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Ludwig Erhard: Wohlstand für alle (1957)

Was soziale Marktwirtschaft wirklich ist – und was nicht

Das Buch „Wohlstand für Alle“ von Ludwig Erhard ist das Grundlagenwerk der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Hier gibt der Vater der sozialen Marktwirtschaft persönlich Auskunft, und jeder, der sich auf das Schlagwort der sozialen Marktwirtschaft berufen will, muss sich an diesem Buch messen lassen.

Die zentrale Botschaft lautet: Das Soziale an der sozialen Marktwirtschaft ist die Marktwirtschaft selbst. Wo immer ein echter Markt mit freiem Wettbewerb herrscht, werden die Ressourcen und kreativen Potentiale einer Volkswirtschaft optimal genutzt, und es entsteht größtmöglicher ökonomischer Nutzen. Deshalb hat für Ludwig Erhard das Kartellrecht eine zentrale Bedeutung, denn nur dadurch wird sichergestellt, dass tatsächlich Wettbewerb herrscht. Ein regelloser Kapitalismus mit Monopolbildungen wäre keine Marktwirtschaft; ein Nachtwächterstaat ist nicht das Ziel.

Die zweite Priorität ist die Stabilität der Preise. Die Stabilität der Preise ist sowohl für die Unternehmer wichtig, weil sie Planungssicherheit haben, aber auch für die ausländischen Kunden von Exportgütern, und schließlich auch für die Verbraucher, weil ihnen das Geld nicht durch Inflation aus der Tasche gezogen wird. Zur Erhaltung der Preise setzt Erhard auch auf staatliche Lenkungsmaßnahmen wie die Eindämmung einer überhitzten Konjunktur und im Idealfall auf die psychologische Wirkung seiner Aussagen.

Die dritte Komponente ist die Umverteilung des Wirtschaftswachstums an alle durch Lohnsteigerungen (oder durch Preissenkungen). Eine Umverteilung der Zuwächse ist politisch viel einfacher durchzusetzen als eine Umverteilung des bestehenden Vermögens, und setzt keine Fehlanreize. Ludwig Erhard spricht sich klar dagegen aus, die Sozialstruktur der Vorkriegszeit mit wenigen Reichen, einer breiten Unterschicht und einem schwachen Mittelstand fortzuführen. Lohnsteigerungen dürfen aber niemals die Produktivitätssteigerungen übertreffen, da es sonst zu Preissteigerungen kommt, die die Lohnerhöhung sinnlos sein lassen.

Vollbeschäftigung ist für Ludwig Erhard ein nachgeordnetes Ziel, das sich durch die höheren Ziele quasi von selbst erfüllen wird. Wichtig ist vor allem der Aufbau von Arbeitsplätzen, die sich ökonomisch selbst tragen. Einen Ausbau der sozialen Sicherungssysteme sieht Erhard skeptisch: Sie nehmen den Menschen die Freiheit und gaukeln eine Sicherheit vor, die es so nicht gibt.

Im Detail argumentiert Erhard, dass ein echtes Unternehmertum gar keine Kartelle wollen kann, will es nicht zur planwirtschaftlichen Bürokratenkaste verkommen. Auch Handwerksordnungen und andere bürokratische Regulierungen können Kartellcharakter annehmen, wenn sie den Markteintritt von Konkurrenten erschweren.

Der Export ist für Ludwig Erhard ein Schlüssel zum Erfolg. In diesem Zusammenhang äußert sich Erhard auch dazu, wie man Europa nicht integrieren darf, nämlich durch „Harmonisierung“ oder gar feste Wechselkurse zwischen den Staaten (erinnert an die heutige EU und das heutige Euro-System). Vielmehr wird sich die ökonomische Integration unterschiedlich leistungsfähiger Ökonomien durch eine freie Preisbildung und durch die Konvertibilität der Währungen ergeben. Alles andere würde zu einer schlimmen Desintegration führen, meint Erhard.

Stellenweise wird Ludwig Erhard philosophisch. So z.B., wenn er die These ablehnt, dass die Marktwirtschaft materialistisches Denken fördere. Vielmehr führe ein wachsender Wohlstand dazu, dass die Menschen durch die Marktwirtschaft mehr Freizeit für ihre geistig-seelische Erbauung haben, statt nur für ihren Broterwerb arbeiten zu müssen. Insoweit sei die Marktwirtschaft „ein Gott wohlgefälliges Beginnen“. Bedenken von Oberschichten, dass der Wohlstand die einfachen Menschen dekadent mache, weist er zurück: Man solle anderen gönnen, was man selbst hat. Eines Tages sei es sogar möglich, dass man bewusst auf Wirtschaftswachstum verzichte, um mehr Lebensqualität zu gewinnen – doch so weit sei man noch lange nicht. Ludwig Erhard warnt auch vor der Maßlosigkeit als einem typisch deutschen Charakterzug (S. 268). Freiheit und Demokratie sind für Ludwig Erhard untrennbar mit der Marktwirtschaft verknüpft. Hingegen lesen sich die zitierten Reden der SPD aus damaliger Zeit wie Honecker-Reden: Ihnen fehlt ganz offensichtlich jeder Glaube an die Kraft der Freiheit.

Die ersten 160 Seiten des Buches bilden eine Art politischer Autobiographie, die minutiös die politische Situation des ersten Jahrzehnts von Bizone und BRD durchgeht. Ludwig Erhard erklärt, warum er jeweils welche Entscheidung traf, und wie er mit der Militärbehörde bzw. der politischen Opposition um seine Ziele ringen musste. In diesem Teil bekommt der Leser allein durch die Praxis einen Begriff davon, was soziale Marktwirtschaft ist. Dabei schreibt Ludwig Erhard nicht lehrbuchmäßig, sondern präsentiert seine Maximen in Form von kurzen Faustregeln. Erhard wehrt sich gegen den Vorwurf, dass er amerikanische Befehle ausgeführt hätte (S. 194 f.).

Das erste Jahrzehnt von Bizone und BRD war geprägt von kriegsbedingten, großen Ungleichgewichten und Turbulenzen, von Kapitalmangel, Rohstoffmangel, Bevölkerungszuwachs durch Flüchtlinge und vielen anderen Problemen. Ludwig Erhard glaubte fest daran, dass eine wahrhaft freie Marktwirtschaft, beginnend mit der Einführung der Deutschen Mark in der Währungsreform von 1948, von ganz von selbst dazu führen würde, dass sich die Ungleichgewichte ausbalancieren würden. Und er hat Recht behalten. Auftauchende Probleme und Knappheiten überwand Erhard nicht durch ängstliches Zurückschrecken, sondern durch forsches Herauswachsen aus der Krise. Den Begriff „deutsches Wunder“ (heute: „Wirtschaftswunder“) lehnt Erhard ab, denn für ihn sei die Entwicklung alles andere als ein Wunder gewesen.

Das Buch ist leicht zu lesen, da es in lauter kleine Unterkapitel eingeteilt ist.

Fazit

Ein ökonomisch aufklärendes, fast schon weises Buch voller zeitloser Grundwahrheiten, das mit vielen seiner Aussagen gerade auch heute wieder verblüffend aktuell ist, nicht zuletzt mit seinen Warnungen, wie man es nicht machen sollte: Denn genau so wurde es in den letzten Jahrzehnten leider gemacht. Wir sind von dem vorgezeichneten, guten Weg Ludwig Erhards weit abgekommen, und alle warnenden Vorhersagen Ludwig Erhards haben sich bewahrheitet.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung ohne Fazit auf Amazon am 16. Mai 2016)

Anhang:
Zitate in Auszügen über richtige und falsche Arten der Integration Europas

Es scheint heute allenthalben eine gewisse Scheu vor dem Wettbewerb vorzuherrschen, der notwendigerweise mit der Schaffung von größeren Markteinheiten verbunden ist bzw. durch sie ausgelöst wird. Man wähnt, daß die Bedingungen für einen freien Wettbewerb bei einer derartigen Integration zu ungleich wären, als daß dieses Ordnungsprinzip der Marktwirtschaft gesetzt werden dürfte. Man sollte daher – so meinen manche Wirtschaftskonstrukteure – zuerst einmal alle diese Unterschiedlichkeiten ausgleichen bzw. sie alle auf ein gleiches Niveau bringen, ehe man den freien Wettbewerb eröffnet.

Solche Versuche könnten zwar in engen Grenzen zu einem bescheidenen Erfolg führen; es ist aber völlig illusionistisch, anzunehmen, daß man in dieser Welt, d.h. in einer konkurrierenden, in Wettbewerb stehenden Welt, in bezug auf die einzelnen Kostenfaktoren gleiche Startbedingungen herbeiführen könnte. Dieses Ziel auch nur anstreben zu wollen, müßte einen Dirigismus und Dilettantismus sondergleichen auslösen, der von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt wäre.

Nur der Preis, in welchem dann naturgemäß auch die Qualität Berücksichtigung und Ausdruck findet, ist der ökonomische Maßstab zur Beurteilung von Leistungen. … Integration bedeutet für jeden Einsichtigen daher freien und umfassenden Wettbewerb, bedeutet wirtschaftliche Zusammenarbeit auf einer funktionell höheren Ebene.

Diese kritische Anmerkung gilt natürlich auch gegenüber solchen Vorstellungen, die ebenso abwegige Gedanken unter einem anderen Motto, dem der „Harmonisierung“, verfolgen und unter dieser Flagge eine Gleichmacherei aller ökonomischen Verhältnisse betreiben wollen. Wollte man den Versuch unternehmen, alle betriebswirtschaftlichen Kostenelemente von Land zu Land und über einen größeren Bereich von Ländern hinaus so zu harmonisieren, d. h. auszugleichen, daß der Wettbewerb keine „störenden“ Wirkungen zeitigen kann, bedeutet dies nicht Integration, sondern eine Desintegration schlimmsten Ausmaßes.

Unter dem Stichwort „Harmonisierung“ ging das Ansinnen sogar so weit, daß am Ende der Übergangsperiode die Lohnniveaus der einzelnen Mitgliedsstaaten angeglichen und ihre Gesamtarbeitskosten „äquivalent“ sein müßten. Man könnte über diese Forderung hinweggehen, weil sie volkswirtschaftlich einfach nicht realisierbar ist, denn von Sizilien bis zum Ruhrgebiet kann es keine gleiche Produktivität und mithin auch keine gleichen Arbeitskosten geben. Die Praktizierung dieses Grundsatzes müßte gebietsweise sogar zu einem wirtschaftlichen Massensterben führen.

Niemand kann glauben wollen, daß es möglich sein könnte, in allen beteiligten Ländern quer durch alle Industriezweige einen gleichen Produktivitätsstandard zu setzen und einen gleichen Produktivitätsfortschritt zu erzielen. Selbst wenn durch künstliche Manipulationen an einem bestimmten Stichtag gleiche Startbedingungen gesetzt werden könnten, würden am Tage danach schon wieder Veränderungen Platz greifen, weil die Vorstellungen und das Verhalten der Menschen und auch der Völker hinsichtlich ihres Sparen-und-Verbrauchen-Wollens, des Leistungsstrebens, ihres Fleißes u.ä.m. auch in einem gemeinsamen Markt niemals auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können.

Jene Forderung beruht also auf einer völlig illusionären Verkennung ökonomischer Gesetze und Tatbestände, aber sie charakterisiert zugleich eine geistige Haltung, die sich in einem integrierten Europa unter keinen Umständen durchsetzen darf, wenn nicht menschliche Initiative und schöpferische Kraft, ja das Leben selbst, erstickt werden sollen.

