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Margaret Atwood: Die Penelopiade – Der Mythos von Penelope und Odysseus (2005)

Ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber eben doch nur ein Pamphlet

In der „Penelopiade“ erzählt Margaret Atwood die Geschichte der Odyssee aus Sicht von Penelope, der Ehefrau des Odysseus, und zwar im Rückblick nach ihrem Tod aus dem Hades heraus. Atwood gestaltet dieses Werk als ein Pamphlet, mit dem sie feministische und sozialkritische Themen in literarischer Form transportiert. Literarisch ist dieses Werk ein Erlebnis, doch inhaltlich kann es nicht überzeugen. Es handelt sich um ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber es ist eben doch nur das: Ein Pamphlet.

Kritik am feministischen Aspekt

  • Der feministische Ansatz, man müsse die Odyssee doch auch einmal aus weiblicher Perspektive, also aus Sicht der Penelope, erzählen, übersieht, dass die Odyssee des Homer von einem Sänger erzählt wird. Zudem geht es über lange Strecken der Odyssee hinweg nur um Penelope und die Situation in Ithaka, nicht aber um Odysseus. Wenn man nun Penelope selbst zu Wort kommen lässt, ist das in Wahrheit eine Bevorzugung der Frau, und nicht etwa eine nachgeholte Gleichberechtigung.
  • Atwood unterlegt die Geschichte mit viel Zynismus, vor allem gegen Männer: Gegen das Extrem einer rein romantischen Darstellung mit wahrer Liebe und echtem Heldentum stellt sie das andere Extrem von berechnenden Hintergedanken und bloß gespielter Tugend, hinter der sich Laster und List verbergen. Als clever gilt, wer zynisch ist. Tugend ist naive Dummheit. Doch auch hier ist die originale Odyssee besser: Denn sie geht einen Weg zwischen beiden Extremen. Penelope ist eben nicht die brave, dumme Ehefrau, die zuhause bleiben und dienen muss, während der Ehemann in die Welt zieht und das Leben kennenlernt. Dieses Klischee wird hier beschworen. Zugleich wird dieses Klischee konterkariert durch die Aussage, dass Penelope natürlich heimlich reihenweise mit den Freiern ins Bett gegangen wäre, denn wieso sollte nur der Mann Anspruch auf Laster haben? Es ist ein Feminismus, der die Parole ausgibt: Wir Frauen wollen endlich auch so schlecht sein, wie wir uns die Männer immer vorgestellt haben! Nicht gerade verlockend.
  • Atwood lässt Penelope ans Publikum appellieren, es ihr nicht gleichzutun! Bloß nicht tugendhaft sein! Die Botschaft ist also: Lebe Deine Lust aus, sei lasterhaft, sei nicht treu! Doch davon wollen wir allen Leserinnen (und Lesern) gründlich abraten. Tugend ist keine historische Worthülse, auch wenn jede Zeit die genauen Umrisse von Tugend neu bestimmen muss. Tugend kommt von innen, wirkt nach innen, und zahlt sich aus. In eigener seelischer Balance, in sozialer Balance, und auch sonst. Die „alten Regeln“ gelten trotz allem noch, wenn auch in stark erneuertem Gewand.
  • Irgendwie ist dieser Odysseus, den Atwood zeichnet, trotz allem sympathisch. Er ist klug, Penelope ist es auch. Die Hochzeitsnacht ist für damalige Verhältnisse wirklich ganz passabel. Beide haben Spaß aneinander und erzählen sich gerne Geschichten. Ich meine, dass Atwood bei allem Zynismus nicht darum herumgekommen ist, das Gute an Odysseus, das auch im Original steckt, durchscheinen zu lassen.
  • Atwood bürstet einen 3000 Jahre alten Stoff feministisch gegen den Strich und zielt mit ihrer Botschaft sichtlich auf ihre Gegenwart (das Buch wurde 2005 veröffentlicht). Doch die Sitten der Männer (und Frauen) vor 3000 unterscheiden sich doch erheblich von den Sitten in unseren Tagen. Auf diese Weise verfehlt Atwood beide Zeithorizonte: Sie ist einerseits nicht fair zur Gegenwart, aber sie ist andererseits auch nicht fair zur Vergangenheit, denn man kann moderne Maßstäbe nicht 1:1 an alte Zeiten anlegen. Atwood quetscht etwas in diese Geschichte hinein, was dort nicht hineinpassen will.
  • Atwood verbreitet die pseudowissenschaftliche Idee, dass es in der Vorzeit ein Matriarchat gegeben habe, das von patriarchalen Männern, für die Odysseus urbildlich steht, gestürzt worden sei. Diese Idee hat sie ganz offensichtlich von Robert von Ranke-Graves, denn sie nennt ihn als Inspirationsquelle für zahlreiche Aspekte ihres Werkes (allerdings nicht für diesen, seltsam). Die Wissenschaft hatte diese Idee schon zu Zeiten von Ranke-Graves verabschiedet, warum muss Atwood das 2005 immer noch verbreiten?

Kritik am sozialkritischen Aspekt

Neben dem feministischen Aspekt gibt es aber auch einen stark sozialkritischen Zug. Die niedere Stellung der Mägde gegenüber den Oberen Odysseus und Penelope, ihre Abhängigkeit und ihre Ermordung zur Rettung der Ehre ihrer Herrin Penelope zieht sich durch das ganze Buch durch, angefangen von der Geburt der Penelope. Die Mägde treten auch immer wieder als Chor verkleidet auf und singen Matrosen-Shantys und andere kommentierende Moritaten, die zu den literarischen Höhepunkten des Werkes zählen.

  • Durch diese zweite, sozialkritische Botschaft wirkt das Werk überfrachtet. Es gibt kein dominierendes Thema, und die beiden Themen Feminismus und Sozialkritik stehen sich gegenseitig im Weg herum und lassen den Leser ein wenig ratlos zurück, was Atwood jetzt genau sagen wollte. Eine solche Überfrachtung mit Themen ist auch in anderen Werken Atwoods zu beobachten.
  • Wie schon beim Feminismus wird auch bei der Sozialkritik eine moderne Interpretation an ein 3000 Jahre altes Geschehen angelegt, die unpassend ist.

Literarische Qualität

Auf literarischem Gebiet überzeugt Margaret Atwood sehr viel mehr: Es fällt dem Leser auf, dass sie Homers Odyssee sehr genau gelesen hat, denn sie greift geschickt Details auf, die von den meisten überlesen werden. Es beeindruckt die Vielzahl literarischer Formen: Prosa, Lieder, eine dramatische Gerichtsverhandlung. Auch das Angebot einer mythologischen Paraphrasierung des Geschehens gegen Ende ist interessant. Die Songs der Mägde sind jedoch das Größte. Es sind wahre Ohrwürmer voll saftiger Ironie und Sarkasmus.

Fazit

Das Ziel von Margaret Atwood war es offensichtlich, mit der Odyssee einen Grundlagentext unserer Kultur zu konterkarieren, indem sie ihn scheinbar „realistisch“ ausdeutete, nämlich respektlos zynisch und lächerlich, um auf diese Weise seine Autorität infrage zu stellen. Denn Atwood sieht in der Odyssee einen Grundlagentext des Patriarchats, gegen das sie anschreibt. Doch ihr Pamphlet verfehlt die Wirklichkeit der Odyssee ebenso wie die Wirklichkeit unserer Tage. Es ist eine Rebellion der Unvernunft gegen die Sinnhaftigkeit der Tradition selbst. Eine solche Perspektive wird den alten Texten grundsätzlich nicht gerecht und verfehlt deren Weisheit, die trotz ihres Alters noch in ihnen steckt. Man enthebt sich der Mühe, diese Weisheit zu entdecken und für die Gegenwart zu aktualisieren. Darum müsste es eigentlich gehen. Im Grunde befasst sich Atwood gar nicht mit der Überlieferung, sondern drückt umgekehrt der Überlieferung etwas aufs Auge, was gar nicht in dieser drin steckt. Was bleibt ist ein literarisch gelungenes Pamphlet. Am Ende entpuppt sich Margaret Atwood als mindestens genauso listenreich wie jener Odysseus, den sie uns vor Augen führt: Die allzu listenreiche Autorin kritisiert den allzu listenreichen Odysseus – und es fällt auf sie zurück.

Bertolt Brecht

Der naheliegendste literarische Vergleich ist Bertolt Brecht. Auch Brecht war literarisch genial und hatte ein politisches Anliegen, mit dem er letztlich auf dem Holzweg war. Auch bei Brecht finden wir diesen Zynismus, aber auch solche Lieder wie in Atwoods „Penelopiade“. Einen direkten Vergleich können wir in Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ sehen. Dort fragt Brecht u.a.: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ – Es ist dieselbe Respektlosigkeit vor der Überlieferung wie bei Atwood. Es ist wahnsinnig sozial gedacht, geht aber an der Wirklichkeit völlig vorbei. Denn Alexander und Caesar waren jeweils der „spiritus rector“ ihrer Feldzüge, und nicht ihre Soldaten. Es ist ein Anschlag auf die Überlieferung, im Grunde eine Lächerlichmachung. Caesars Gallienfeldzug war eine echte Leistung von Caesar, in vielerlei Hinsicht – und dann kommt der respektlose Herr Brecht, der wischt das alles beiseite, und fragt pseudo-realistisch nach dem Koch, und dass die eigentliche Leistung doch von den Legionären erbracht worden sei. Was so eben nicht stimmt. Aber ja … auch Brecht war literarisch genial, kein Zweifel.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Mai 2020)

Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus (1953) – Teil 2 der Trilogie des Scheiterns

Blick eines Enttäuschten auf den Politikbetrieb der jungen BRD

Der Roman „Das Treibhaus“ von 1953 ist der zweite Teil der „Trilogie des Scheiterns“ von Wolfgang Koeppen. Während sich der erste Teil „Tauben im Gras“ dem Leben und Treiben der kleinen Leute widmete, deren kleines Leben und seine Probleme teils durchaus tragikomische Züge trug, begegnen wir hier nun dem Bundestagsabgeordneten Keetenheuve, der tatsächlich alle seine Träume tragisch scheitern sieht.

