf Provokation getrimmt ist, ist es doch sehr lesenswert.

Ronald B. Schill beschreibt, wie er als Richter die linksliberalen Missstände in Politik, Justiz und Medien hautnah erlebte. Wie er dagegen vorging. Wie die Medien ihn zu Unrecht verleumdeten. Dass Schill damals tatsächlich kein Kokain nahm. Wie er Reden vor CDU-Ortsverbänden hielt und schrittweise in die Rolle des Politikers rutschte, und schließlich die Gelegenheit ergriff, etwas zu verändern.

Wir lesen von den typischen Problemen beim Aufbau einer Partei: In der AfD ist es heute genau dasselbe. Wir erfahren von der Verfilzung von SPD-Parteimitgliedern in Ministerien und Behörden, und wie sich die Bundesländer gegenseitig in Reformen blockieren: Hätte Schill die Farbe Blau für die Polizei nicht im Alleingang durchgesetzt, gäbe es sie bis heute nicht.

Wir erfahren die Gründe für Ronald B. Schills Scheitern: Schill war als Person ganz auf Hamburg eingestellt, dies war seine Welt. Die Ausdehnung auf die Bundestagswahl wurde ihm von der eigenen Parteibasis aufgezwungen und war eine Überdehnung. Schill fand auch keine Überläufer aus der Elite, die ihn unterstützt hätten, und allein war er auf Dauer chancenlos. Einzig das SPD-Mitglied Walter Wellinghausen sprang ihm als Anwalt und rechte Hand bei. Eigene „Parteifreunde“ verschworen sich schließlich mit Beust gegen ihn. Nachdem die Medien ihn auch nach überstandener Kokain-Verleumdung nicht in Ruhe ließen, habe Schill begriffen, dass er nur scheitern kann, und habe von da an seinen politischen Tod gesucht – schreibt er.

Wir erfahren, dass Schill das Narkosegas aus Russland wollte, um darauf aufbauend etwas besseres zu entwickeln, und wie die Medien die russische Führung wegen des Einsatzes dieses Gases verurteilten, aber bald darauf nicht in vergleichbarer Weise kritisierten, als bei einer weiteren Massengeiselnahme von Schulkindern kein Narkosegas einsetzt wurde und eine viel größere Zahl von Geiseln, wohlgemerkt: Schulkinder, ums Leben kam. Wir denken noch einmal an Schills großartige Weigerung, einen Staatskirchenvertrag mit der evangelischen Kirche zu schließen, der den häufig nichtchristlichen Steuerzahler weitere Unsummen gekostet hätte.

Wir erleben noch einmal mit, wie Schill im Bundestag am 29. August 2002 von den herrschenden Eliten auf verfassungswidrige Weise das Wort abgeschnitten wurde, und wie Beust ihn daran hinderte, eine legitime Verfassungsklage dagegen einzureichen. Schill nennt seine Rede im Bundestag selbst Skandalrede, aber nicht wegen dem abgeschnittenen Wort, sondern weil er sie bewusst provokativ angelegt haben will. Aber eigentlich war die Rede nur wahr – wo Missstände sind, ist die schlichte Wahrheit provokativ. Schließlich hat Ronald B. Schill ungewollt die Kanzlerschaft von Edmund Stoiber verhindert. Die 0,8% überzeugten Schillwähler bei der Bundestagswahl haben das bewirkt. Schill mag es damals nicht gewollt haben, im Rückblick war es aber dennoch ein Erfolg, ein Schlag gegen das eingefahrene Establishment, zu dem Stoiber fest dazu gehörte, wie man spätestens heute weiß.

Schill stellt manches anders dar, als es war

Die Springerpresse, die in Hamburg auch lokal vertreten ist, hatte Schill nämlich zunächst gestützt! Immer wenn andere Medien Vorwürfe brachten, brachte die Springerpresse eine Verteidigung. Ungefähr zwei Wochen vor Schills Sturz jedoch schaltete sie um und griff Schill an, so sagt es jedenfalls die Erinnerung des Rezensenten. Schill selbst hingegen schreibt, Beust hätte schon seit der Bundestagsrede nach einer Gelegenheit für seinen Sturz gesucht. Von einer guten Kooperation mit der Springerpresse schreibt Schill nur ganz kurz im Zusammenhang mit seiner Zeit als Richter.