Es ist also eine Illusion, die hinter diesen Vorstellungen steht, der Wahn, zu glauben, man könnte die natürlichen Gegebenheiten korrigieren und die strukturellen Bedingungen von Land zu Land mit künstlichen Mitteln so weit ausgleichen, daß jedes Land in jedem Bereich mit gleichen Kosten arbeitet. Ich halte dies – von der Unmöglichkeit, daß man dieses fragwürdige Ziel jemals wird erreichen können, einmal abgesehen – auch in keiner Weise für erstrebenswert.

Dann gäbe es auch keinen Hinderungsgrund mehr, wieder in die nationale Isolierung zurückzufallen, denn wenn jeder Mann jede Ware zu den gleichen Kosten anbieten kann, warum – so frage ich – soll ich sie dann anderwärts kaufen? Hier verliert der zwischenstaatliche Güteraustausch seinen letzten und eigentlichen Sinn. Das ist doch gerade der Witz, daß alle Länder unter verschiedenen Bedingungen arbeiten, daß bei dem einen die Gunst auf dieser, bei dem andern auf jener Seite liegt, daß der eine da und jener dort leistungsfähiger ist. Gerade hieraus erwächst ja die Notwendigkeit der gegenseitigen Ergänzung und die Fruchtbarkeit eines solchen Bemühens.

Wer dieser Harmonisierungstheorie folgt, darf nicht der Frage ausweichen, wer die Opfer bringen und womit die Zeche bezahlt werden soll. In der praktischen Konsequenz muß ein solcher Wahn naturnotwendig zur Begründung sogenannter „Töpfchen“ führen, d. h. von Fonds, aus denen alle diejenigen, die im Nachteil sind oder es zu sein glauben, entweder entschädigt oder künstlich hochgepäppelt werden. Das aber sind Prinzipien, die mit einer Marktwirtschaft nicht in Einklang stehen. Hier wird nicht die Leistung prämiiert, sondern das Gegenteil getan, es wird der Leistungsschwächere – aus welchen Gründen auch immer – subventioniert.

Gegenüber diesen Theorien habe ich zu wiederholten Malen darauf hingewiesen, daß ich jene „Sozialromantik“, die hier zum Ausdruck kommt, für außerordentlich gefährlich halte. Dagegen trete ich dafür ein, daß gemeinsame Mittel nach strukturellen und soziologischen Maßstäben einer echten Produktivitätssteigerung sowie für die Erhaltung lebensfähiger Wirtschaftszweige nutzbar gemacht werden. Die Geister scheiden sich nicht in der Fragestellung, ob ein gemeinsamer Markt sobald als möglich entstehen soll oder nicht; es geht ausschließlich um die Ordnungsprinzipien und die geistige Ausrichtung.

Ein bürokratisch manipuliertes Europa, das mehr gegenseitiges Mißtrauen als Gemeinsamkeit atmet und in seiner ganzen Anlage materialistisch anmutet, bringt für Europa mehr Gefahren als Nutzen mit sich.

Neben den politischen Gefahren, die mit der sogenannten sozialen Harmonisierung verbunden sind, ist diese Konzeption wissenschaftlich überhaupt nicht diskussionsfähig. Die soziale Harmonisierung steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Integration; sie ist nicht durch gequälte Konstruktionen zu verwirklichen, sondern durch eine Angleichung der Lebensformen und Lebensvorstellungen im Rhythmus der fortschreitenden Integration. Obwohl ich also einen gemeinsamen Markt bejahe, bin ich doch der Auffassung, daß auch in einem solcherart integrierten Europa die Lebens- und Produktionsbedingungen niemals einheitlich sein werden. In gewissem Sinne beruht die Funktion des Gemeinsamen Marktes ja gerade umgekehrt auf der Möglichkeit und Notwendigkeit einer fruchtbaren Ergänzung der einzelnen Länder nach Maßgabe ihrer besonderen und unterschiedlichen Leistungskraft und der Vielfältigkeit der naturgegebenen und strukturellen Bedingungen.

Es ist eine fast tragische Erkenntnis, glauben zu müssen, daß wir innerlich bereits derart verkrampft sind, Ordnung nur noch in der Vorstellung der „Organisation“ begreifen zu können. Wir haben den Sinn für echte Ordnung verloren, die gerade dort am stärksten ist und dort am reinsten obwaltet, wo sie als solche überhaupt nicht bemerkt und verzeichnet wird. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich europäischen Bindungen grundsätzlich widerstrebe. Ich möchte vielmehr die Voraussetzung hierfür schaffen, wenn ich zuvörderst die innere Ordnung der einzelnen Volkswirtschaften sichergestellt wissen will, weil sonst die Integration zwangsläufig zu einem übernationalen Dirigismus führen müßte.

Europa ist nicht mit kleinen Mittelchen zu bauen; es ist nur als eine komplexe, ökonomische und politische Funktion zu verstehen. Die Vorstellungen, daß fortschreitend einzelne Sachbereiche der nationalen Souveränität entzogen und supranationaler Verwaltung übergeben werden sollten und daß dann von einem bestimmten Augenblick an das Gewicht des supranationalen Einflusses automatisch zu einer totalen Überwindung nationaler Zuständigkeiten führen würde, erscheint mir wenig realistisch und hält einer wirtschaftstheoretischen Durchleuchtung nicht stand.

Die Ganzheit der volkswirtschaftlichen Funktion läßt sich nicht in Zuständigkeiten aufspalten. Jeder derartige Versuch müßte dahin führen, daß alle Volkswirtschaften zwischen den Stühlen sitzen, und niemand mehr weiß, wer Koch oder Kellner ist.

Meine Befürchtung bleibt deshalb bestehen, daß wir allzusehr geneigt sein könnten, die europäische Integration zu sehr auf die Schaffung von Institutionen abzustellen, d. h. also, daß wir das Institutionelle gegenüber dem Funktionellen überbewerten

In diesem Zusammenhang mag auch ein Wort zu der Hoffnung mancher Planwirtschaftler gesagt werden, sie könnten ihre Ideen und Ideologien, die sie im nationalen Raum nicht durchzusetzen vermochten, nunmehr auf der europäischen Ebene verwirklichen. Nach unseren Erfahrungen im nationalen Raum bedarf es keiner Erklärung mehr, warum die Prinzipien der Plan- und Lenkungswirtschaft nicht geeignet sind, nun etwa im weiteren Raum die Produktivkräfte Europas zu entwickeln. Diese Wirtschaftsauffassung ist nicht einmal geeignet, auch nur zu den primitivsten Formen einer Arbeitsteilung, geschweige denn zu einer fruchtbaren und reibungslosen Zusammenarbeit der Volkswirtschaften zu gelangen.

Meiner Auffassung nach steht uns gar kein anderer Weg offen, als in allen Fragen des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, des Geld- und Kapitalverkehrs, der Behandlung der Zollpolitik und hinsichtlich der Freizügigkeit der Menschen in raschem Fortschreiten zu immer umfassenderen Freiheiten zu gelangen und auf dem Wege dorthin auf alle staatlichen Manipulationen zu verzichten, die diesen Prinzipien zuwiderlaufen. Wo institutionelle Einrichtungen zur Durchsetzung dieser Prinzipien der Freiheit unvermeidlich sind, trete auch ich für sie ein. Mir will scheinen, daß derjenige ein wahrhaft guter Europäer ist, der diese Gemeinsamkeit des Handelns und Verhaltens zur Verpflichtung aller Beteiligten erhoben wissen will.

[Fußnote zur Ausgabe von 1964:] Die geistige Grundhaltung, die damals für die Beurteilung der Integrationsbemühungen ausschlaggebend war, muß aber auch in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen bestimmend sein und in Zukunft bestimmend bleiben.

[Gegen ein System starrer Wechselkurse in Europa:]

Ich muß immer wieder dieselbe Feststellung treffen: Es ist schon ein merkwürdiger, um nicht zu sagen grotesker Zustand, daß trotz der so unterschiedlichen Preisentwicklung in den einzelnen Volkswirtschaften die Wechselkurse dieser Länder starr geblieben sind, so als ob zwischen diesen beiden Größen überhaupt keine innere Beziehung bestünde. Aus einer derartigen widerspruchsvollen Politik müssen sich notwendigerweise erhebliche Verschiebungen der Exportchancen ergeben: Jedenfalls ist das ein wesentlicher Grund dafür, daß die Bundesrepublik immer größere Außenhandelsüberschüsse erzielt, die nach der negativen Seite hin die Bändigung der innerdeutschen Konjunktur erschweren.

Der Verzicht auf die von mir immer und immer wieder geforderte Konvertibilität mußte fast naturnotwendig zu dieser Entwicklung führen. Nur durch die freie Konvertierbarkeit der Währungen kann meines Erachtens die gedeihliche Grundlage für einen wirklich funktionsfähigen freien Weltmarkt geschaffen werden. Nur auf solche Weise wird nach aller praktischen Erfahrung eine einheitliche und auf Stabilität ausgerichtete Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Nationalwirtschaften erzwungen werden. Damit wäre aber auch den gegenwärtigen Verzerrungen wie den extremen Zahlungsbilanzpositionen der Boden entzogen.

Die umfassende Funktion konvertierbarer Währungen wird niemals in einer auch nur ähnlich vollendeten Weise durch andere Maßnahmen ersetzt werden können. Alle diesbezüglichen Versuche fahren sich meist schon in den Anfängen fest, immer bleiben sie Stückwerk.

Auszüge aus: Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle, 1957, letzte Fassung von 1964, S. 285-293, 322 f.

Honoré de Balzac: Die Frau von dreißig Jahren (1842)

Ein Frauenleben zu Balzacs Zeiten – nur begrenzt auf heute übertragbar

Balzac durchleuchtet mit diesem Buch den typischen Werdegang einer Frau seiner Zeit vom Jugendalter bis zum Tod (insofern ist der Titel irreführend). Dieser Werdegang, der eine fortgesetzte Lebenskatastrophe ist, wurde damals durch das Institut der Ehe bestimmt, die offenbar praktisch unauflöslich war. Aus diesem Umstand ergeben sich eine ganze Reihe von zwangsläufigen Konsequenzen.

Am Anfang allen Übels steht die enthusiastische Wahl eines oberflächlich beeindruckenden Ehegatten. Dieser entpuppt sich jedoch schon bald als Langweiler und Dummkopf. Doch die Ehe ist ein für allemal geschlossen. Abwechslung bietet eine ältere, erfahrene Freundin. Doch diese stirbt alsbald. Abwechslung bietet ein Kind. Doch es ist kein Kind der Liebe. Abwechslung bietet auch ein Liebhaber. Doch die Ehe verhindert, dass aus dieser Beziehung eine ernste Sache werden kann. Der Liebhaber stirbt tragisch, es kommt der nächste Liebhaber. Die Erwartungen und der Schwatz der Gesellschaft sind unerträglich, ebenso die außerehelichen Ausschweifungen des Ehegatten. Vor einem Notar muss Normalität geheuchelt werden. Die Tochter läuft irgendwann davon, weil sie genau spürt, dass sie nicht geliebt wurde. Eine andere Tochter wird glücklich verheiratet, und für ihr Glück wird am Ende alles Eigene geopfert. Kurz: Ein Frauenleben als durchgängige Tragödie vom Anfang bis zum Ende.