Wir verfolgen in konzentrierter Form den Ablauf zweier Tage Keetenheuves in der neuen Bundeshauptstadt Bonn, und bekommen dabei – buchstäblich en passant – ein detailreiches Gemälde der Zustände und der Atmosphäre im damaligen Bonn vor Augen geführt. Die Bundeshauptstadt gleicht einem Treibhaus, in dem sich alle wie im Hamsterrad abmühen, doch in der trägen Atmosphäre kommt kaum ein Erfolg aller Mühen zustande.

Der lose verfolgte rote Faden der politischen Handlung des Romans ist kurz erzählt: Keetenheuve stimmt Bauvorhaben für Arbeiterwohnungen zu, obwohl er sie für zu klein hält. Der Parlamentarier Korodin von der Gegenpartei hofft insgeheim, den Gewissensmenschen Keetenheuve auf seine (christliche) Seite herüberziehen zu können, doch Keetenheuve ahnt nicht und wird es auch nie erfahren, dass ihm vom politischen Gegner diese geradezu menschliche Anteilnahme entgegen gebracht wird. Keetenheuve erhält eine exklusive Information, mit der er die Regierung in einer Parlamentsrede unter Druck setzen kann. Doch kurz bevor er die Rede hält, erfährt er, dass die Meldung längst durchgesickert ist. Außerdem wird ihm, der als Gewissensmensch und unbequem gilt, der Posten des Botschafters in Guatemala angeboten, um ihn dorthin abzuschieben. Keetenheuve widersteht dieser Versuchung.

Keetenheuve übersetzt lieber Baudelaire als dass er seine Arbeit macht. Er träumt von Pazifismus und sozialer Gerechtigkeit, doch die Realität der Verhältnisse zerstört diese Träume gründlich. Die BRD steuert die Wiederbewaffnung an, und die sozialen Verhältnisse können nur in kleinen Schritten verbessert werden. Zudem befindet sich die BRD im „Käfig“ einer höheren Macht (USA), und man weiß nicht, wohin dieser „Käfigträger“ einen führen wird. Ständig tritt das Angsttrauma Keetenheuves zutage, dass auch die neuen Verhältnisse letztlich nur den Keim zu einem neuen Nationalsozialismus und zu einem neuen Krieg in sich tragen könnten. Kriege kämen zustande, weil die Denker der Nationen nicht gut genug gedacht haben. – Soeben ist auch die Ehefrau Keetenheuves gestorben, die er aber innerlich schon lange vorher verloren hatte, weil die politische Arbeit ihm die Zeit stahl, sich um sie zu kümmern. Teilweise fühlt sich Keetenheuve wie ein Ausländer im eigenen Land.

Am Ende vergreift sich Keetenheuve an einem Mädchen der Heilsarmee und begeht anschließend Suizid, indem er von einer Rheinbrücke springt.

Wir lernen in diesem Buch wieder viel über die Sinnlosigkeit menschlichen Strebens. Sogar mehr als genug: Offenbar war Koeppen maßlos von der neuen BRD enttäuscht, und weil er vom Nationalsozialismus und vom Krieg traumatisiert war, befürchtete er das Schlimmste – zu Unrecht. Es ist definitiv mehr Sinnlosigkeit und mehr Tragik in diesem Buch als in „Tauben im Gras“. Wir lernen zudem etwas über die 1950er Jahre, und wir lernen etwas über den Politikbetrieb, wie er im Grundsatz heute nicht viel anders sein wird als damals.

Eines fällt auf: In diesem Roman spielen Juden und der Holocaust keine besondere Rolle. Sie kommen praktisch so gut wie nicht vor. Überhaupt wird in diesem Roman der Tod vor allem als Tod im Krieg thematisiert. Vom Tod durch Verfolgung ist eher nicht die Rede. Es handelt sich offenbar um eine damals selbst bei kritischen Geistern verbreitete, verzerrte Wahrnehmung.

Auch dieses Werk ist dicht geschrieben, und voller skurriler Assoziationen und surrealen Szenen, aber stilistisch ist es nicht mehr so genial wie „Tauben im Gras“.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Juni 2018)

Mouhanad Khorchide: Gott glaubt an den Menschen – Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus (2015)

Abrundung einer echten Islamreform / Linkslastiger Humanismus

Mit diesem Werk versucht Mouhanad Khorchide zwei Dinge zugleich: Zum einen rundet er seine Reformtheologie ab, die er in zwei vorangegangenen Büchern zu entfalten begonnen hat („Islam ist Barmherzigkeit“ und „Scharia, der missverstandene Gott“). Zum anderen versucht er, den Islam in die Tradition des Humanismus einzuordnen.

Dieses Buch leidet etwas darunter, dass diese zwei Themen in ein Buch gepackt wurden und sich auf verwirrende Weise von Kapitel zu Kapitel abwechseln. Der Leser tut gut daran, beide Themen zunächst getrennt wahrzunehmen, und erst nach der Lektüre des gesamten Buches über eine Synthese nachzudenken.

Thema 1 – Die Abrundung der Reformtheologie

Am Anfang des Buches wird die in früheren Werken entwickelten Reformtheologie in geraffter Form und unter einer etwas anderen Perspektive wiederholt: Die Offenbarung des Koran ist von dem zentralen Satz aus aufzudröseln, dass Gott allbarmherzig ist, und Mohammed zur Barmherzigkeit gesandt wurde, und nicht, um Menschen zu zwingen. Der Mensch ist anders als die Engel kein Befehlsempfänger. Die richtige Haltung des Muslims ist das Sich-Öffnen im Gegensatz zum Sich-Verschließen. Der Koran muss historisch kontextualisiert gelesen werden. Es gibt ewig gültige und situativ gültige Verse. Die Sunna (Hadithe) müssen immer wieder auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden.

Die Reformtheologie wird abgerundet durch folgende Aussagen:

  • Ablehnung der fatalistischen Prädestinationslehre (S. 29).
  • Die Welt funktioniert nach Naturgesetzen, die der Mensch erkennen soll. Khorchide ist strikt dagegen, naturwissenschaftliche Aussagen im Koran erkennen zu wollen. Denn solche Aussagen sind bedingt durch den historischen Kontext, in den die Offenbarung hineingesprochen wurde. Der Koran verlangt nach der Benutzung der Vernunft, die die Gläubigen zu jeder Zeit neu einsetzen müssen (S. 33 ff.).
  • Die Verweigerung des Vernunftgebrauchs erregt den Zorn Gottes (S. 52).
  • Jetzt gesteht Khorchide auch einen strafenden Gott zu, im Verhältnis 18:1 barmherzig vs. strafend (S. 84). Die Strafe Gottes richtet sich nur gegen die Sünde, nicht gegen den Sünder.
  • Der Mensch soll danach streben, Gottes Eigenschaften ähnlich zu werden, doch Gott ist absolut, und der Mensch nur relativ und unvollkommen, ein ewig Strebender. Sogar im Paradies ginge das Streben noch weiter, meint Khorchide (S. 81).
  • Khorchide sagt jetzt, dass er Glaube nicht gegen Handeln ausspielen möchte, sondern dass das richtige Handeln ein Ausdruck des richtigen Glaubens ist (S. 198). Gut so.
  • Der Islam enthält in sich Aufforderungen zu Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen, und strebt keine Weltherrschaft des Islam an. Ein Kafir ist kein Ungläubiger, sondern ein Leugner. Christen und Juden werden z.B. keineswegs pauschal als Kafir bezeichnet. Khorchide schließt jetzt explizit alle Andersgläubigen in sein Toleranzkonzept mit ein, bis hin zu Atheisten (S. 209, 248).