Gestürzt ist Ronald B. Schill, als Beust ihm seine „rechte Hand“ Wellinghausen wegen einer Lappalie wegnehmen wollte. Der Tipp dazu kam angeblich von der CSU, die wegen der verpassten Kanzlerschaft Rache üben wollte. Schill reagierte damit, Beust vorzuhalten, dass auch er eine „Spezlwirtschaft“ am Laufen hatte (nämlich mit Roger Kusch). Doch Schill betont seltsamerweise nicht den großen Unterschied zwischen einem politischen Unterdrucksetzen wegen einer Spezlwirtschaft (die zufälligerweise eine schwule Spezlwirtschaft ist), und einem politischen Unterdrucksetzen gezielt wegen Homosexualität. Ersteres ist völlig legitim und gehört zum politischen Geschäft. Schill lässt aber den Eindruck bestehen, als habe er Beust damit erpresst, ihn als schwul zu outen. Das war aber nicht der Fall. Beust hat sich schließlich ohne Not selbst geoutet. Um Homosexualität ging es in Wahrheit gar nicht, auch wenn heute alle Medien dies so darstellen, und auch wenn sich ein katholischer Bischof aus Hamburg heuchlerisch gegen Schill stellte, um seine Kirche auf Kosten von Schill als „moderne“ Kirche zu profilieren. Warum Schill das hier nicht klarstellt, bleibt unklar.

Unklar ist auch, warum Schill seine Reaktion auf das Abschneiden seines Wortes im Bundestag selbst als „cholerisch“ bezeichnet. Er hatte dort recht besonnen reagiert, wenn man bedenkt, dass gerade die Verfassung gebrochen wurde. – Schließlich meint Schill, „sein Schwanz“ hätte ihn politisch am Ende zu Fall gebracht. Das ist grober Unfug. Was ihn politisch zu Fall brachte, sind ganz andere Dinge, siehe oben. Schill zeichnet in Teilen ein Zerrbild dessen, was war, und dieses Zerrbild ist nicht immer zu seinen eigenen Gunsten. Warum Schill das tut, bleibt unklar.

Schills unmoralischer Lebenswandel

Tatsächlich schildert Ronald B. Schill ein recht ungehemmtes Sexualleben mit ständig wechselnden Partnern, Ehebruch und Partnertausch. Zudem habe er schon immer die Droge Tavor genommen, um in kritischen Situationen konzentriert zu sein. Das alles ist natürlich unmoralisch. Aber es ist auch seine Privatsache.

Vor allem zeigt es auch, dass Schill eben kein „Ewiggestriger“ war, sondern ein sehr moderner Mensch, im Grunde fast ein „linker“ Mensch, der allerdings begriffen hatte, dass einige Dinge so nicht weiterlaufen können in diesem Staat. Bereits beim Kokainverdacht war klar, dass dieser gut erfunden ist, wenn es auch nicht wahr war.

Nebenbei bekommt man über Schills Eskapaden auch mit, wie es in „höheren“ Kreisen der Gesellschaft bisweilen so zugeht. Man möchte nicht dazugehören. Auch Beust soll es nicht minder wild getrieben haben, doch über dessen Privatleben berichteten die Medien nie.

Schluss

Ronald B. Schill steht für das erste Aufbäumen gegen die immer größer werdenden Missstände und Verfilzungen in Deutschland. Ronald B. Schill trieb die verfilzte Elite vor sich her, so dass diese sogar offenen Verfassungsbruch beging, um ihn und seine Wähler zu stoppen und von der legitimen demokratischen Teilhabe auszuschließen. Ronald B. Schills Name ist auf ewig mit der Ehre verbunden, für Demokratie, Rechtsstaat und das Gemeinwohl Schande, Verleumdung und soziale Ächtung nicht gescheut zu haben.

Gegen alle Verleumdungen, die bis heute darauf abzielen, ihn und seine Politik lächerlich zu machen, steht sein Werk unvergessen wie ein Fels in der Brandung, ein Mahnmal für Kommende. Denn auch das ist wahr: Mit seiner Parteigründung hat Schill den ersten Schritt dazu getan, die Opposition in Deutschland zu organisieren. Mitglieder der Schillpartei gingen später auch zur (kläglich an sich selbst scheiternden) „Freiheit“ und zur AfD. (PS 25.05.2018: die inzwischen auch kläglich an sich selbst gescheitert und zur rechtsradikalen Partei geworden ist.)