Der Roman war für seine Zeit bedeutsam, es fällt jedoch schwer, die Situation ohne weiteres auf die heutige Zeit zu übertragen. Viele Einzelaspekte dieser Tragödie zeigen sich natürlich auch in unseren Tagen, doch der zentrale Zwang der Ehe ist heute nicht mehr in gleicher Weise vorhanden. Aus heutiger Sicht wäre es z.B. interessant gewesen zu lesen, wie die Protagonistin nach ihrer Eheschließung schrittweise bemerkt, dass ihr enthusiastisch verehrter Ehemann ein Dummkopf ist. Man hätte es dann mit dem Hintergedanken lesen können: Woran merkt sie es, und hätte man es nicht schon vorher merken können? Doch genau diesen Vorgang der Erkenntnis überspringt Balzac komplett. Im einen Moment ist die Protagonistin noch enthusiastisch verliebt, im nächsten Kapitel ist sie schon die enttäuschte Ehefrau ein Jahr später.

Der Verlauf der Handlung ist zudem nicht rund. Insbesondere zum Ende hin wird viel gesprungen. Man liest, dass Balzac hier verschiedene Erzählungen zu einer vereinigte. Diese Vereinigung ist leider nicht gut gelungen.

Interessant eine Episode am Rande:

Der Notar Alexandre Crottat ist ein Anaisthetos, also ein Mensch, der für soziale Empfindlichkeiten, Gefühle und unterschwellige Signale nicht empfänglich ist. Dieser Crottat schwadroniert in Gegenwart der Familie d’Aiglemont – Ehemann, Ehefrau und Liebhaber mitsamt ehelichen und außerehelichen Kindern – ehrlich und direkt über die schier unglaublichen Rechtsfälle in Ehesachen in der Gesellschaft, und bemerkt gar nicht, dass er damit genau die Situation der Menschen trifft, in deren Gegenwart er redet. In gewissem Sinn ist er der moralischste, glaubwürdigste Charakter in diesem Buch. Man kann es ihm noch nicht einmal als einen Fehler ankreiden, dass er sich „unmöglich“ benimmt, denn „unmöglich“ sind ja in Wahrheit die anderen, nicht er. Allerdings wäre er klug beraten, zu schweigen, denn die anderen lernen durch seine richtigen Reden nichts, und er schadet sich nur selbst. Man würde ihm diese Einsicht und mehr Gespür wünschen zu schweigen, dann könnte er ein Weiser sein. Jedenfalls ist es unzureichend, diesen Menschen als dick und dumm zu charakterisieren, wie es anscheinend geschieht. Seine „Dummheit“ erscheint nur vor dem Hintergrund einer verlogenen Gesellschaft „dumm“.

Besser hat es der alte Dorfpfarrer gemacht, der versuchte, die Protagonistin zu belehren: Erstens spricht er die Protagonistin unter vier Augen an, zweitens kann er durch das Beispiel seines eigenen Leidens Eindruck machen, und drittens spürt er irgendwann, dass er nicht weiterkommt, und stellt daraufhin seine Bemühungen stillschweigend ein.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 31. Dezember 2020)

Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen (2013)

Teils urkomisch, teils nachdenklich machend, teils zu derb

Yasmina Reza gestaltet in diesem „Roman“ genannten Buch eine Reihe von kurzen Episoden aus dem alltäglichen Beziehungs- und Alltagsleben einiger Franzosen, wobei jedes Kapitel aus der Perspektive eines der Protagonisten geschrieben ist, so dass sich die verschiedenen Perspektiven und Episoden gegenseitig ergänzen und verweben, bis zu einem gewissen Finale am Schluss, wo alle zu einem Begräbnis zusammen kommen.

Teilweise sind diese Episoden urkomisch, kommen einem nur zu bekannt vor, und sind von einer herzlichen Skurrilität. Teilweise sind es traurige Begebenheiten, die nachdenklich machen: Krankheit, Verlust, Tod.

Leider sind die gezeigten Beziehungen zu einem guten Teil solche, in denen es eher recht derb, lieb- und geistlos zugeht, in denen z.B. „clever“ betrogen wird (Subtext: Wer treu bleibt ist ein Idiot), und in denen sich die Frauen dem übelsten Macho spontan hingeben. Solches mag es zwar in der Tat zuhauf geben in der Welt (vgl. Ortega y Gasset), aber was bitteschön soll daran interessant und was komisch sein? Interessant ist das andere: Beziehungen, die auf weniger derbe Art ihre Probleme haben und diese auch lösen, und die z.B. einen klaren Schnitt machen, wenn es nicht funktioniert, statt ein Leben lang Psychospiele zu spielen. Solche sind leider nur wenige dabei. Das verringert das Identifikationspotential des geistvollen Lesers doch ein wenig.

Etwas irritierend auch die Eingangsformel von Jorge Luis Borges: „Glücklich die …. die auf Liebe verzichten können.“ Das ist schon ein zur Weltanschauung gemachter Pessimismus. Und das als Eingangsformel?! Denn im Sinne des Schlusses von Goethes Faust II wird man wohl sagen dürfen, dass es ganz ohne Liebe nicht geht, und sei es nur die Liebe „von oben“.

Insofern sich in diesem Buch eine nihilistische Schickeria nicht nur bespiegelt, sondern in ihrem Versagen gewissermaßen auch selbst feiert, könnte es sogar ein schlechtes Buch sein, ein moralisch schlechtes Buch. Wir geben vorsichtig 3 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. August 2018)

Dirk Oschmann: Der Osten – eine westdeutsche Erfindung (2023)

Leider der falsche Autor für dieses wichtige Thema – Was eigentlich hätte gesagt werden müssen

Der Grundgedanke dieses Buches ist genial, überaus legitim und längst überfällig: „Der Osten“, also das Gebiet der ehemaligen DDR mit ihren Bürgern, wird vom Westen völlig falsch wahrgenommen, deshalb fehlinterpretiert und außerdem systematisch benachteiligt. Eine innere Einheit Deutschlands ist heute so weit entfernt wie der Mond.

Besonders erschreckend sind die faktischen Benachteiligungen, unter denen der Osten bis heute zu leiden hat, von denen man in den von Wessis beherrschten Medien jedoch nie etwas erfährt: So rekrutiert sich das Führungspersonal in Universitäten, Behörden, aber auch in privatwirtschaftlichen Unternehmen bis heute weitgehend aus Wessis. Es ist leider nicht so, dass Wessis nur vorübergehend die Leitungsfunktionen übernahmen, um die neuen Bundesländer auf demokratischen Kurs zu bringen, sondern bis heute wird auch der Führungsnachwuchs weitgehend aus Wessis rekrutiert. Das ist ein ernstes Problem. Ebenso ein Problem ist natürlich, dass die Balance zwischen den Geschlechtern in manchen ostdeutschen Regionen ernsthaft aus dem Gleichgewicht gekommen ist, weil insbesondere viele junge Frauen in den Westen gegangen sind. Oder dass die Vermögensbildung im Osten nicht in Gang gekommen ist. Schließlich muss man auch lesen, dass es zwar einen Beschluss der Bundesregierung gab, Bundesbehörden bevorzugt im Osten anzusiedeln, aber anders als der naive Wessi denkt, wurde dieser Beschluss offenbar schlicht ignoriert: Ein Skandal von vielen.

Aber auch in der Wahrnehmung des Ostens durch westdeutsche Politiker, Journalisten und Intellektuelle hat dieses Buch eine lange Liste von erschreckenden Anekdoten zu bieten. Die Ossis seien dumm, faul, rechtsradikal und moralisch verdorben, und all das verdanke sich der sozialistischen Indoktrination, von der sich die Ossis innerlich nicht lösen könnten. Es ist niederdrückend, all diesen bestenfalls halbwahren Unsinn noch einmal in geballter Form vor Augen geführt zu bekommen.

Kritik

Leider bleibt Dirk Oschmann bei diesem Befund stehen. Er sagt nicht, welches denn die Lebenslügen des Westens sind. Er sagt fast nichts dazu, wie der Osten denn besser wahrgenommen werden sollte. Warum das so ist, und was zum Westen und zum Osten eigentlich hätte gesagt werden müssen, dazu jetzt mehr.

Kritik – Chaotische Polemik

Dirk Oschmann hat sein Werk als reine Polemik angelegt. Er macht gar keinen Hehl daraus, dass er die Sache einseitig betrachtet, er macht Polemik vielmehr zum Prinzip, sogar explizit mit dem biblischen Satz: „Auge um Auge.“ (S. 194). Das schadet aber der Glaubwürdigkeit des Unterfangens gewaltig, denn wer mit gleicher Münze heimzahlt, kann nicht mehr von sich behaupten, besser zu sein als der andere. Und der Leser ahnt, dass vieles einfach nur übertrieben, schief oder auch ganz falsch ist.

Hinzu kommt, dass Oschmann seine Polemik zuerst nur als Artikel in der FAZ veröffentlicht hatte. Diesen FAZ-Artikel hat er nun zu einem Buch angereichert, in dem er zahlreiche Vorworte und Vorbetrachtungen vorangestellt sowie zahlreiche Nachworte und Nachbetrachtungen nachgeschoben hat. Irgendwie geht der ursprüngliche Artikel in diesen vielen Nach- und Vorbauten etwas unter, und eine Systematik in der Ordnung der vorgebrachten Inhalte ist nicht mehr erkennbar. Das führt dazu, dass dem Leser im Laufe der Lektüre außer der ständigen Polemik wenig im Gedächtnis haften bleibt, weil ihm kein Ordnungsrahmen angeboten wird, anhand dessen er sein Gedächtnis hätte organisieren können.

Kritik – Ein linksgrüner Anywhere verteidigt den Osten?

Dankenswerterweise hat Dirk Oschmann zahlreiche Angaben zu seiner eigenen Biographie, seinen Lebensumständen und seinen Ansichten eingeflochten. Es wird deutlich, dass Dirk Oschmann, obwohl er als einer der wenigen Professoren mit Osthintergrund immer wieder zu diesem Thema befragt wird, eigentlich alles andere als ein typischer Ossi ist.

Dirk Oschmann hat in den USA studiert und lebt heute in Leipzig in der Innenstadt in einer Altbauwohnung und wählt – horribile est dictu – die Grüne Partei (S. 43 f.). Vermutlich besitzt er auch Windrad-Aktien, schickt seine Tochter auf eine teure Privatschule, wo alles ganz buntig ist, und fährt mit dem Lastenfahrrad bei Alnatura zum einkaufen (nein, das steht nicht in diesem Buch, aber dieser Gedanke sei eingeflochten, um zu demonstrieren, wie Polemik funktioniert, oder eben gerade nicht funktioniert). Ganz unverblümt bekennt sich der Autor dazu, ein Anywhere zu sein, er grüßt seine Freunde in der Danksagung als Anywheres, und verkündet das ewig falsche Dogma der Anywheres, dass die Herkunft einen Menschen nicht ausmache (S. 221).

Da staunt der Leser doch: Wie kann jemand, der die Grüne Partei wählt und daran glaubt, dass die Herkunft einen Menschen nicht ausmache, auch nur irgendetwas Kluges über den Westen und den Osten sagen? Denn Westen und Osten sind Herkünfte, und sie prägen uns stark. Darum geht es doch. Das und das Bekenntnis zum Anywhere ist schon sehr radikal. Hier ist Dirk Oschmann nun selbst Repräsentant eines völlig abgehobenen Milieus, eines nur allzu westdeutschen Milieus, dessen soziale Distinktionsmerkmale und Statussymbole er völlig ungeniert einflicht. Wie kann so jemand für den Osten sprechen?