Sehr stark sind Khorchides Aussagen zur Gewalt im Islam:

  • Khorchide hat ein großes Kapitel eingefügt (S. 167 ff.), in dem er klarstellt, dass der Dschihad als Angriffskrieg gegen alle Nichtmuslime eine starke Tradition in der islamischen Theologie hat, und dass es heute darum geht, eine friedliche, in der Geschichte des Islam meist schwächere Tradition, zum heute vorherrschenden Narrativ im Islam zu machen.
  • Khorchide zeigt die einzelnen Gelehrten auf, die durch die Jahrhunderte diese oder jene Lehre vertreten haben: Das ist sehr interessant.
  • Khorchide widerlegt die verschiedenen Argumente der Tradition: Die verschiedenen Schwertverse; die Problematik der Abrogation, die auch in der Tradition sehr umstritten ist (S. 178, 219 f.); usw. (Unerwähnt bleibt, dass auch die chronologische Reihenfolge der Koranverse, von der die Abrogation abhängt, in der Tradition umstritten ist.)
  • Khorchide zeigt, dass das Massaker an den Juden durch Mohammed nicht historisch ist. (Unerwähnt bleibt, dass moderne Historiker das Massaker als spätere Erfindung einordnen, mit der die Entfernung der Juden aus der Umma gerechtfertigt werden sollte.)
  • Khorchide sagt klar, dass das Problem nicht nur die Islamisten sind, die Gewalt und Terror anwenden, sondern bereits der traditionalistische Mainstream des Islam, der sich für ein Nachdenken über die Tradition nicht öffnet sondern verschließt, und damit notwendige Reformen verhindert. Der traditionalistische Mainstream tut auf der einen Seite so, als gäbe es die vorherrschende Tradition nicht, auf der anderen Seite wehrt er sich gegen jede Kritik an der Tradition.
  • Khorchide klagt einen Teil der Muslime der „Westophobie“ an, weil sie eine Islamreform pauschal mit dem falschen Argument ablehnen, dass man eine solche Reform nur deshalb durchführe, weil man damit dem Westen zu Gefallen wäre. Doch der Islam hat Reformen in seinem eigenen Interesse nötig.

Khorchides Reformtheologie ist teilweise links und postmodern:

  • Khorchide wendet sich gegen jede Autorität im Islam (S. 115 f., 222 ff.). Es ist zwar richtig, den einzelnen Gläubigen zu Eigenverantwortung aufzurufen, aber die Ablehnung jeder Form von Autorität ist überzogen und entspricht auch nicht dem Wesen des Menschen. Hier verfolgt Khorchide eine Utopie, mit der er keinen Erfolg haben wird. Statt Autoritäten pauschal abzulehnen sollte man sich lieber überlegen, wie man Autoritäten so installiert, dass sie nicht autoritär sind. Man muss auch bedenken, dass eine Organisation wichtig für die Meinungsbildung ist. Eine Organisation kann sich entwickeln, streiten, Lehren aussprechen oder verwerfen. Ohne das ist eine Reform praktisch nicht möglich. Die Masse der unorganisierten Muslime würde von Reformdenken sonst nie erfasst.
  • Teilweise übertreibt es Khorchide mit dem Sich-Öffnen. Bei ihm ist alles prozesshaft und im Fluss, alles wird ausgehandelt, der Dialog ist alles. Der Satz „Das ist der wahre Islam“ sei obsolet geworden, meint Khorchide (S. 45). Damit schwächt Khorchide aber auch seine eigene Position gegenüber den Traditionalisten. Khorchide muss schon klar sagen können, dass die Theologie der Gewalt falsch ist und schon immer falsch war, und deshalb zu verurteilen ist.
  • Khorchide schreckt davor zurück, große Gelehrte der islamischen Tradition für ihre theologischen Positionen zu verurteilen, weil es eine andere Zeit war (S. 187 f.). Doch so geht es nicht. Auch im Christentum waren Hexenverbrennungen schon immer falsch. Hexenverbrennungen sind nicht erst heute falsch.
  • Die Absicht zur Verwerfung der Hadithe, die nicht zur zentralen Botschaft der Allbarmherzigkeit passen, ist zwar grundsätzlich richtig, wird von Khorchide aber allzu leichtfertig formuliert (S. 176). Auch manche Koranverse sind etwas sperrig, können aber dennoch zur zentralen Botschaft in einen guten Bezug gesetzt und historisch kontextualisiert gelesen werden, ohne dass man sie verwirft.
  • Die Darstellung der Geschichte von Islam und Christentum unter der Perspektive des Sich-Öffnens und Sich-Verschließens ist grundsätzlich richtig gedeutet, aber im Detail zeichnet Khorchide ein zu weiches Bild: Das Kalifat von Cordoba in Al-Andalus sei ein wahres Paradies auch für Christen und Juden gewesen, die dort auch zur Universität gingen; im Islam hätte es damals keine Autoritäten gegeben, deshalb sei alles geistig frei gewesen; das wissenschaftliche Denken in Europa sei maßgeblich durch Al-Andalus und die Übersetzerschule von Toledo angestoßen worden; vor Anselm von Canterbury hätte es keine Beschäftigung mit Wissenschaft und Philosophie in Europa gegeben. Das alles ist so höchstens halbwahr und deshalb leider geeignet, wohlmeinende Islamkritiker abzuschrecken, weil sie solche Weichzeichnungen schon zu oft aus unglaubwürdigem Munde gehört haben. Die beabsichtigte Grundaussage ist aber trotzdem richtig: Man muss sich geistig öffnen.

Khorchide streut immer wieder Seitenhiebe gegen das Christentum ein. Als Nichtchrist ist das völlig legitim, man müsste es aber etwas breiter diskutieren:

  • Der Islam kennt keine Erbsünde, es gibt keine Kollektivschuld (S. 25). – Schön und gut, aber die Unvollkommenheit des Menschen als Geschöpf eines vollkommenen Gottes erklärt Khorchide damit nicht. Warum scheitert der von Gott geschaffene Mensch in der von Gott geschaffenen Welt immer wieder und wieder und muss sterben? Warum ist die Welt nicht vollkommen?
  • Gott wird nicht Mensch, die Distanz zwischen Gott und Mensch bleibt gewahrt (S. 81 f., 85). – Da Khorchide seinen Gott ähnlich wie den christlichen Gott als liebenden Gott darstellt, bleibt die Frage, wie Gott die damit entstehende Kluft zum Menschen überwinden will. Und wie errettet der islamisch verstandene Gott den bleibend sündigen Menschen, ohne ihm Anteil an der Göttlichkeit zu geben?
  • Sexualität sei auch zur Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse da, deshalb gebe es im Islam kein Verbot von Verhütungsmitteln (S. 243 f.). – Khorchide hat hier den christlichen bzw. katholischen Standpunkt nicht ganz verstanden, scheint es.

Thema 2 – Islam und Humanismus

Den Islam in die humanistische Tradition einzubetten ist ein großer Wurf. Denn damit verlässt Khorchide die Defensive und bringt den Islam offensiv in unsere Kultur hinein. Muslime werden so zu einer Islamreform motiviert, denn sie dürfen auf einen würdigen Platz für den Islam im Kreis der humanistischen Weltanschauungen hoffen. Im Kern geht es Khorchide um das Sich-Öffnen als einem humanistischen Grundgedanken. Das ist sicher richtig, aber leider ist die Ausführung des Ansatzes nicht ausreichend gelungen.

Ein linkslastiger Humanismus-Begriff:

  • Zentraler Fehler ist die Unterschätzung der Antike als Grundlage des Humanismus. Der Humanismus der Antike ist nicht einfach nur der erste Humanismus, und nicht einfach nur ein Humanismus unter mehreren, sondern es ist der Humanismus schlechthin, der zur Grundlage für alle späteren Humanismen wurde. Man kann sich nicht vom Humanismus der Antike lösen, so wie man auch das Rad nicht noch ein zweites Mal erfinden kann. Das Herunterspielen der Bedeutung der Antike ist typisch für linkes Denken.
  • Bei der Nachzeichnung der Geschichte des Humanismus stützt sich Khorchide vor allem auf linke Humanisten und Möchtegern-Humanisten bzw. deren Vordenker: Herder, Hegel, Marx, der Linkshegelianer Ruge, Sartre, Erich Fromm, den Humanismus des heutigen HVD-Verbandes, und den evolutionären Humanismus von Michael Schmidt-Salomon und seiner Giordano-Bruno-Stiftung. Man mag es kaum glauben, aber es fehlen u.a. Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt, Werner Jaeger oder Romano Guardini. Der Dritte Humanismus wird mit einem kurzen Absatz abgehandelt, der christliche Humanismus bleibt praktisch unerwähnt. Kurz: Der „bürgerliche“ Humanismus fehlt fast komplett! Für einen Überblick über den Humanismus ist das ein Totalschaden. Vermutlich hatte Khorchide die falschen Ratgeber.
  • Bei der Klage über anti-humanistische Zustände in der modernen Welt fühlt man sich an typisch linke Selbstanklagen gegen die die westliche Moderne erinnert, die man für alle Übel der Welt verantwortlich macht (S. 141 ff.): Da wird z.B. die Leistungsgesellschaft kritisiert, ohne deren guten Sinn zu würdigen. Schräge Beispiele werden herbeigezogen: Etwa eine Uni-Prüfung, bei der der Dozent festsetzt, dass genau die ersten zehn Studenten durchkommen, aber alle anderen nicht. Das ist natürlich das Gegenteil einer Prüfung nach Leistung: Es geht nämlich gar nicht um die Leistung der Studenten, sondern nur um den Bedarf an Absolventen, egal wie gut oder wie schlecht sie sind – und das ist Planwirtschaft, nicht Leistungsgesellschaft.
  • Khorchide versucht Verständnis für die Meinungen der „anderen Seite“, d.h. von Muslimen, zu heischen, indem er seitenweise Anklagen von Jürgen Todenhöfer an den Westen zitiert, deren Qualität sich auf dem Niveau von politischen Verschwörungstheorien bewegt. Man kann Verständnis für manchen Irrtum haben, der sich bei Muslimen über den Westen festgesetzt hat. Aber im Kern sind es nun einmal Irrtümer, und sie müssen überwunden werden. Verständnis hilft da nicht viel. Man könnte höchstens hinzufügen, dass nicht nur Muslime, sondern auch westliche Linke und Verschwörungstheoretiker diese Irrtümer überwinden müssen. Dazu sagt Khorchide aber nichts. Vermutlich ist er selbst in manchem dieser Irrtümer befangen.
  • Zu Anfang des Buches benutzt Khorchide den Begriff Humanismus als Synonym für Atheismus, so wie es heute in Mode gekommen ist. Zur Mitte des Buches hin überwindet Khorchide diesen Gebrauch des Wortes Humanismus zum Glück.