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. September 2014)

Paula Cocozza: How to be human (2017)

About the revival of the joy of life after a break-up – and a fox’s life

The story

Mary had a break-up with Mark some time ago. He had to leave the house, she stayed. Yet Mary is disoriented, does not know what to live for, has no new partner. When seeing the family life of her neighbours, she feels alone, and attracted by their baby. On a (terrible) barbecue party in the neighbours‘ garden, she is content with the baby’s company. (By the way, this is the most beautiful baby ever described in a book: Sweet and honey-like, and never ever crying.)

Then a fox comes into Mary’s life from the wilderness in her backyard. The fox brings her gifts, they start to lay together in the sun. Finally the fox brings the baby of her neighbours who was left in the garden by the sleepwalking mother. The mother does not believe anything, the relation to the neighbours deteriorates. The neighbours fetch a Fox Fixer to catch and kill the fox.

Mary’s ex boy-friend Mark has rented a flat near to her house, and keeps on stalking her. He repeatedly tries to persuade her to let him come back to her, but he obviously has no sense for her needs but only for his needs. Disgusting scenes: Once he almost managed to install himself in her life and house again.

Finally, Mary locks herself up in her house with the fox, whom she simply calls Fox now (after having tried some unsuitable names). Her neighbours leave their house for good, and Mark is rejected on his final attempt to reclaim Mary’s love. Mary and the fox live completely alone in a house with closed shutters, with absolutely no contact to the outside world, for an uncounted number of days.

After they have overcome the neighbours and Mark, they leave the house again. Now, the fox is poisoned by Mark who knew from Mary that her fox likes eggs and where his hiding place for them is. In a dramatic scene, the fox is dying. Though sad this is, it draws a line and makes Mary’s joy of life coming back. But in an unattended moment, the fox’s body suddenly vanishes. Therefore, Mary doubts her previous understanding of friendship with the fox: Did he betray her by a feigned agony? But finally she lets him go, dead or alive, since true friendship does not tell the other what is good for him.

Meaning

Obviously, the whole book is about the feelings after a break-up, the loneliness, the disorientation, about true friendship and being played by a „friend“, and about feeling depressed or joyful again. The fox seems to be a symbol of closing yourself off from the world, and becoming eccentric and outlandish for others, while at the same time, the life with the fox is a kind of school for Mary to learn about true friendship. All these feelings and teachings are deeply human, and Mary learns a good part of what often is called the „human condition“.

The story’s iridescence

On two occasions, the story pretends to be iridescent and that it would not be clear what really happened. First, how the baby came to Mary’s back door. But here, it is absolutely clear by the story itself that the fox did it, and that the baby’s mother left the baby outside while sleepwalking. Nothing is unclear, here. Second, the vanishing of the fox’s body after his death. There is no explanation here, yet the fox’s agony is very real. Also very real is his poising by Mark with all its details (eggs, poison from Mary’s cupboard). And what is more, if the fox should be understood merely as a symbol, there is no motivation why the fox should vanish at this moment. There was no inner turn in Mary’s life, the turn came after the fox was dead. – The fox is not only a symbol but to be understood as a reality. A reality which symbolizes something. But it cannot be reduced to a mere symbol. The fox has his own life.

A fox’s life

The book is very strong in picturing a fox’s life: How important a fox’s scent is, how he listens and smells and watches at several sensual impressions at the same time, how he found his area of living, how he fought for it with an other fox, how he found a fox girl-friend, about the fox’s dreams of food and family, how his pregnant fox girl-friend died being overrun by a car: Very very sad. The fox suffers from loneliness, too. And he behaves with dignity. This fox is a real Gentleman. – The book shows several times the „thinking“ of the fox, and it is always excellent: The animalistic and highly reactive and associative „thoughts“ of a fox are portrayed very convincingly in human words. It is almost poetic.

Citations to be remembered

„F*** Neanderthal hipsters.“ (p. 140).

„He won this country two summers gone, after his first mate passed, and he smelt a vixen here that he liked. Musky and fruity. That was her scent. For all the blackberries she ate.“ (p. 155)

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 16. Dezember 2018)

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