Eine spezifisch linksgrüne Haltung zeigt sich auch bei vielen Polemiken und Kritiken, die Dirk Oschmann vorzubringen hat: So echauffiert er sich z.B. über unsere geliebte deutsche Nationalhymne, die bekanntlich aus der dritten Strophe des Deutschlandliedes besteht, und nur aus dieser, und eine lange, gesamtdeutsche Tradition hat. Aber Oschmann meint, dass die Hymne durch die erste und zweite Strophe „chauvinistisch verseucht“ sei (S. 52). Eine groteske Auffassung, wie man sie von einem westdeutschen Feuilletonisten erwarten würde.

Den Namen „Mitteldeutschland“ für den Raum Thüringen-Sachsen möchte Oschmann ebenfalls nicht akzeptieren, weil dies Polen missfallen könnte, zu dem heute das frühere Ostdeutschland gehört (S. 81). Doch warum sollte man diese historische Bezeichnung nicht beibehalten? Es ist ja bei geographischen Namen recht häufig so, dass sie historisch gewachsen und nicht wörtlich zu nehmen sind. Die Region Franken gehört schon lange nicht mehr zu einem „Frankenreich“ und auch Frankreich ist kein „Reich der Franken“ mehr. Zudem leben in Sachsen überhaupt keine Sachsen, denn der Name „Sachsen“ wurde nur durch die Herrscherfamilie auf dieses Land übertragen, ähnlich wie der Name „Preußen“ auf ganz Brandenburg-Preußen. Wo fängt man da an, wo hört man auf? Es ist kaum vorstellbar, dass die von Oschmann geplante Sprachbereinigung im Osten auf Akzeptanz stoßen würde. Bei manchen Besserwessis schon eher. Aber wollte sich Oschmann nicht für den Osten in die Bresche schlagen?

Auch der Wiederaufbau des Berliner Schlosses anstelle des „Palastes der Republik“ ist ihm ein Greuel (S. 54). Wie wenn das Kaiserreich mit der Diktatur der DDR auf einer Stufe stünde: Oschmann fragt allen Ernstes, ob denn nun dieses Kaiserreich die bessere deutsche Vergangenheit sei, an die es anzuschließen gilt? (S. 55) Selbstverständlich ja! Wie kann er es wagen, diese Frage auch nur zu stellen! An das Kaiserreich nicht anschließen zu wollen, das hieße ja nichts anderes, als dass man die Geschichte überhaupt und als solche abservieren will. Denn Dirk Oschmann wird wohl kaum plausibel machen können, warum man an das Kaiserreich nicht anschließen dürfen soll, an die Metternich-Ära oder das Heilige Römische Reich Deutscher Nation aber doch? Das wäre ja nur albern. Albern, wie es Westdeutsche oft sind, wenn es um die Nation geht.

Oschmann übersieht auch völlig, dass manches westdeutsche Unternehmen, das einst im Osten gegründet worden und wegen des Sozialismus in den Westen geflohen war, nach 1989 soziale Verantwortung bewies und wieder an seinem alten Standort im Osten investierte – doch für Oschmann gibt es von Seiten westdeutscher Unternehmen nur Profitgier und Ausbeutung (S. 114 ff.). Überhaupt sieht Oschmann unsere Gesellschaft heute als eine „pervers profitorientierte Konsum- und Freizeitgesellschaft“ (S. 190). Wie gestört muss die Wahrnehmung der Wirklichkeit sein, um solche maßlosen Sätze zu formulieren? Und wie westdeutsch?

Den regional pay gap zwischen Ost und West möchte Oschmann „endlich“ (!) schließen, genauso wie den sattsam bekannten gender pay gap (S. 116). Dass die Idee, diese Lohnunterschiede „endlich“ – also vollständig – zu schließen, eine radikale und unrealistische Forderung ist, weil es nämlich nicht nur Ungerechtigkeiten, sondern auch legitime und unüberwindbare Gründe für gewisse Lohnunterschiede gibt, scheint Oschmann nicht bewusst zu sein.

Das Lieferkettengesetz, ein weiteres völlig verfehltes Bürokratie-Monstrum aus der Mottenkiste der linksgrünen Utopie, begrüßt Oschmann naiv (S. 115). Hingegen verurteilt Oschmann, dass westliche Unternehmen in Bangladesch investieren (S. 115, 132). Dass er Ländern wie Bangladesch damit die Möglichkeit zur wirtschaftlichen – und sozialen! – Entwicklung abspricht, übersieht Oschmann geflissentlich.

Schließlich findet das ganze Buch hindurch ein ständiges namedropping linker und – oft genug – westdeutscher Autoren statt, von Jürgen Habermas bis Axel Honneth, und ganz abseitig und deshalb umso bezeichnender z.B. Per Leo.

Kritik – Keine Kritik an westdeutschen Lebenslügen

Dirk Oschmann wirft dem Westen eine völlig falsche Perspektive auf den Osten vor, aber in Wahrheit unterlässt Oschmann es vollständig, dem Westen seine eigenen, westdeutschen Lebenslügen vorzuhalten. Dabei hätte er dazu gerade als Germanist eine wunderbare Steilvorlage durch einen westdeutschen Literaten gehabt: Denn im Jahre 1988, nur ein Jahr vor dem Fall der Mauer, publizierte kein geringerer als Martin Walser sein Büchlein „Über Deutschland reden“. Darin formulierte Martin Walser gegen den Zeitgeist der alten BRD den Gedanken, dass er sich nicht mit der deutschen Teilung abfinden könne. Martin Walser hätte von Dirk Oschmann zwingend genannt werden müssen, wenn er hätte glaubwürdig über den Westen sprechen wollen. Er hat es nicht getan.

Denn das ist die zentrale Lebenslüge des Westens: Die Flucht aus der nationalen Identität hinein in eine utopische Überidentität von Europa oder der Welt, verkörpert in einem utopischen Glauben an das Gute in EU und UNO. Der Ungeist der alten BRD, der Ungeist der 1980er, der dann zum vorherrschenden gesamtdeutschen Geist wurde und bis heute ungebrochen scheint, ist der Ungeist der Anywheres, zu denen sich Dirk Oschmann selbst bekennt. Aber kein Mensch kann wirklich ein Anywhere sein, niemand kann seine Herkunft einfach abstreifen (und wer wollte das schon?). Wir alle haben unsere kulturellen Herkünfte und wir brauchen sie auch. Eine Befreundung mit der eigenen Lebensrealität, zu der die Nation ganz selbstverständlich dazu gehört, hat noch niemandem geschadet. (Und daran ändert sich überhaupt nichts, bloß weil ein Rechtsradikaler wie Björn Höcke dasselbe sagt, aber etwas anderes meint.)

Zwar spricht Oschmann das Phänomen, dass sich Westdeutsche gerne als Europäer sehen, kurz an, doch nur und ausschließlich als unzulässigen Versuch, die Schuld des Nationalsozialismus abzustreifen (S. 59). Dass es darüber hinaus auch andere gute, bodenständige, realistische Gründe geben könnte, an einer deutschen Identität festzuhalten, kommt Dirk Oschmann nicht in den Sinn. Dirk Oschmann reproduziert auf diese Weise die unsägliche Fixierung des Nationalgedankens auf den Nationalsozialismus. Deutscher ist man unter dieser Perspektive nur noch, wenn es um den Nationalsozialismus geht, sonst aber tunlichst nicht mehr. (Anders als Höcke muss man allerdings daran festhalten, dass der Holocaust als größter Makel unserer Nationalgeschichte sehr wohl einen bleibenden und besonderen Platz in unserer Erinnerungskultur einnehmen muss.)

Und dann packt Oschmann auch noch die olle Kamelle von den alten Nazis in der alten BRD aus (z.B. S. 21, 136 f.). Es war vielleicht einmal eine westdeutsche Lebenslüge, dass es in der BRD keine alten Nazis gab, doch seit ungefähr 1968 läuft die Lebenslüge andersrum: Dass nämlich die BRD praktisch von alten Nazis gegründet wurde. Oschmann steigt voll auf dieses Thema ein, wenn er sagt, dass Fremdenfeindlichkeit auch im Westen verbreitet wäre (S. 133). Nicht zufällig bringt Oschmann an dieser Stelle auch eine überempfindliche Kritik an Günther Oettinger vor (S. 133). Das ist kein Zufall. Denn bei Günther Oettinger geht es in Wahrheit gar nicht darum, dass er ein paar schräge Äußerungen über schlitzäugige Chinesen gemacht hatte, sondern natürlich darum, dass Günther Oettinger einst zu sagen wagte, dass Hans Filbinger, einer der Mitbegründer der Südwest-CDU, kein Nazi war. Denn damit hatte Oettinger an der Macht der westdeutschen Linken gekratzt, die sie über die öffentliche Meinung haben.

Zum Höhepunkt kommt Oschmanns Blindheit über die Lebenslügen des Westens, wo er den Grund für den Erfolg Angela Merkels in ihren „herausragenden machtpolitischen Fähigkeiten“ sieht (S. 183 f.). Denn nichts könnte falscher sein. Angela Merkel hatte im Grunde nur eine einzige herausragende Fähigkeit, und die ist für unser Thema von höchster Relevanz: Angela Merkel war eine Meisterin darin, sich dem herrschenden westdeutschen juste milieu in Politik und Medien anzupassen. Das Regierungsprinzip von Angela Merkel lautete schlicht: Gehe den Weg des geringsten Widerstandes beim westdeutschen juste milieu aus Politikern, Journalisten und Intellektuellen. Angela Merkel hatte Macht, weil sie diesem Milieu gab, was es wollte. Das Milieu revanchierte sich dafür, indem es Angela Merkel zur Überkanzlerin stilisierte, jede Kritik kleinschrieb, und Merkel auf diese Weise unangreifbar machte. Eine Allianz des Unheils, bei dem das Wohl und der Wille des Volkes gefährlich unter die Räder geriet.

Was hatte man gehofft, als Merkel Kanzlerin wurde: Dass sie endlich so manche westdeutsche Lebenslüge abschneiden würde wie einen alten Zopf. Denn hier kam etwas völlig neues, nämlich eine Frau, noch dazu aus dem Osten. Doch Merkel enttäuschte diese Hoffnungen auf fast schon brutale Weise, indem sie gewissermaßen zur Inkarnation westdeutscher Lebenslügen wurde und den Ungeist der 1980er Jahre bis in die 2020er Jahre hinein konservieren half. Im Windschatten des Kalten Krieges vergaß man sich selbst und die Realität um sich herum, und gab sich Blütenträumen hin. Diese Enttäuschung wurde 2011 von der Autorin Cora Stephan in ihrem Buch „Angela Merkel: Ein Irrtum“ erstmals formuliert. Doch kein Wort davon bei Oschmann.

Kritik – Oschmann folgt westdeutschen Lebenslügen

Warum tut Dirk Oschmann das alles? Die Antwort ist einfach: Weil auch Dirk Oschmann sich, wie Angela Merkel, ganz den Erwartungen eines westdeutschen juste milieu angepasst hat. Er folgt selbst den Lebenslügen der Besserwessis, das ist doch ganz offensichtlich! Wie Dirk Oschmann richtig bemerkt hat, bekommen viele Ossis keine Führungspositionen, weil ihnen der westdeutsche Stallgeruch fehlt. Vielleicht sollte sich Dirk Oschmann in diesem Sinne einmal selbst befragen, warum er es als Ossi zum Professor geschafft hat? Wohl eben deshalb, weil er sich den Erwartungen des westdeutschen juste milieus völlig angepasst hat?