Khorchide entdeckt erstaunlich wenig Humanismus im Islam:

  • Einen Humanismus schon in den Anfängen nimmt Khorchide kaum ernst (z.B. Muhammad’s Humanism von Minou Reeves; S. 121).
  • Erst im 10. Jahrhundert will Khorchide so etwas wie Humanismus erkennen (Mutazila).
  • Im 14. Jahrhundert dann asch-Schatibi und dessen Normenlehre nach den Bedürfnissen des Menschen.

Khorchide hängt an einem völlig falschen Humanismus-Begriff:

  • Khorchide schreckt davor zurück, den Begriff „Humanismus“ im Zusammenhang mit dem Islam überhaupt zu gebrauchen, weil er zu eng mit der europäischen Entwicklung verknüpft wäre (S. 117 f.). Aber das ist Unfug, denn der Humanismus geht auf die Antike zurück, und diese wurde von Ost und West gleichermaßen rezipiert.
  • Bei Mohammed Arkoun schreibt Khorchide, dieser würde Rationalismus und Humanismus verknüpfen (S. 121). Aber ist das nicht von allem Anfang in der Antike her klar, dass ein Humanismus ohne Rationalismus überhaupt nicht denkbar ist?
  • Nach Schöller meint Khorchide, dass es eine Eigenheit des islamischen Humanismus sei, dass er keinen Gegensatz zur Religion bilde (S. 122 f). Aber das ist doch beim europäischen Humanismus ganz genauso! Humanismus bedeutet keineswegs automatisch Atheismus! Den Humanismus gegen die Religion zu positionieren ist eine postmoderne, linke Fehlwahrnehmung.

Khorchide verkennt den humanistischen Kern im Islam:

Es ist schon fast tragisch, dass Khorchide das Entscheidende völlig übersieht. Grund dafür ist nicht zuletzt Khorchides linkslastige Sicht auf den Humanismus, der die Antike völlig unterbelichtet. Denn wie auch beim Christentum so sind auch beim Islam von allem Anfang an humanistische Elemente eingeflossen. Mithilfe eines „bürgerlichen“ Humanismus hätte Khorchide erkennen können:

  • Bereits der Koran korrespondiert zu antiken Vorstellungen, z.B. die kosmologischen Vorstellungen in Platons Timaios. Dass der offenbarende Gott die Menschen im Kontext ihrer Zeit anspricht ist ja Khorchides eigene Meinung, also darf auch im Koran nach Spuren der Antike gesucht werden.
  • Auch in der Sunna finden sich viele Elemente antiken Denkens. So mancher Hadith wurzelt vielleicht eher in antiker Tradition als in einer Aussage des Propheten? Oder vielleicht beides zugleich?!
  • Die islamische Tradition der Auslegung von Koran und Sunna hat sich oft an antikem Denken orientiert. So korrespondiert z.B. die Dschihad-Lehre auffällig mit Platons Lehre von Krieg und Frieden in dessen Dialog Nomoi: So auch die Lehre vom großen und vom kleinen Kampf, die dem großen bzw. kleinen Dschihad entspricht. Khorchide selbst erwähnt die Übersetzungsbewegung von Baghdad: Was haben die denn da übersetzt? Natürlich antike Werke!
  • Die großen islamischen Philosophen wurden von antikem Denken geprägt, wie Khorchide selbst darlegt (z.B. S. 131 f.).

Der Islam kann sich also nicht nur in den in der Antike wurzelnden Humanismus einfügen, er enthält ihn bereits selbst. Der Islam trägt nicht nur etwas zum Humanismus bei, er trägt denselben antiken Humanismus bereits in sich, der auch die anderen Humanismen inspiriert hat. Das kann man allerdings nur erkennen, wenn man die besondere Bedeutung des antiken Humanismus erkannt hat. Im Grunde hat Khorchide mit einem gewissen Erfolg jenen Humanismus aus dem Islam herausgeholt, der von der Antike in den Islam hineingelegt wurde, ohne dass sich Khorchide dessen bewusst war. Bis hin zu der These, dass ein Humanist Individualist und Kollektivwesen zugleich ist (S. 239 ff.): Auch das natürlich ein antiker Gedanke.

Fazit

Khorchide ist ein echter Islamreformer, der mit seinem Denken auf dem richtigen Weg ist. Die Abrundung seiner Reformtheologie in diesem Werk beweist es. Es liegen allerdings einige dicke Steine auf seinem Weg: (1) Khorchide ist eindeutig zu linkslastig und postmodern eingestellt. (2) Khorchide fehlt in manchen Bereichen die Bildung: Das ist kein Beinbruch, denn das Thema greift in der Tat sehr weit aus. „Der gute Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst“ (Goethe, Faust). (3) Und drittens ist Khorchide zu wenig dem praktischen Leben zugewandt, wo seine Reformen umgesetzt werden müssen: Mit Autoritäten, mit Moscheen, mit einem klaren Katechismus, mit Verurteilungen von Irrlehren, usw. – Keines dieser Probleme ist unlösbar, aber vielleicht wird es nicht mehr Khorchide sein, der sie löst.

Das große Ziel, den Islam in den Kreis der humanistisch orientierten Religionen einzuführen, ist erreichbar. Zwar hat der Islam im Lauf seiner Geschichte großes Pech gehabt, und der gegenwärtige Zustand des Islam lässt keine schnellen Erfolge erwarten, aber grundsätzlich sind alle Voraussetzungen vorhanden, um das Ziel zu erreichen. Bis es soweit ist, dass Khorchides Ideen irgendwann einmal eines Tages in der Breite des Islam zu wirken beginnen, wird die westliche Welt allerdings geeignete Abwehrmaßnahmen gegen den traditionalistischen Islam ergreifen müssen. Auch zu diesen notwendigen Maßnahmen sagt Khorchide leider nichts. Das sollte er aber, wenn er Humanist sein will.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. April 2016.

Tobias Engelsing: „Jetzt machen wir Republik!“ – Die Revolution von 1848/49 in Baden und am Bodensee (2023)

Hervorragende Materialsammlung mit ideologischer Schlagseite

Dieser Katalog zur Sonderausstellung des Rosgartenmuseums Konstanz 2023 versammelt eine beeindruckende und wohlgeordnete Fülle von Bildern und Texten zum 175. Jahrestag der Revolution von 1848/49 in Baden. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Stadt Konstanz und den berühmten „Heckerzug“ gelegt, der unter Führung von Friedrich Hecker am 13. April 1848 in Konstanz aufbrach, um erst in Baden und dann in ganz Deutschland auf gewaltsame Weise die Monarchie abzuschaffen und eine Republik zu errichten. Der Katalog ist textuell und graphisch ganz analog zur Ausstellung gestaltet, die sich dem Besucher sehr ansprechend präsentierte.

Leider erlagen die Ausstellungsmacher einem typische Denkfehler: Sie gaben der Versuchung nach, ihr Thema enthusiastisch zu überhöhen und kritische Gesichtspunkte herunterzuspielen, während sie gleichzeitig die Gegenseite in rabenschwarzen Farben malen. So etwas erlebt man leider öfter in Ausstellungen.

Welche Revolution?

Eines der Probleme ist der Eindruck, der Heckerzug wäre hauptsächlich die Revolution gewesen. Es wird zwar hie und da eingestreut, geht aber dennoch ein wenig unter, dass es parallel dazu ein ganz anderes, viel wichtigeres Revolutionsgeschehen gab, nämlich die Einberufung der Nationalversammlung in Frankfurt am Main und die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung für Deutschland. Friedrich Hecker und die Seinen waren damals weder die führenden Revolutionäre, noch waren sie die unbestritten „Guten“, sondern sie spielten vielmehr die Rolle der radikalen Fanatiker und Störenfriede.

Es gab Anfang 1848 gewiss keinen Grund für Gewalt, denn mit der Frankfurter Nationalversammlung war ein friedlicher Weg der Revolution eröffnet und im Gange. Die gewaltsame Aktion von Friedrich Hecker hatte vielmehr das Potential, diese friedlichen Bemühungen zu desavouieren, und das wurde von den Frankfurter Abgeordneten auch deutlich zum Ausdruck gebracht. Zumal es völlig utopisch war, mit einem Haufen von Bauern und Bürgern gegen ausgebildetes Militär vorzugehen. Mit Karl Mathy wird nur ein einziger dieser friedlichen Revolutionäre der Frankfurter Nationalversammlung dargestellt. Karl Mathy war entschieden für demokratische Reformen, aber gegen jede gewaltsamen Umsturzpläne. Deshalb unterstützte er auch konsequent das Vorgehen des preußischen Militärs gegen die radikalen Fanatiker in allen Phasen der Revolution.