Dirk Oschmann hat keinen Sinn für die deutsche Nation und die deutsche Kultur, sondern für ihn ist Deutschland eher eine Art Verwaltungszone eines utopisch gedachten Weltstaates, oder wenigstens doch EU-Europas. Oschmann möchte, dass sich die Lebensverhältnisse in Ost und West angleichen, ja, aber nur „sozial“. Politisch und kulturhistorisch ist ihm der Osten genauso egal wie der Westen, denn er hat sich schon längst in das Niemandsland der Anywheres verabschiedet. Lokale Kultur ist für ihn vielleicht noch Folklore für Touristen, also Küche und bunte Trachten. Deshalb tun sich die Anywheres mit Multikulti so leicht, weil sie blind dafür sind, dass Kulturen mit wirkmächtigen Weltanschauungen verknüpft sind.

Und so spricht Oschmann auf der letzten Seite seines Büchleins (S. 200), im vorletzten Satz, wo er dann doch noch in radikaler Kürze auf die regionalen Kulturen zu sprechen kommt, nicht von Ländern. Denn Länder sind nicht einfach Regionen und Dialekte. Länder sind politisch bedeutsame weil historisch gewachsene Gegebenheiten, deren Kultur mehr ist als Küche und Trachten. Länder mit ihrer Geschichte und ihren Dialekten sind Identitäten und politische Macht und Nester des Widerstands gegen alle Überstülpungen, die von „oben“ kommen. Der Anywhere Oschmann hat dafür kein Verständnis, denn für ihn kommt das Gute von „oben“, von der EU und der UNO.

Was fehlt – Nation

Bei Dirk Oschmann fehlt jedes positive Nachdenken über Deutschland als Nation. Wie das westdeutsche juste milieu möchte auch Oschmann den Gedanken an eine deutsche Nation am liebsten töten: Deshalb kein Schloss, keine Hymne, keine Geschichte, kein „Mitteldeutschland“ usw. Doch damit tötet er jeden positiven Gedanken an und über sich selbst, bei allen Deutschen, in Ost und West. Damit wird jede Selbstermächtigung untergraben und eine Psychologie der Unterwerfung durch Identitätslosigkeit betrieben.

Oschmann meint, das vereinigte Deutschland hätte eine neue Verfassung gebraucht (S. 52). Was er damit gewiss nicht meint: Eine andere Verfassung. Denn das Entscheidende an einer neuen Verfassung wäre die Debatte darüber gewesen, wie man sich selbst als Nation versteht. Diese Debatte findet bei Oschmann nicht statt. Gar nicht. Deshalb nennt Oschmann als Gründe für eine neue Verfassung auch nur „Demokratietheorie“ und „Symbolik“.

Am Ende sind die Deutschen für Oschmann nur noch die Angestellten in einem Multikulti-Freizeitpark für deutsche Folklore in einem geschichtsvergessenen Disney-Stil (Oktoberfest in Brandenburg, französische Woche bei REWE, Ramadan in der Fußgängerzone), dessen Politik in Brüssel und anderswo von den Anywheres gemacht wird. Wen wundert’s, dass die Leute rebellieren? Man hat ihnen nie eine akzeptable, demokratische Vision von Nation gegeben. Man hat das Thema vollkommen und restlos den Rechtsradikalen überlassen. Und die greifen dankbar zu.

Was fehlt – Preußen

Dirk Oschmann hätte beim Thema Osten ganz zwingend auf den höchst seltsamen Umstand zu sprechen kommen müssen, dass die Länder im Osten vielfach nicht nach historischen Grenzen gebildet worden sind. Das muss doch jedem Betrachter gleich als erstes auffallen! Der aktuelle Zuschnitt der Länder reflektiert die Zerstückelung Preußens durch die Siegermacht Sowjetunion. Von Preußen ist nur noch Brandenburg übrig, mit einem riesigen Loch namens Berlin in der Mitte. Vorpommern gehört heute zu Mecklenburg, was völlig ahistorisch ist. Geradezu grotesk ist, dass der Restzipfel Schlesiens – die „Perle in der Krone Preußens“ – heute ausgerechnet zu Sachsen gehört. Und von einem „großen“ Bundesland namens Sachsen-Anhalt hat man in der ganzen deutschen Geschichte noch nie etwas gehört.

Man stelle sich vor: Ausgerechnet das Bundesland Preußen, ohne dass es Deutschland in seiner heutigen Form gar nicht gäbe, darf nicht existieren. Ob Friedrich der Große oder Immanuel Kant, ob Wilhelm von Humboldt oder Alexander von Humboldt, ob Bismarck oder Gustav Stresemann: Deutschland soll ohne ihr Land auskommen? Ohne preußischen Geist, ohne preußische Rationalität und ihre Beiträge zu Humanismus und Aufklärung? Undenkbar. Deutschland macht ohne Preußen gar kein Bild in der Seele: Hier ist erst der Schlüssel zu allem.

Die Genesung Deutschlands ist ohne die Wiedererrichtung Preußens nicht möglich. Alles, was diesen Schritt blockiert, markiert das Elend Deutschlands: Die irre Idee, man könne sich von der Geschichte verabschieden und zu einer No-Name-Nation werden. Die irre Idee, die ganze deutsche Geschichte wäre ein einziges Präludium zum Holocaust gewesen. Die irre Idee, dass Adolf Hitler der Inbegriff alles Deutschen gewesen wäre, das demzufolge logischerweise zu verfemen und komplett abzuräumen sei. Und last but not least die irre Idee, man könnte sich heute auch vom klassischen Humanismus verabschieden, der gleich im ersten Artikel unserer deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, mit dem humanistischen Schlüsselbegriff der „Würde des Menschen“ festgeschrieben ist, als doppelte Erinnerung daran, was Deutschland groß sein ließ, und was niemals verloren gehen darf – hin zu einer Welt, in der der Mensch nur noch eine beliebige, postmoderne Konstruktion ist, ohne Realismus, ohne Rationalität.

In der Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki finden wir das Wort „Preußen“ immer wieder. Und zwar positiv konnotiert. Insbesondere das preußische humanistische Gymnasium wird gelobt: Doch die Anywheres dieser Welt wollen das alles abräumen. Alles abservieren. Julian Nida-Rümelin hat Recht mit seinem Urteil über die Anywheres: „Ein antikommunitaristischer Kosmopolitismus hat weder politisch noch ethisch eine Zukunft“.

Nach seiner Wiederrichtung als ganz normalem Bundesland (als was denn sonst?), bestehend nur aus den ostdeutschen Landesteilen Preußens, kann Preußen dann noch einmal den Grenzvertrag mit Polen gegenzeichnen. Damit alle zufrieden sind. Dann wird ein Björn Höcke Preußen auch nicht mehr als beliebig formbare Projektionsfläche für seine kruden Ideen missbrauchen können. Und Deutschland kann endlich normal werden.

Was fehlt – Unterdrückte Wessis

Dirk Oschmann ist so fixiert auf das westdeutsche juste milieu, dass er völlig übersieht, dass es auch im Westen normale Menschen gibt. Normale Menschen, die unter den Lebenslügen und Utopien der Anywhere-Besserwessis ebenso leiden wie die Ossis.

Oschmann hätte sich z.B. fragen können, warum der Lokalpatriotismus im Westen so ausgeprägt ist. Oder der Fußballpatriotismus. Oder der Wirtschaftspatriotismus. Die Antwort ist ganz einfach: Es sind Ersatz- und Ausweichhandlungen der Wessis, die ihren Patriotismus nicht ausleben dürfen und deshalb auf diese Gelegenheiten ausweichen. Auch Militärkultur – allein dieses Wort! – und Pflichtbewusstsein ist den Besserwessis ein Greuel, nicht jedoch den Normalwessis.

Dirk Oschmann hätte sich auch unbedingt mit der westdeutschen Kritik am politischen System der BRD auseinandersetzen müssen, um zu verstehen, dass die Ossis mit mancher Kritik nicht allein sind. Hier wäre ganz zentral das Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ des Philosophen Karl Jaspers aus dem Jahr 1966 zu nennen gewesen. Denn hier findet sich alle Kritik am System und an der Parteienoligarchie und dem ganzen Ungeist der BRD aus berufenem Munde formuliert, gültig bis heute. Doch nichts davon, nichts, gar nichts, bei dem Anywhere Oschmann.

Und glaubt Dirk Oschmann etwa, dass die Westdeutschen komplett hinter Angela Merkel und ihrer irren Migrationspolitik standen?! Natürlich nicht! Es war eine rebellische Bürgerversammlung in Hessen, nicht in Sachsen, auf der Walter Lübcke seine unglückselige Rede hielt, in der er u.a. sagte, dass jeder, dem Merkels Migrationspolitik nicht passe, die Freiheit habe, das Land zu verlassen. (Dass er später von Rechtsextremisten kaltblütig ermordet wurde, macht daran nichts besser. Walter Lübcke ist kein Vorbild.) Und Hans-Georg Maaßen, der die Lebenslügen von Merkels Migrationspolitik hinterfragte („Hetzjagden“ in Chemnitz) und deshalb als Präsident des Verfassungsschutzes entlassen wurde, stammt aus NRW. Maaßen erzählt, wie er zu Wolfgang Schäuble ging, um Merkel zu stoppen. Schäuble hätte geantwortet: Dann zerreißt es die CDU. Worauf Maaßen gesagt haben soll: Deutschland ist mir wichtiger als die CDU. Schließlich wollen wir noch Boris Palmer nennen, den grünen Querdenker gegen den Zeitgeist und Oberbürgermeister in Tübingen in Baden-Württemberg.

Ja, Dirk Oschmann erwähnt tatsächlich die Tradition des Querdenkens aus dem deutschen Südwesten! Aber nicht im Sinne einer lobenden Anerkennung dieser Tradition, sondern abqualifizierend, wie es Besserwessis tun, denn er spricht vom deutschen Südwesten als dem „Eldorado für Verschwörungstheoretiker.“ (S. 100)

Was fehlt – Der Osten im Westen

Man hätte auch fragen können, ob nicht manches, was heute als westdeutsch gilt, womöglich gar nicht westdeutsch ist, sondern einfach nur gesamtdeutsch? Nur, dass der Osten diese Eigenschaft in der Zeit der DDR abgelegt hatte? Man könnte z.B. fragen, ob manche Traditionen der preußischen Verwaltung in NRW besser überdauerten als im Osten? Ostdeutsche würden sich sicher sehr viel leichter mit westdeutschen Gepflogenheiten anfreunden können, wenn sie wüssten, dass diese etwas zurückbringen, was einst auch im Osten so war. Die Demokratie als solche gehört ja auch zu diesen Dingen: Demokratie ist nichts westdeutsches, sondern etwas gesamtdeutsches.

Und dann hätte man noch fragen können, ob nicht so mancher Wessi in Wahrheit ein Ossi ist. Denn nicht wenige Ossis endeten nach 1945 im Westen. Eine weitere westdeutsche Lebenslüge lautet, dass sich alle Vertriebenen assimiliert hätten und gewissermaßen „verschwunden“ wären. Doch ist das so? Zweifel sind angebracht. Die Nachkommen der Vertriebenen tragen oft von ihnen selbst unerkannt ein geistiges Erbe in sich. Aber auch die Erfahrung der Vertreibung prägt sie, denn diese wirkt psychisch über Generationen hinweg, wie die Forschung zeigen konnte. Es wäre wert, nach dem Osten im Westen zu suchen: Gab und gibt es Ossis im Westen, die Westdeutschland auf eine Weise geprägt haben, die eher ostdeutsch ist?

In seiner Rede „Die Ehre Preußens“ von 1951 sagte Hans-Joachim Schoeps mit Bezug auf die westdeutsche BRD: „Wichtiger ist der große Bestand an preußischem Ethos und Pflichterfüllung, der in unserem Volke noch lebendig ist und nicht nur von den ostdeutschen Heimatvertriebenen gehütet wird. Wenn diese den nicht in sich hätten, dann stünden wir nämlich angesichts der Un­rechtsordnung in der Besitzgüterverteilung schon seit langem in einer blutigen Sozialrevolution. Ich kann nur sagen: Gott möge geben, daß unsere Bundesregierung diese Kräfte zu nutzen und diese Traditionen zu wahren und zu erneuern versteht.“

Und umgekehrt: Ist womöglich der Osten unvermutet von manchen westdeutschen Traditionen geprägt? Erich Honecker kam bekanntlich aus dem Saarland. Bertolt Brecht aus Bayern. Anna Seghers aus Mainz. Angela Merkel aus Hamburg. Und Karl Marx aus Trier.

Fazit

Dirk Oschmann hat eine notwendige Polemik lanciert, doch gelungen ist sie nicht. Denn Oschmann ist als bekennender Anywhere der falsche Autor für dieses Thema. Deutschland und seine Geschichte, seine Länder und die Nation als ganzes sind für Oschmann nichts, worüber er wirklich gerne reden würde. Und etwas chaotisch ist das Buch noch dazu. Wir Deutschen jedoch lieben die Ordnung.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie (um 1320)

Verdichtung von Mittelalter und Antike provoziert aufklärerische Reaktion

Die Leistung Dantes

Die „Göttliche Komödie“ von Dante ist ein großartiger Bilderbogen der Weltanschauung des ausgehenden Mittelalters. Dante integriert eine ganze Reihe von Themen in ein umfassendes Epos: Das christliche Weltbild von Hölle, Fegefeuer und Himmel sowie die christliche Theologie von freiem Willen, Sünde, Gnade, Liebe, Erlösung und Trinität. Das aristotelische Weltbild von Erdgeographie, Kosmologie und Theologie. Die antike Mythologie und antike philosophische Ansichten über Gott, die Welt, Urbild und Abbild. Die Weltgeschichte und insbesondere die Geschichte der norditalienischen Stadtstaaten, insbesondere der von Florenz. Und nicht zuletzt Dantes eigene Lebensgeschichte und seine große Liebe Beatrice.

Jedes einzelne dieser Themen wird von kleineren dichterischen Freiheiten abgesehen mehr oder weniger brav und treu von Dante abgearbeitet. Dante ist in keinem inhaltlichen Punkt wirklich originell und es gibt für Kenner der jeweiligen Materie auch keine „größeren“ Geheimnisse bei Dante zu entdecken. „Kleine“ Geheimnisse gibt es hingegen in Hülle und Fülle: Die große dichterische Leistung Dantes muss in der Integration all dieser Themen zu einem umfassenden Gesamtwerk, zu einer anspielungs- und beziehungsreichen Wissensordnung seiner Zeit gesehen werden, die abstrakte Dinge wie Hölle oder Himmel in teils origineller Weise extrem konkret und anschaulich werden lässt. Das Eigentliche des Dichtens, die „Verdichtung“, ist die große Leistung Dantes!

Dante als unfreiwilliger Wegbereiter der Renaissance

Dante selbst muss eindeutig noch als mittelalterlicher Mensch gesehen werden, der den christlichen Glauben ungebrochen glaubte. Besonders deutlich wird dies überall dort, wo die Philosphie als ungenügend verurteilt wird und der Glaube den Vorrang eingeräumt bekommt. Doch explodiert in Dantes Werk gewissermaßen die Konkretheit des christlichen Weltbildes und die Synthese mit antikem Denken wie komprimierte Materie in einem Urknall, so dass Dante unfreiwillig zu einem Verursacher der Renaissance geworden sein dürfte; dies auf folgende Weisen:

Zunächst trug Dante wie andere auch schon dazu bei, dass die antike neben der biblischen Mythologie wieder salonfähig wurde. Das eröffnete weitere Horizonte. Zudem schuf Dante eine unglaubliche Fülle an Bildern, die es in dieser Form bisher so nicht gab, und die die Menschen nun tatsächlich als Bild sehen wollten. Aber das ist nicht der wesentliche Beitrag Dantes.

Der Leser wird bei Dante von der Konkretheit und Anschaulichkeit des christlichen Weltbildes schockiert. Denn in dieser Konsequenz der Darstellung, die alles auf die Spitze treibt, wird zugleich auch die Absurdität des christlichen Weltbildes bewusst. Derart konkrete Vorstellungen von Hölle, Fegefeuer und Himmel mussten natürlich einen teilweise grotesken Eindruck machen, der ungewollt satirisch ist. Man stelle sich vor, der hl. Thomas von Aquin, ein Gelehrter, dessen Lebenselement das Studium von Büchern ist, tanzt im Himmel geistlose Tänze wie auf einem Kindergeburtstag: Was für ein unwürdiges Schauspiel! Gebt dem Mann doch eine Studierstube damit er glücklich sein kann, möchte man rufen vor Empörung! Die Bilderwelt von Dantes Hölle prägte zweifelsohne die negativen Auffassungen der Aufklärer über das Mittelalter mit. Man fühlt sich teilweise an die bitterböse Satire „Zappenduster“ („The Living End“) von Stanley Elkin erinnert, die ihren satirischen Effekt gerade daraus bezieht, dass sie die christlichen Jenseitsvorstellungen ganz und gar ernst nimmt. Ist es völlig abwegig zu vermuten, dass genau dieser satirische Effekt sich auch bei dem ein oder anderen Leser Dantes einstellte?

Am sympathischsten und glaubwürdigsten – wenn überhaupt – ist bei Dante das Fegefeuer: Hier trifft man auf Menschen, die sich mühen und arbeiten und auf ein Ziel hinarbeiten. Sie sind nicht verdammt, leben aber auch nicht in einer grenzdebilen Heiligkeit. Das Fegefeuer kommt dem irdischen Leben der Menschen am nächsten. Grotesk, dass ein Vergil nicht im Himmel ist, wohl aber getaufte Kleinkinder. Grotesk, dass moralisch gute Inder in der Hölle sind, nur weil sie nie von Christus hörten. Grotesk, dass zur Heirat gezwungene Nonnen einen Malus bekommen, weil sie statt in die aufgezwungene Ehe einzuwilligen schließlich auch den Märtyrertod hätten sterben können! Das Groteske ist aber nicht Dantes Schuld; Dante macht hier unfreiwillig auf den Widersinn der auf die Spitze getriebenen christlichen Theologie aufmerksam.

Beatrice wiederum erscheint wenig liebevoll, vielmehr rauh und derb, hält Dante bei ihrer Wiederbegegnung eine Gardinenpredigt, kommandiert herum, schleift ihn durch einen Bach, taucht ihn rüde unter, und ist abgehoben heilig, geradezu arrogant. Grotesk wiederum, dass Dante nicht an der Liebe von Beatrice interessiert ist, sondern nur an der Liebe Gottes, die sich durch Beatrice offenbare. Wenn dies eine Sublimation von Dantes Liebe zu Beatrice sein soll, dann ist sie missglückt, denn die Sublimation hat den Kern der Sache zerstört. Ja, das ist Christentum auf die Spitze getrieben. Auch ist es existentiell extrem unglaubwürdig, vor Gott zu stehen zu kommen, Gott bewiesen zu sehen, alle Zweifel ausgeräumt zu haben, und dann nichts besseres zu tun zu wissen, als theologische und philosophische Theoreme zu erörtern. Es passt auch nicht, die Philosophie dafür anzuprangern, dass sie die Menschen entzweie, wenn gleichzeitig darüber geklagt wird, wieviele theologische Irrtümer es doch gibt, die die Menschen … entzweien.

Mit all diesem auf die Spitze getriebenen Widersinn hat Dante gewiss manchen Leser zum Nachdenken gebracht, und so unfreiwilligerweise die Renaissance mit angeschoben.

Die zweite unfreiwillige Provokation zur Aufklärung ist der Umstand, dass Dante viele antike mythologische Figuren und Begebenheiten an Stellen und auf eine Weise in sein Werk verwoben hat, wo sie völlig unpassend sind. In der Hölle fällt dies noch am wenigsten auf, zumal auch die antike Mythologie einen Hades kannte. Doch spätestens im Himmel ist es teilweise äußerst unpassend. Da betritt Dante den Himmel des einen Gottes … und ruft Apollon an, auf dass er gut dichte. Da steht Dante vor dem einen Gott und staunt … wie Neptun beim Anblick des Schattens der Argo. Wie passen Apollon, Neptun, usw. zu diesem einen Gott?

Zum Dritten ist Dante erstaunlich anmaßend, scheint dies aber selbst nicht zu bemerken. Christliche Demut scheint ihm zu fehlen. Woher nimmt er sich das Recht, diverse Menschen in die Hölle zu bannen, noch dazu in bestimmte Höllenkreise, anderen aber den Himmel zuzusprechen? Was für einen modernen Schriftsteller bedeutungslos wäre, ist für einen mittelalterlichen Schriftsteller eine Anmaßung sondersgleichen. Dante benutzt zudem die christliche Theologie, um seine ganz eigene Geschichtsdeutung festzuschreiben. Florenz wird von ihm nach Strich und Faden durch den Kakao gezogen. Aber wer gibt ihm das Recht, seine persönliche Meinung mit den höheren Weihen eines religiösen Epos zu versehen? Tagespolitische Händel als Thema einer zeitlosen Dichtung?! Überhaupt ist zu fragen, warum er sich selbst für auserkoren hält, das Jenseits erkunden zu dürfen? Die Frage nach der ungeschminkten Kritik in seinem Werk beantwortet sich Dante gleich selbst in Canto XVII des Paradiso: Nur zu, es sei ein Ruf wie der Wind in den Wipfeln.

Völlig unangebracht ist es, die Caesar-Attentäter in die unterste Hölle in die Mäuler Satans zu platzieren, wo sie auf einer Stufe mit Judas stehen; sie überhaupt in die Hölle zu platzieren mag der mittelalterlichen Kaiserlichkeit Dantes zuzurechnen und zu entschuldigen sein, aber man bedenke ihre Gleichstellung mit Judas: Dadurch wird im Umkehrschluss Julius Caesar auf eine Stufe mit Christus gestellt! Es ist einfach unfasslich.

Einzelkritiken

Es ist oft wenig geschickt, dass Dante die Handlung über die Grenzen seiner Canti springen lässt. Es wäre kunstvoller gewesen, die Grenzen der Handlung und die Grenzen der Canti aufeinander abzustimmen. Man beachte: Dante ist kein Säulenheiliger, den man nicht kritisieren dürfte – Ungünstig ist, dass vieles nur angedeutet wird. Die klare Nennung von Namen hätte oft vieles erleichtert. Man liest darüber hinweg und erkennt es nicht. Nicht erkennbare Anspielungen sind schlechtes Handwerk. Auch bei Dante. – Wenig überzeugend ist es auch, wenn Dante sagt, er habe keine bildhafte Erinnerung mehr an die Trinität, aber dann mit einem sehr anschaulichen Bild von drei Kreisen aufwartet. – Im Sinne der Glaubwürdigkeit eines Berichtes aus dem Jenseits fehlt am Ende unbedingt auch der Rückweg auf die Erde. Wie soll denn Dante über all das berichten, wenn es keinen Weg zurück gab? – Was Dante hingegen teilweise recht gut gemacht hat, ist die Hinterfragung christlicher Fehldeutungen antiker Texte, so etwas die Gleichsetzung von Paradies und Goldenem Zeitalter oder die Vergil-Stelle zur Geburt eines Knaben. Dante schwärmt hier nicht ganz ohne zügelnde Vernunft. – Warum das Paradiso Paradiso heißt, ist unklar, es handelt sich bekanntlich nicht um das Paradies, sondern um den Himmel. Stammt diese Bezeichnung von Dante?