Obwohl dieser Ausstellungskatalog so reich an Material ist, fehlt darin doch ein markantes Detail, nämlich der kurze Dialog, der sich zwischen Friedrich Hecker und General Friedrich von Gagern vor der Schlacht bei Kandern entspann, in der der Heckerzug dem Militär unterlag. Friedrich von Gagern wollte unnötiges Blutvergießen vermeiden und forderte Hecker zur Kapitulation auf. Als dieser sich verweigerte, sagte von Gagern angeblich den denkwürdigen Satz: „Sie sind gescheit, aber fanatisch!“ – Se non è vero è ben trovato, kann man da nur sagen.

Wer diesen Ausstellungskatalog liest, denkt: Mit der Niederlage von Hecker war die Revolution gescheitert. Die „Reaktion“ hatte mit der Niederschlagung des Heckerzuges gesiegt. Doch weit gefehlt. Die eigentliche Revolution, die Nationalversammlung in Frankfurt am Main, lief weiter. Und die Niederschlagung des Heckerzuges wurde von den Frankfurter Parlamentarieren begrüßt.

Preußen

Die Rolle Preußens und der Hohenzollern wird in diesem Ausstellungskatalog rabenschwarz gemalt. Es bleibt ungesagt, dass die Barrikadenkämpfe in Berlin durch einen einzelnen Schuss ausgelöst wurden, von dem bis heute nicht klar ist, woher er kam. Jedenfalls gab es keinen Befehl zum Schießen und die Kämpfe begannen in jedem Fall ungewollt. Ebenso wurden die Berliner Straßenkämpfe nicht erst beendet, nachdem alle Revolutionäre besiegt waren, sondern der König selbst ließ den ohne Befehl spontan ausgebrochenen Kampf wieder beenden, zeigte sich mit der schwarz-rot-goldenen Fahne und ehrte die Getöteten. Man kann ehrlicherweise nicht behaupten, dass Preußen die Revolutionäre zusammenschießen ließ wie es die Kommunisten am 17. Juni 1953 taten. Alles andere als das.

Man beachte auch, dass die Frankfurter Nationalversammlung dem preußischen Königshaus die deutsche Kaiserkrone antrug. Es war also von den Hauptvertretern der Revolution weder geplant, die Monarchie abzuschaffen, noch scheint Preußen in den Augen der Frankfurter Parlamentarier der Inbegriff alles Bösen gewesen zu sein. Es ist den Ausstellungsmachern auch entgangen, dass Preußen die Kaiserkrone u.a. auch wegen Österreich ablehnen musste, um einen innerdeutschen Krieg zu vermeiden (der dann 1866 doch noch kam). Auch die Erschießung des Abgeordneten Robert Blum war ein Werk der Österreicher, nicht der Preußen. Der ganze Vormärz wurde von den Österreichern und ihrem Staatskanzler Metternich beherrscht. Davon liest man in diesem Ausstellungskatalog aber nicht viel.

Völlig obskur ist die Zeichnung der Hohenzollernherrscher und des Kaiserreiches. Wilhelm I. wird z.B. die Niederschlagung der gewaltsamen Umsturzversuche zur Last gelegt, ohne dabei an den Standpunkt von Karl Mathy (siehe oben) zu erinnern. Das Wahlrecht des Kaiserreiches wird als „stark beschränkt“ beschrieben. Das ist objektiv falsch. Historiker wie Hedwig Richter weisen darauf hin, dass das Wahlrecht des Kaiserreiches demokratischer war als in manchen Demokratien. Auch sei das Kaiserreich „militärisch strukturiert“ gewesen: Das ist mindestens eine Übertreibung. Wir verzichten auf eine Auflistung weiterer Irrtümer, der ideologische Tenor dieses Ausstellungskataloges ist klar.

Der Vogel wird aber ganz am Ende auf S. 148, schon mitten im Bildnachweis, abgeschossen: Dort ist das bekannte Vier-Generationen-Foto der Hohenzollern (Wilhelm I., Friedrich III, Wilhelm II. und Kronprinz Wilhelm als Baby) abgedruckt und mit den Worten versehen: „Diese Drei herrschen bis 1918 über das neue Kaiserreich: … Das Baby Wilhelm dient sich als Kronprinz a.D. schon vor 1933 dem „Führer“ Adolf Hitler als Wahlkämpfer an.“ – Hier wird schamlos die schwarze Legende von einer direkten Kontinuität der deutschen Geschichte im Nationalsozialismus behauptet! Wir sahen schon, dass die Rolle Preußens in der Revolution völlig falsch dargestellt wurde. Soviel also zu Wilhelm I. Von Friedrich III. haben die Autoren dieses Ausstellungskataloges offenbar nie gehört, dass er ein Liberaler war, und dass Deutschland zweifelsohne einen liberalen Kurs eingeschlagen hätte, wäre er nicht viel zu früh an Krebs gestorben. Und Wilhelm II. hat immerhin Bismarcks Sozialistengesetze aufgehoben und die Sozialdemokratie wieder zugelassen, und war auch sonst moderner, als manche meinen. Einer Kooperation mit dem Nationalsozialismus hat sich Wilhelm II. stets verweigert.

Vermutlich muss man diese zynische Bildlegende, die gnadenlos in die Irre führt und zudem einem Baby (!) gewissermaßen eine historische Erbschuld zuschreibt, als eine Reaktion auf die aktuell laufende öffentliche Debatte um die Rolle der Hohenzollern im Nationalsozialismus deuten. Diese Debatte wurde durch Rückforderungsklagen des Hauses Hohenzollern ausgelöst. Kein Historiker sollte sich zu einem solchen kurzsichtigen, politischen und falschen Denken hinreißen lassen. – Ebenso aktuell und zugleich verfehlt ist der Bezug zum sogenannten „Synodalen Weg“ der deutschen katholischen Kirche in diesen Tagen (S. 87). Dieser wird weltweit auch von liberalen Bischöfen und Theologen als zu radikal kritisiert, ganz wie damals der Heckerzug. Aber dieser Ausstellungskatalog hat ganz offensichtlich kein Gespür für die Übertreibung und die Gefährlichkeit von Radikalität. Dass auf dem hinteren Klappentext Friedrich Engels zur Notwendigkeit von Revolutionen zitiert wird, wundert dann schon nicht mehr.

Anderes

Eine Stärke dieses Ausstellungskataloges ist die Beleuchtung zahlreicher Nebenaspekte, die sonst in den Geschichtsbüchern unterbelichtet bleiben, z.B.:

  • Der Aufbau eines Netzwerkes bzw. einer Partei durch Johann Adam von Itzstein durch Treffen auf seinem Weingut in Hallgarten nahe des Klosters Eberbach im Rheingau.
  • Die Rolle von Frauen und die Frage des Frauenwahlrechts.
  • Der Antisemitismus mancher Revolutionäre.
  • Der Abriss der historischen Stadtmauer in Konstanz als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Zeiten der Not.
  • Die Verfassungsentwicklung in der Schweiz (Sonderbundskrieg) und die Verflechtungen von Schweizer Persönlichkeiten mit Deutschland.
  • Die Dialektik der Revolution und der Schweiz: Schweizer Verleger drucken Revolutionsschriften und schmuggeln sie nach Deutschland. Schweizer Waffenfabrikanten liefern Waffen an die deutschen Revolutionäre. Die Schweiz nimmt fliehende Revolutionäre auf. Es kommt zu den üblichen Migrationsquerelen.
  • Das spätere Wirken zahlreicher Revolutionäre in den USA wird ebenfalls recht ausführlich beleuchtet. So kämpften sie vielfach gegen die Sklaverei, auch als Soldaten im Bürgerkrieg. Oder sie setzten sich gegen die Vertreibung und für die Integration der Indianer in die moderne Gesellschaft durch Bildung ein (was heute in manchen Kreisen auch schon als rassistische Anmaßung gewertet wird; gut, dass dieser Ausstellungskatalog da nicht mitmacht).

Man muss in diesen Tagen auch dankbar sein, dass die Texte nicht gegendert sind.

Fazit

Eine höchst brauchbare und ansprechend gestaltete Materialsammlung, die mancherlei Anregung zu geben vermag. Der Leser sollte allerdings beim Lesen den Verstand nicht ausschalten und die Schlagseite dieser Publikation mitbedenken.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Mouhanad Khorchide: Scharia – der missverstandene Gott – Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik (2013)

Echter aber naiver Reformer

Mit seinem Buch über die Scharia setzt Mouhanad Khorchide die Entfaltung jener islamischen Reformtheologie fort, die er in seinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ vielversprechend begonnen hat.

Es handelt sich um eine echte und glaubwürdige Reformtheologie, die den Islam kompatibel zu unseren westlichen Werten macht, ohne ihn plump anzupassen. Die Theologie Khorchides nimmt Koran und Sunna völlig ernst, kann sich auf maßgebliche Quellen der islamischen Tradition stützen, und verknüpft damit eine vernünftige und moderne Lesart, die den Koran in seinem historischen Kontext interpretiert. Auch die Person von Khorchide erscheint sehr glaubwürdig, sofern eine „Ferndiagnose“ zu einem solchen Urteil berechtigt.

In dem Buch „Scharia“ übt Khorchide traditionelle und moderne Quellenkritik an den Hadithen (das sind die Prophetenüberlieferungen, die zusammengenommen die Sunna bilden) und stellt Vernunft und Herzensbildung gegen eine traditionalistische Gesetzesreligion des blinden Gehorsams. Scharia soll als Moral und nicht als juristisches Gesetz verstanden werden. Insbesondere die Theologie des Wahhabismus, die den Islam heute immer mehr beherrscht, wird ausführlich und scharf kritisiert. Khorchide argumentiert nicht nur überzeugend, er liefert auch viele interessante Informationen.

Kritik 1: Reform ohne Strukturen

Khorchide glaubt an einen Islam, der keine Autoritäten mehr kennt. Dieses Thema wird in diesem Buch nur gestreift, an anderer Stelle ist Khorchide da deutlicher. Ein solcher Islam hat keine Struktur mehr, und das ist ein Problem: Es fehlt das Verbindende, der Zusammenhalt, die Einheit in der Vielfalt.

Außerdem ist der Reform-Schritt von autoritären Strukturen hin zu gar keinen Strukturen utopisch. Denn so sind die Menschen nicht. Menschen brauchen Orientierung. Autoritäten, die natürlich nicht autoritär sein sollten, sondern Orientierung geben, werden immer wichtig sein. Die Menschen werden sich immer Autoritäten suchen. Da wäre es doch klug, wenn man die Etablierung von Autoritäten aktiv regeln würde, statt den Kopf in den Sand zu stecken.

Kritik 2: Reform ohne Konservativismus?

Khorchide zeigt an manchen Stellen Tendenzen zu einem postmodernen, linksliberalen Verständnis von Religion und Islam. Es gibt praktisch gar keine feststehenden Gebote mehr, die dem Gläubigen Gerüst und Geländer sind. Die Bürde, seinen Weg mit Gott zu gehen, wird komplett dem einzelnen Gläubigen aufgelastet. Das ist utopisch.

Eine ausformulierte islamische Moral ist wichtig: Zum einen, um grundlegende Orientierung zu geben. Moral wird von Kindesbeinen an eingeübt. Zum anderen aber auch, um klare Kontrapunkte gegen traditionalistische Irrlehren zu setzen. Eine bloß implizite Ablehnung traditionalistischer Lehren reicht nicht, obwohl dem gebildeten Leser durchaus deutlich wird, was Khorchide will. Es muss klar ausgesprochen werden: Männer und Frauen haben wirklich dieselben Rechte, nicht nur „gleiche, aber verschiedene“ Rechte; das Kopftuch ist mitnichten Pflicht; die Gebete müssen nicht gegen alle praktischen Erwägungen punktgenau fünf Mal am Tag durchgeführt werden; Alhohol ist nicht per se „giftig“, sondern es geht um die Vermeidung des Rausches; usw. usf.

Khorchides Reformtheologie ist grundsätzlich auch für einen modernen Konservativismus – vergleichbar zum Ratzinger-Katholizismus – offen. Das ist gut so, denn für traditionalistische Muslime wäre der Schritt vom Traditionalismus hin zu einem progressiven Verständnis von Islam zu weit und deshalb wenig attraktiv. Es ist viel realistischer, dass Muslime den Schritt vom Traditionalismus hin zu einem modernen Konservativismus tun. Khorchide selbst allerdings tendiert klar zu einem allzu liberalen Islamverständnis. Dass Gott nach den Schriften auch (auch!) ein zorniger und strafender Gott sein kann, will er radikal nicht gelten lassen (S. 145).

Zwischenfazit

Man könnte sagen: Khorchide hat eine wohlkonstruierte Reformtheologie entwickelt, aber Khorchide scheitert an deren Implementierung ins Leben der Gläubigen. Ohne Imame, Religionsgelehrte, Moscheen usw., ohne Autorität, Organisation und ohne ausformulierte Lehre wird eine Reform sich nicht durchsetzen können gegen die starken Strukturen des Traditionalismus. Dass es bereits zahlreiche traditionalistische Verbände und Strukturen des Islam bei uns gibt, und wie sich ein Muslim gegenüber diesen Verbänden verhalten soll, wenn er die Ideen von Khorchide übernimmt, dazu sagt Khorchide leider nichts. Das ist zu wenig.

Kritik 3: Wunsch nach naivem Sich-Öffnen gegenüber Islam

Einen grundlegenden Fehler begeht Khorchide, wenn er von der westlichen Welt erwartet, dass sie sich vorbehaltlos gegenüber dem Islam öffnet und vorbehaltlos auf Muslime zugeht (S. 191 f.). Da der Islam von Strömungen beherrscht wird, die keinesfalls der Reformtheologie von Khorchide entsprechen, wäre eine solche Offenheit naiv und selbstzerstörerisch. Khorchide will den Islam glaubwürdig reformieren, aber er kann nicht gleichzeitig den Islam und die Muslime pauschal in Schutz nehmen wollen. Hier muss er sich entscheiden.

Offenbar denkt Khorchide noch in den Kategorien früherer Zeiten, als Muslime noch eine kleine Minderheit waren, die sich der westlichen Welt gegenüber schon von selbst öffnen würden, wenn sich nur die westliche Welt ihnen gegenüber öffnen würde. Doch über diesen Punkt sind wird längst hinaus: Muslime sind keine kleine Minderheit mehr, und traditionalistische und islamistische Strukturen sind fest etabliert. Da ist kein Platz mehr für Naivität und ein pauschales Sich-Öffnen.

Sonstige Kritik

Die Gesellschaft der westlichen Welt bzw. die Leser werden immer als Muslime und Christen angesprochen. Nichtreligiöse Menschen oder z.B. Buddhisten kommen nicht vor. Das ist zu eng geführt.

Khorchide meint, dass Christen und Muslime Bibel und Koran als ihre „eigenen“ Bücher wahrnehmen sollten (S. 63). Das funktioniert aber nur für Muslime. Christen können den Koran vielleicht als Buch mit einigen Weisheiten ansehen, aber sie können den Koran nicht als „eigenes“ oder „heiliges“ Buch anerkennen. Das wäre zu viel verlangt.

Khorchide beruft sich an einigen wenigen Stellen positiv auf den Islamwissenschaftler Mathias Rohe und auf Tariq Ramadan. Rohe ist ein unverbesserlicher Islamversteher und Optimist, was die Integration des Islam in der westlichen Welt anbelangt. Rohe meinte u.a., dass es überhaupt kein Problem sei, Teile der Scharia in das westliche Rechtssystem zu integrieren. Da Khorchide die Scharia gerade nicht juristisch verstanden wissen will, darf gefragt werden, ob Rohe in diesem Zusammenhang überhaupt zitierfähig ist. – Tariq Ramadan ist eine schillernde Figur, die man wohl eher als Pseudo-Reformer einstufen muss. Tariq Ramadan redet viel von Modernität und Veränderung, aber den traditionalistischen Islam möchte er im Kern unverändert erhalten. Auch Tariq Ramadan ist im Zusammenhang mit Khorchides Reformanliegen nur begrenzt zitierfähig.

Fazit

Khorchide ist ein echter Reformer, der unsere Unterstützung im Grundsatz verdient. Er ist aber kein Luther, der die Reform wirklich ins Leben der Muslime zu bringen und durchzusetzen vermag. Und wo Khorchide zu optimistisch ist bezüglich der Reformierbarkeit des Islam, darf man sich von seinem naiven Enthusiasmus nicht mitreißen lassen: Eine Islamreform wird auf absehbare Zeit die Sache einer (anerkennenswerten) Minderheit bleiben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. März 2016)

Bram Stoker: Dracula (1897)

Ein unverdienter Klassiker – Emanzipation als unerwartetes Hauptthema

Für gewöhnlich verbindet man mit dem Wort „Klassiker“ ein Werk, das die Leser durch seine literarische Qualität und durch die darin transportierte Weisheit über mehr als ein Jahrhundert zu überzeugen vermag. Nicht so bei Bram Stokers „Dracula“. Dieses Buch ist allein deshalb von Bedeutung, weil es für die Ausbildung des Vampir-Genres von großer Bedeutung war und auf diese Weise zu einem Klassiker wurde. Der Leser verfolgt also mit Interesse, welche Unterschiede es zwischen diesem Urbild aller Vampirgeschichten und den ihm bekannten Vampirgeschichten gibt.

Der größte Unterschied ist sicher, dass Dracula nicht in Transsylvanien bleibt, sondern nach London kommt, und dort mitten in der modernen Stadt sein Unwesen treibt. Der Roman betont auch sonst die Moderne: Tagebücher werden z.B. auf Phonographen aufgenommen oder auf Reiseschreibmaschinen geschrieben. Bluttransfusionen werden vorgenommen. Man fährt sogar schon Untergrundbahn in London. Am Ende flieht Dracula zurück nach Transsylvanien und wird kurz vor Erreichen seines Schlosses zur Strecke gebracht. Verfolgt wird er mit der Eisenbahn und mit einem Dampfschiff, bewaffnet mit geweihten Hostien und modernen Winchester-Gewehren. Die „Bluttaufe“ von Mina Harker, d.h. das erzwungene Trinken von Blut aus den Adern des Vampirs, erinnert an Harry Potter, der in sich ein Element seines großen Gegenspielers Voldemort trägt. In der Trance der Hypnose kann Mina Harker deshalb in das Denken des Vampirs eindringen, ganz wie bei Harry Potter. Heutige Vampirgeschichten haben nichts mehr davon.