Schluss

Dantes Werk geriet zwischenzeitlich offenbar in Vergessenheit, was nicht wunder nehmen kann, und wurde erst später wiederentdeckt, als Romantik und Nationalbewusstsein der Dichtung eine neue Bedeutung als Projektions- und Identifikationsobjekt gaben. Dantes Werk gehört sicher zur Weltliteratur, als eine große Dichtung eines großen Autors, der seine Zeit in sich und seinem Werk spiegelte und verdichtete und auf die Spitze trieb, und so unfreiwillig den Boden für eine kommende Zeit bereitete, was zweifelsohne eine große Leistung ist. Doch ist das eher als wichtige Etappe einer Entwicklung von Bedeutung. Dantes Werk ist zu zeitgebunden, um zur zeitlosen ersten Reihe der Weltliteratur dazu zu gehören, zu der z.B. Platons Dialoge oder die Epen Homers zählen. Wiederum unfreiwillig hat Dante mit der Wahl seines Führers, Vergil, seinen eigenen Platz zutreffend markiert: Auch Vergil gehört zweifelsohne zur Weltliteratur, doch auch er gehört nur in die zweite Reihe.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon um den 01. Juli 2013)

Heather De Lisle: Amiland – Streitschrift für die Weltmacht USA (2010)

Ein engagiertes Plädoyer für die konservative Seite der USA

Ein überfälliges und engagiert vorgetragenes Plädoyer für die konservative Seite der USA. Es ist schon ein Armutszeugnis für die deutsche Medienlandschaft, wie George W. Bush, die Republikaner und die USA insgesamt hierzulande nach Strich und Faden verleumdet wurden und werden. Und es ist ein intellektuelles Armutszeugnis, wie deutsche Politiker und Intellektuelle auf dieser Welle skrupellos mitschwimmen. Die Liebe zur Wahrheit regiert hierzulande nicht. Und jeder Deutsche, der da nicht mitmacht, sondern selber denkt, kämpft einen einsamen Kampf und hat bitter zu leiden.

Heather De Lisle klärt so manches festgefahrene Missverständnis auf, das sich in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit festgesetzt hat. Sie lässt auch kaum ein gutes Haar an Bill Clinton, der in seiner Amtszeit so manches Problem einfach liegen ließ. Obama ist bei ihr praktisch schon wieder abgewählt.

Köstlich, wie Heather De Lisle das Thema Folter abhandelt. Sie stellt hier Fragen, die in der deutschen Öffentlichkeit systematisch unter Tabu gestellt werden. Wir Deutschen sind vielleicht gar nicht so anders als die Amerikaner, wenn man uns nur ordentlich informieren und wirklich vor die Wahl stellen würde. Statt dessen bekommen wir Deutschen immer nur genau eine Meinung „alternativlos“ vorgesetzt. Der Unterschied zwischen den Parteien ist immer nur, dass die einen es schneller (SPD, Grüne), die anderen es langsamer (CDU, FDP) haben wollen. Aber links sind sie alle. Noch.

Über manche Argumentation muss man schmunzeln … da hat wohl weniger eine Rolle gespielt, dass Heather De Lisle eine Amerikanerin ist, sondern dass sie … nun, tja … also … eine Frau ist!

Bei der Erklärung des amerikanischen Wahlsystems hätte man auch auf die verrückten Missstände des deutschen Wahlsystems eingehen können, wo man ja manchmal den politischen Gegner (!) wählen muss, um die eigene Partei zu unterstützen. Und wie war das noch gleich mit jenen ominösen Wahlzetteln in Hamburg, als Ronald Schill (quasi ein deutscher Republikaner) final abgesägt wurde, bei denen die CDU schon „vorangekreuzt“ war? Lacht da noch jemand über das Wahldebakel von Florida?

Zum Irakkrieg hätte man noch sagen können, dass die Waffeninspekteure bis zuletzt behindert wurden und George W. Bush also keinesfalls so schlecht beraten war, wie Heather De Lisle meint. Auch hätte Saddam Hussein den Bau von Massenvernichtungswaffen angestrebt, hätte er gewusst, dass ihm nichts mehr droht. Deutschland hatte sich auf Seiten von Frankreich und Russland gestellt, die die Konzessionen für die Ölquellen im Irak hielten und die meisten Waffenverkäufe an den Irak getätigt hatten. Außerdem gab es im Irak keinen Guerillakrieg gegen die Amerikaner, sondern einen Bürgerkrieg der Volksgruppen untereinander, der nur deshalb auch gegen die Amerikaner ging, weil jede Volksgruppe meinte, die Amerikaner stünde auf Seiten der jeweils anderen Volksgruppe. Der Sieg kam, als es den Amerikanern unter Petraeus (und George W. Bush) gelang, den Volksgruppen klar zu machen, dass sie keine Seite bevorzugen, sondern Garant für einen fairen Ausgleich sind. Es ist übrigens auch nicht richtig, dass der Irak keine demokratische Vorbildung hatte. Der Irak war bereits einmal eine Demokratie, und nicht wenige der heutigen irakischen Politiker sind die Nachfahren der damaligen demokratischen Politiker. Inzwischen sind die Ölquellen im Irak versteigert worden – an den Meistbietenden. Zum ersten Mal könnten die Gewinne aus dem Öl dem irakischen Volk zugute kommen. Soviel noch zum Irakkrieg.

Man sieht: Als denkender Deutscher hat man eine Menge unterdrückter Gedanken auf dem Herzen, und dieses Buch gibt eine gute Gelegenheit, all das, was sich über viele Jahre in Verschwiegenheit aufgestaut hat, einmal auszusprechen. Danke Heather De Lisle! Danke für diese Labsal der Seele. Und zum Teufel mit unserer Journaille, die jeden Andersdenkenden in die gesellschaftliche Isolation treibt! Der Zorn der Gerechten möge über Euch kommen, Ihr %#?$*§!

PS 15.06.2024

Zum Abfassungszeitpunkt dieser Rezension war der Irak erfolgreich befriedet. Zwei Jahre später zog Obama die Truppen ab und entfesselte ein Inferno. Die Lizenzen für die Ölquellen gingen übrigens an Chinesen und Norweger, nicht an US Firmen. Inzwischen weiß man auch, dass die Regierung von George W. Bush zum Thema Massenvernichtungswaffen im Irak tatsächlich schlecht beraten wurde.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Februar 2012)

Per Petterson: Pferde stehlen (2003)

Reiches, atmosphärisches Buch über Väter, Einsamkeit, das Leben schlechthin

Es ist die Geschichte eines Jungen und seines Vaters, die beide 1948 einen Sommer auf einer Hütte in der norwegischen Provinz nahe der schwedischen Grenze verbringen. Es ist ein Sommer voller Abenteuer für den Jungen, ein Leben in und mit der Natur, einsam, arbeitsam und einfach, ein Leben mit glücklichen und tragischen Momenten. Vater und Sohn kommen sich dabei so nahe wie nie, und der Sohn beginnt zum Mann zu werden.

Doch was der Sohn nicht weiß: Sein Vater war schon einmal hier, im Krieg, und hatte Flüchtlingen über die Grenze nach Schweden geholfen. Und sich dabei verliebt. Es ist der letzte Sommer, den Vater und Sohn gemeinsam verbringen, bevor der Vater die Familie endgültig verlassen und ohne Wiederkehr zu seiner Geliebten gehen wird.

Die Geschichte wird aus der Perspektive des Sohnes erzählt, wie er nun seinerseits als alter Mann erneut in eine Hütte in derselben Gegend zieht, um seine letzten Jahre in jener arbeitsamen Einsamkeit zu verbringen, die er damals von seinem Vater kennengelernt hatte. Auch jetzt sind Glück und Tragik nahe beieinander: Ehefrau und Schwester sind gestorben, aber seine Tochter besucht ihn überraschend. Die Einsamkeit tut gut und wird mit der Lektüre von Charles Dickens abgerundet, sie wird aber auch als Risiko empfunden. Aber da ist noch sein Hund Lyra, und ein guter Nachbar, den er noch aus dem Sommer 1948 im Zusammenhang mit tragischen Ereignissen kennt.

Per Petterson ist ein sehr atmosphärisches, ruhiges Buch gelungen, das den Leser teilhaben lässt an den Gedanken und Gefühlen der Protagonisten. Ein Buch über Väter und Söhne, über Einsamkeit und Freundschaft, über Liebe und Verlassenheit, über Stadt und Land, über Krieg und Frieden, über Jugend und Alter, über unmittelbares Erleben und späteres Erinnern, über das Leben schlechthin, kurz: Es ist ein sehr reiches Buch.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. August 2018)

Francis Fukuyama: Identity – The Demand for Dignity and the Politics of Resentment (2018)

Reasonable analysis and clear advice: Diverse societies need strong common identities!

With „Identity“, the American political scientist Francis Fukuyama has taken up one of the most urgent problems of our time. Modern societies are in danger to fail by dissolving themselves into diversity, either by individualism, or especially by immigration without integration. On the one hand, the necessary cohesion of democratic societies is challenged. On the other hand, a dangerous uprise of right-wing populism is provoked. The political Left as well as the political Right often blockade each other to analyse and solve the problems. The political Left exaggerates the protection of individual identities, the political Right dreams of old days of national identities defined by biologist ethnicity.

Before giving advice how to tackle the problems, Fukuyama presents a thorough historical analysis, how the Western understanding of individiuality and identity evolved, then spreading world-wide. He begins with Plato’s theory of the soul and „thymos“ as its third part, representing ambition and pride, i.e. especially the need to be recognized by others. Via Martin Luther, Rousseau, Kant, Herder, Ferdinand Tönnis, and the Roy-Kepel debate about Islamism, finally he reaches modern ideas of human rights, diversity, radical equality, and multiculturalism.

While the romanticists of globalisation dream of the final dissolution of borders and nations, Fukuyama confronts them with a harsh landing on the ground of hard facts: Even if nations would become superfluous one day, the world is yet far from reaching such a state. At least for now, if not forever, nations are indispensible in order to make democracy possible, for democracy needs a common cultural sphere of a culturally integrated people. The awareness of a common cause and a common cultural sphere of communication form the very basis for democracy.

Fukuyama is very clear about the fact that it is not enough to have a common democratic culture, i.e., a mere constitutional patriotism which comprises solely democracy and human rights. The existence of deeper cultural bonds of an informal common culture is indispensible to make democracy work. His example is the Anglo-Protestant culture of the US which he calls „the common property of all Americans“. Although many Americans today are no longer protestants of Anglo-Saxon descent, they still have (or should have) become integrated into this informal culture. If the people of the US would loose this heritage of the founding fathers, then the US would no longer be the US and its democracy would stop to work.