Literarisch ist das Buch nur von mäßiger Qualität. Insbesondere die erste Hälfte des Romans zeichnet sich dadurch aus, dass Doktor van Helsing unglaublich lange braucht, um den anderen Protagonisten zu verkünden, dass die seltsamen Phänomene, denen sie gegenüberstehen, auf Vampirismus zurückzuführen sind. Mindestens fünfmal wird Lucy Westenraa durch Bluttransfusion oder Abschirmung gerettet und dann doch wieder ausgesaugt, bis sie endlich tot ist, aber die Ursache für ihre seltsame Krankheit bleibt die ganze Zeit über ungenannt. Der Leser wird allzu sehr auf die Folter gespannt. Erst in der zweiten Hälfte des Buches nimmt die Erzählung angenehm Fahrt auf. Sehr befremdlich auch, dass alle Frauen und Männer in diesem Roman die besten und die edelsten Frauen und die tapfersten und die verlässlichsten Männer sind. Das versichert insbesondere Doktor van Helsing jedem, dem er begegnet, und bietet ihm auch sogleich seine unverbrüchliche Freundschaft an. Dieser Stil kann nur teilweise mit den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts entschuldigt werden. Dementsprechend sind die Charaktere allzu flach.

Immerhin: Obwohl die Männer das ganze Buch über ständig dabei sind, verletzliche Frauen vor Gefahren zu schützen und zu retten, stellt sich regelmäßig heraus, dass die Frauen den Männern in nichts nachstehen. Insbesondere mit typischen Sekretärstätigkeiten (Schreibmaschine schreiben, Fahrpläne studieren, usw.), die Ende des 19. Jahrhunderts vielen Frauen den Weg ins Berufsleben bahnten, unterstützt Mina Harker die Vampirjagd ganz maßgeblich, und während die Männer ohne Mina Harker auf Vampirjagd gehen und sie zuhause zurück lassen, um sie zu schonen, wird sie genau dort zum Opfer des Vampirs.

Weisheiten hat das Buch kaum zu bieten, außer ein paar Lebensweisheiten am Rande, wie sie in jedem Groschenroman zu finden sind. Es stellt sich überhaupt die Frage, was die Geschichte sagen will. Für welche menschliche Realität sind Vampire eine Chiffre? Es lässt sich nichts vorstellen. Der Kontrast zwischen Moderne und realisiertem Aberglauben fällt auf. Ob das ein Hinweis darauf sein soll, dass die Moderne die Vergangenheit nicht völlig abräumen kann? Es wäre ein allzu grobschlächtiger, geradezu kindischer Hinweis. Nein.

Vielleicht muss man für eine Deutung in die Niederungen der menschlichen Begierde hinabsteigen. Die Begehrlichkeit der Vampire wird regelmäßig erotisch konnotiert, ebenso die Schönheit der weiblichen Vampire. Und Graf Dracula hat es offenbar immer nur auf junge Frauen abgesehen. Die jungen Frauen verfallen dem Vampir in einer Art Hypnose und lassen sich willig aussaugen. Hinterher können sie sich an nichts mehr erinnern und sind verwirrt. Eine unbekannte Krankheit hat sie befallen, die sie schrittweise in einen von wollüstiger Blutbegierde getriebenen Vampir verwandelt. Im Kontrast dazu werden Beziehungen zwischen edlen Männern und Frauen von höchst niveauvoller Art vor Augen geführt, in auffällig übertriebener Weise. Nicht zuletzt erweist sich Mina Harker als eine moderne Frau, die den Männern in nichts nachsteht.

Soll das Buch eine Mahnung und Warnung vor allem an die Adresse junger Frauen sein, die Ende des 19. Jahrhunderts immer selbstbewusster und selbständiger werden, damit sie „edle“ Beziehungen schätzen lernen und sich nicht von bloßer Erotik leiten lassen, die sie „krank“ macht und ihr Leben „aussaugt“? Möglich. Gut möglich. Das wird es sein. Aber auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Roman nur flach und grotesk. Immerhin ist eine gute Absicht erkennbar.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. März 2023)

Melanie Amann: Angst für Deutschland – Die Wahrheit über die AfD: wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert (2017)

Demokratie-blinde Analyse der (leider) rechtsradikal gewordenen AfD

Melanie Amann hat zwar Recht: Die AfD (von heute) ist eine rechtsradikale Partei. Aber man kann die AfD nicht korrekt analysieren, ohne gleichzeitig den bedenklichen Zustand der BRD-Demokratie zu analysieren.

Der Gründungsimpuls der AfD war keineswegs Sarrazin. Der Gründungsimpuls der AfD war der Bruch von Staatsverträgen, Verfassung und Gesetzen durch die Merkel-Regierung, in „alternativloser“ Komplizenschaft mit den anderen etablierten Parteien, um den Euro zu „retten“. Unsere Demokratie war durch die „alternativlose“ Ununterscheidbarkeit der etablierten Parteien in immer mehr Politikfeldern schon davor in einer Krise, aber durch den formalen Bruch der demokratischen Grundregeln hatte unsere Demokratie nun einen echten Hau abbekommen: Und genau das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, genau das war der Gründungsimpuls, der Bernd Lucke und andere völlig seriöse Menschen zusammenbrachte, um die AfD zu gründen. Als liberal-konservative Partei.

Erst im Laufe der Zeit ist die AfD immer rechter geworden, bis sie schließlich die Grenzen zum Rechtsradikalismus überschritten hat (meiner Meinung nach war das im Sommer 2016, und nicht schon mit dem Abgang von Lucke). Heute schafft es die AfD nicht mehr, sich glaubwürdig von Antisemitismus abzugrenzen. Björn Höcke hält Reden im unverhohlenen Hitler-Duktus.

Und was den Islam anbetrifft, so ist die AfD schon längst von den Weisheiten Sarrazins abgewichen, der in seinem berühmten Buch auf S. 268 den folgenden klugen Satz schrieb: „Liberale Muslime wehren sich dagegen, ‚dem Islam‘ als solchem bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und damit haben sie Recht. … Leider ist aber nicht zu bestreiten, dass unter den vielen teils uneindeutigen, teils widersprüchlichen Strömungen des Islam ein Gesellschaftsbild dominiert, bei dem die Trennung von Religion und Staat weitgehend noch nicht angekommen ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter kaum existiert“. — Anders als Sarrazin lehnt die AfD von heute den Islam pauschal und radikal ab, und hat die die Solidarität mit Islamreformern aus ihrem Programm herausgestrichen. [PS 30.07.2023: Zum Islam hat Björn Höckes AfD-Fraktion im Thüringer Landtag Mitte 2016 eine Schrift veröffentlicht, die eine antihumanistische Haltung zum Thema Islam formuliert. Der Islam sei inhärent traditionalistisch, denn die „säkularen“ Ideen von Vernunft und Aufklärung könnten auf den Islam angeblich nicht angewandt werden. In islamischen Ländern habe der Islam seinen guten Platz, nur nach Europa gehöre er nicht. Auf dieser ideologischen Grundlage kann die AfD mit islamischen Traditionalisten und Islamisten weltweit kooperieren, während sie Islamreformer grundsätzlich ablehnt und auch keinen liberalen Islam in Deutschland möchte.]

Die AfD ist heute also rechtsradikal und damit abgehakt.

Die fundamentalen Probleme der BRD-Demokratie sind damit aber noch lange nicht abgehakt. Unsere etablierten Parteien brechen immer noch Staatsverträge, Verfassung und Gesetze. Unsere etablierten Parteien vertreten in vielen Politikfeldern immer noch eine derart einheitliche Meinung, dass andersdenkende Bürger praktisch keine Wahl bei der Wahl haben. Wer darin keine ernsthaften, fundamentalen und über kurz oder lang auch gefährlichen Probleme sieht, darf sich nicht Demokrat nennen.

Melanie Amann hat das falsche Buch geschrieben. Hier geht es schon lange nicht mehr um die AfD. Hier geht es schlicht um das Überleben der Demokratie in unserem Land. Aber dazu hat Melanie Amann nichts zu bieten. Und ja: Ich habe Angst davor in einem Land zu leben, das keine Demokratie mehr ist. Echte, berechtigte Angst.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15.04.2017)

Martin Walser: Mein Jenseits – Novelle (2010)

Kein Jenseits, kein Glaube, sondern nur die üblichen inneren Kämpfe

Die Handlung des Büchleins ist kurz erzählt. Es geht um Augustin Feinlein, der einst verliebt und verlobt war mit Eva Maria. Doch dann wurde ihm die Freundin von einem Bekannten (Wagner-Fan, NS-Familie mit Schloss) im Handstreich ausgespannt und vor der Nase weggeheiratet. Eva Maria schreibt ihm dann noch Postkarten: „in Liebe“. Später dann, als Feinlein Direktor des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Scherblingen war, heiratete Eva Maria zum zweiten Mal, aber wieder nicht ihn, sondern ausgerechnet Dr. Bruderhofer, einen Arzt am selben Krankenhaus, der Augustin Feinlein als Direktor beerben möchte und Schritt für Schritt gegen ihn arbeitet. So macht sich Dr. Bruderhofer lustig über die Reliquienforschung von Feinlein. Als Maßnahme gegen Dr. Bruderhofer (verwirrt im inneren Kampf) stiehlt Feinlein eine Reliquie, wird überführt, und überlässt Dr. Bruderhofer, entlarvt als verwirrter alter Mann, schließlich seinen Posten: Die Niederlage ist komplett.