So, Fukuyama gives a list of clear advice:

  • The Left has to reduce its minority identity politics to a reasonable level, and return to focus on broader identities and social categories, such as the poor, the working class, the nation, Europe, etc.
  • Nations have to redefine their national identity on a cultural basis in order to get rid off the outdated idea of biologist ethnicity as the basis for a nation. Nations have to introduce „ius soli“ for acquiring citizenship, yet with very strict rules.
  • A strong emphasis has to be put on the integration into the democratic culture as well as into the informal national culture. This is valid for immigrants as well as for „native“ citizens. For Germany, Fukuyama explicitly applaudes the idea of Bassam Tibi resp. of Friedrich Merz of a „Leitkultur“, i.e., a „leading culture“.
  • It is considered harmful to foster diversity by multi-lingual schools, or by schools separated by religions and the like, instead of fostering the common national identity.
  • A common military or social service for young men and women of all parts of society could serve well to foster a common identity and the awareness of a common cause.
  • Dual citizenship is considered harmful since it spoils loyalities and the awarness of a common cause.
  • It is important to keep a difference between being a citizen and not being a citizen of a state.
  • In order to make integration working, the sheer number of immigrants is of importance, too. If there are too many immigrants there are not enough „native“ residents to have contact with, and too many immigrants of one place of origin tend to form closed-up parallel societies. It is necessary to have a working border control, and it has to be recognized that moral obligations to support refugees, or poor people, have limits resp. can be performed by other and more intelligent means than by immigration.

Conclusion

Francis Fukuyama provides a good theoretical analysis of the problems, and good practical advice to solve them. Everybody interested in the topic should read this book to get a basic understanding to discuss the issues.

Missing

It is one thing to integrate into culture and cultural traditions, yet you cannot do this easily with a religion. Fukuyama has not talked about how to integrate religions which have not been subject to a similar process of reforms as the Christian religion, from Martin Luther, via the development of historical criticism, until the Second Vatican Council.

What is missing from a theoretical point of view are the concepts of „transculturalism“ and „integration“. Fukuyama does not talk about „integration“ but always about „assimilation“ of immigrants into a „diverse“ population. This sounds like a contradiction and reminds of a strictly monocultural society. But this is not what Fukuyama is talking about. The concepts of „transculturalism“ and „integration“ remove the contradiction: „Transculturalism“ means that one person can exercise more than one culture, in the same way as you learn another language without forgetting about your mother tongue. Thus, „integration“ is not about taking away the culture of origin from immigrants but rather about gaining the new national culture and making it the priority culture („Leitkultur“). Immigrants are free to exercise their original culture, too, but only in private and in parallel and with secondary priority. So, „integration“ is measure and centre between the extremes of either complete assimilation or no integration at all.

Minor mistakes

  • Bassam Tibi’s „Leitkultur“ had been originally meant for Europe, not for Germany alone. It was Friedrich Merz who coined the word for the national purpose.
  • It was not 9/11 which led to tensions with the Muslim minorities in Europe, yet it was the increase in number of Muslims which supported the formation of closed-up parallel societies, it was the establishment of mosques led by Islamic traditionalists, and it was the regression of certain countries of origin (e.g. Turkey) back into nationalism and islamism. All this made the European Muslim population less European than it had been in the 1980s.
  • Hitler and the Nazis were no nationalists, in a strict sense, because they were not interested in Germany as a nation with its historical and cultural development, but they were racists. For them, the German people and the Germanic race were absolutely not one and the same. This had been pointed out e.g. by Hannah Arendt.
  • Fukuyama interprets the reluctance of Germany to support Greece in the Euro crisis as a lack of common identity, but overlooks the economic futility to save foul credits with even more credits.
  • Fukuyama did not understand that the migration crisis of 2015 did not come about because Greece had not the means for an appropriate border control. It came about because in January 2015, the Greeks had elected the radical leftist Alexis Tsipras for Prime Minister, because of the Euro crisis. And Tsipras simply stopped any kind of border control, i.e., he intentionally opened the borders. It is as simple as that although you rarely read about it.

Indicators that Fukuyama starts from a rather left-wing point of view

  • While in some passages he very clearly states that more is required than only accepting democracy and human rights, when it comes to integration into the national culture, there are many passages where this picture is blurred.
  • Fukuyama erroneously thinks that the fear of the Right is „greatly exaggerated“, that the Left is redistributing advantages by identity minority politics in an unfair way.
  • In the Roy-Kepel debate about Islamism, Fukuyama first says that both approaches are legitimate, but then continues emphasizing the social backgrounds of the problem, downplaying the religious background.
  • For Europe, Fukuyama would prefer a European citizenship instead of national identites. At least he realizes that this is not a good idea for the moment.
  • Fukuyama always talks of „liberal democracy“, yet isn’t democracy necessarily liberal in its very essence, as well as necessarily open for less liberal politics within its liberal framework?

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 24. November 2019)

Max Frisch: Homo faber – Ein Bericht (1957)

Tristesse des alternden, egozentrischen Materialisten – Ohne konstruktive Perspektive

Der Roman „Homo faber“ von Max Frisch zeigt den Schweizer Ingenieur Walter Faber im Alter von 50 Jahren, der für die Unesco Turbinen in Mittelamerika montiert, und der für seine Arbeit in New York wohnt und dabei auch nach Paris zu Konferenzen fliegt. Technisches Jet-Set sozusagen. Das Wort „faber“ bedeutet auf Lateinisch Handwerker oder Arbeiter.

Ein Hauptthema des Buches ist die bloß rationale, technische Intelligenz des egozentrischen Protagonisten. Für Faber gibt es praktisch keine Gefühle. Er ist immer sachlich. Alles ist planbar und erklärbar. Der Mensch ist für ihn eine schlecht konstruierte biologische Maschine. Roboter werden bald vieles besser können als der Mensch. Wenn nicht alles. Abtreibung ist für ihn eine Notwendigkeit zur Geburtenregelung, moralische Fragen nur sachfremd und störend. Literatur liest er keine. Er ist der perfekte Praktiker und Materialist. Die Welt des Geistes ist ihm verschlossen. Damit ist er natürlich auch etwas egozentrisch.

Das Buch ist als endloser Monolog gestaltet, den Walter Faber mit sich selbst führt, während er die Ereignisse aus der Erinnerung heraus nacherlebt. Dabei geht es immer praktisch zu. Und alles ist von einer gewissen Tristesse. Faber sieht das Schöne und Interessante nicht. Immer nur die Sache. Wir erleben die Tristesse des Fliegens und der Flughäfen, die Tristesse des mexikanischen Niemandslandes, wo seine Maschine notlandet, die Tristesse des Regenwaldes im Grenzgebiet von Mexiko und Guatemala, die Tristesse des Zusammenlebens mit dem geistlosen Mode-Flittchen Ivy in New York, die Tristesse der Party mit Arbeitskollegen. Immer wieder werden auch ekelhafte Bilder eingestreut, so z.B. die Zerreißung eines Eselkadavers durch Zopilote-Vögel.

Die geordnete Welt von Faber bekommt aber Risse: Die Tristesse richtet sich auf Erinnerungen und wird dann melancholisch. Seinen Jugendfreund Joachim trifft er erhängt im Regenwald von Guatemala. Wie er erfährt, hatte dieser einst seine Jugendfreundin Hanna geheiratet. Es kommen ihm Erinnerungen an das Aneinandervorbeireden mit Hanna, die Philologie studierte und ihn „homo faber“ nannte. Und wie Hanna – die Irrationalität in Person – ihn nicht heiraten wollte und sie schließlich voneinander schieden mit der Entscheidung, dass das gemeinsame Kind abgetrieben werden sollte. Außerdem beginnt der zuverlässige Ingenieur Faber, vor seinen Pflichten zu fliehen: In Houston versucht er spontan, das Flugzeug absichtlich zu verpassen. In Mexiko fährt er spontan zu seinem Jugendfreund statt zur Montage. In Rom begleitet er spontan das Mädchen Sabeth auf ihrem Trip nach Südfrankreich, Italien, Griechenland, wo deren Mutter lebt. In Avignon schläft er einmal mit ihr. Faber erlebt halbwegs frohe Tage.

Das zweite große Thema des Buch ist das Altern. Faber ist 50 geworden, und versucht mit Sabeth eine Art zweiten Frühling. Doch er bemerkt, dass er die Jugend nicht mehr richtig versteht. Es gibt keinen zweiten Frühling. Zweimal heißt es: Wir können nicht unsere eigenen Kinder heiraten. Man kann nicht unverändert leben, das Altern gehört zum Leben dazu.

In Griechenland erleidet Sabeth einen unnötigen Unfall und stirbt. Es stellt sich heraus, dass sie das nicht abgetriebene gemeinsame Kind mit Hanna war, die er nun in Griechenland wiedertrifft. Hanna arbeitet als Archäologin und Faber staunt, dass man davon leben kann. Die Situation ist schal und trist: Faber war also in seine eigene Tochter verliebt. Und Faber ist zwar nicht wirklich schuld am Tod der gemeinsamen Tochter, doch sein Wiederauftauchen im Leben von Hanna fällt mit diesem Ereignis zusammen. Hanna lässt Faber trotzdem bei sich wohnen. Faber will sein Leben ändern. Es bleibt aber unklar, wie. Schließlich muss sich Faber wegen eines Magenleidens einer Operation unterziehen. Er tut dies in Griechenland, bei Hanna. Zwei gescheiterte Existenzen nähern sich einander an.

Nebenthemen

Der Deutsche Herbert blamiert sich als Nachkriegsdeutscher vor dem Schweizer. Walter Faber mag die Deutschen nicht.

Es gibt antiamerikanische Passagen: Die Amerikaner würden angeblich die Welt kolonisieren und aus allem einen Highway machen. Sie seien fett, ungebildet, und herrschten mit ihren Dollars. Amerikaner seien geschminkt, und ihre Leuchtreklame bloße Kulisse und Kitsch. „Aber wir leben von ihren Dollars.“ – Intelligente Kritik an Amerika gibt es in diesem Buch nicht.

Mindestens zweimal wird das intuitive Verhalten von Frauen „weibisch“ genannt. Für die Toilettenfrau am Flughafen in Houston und für die Huren in Havanna wird das Wort „Neger“ verwendet. Damit wäre auch Max Frisch für den aktuell herrschenden hysterischen Zeitgeist nicht mehr akzeptabel.

Kritik

Literarisch und sprachlich ist das Buch sehr gut gelungen. Jeder Satz sitzt. Jede Stimmung wird verlässlich eingefangen. Rück- und Vorblenden sind geschickt ineinander verwoben. Unpassend vielleicht, dass das Zusammentreffen mit Sabeth ein literarisch schlecht motivierter, unglaubwürdiger Zufall ist, nachdem Faber bereits zuvor durch einen ebensolchen Zufall auf seinen alten Jugendfreund gestoßen war.

Die Frage ist, was das Buch aussagen will. Die Bearbeitung des Themas Altern ist zumindest nicht originell. Besser steht es um die Kritik an der allzu praktischen, materialistischen Einstellung des Protagonisten. Aber auch hier werden Alternativen nur angedeutet. Die Irrationalität der Frauen, speziell von Hanna, wird auch keiner Lösung zugeführt. Beide sind gescheiterte Existenzen, Faber und Hanna: Der eine ist an seiner ausschließlichen Rationalität, die andere ist an ihrer ausschließlichen Irrationalität gescheitert. Ein gelungenes Leben wäre es gewesen, so liest sich dieser Roman ex negativo, wenn sie geheiratet und das gemeinsame Kind gemeinsam aufgezogen hätten. Doch das ist nicht mehr rückholbar und alle leiden nur noch melancholisch daran, anstatt konstruktiv zu werden.

Das Buch hinterlässt den Leser eher ratlos als bereichert. Da hilft auch die literarische Qualität nicht. Max Frisch scheint ein guter Beobachter aber ein schlechter Denker zu sein. Etliche Elemente des Romans sind offensichtlich autobiographisch motiviert. Das Leben von Max Frisch liefert genauso gutes Anschauungsmaterial und ist genauso wenig überzeugend wie dieser Roman.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 08. August 2020)

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