Wie bei Martin Walser üblich geht es um die inneren Kämpfe, die der Protagonist gegen einen Kontrahenten führt, dem er hoffnungslos unterlegen ist. Der Kampf findet kaum auf der Handlungsebene statt, sondern vor allem im Inneren des Protagonisten, dem man beim Denken zusieht: Wie er sich ausmalt, was er alles gegen seinen Kontrahenten tun könnte, wie er sich seinem Kontrahenten gegenüberstellen könnte. Aber es bleibt fast alles Phantasie. Und es geht um die innere Einstellung zum aussichtslosen Kampf, um die Interpretation einer Niederlage als insgeheimem Sieg, um das Schönreden von Verlust als bereichernder Entsagung. Am Ende bleibt dennoch die Erkenntnis, dass man sich was vormacht. Auf der praktischen Ebene bleibt nur eine hilflose, symbolische Handlung übrig, mit der sich der Protagonist vollends lächerlich macht.

Im Hintergrund dieses Büchleins schwelt die Ur-Niederlage, dass Feinlein für Eva Maria nicht als Mann infrage kommt. Dass er tun und sein kann, was er will, und dennoch nicht infrage kommt. Andere hingegen schon. Schließlich stürzt er sich in den selbstbetrügerischen Glauben an die Wahrheit von Eva Marias Postkarten-Floskel: „in Liebe“. Dieses Thema wird ständig mit den anderen Konflikten und Themen verschränkt. Aber auch solches kennen wir aus anderen Werken.

Ganz neu ist in diesem Buch vielleicht der Aspekt des Glaubens. Der Glaube als Helfer in der Not, in der Not der Ausweglosigkeit und der hoffnungslosen Niederlage. So wird der Glaube für die Vorfahren beschrieben, so nimmt der Protagonist auch den Glauben für sich in Anspruch. So wird auch der Glaube an die Reliquien verhandelt: Es gehe nicht darum, dass die Reliquie echt sei, sondern dass der Glaube echt sei. So findet z.B. auch der alljährliche Blutritt statt, obwohl die Reliquie gestohlen ist – niemand merkt es, die Kirche nimmt einfach eine ähnlich aussehende Monstranz. Glaube heiße, sich die Welt so schön zu machen, wie sie nicht ist. Hier dichtet Walser sogar einen eigenen Psalm der selbstbetrügerischen Hoffnung (S. 113 f.). Aber am Ende wird man durch das „Unerklärliche“ doch völlig zurückgewiesen und alleingelassen. Das Unerklärliche: Gemeint ist nicht Gott, sondern dass er, Feinlein, für Eva Maria nicht infrage kam. Damit war sein Leben aus den Angeln gehoben und seine Existenz gescheitert. Unerklärlich. Endgültig. Kafkaesk. „Ich ging immer an einer Wand entlang, die würde aufhören, dann begänne das Leben, die volle Berührung. Das war ein Irrtum. Die Wand war das Leben.“

Es handelt sich natürlich um eine völlig unterbelichtete Sichtweise auf den Glauben. Am Anfang denkt man noch, es gehe darum, dem Unerklärlichen vorsichtig nachzuspüren, dem Glauben einen gewissen Raum zu geben. Auch um nostalgischen Katholizismus scheint es anfangs zu gehen, der in katholischen Symbolen, Ritualen und Kirchenräumen Kontakt zu einem wie auch immer gearteten „Jenseits“ bekommt. In Rom geht Feinlein immer in die Augustinus-Kirche und betrachtet dort ein Madonnenbild von Caravaggio. In Scherblingen sitzt er gerne in der Kirche und genießt die Atmosphäre. Doch im Laufe der Geschichte wird klar, dass es überhaupt nicht um Glaube und Jenseits geht, sondern um eine schnöde Indienstnahme des Glaubens als irrationale Ausflucht und gewissermaßen „Opium des Volkes“ vor der schrecklichen Welt. Mehr nicht. Der selbstbetrügerische Glaube an das Gute im Täter und in dem, was einem angetan wurde, wird hier zur höchsten Form der Niederlage. Dass es tatsächlich metaphysische Wahrheiten geben könnte, darum geht es in diesem Büchlein keine Sekunde lang. Im Gegenteil, es ist sogar regelrecht ausgeschlossen, denn nur dann ist die Ausweglosigkeit, in der sich Walser hier suhlt, wirklich völlig ausweglos.

Fazit:

Was die Kämpfe und Niederlagen anbelangt, ist es ein echter Walser, und man kann alles wie immer mit der eigenen Lebenserfahrung abgleichen, manches wiedererkennen, und so sein eigenes Scheitern besser verstehen und tragen. Was das Glaubensthema anbelangt, ist es unter Niveau und enttäuschend. Immerhin nimmt sich Walser auch ein klein wenig selbst auf die Schippe: Seine subtilen inneren Kämpfe und Befindlichkeiten wiesen ihn als „Luxustyp“ aus. Und am Anfang wird beschrieben, wie man im Dorf mit jemand umgeht, der „komisch“ wird. Das war’s dann aber auch. Kein wirklich gutes Buch. – Es soll sich übrigens um einen „ausgelagertes“ Kapitel des Romans „Muttersohn“ handeln, ein Versuchsballon, ob die Leser ein „Glaubensbuch“ von Walser akzeptieren würden. Nun, es ist ja gar kein Glaubensbuch. Es tut nur so.

Bewertung: 3 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 2. Oktober 2020)

Saša Stanišić: Herkunft (2019)

Idealistischer Romantiker verstrickt sich tragisch-wunderbar in seiner Herkunft

In diesem Buch arbeitet sich Sasa Stanisic an der Herkunft seiner Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien, ihrer Flucht nach Deutschland und seiner Integration in Deutschland ab. Er „arbeitet sich ab“, denn er versucht ein Ding namens „Herkunft“ zu fassen zu bekommen, mit dem er eigentlich nicht viel anfangen kann. Für ihn ist Herkunft rein zufällig. Herkunft sei ein übergestülptes Kostüm und hätte nichts mit Eigenschaften und Talenten zu tun (S. 32, 284). Er wehrt sich gegen die Fetischisierung von Herkunft (S. 221). Herkunft wird in diesem Buch zum lächerlichen Nostalgiekitsch (S. 34), oder zum bösen Nationalismus, wo die Bilder von Kriegsverbrechern auf Häkeldeckchen in der Vitrine stehen (S. 49).

Und doch hat Sasa Stanisic ein ganzes Buch über Herkunft geschrieben. Wie das?

Zunächst: Gefunden hat Sasa Stanisic seine Herkunft vor allem in Menschen (Vgl. S. 64): Das ganze Buch zeichnet immer wieder größere und kleinere Portraits wunderbarer Menschen. Allen voran seine Großmutter, aber auch seine Eltern und andere Verwandte, seine Freunde von der Aral-Tankstelle, wo er über Rollenspiele zum Erzählen und zur Literatur fand, die gebildeten Eltern seines Freundes Rahim, diverse Lehrer, ein serbischer Kellner, oder auch sein Zahnarzt mit dem sprechenden Namen Dr. Heimat. In Menschen – und in den Sprachen – hat Sasa Stanisic seine Herkunft und seine Heimat gefunden. Diese literarischen Portraits von Menschen sind es, die dieses Buch lesenswert machen. Dass Sasa Stanisic unfreiwillig noch viel mehr gefunden hat, dazu gleich mehr.

Die Sprache von Sasa Stanisic ist sehr modern und sehr direkt. Teilweise experimentiert er mit Sprachformen der Zeit, wie WhatsApp oder Soziolekt. Das letzte Kapitel ist sogar wie ein FantasyAbenteuerSpielBuch gestaltet. Der Erzählstrang ist sehr sprunghaft und assoziativ. Dadurch bauen sich Pointen oft sehr überraschend und witzig auf. Viele Pointen enden allerdings in einem recht trockenen Sarkasmus. Sasa Stanisic ist ein großer Beobachter. Er beschreibt viel lieber, als darauf aufbauend theoretische Gedanken zu entwickeln.

Rührend und treffend ist die Einbeziehung von Flucht, Vertreibung und Spätaussiedlung aus dem deutschen Osten, namentlich Schlesien und Danzig (S. 162, 165 f., 177).

Kritik

Sasa Stanisic ist ein Idealist reinsten Wassers. Er ist definitiv ein guter Mensch, jemand, dem man jenseits aller Meinungsverschiedenheiten jederzeit seinen Geldbeutel oder auch sein Leben anvertrauen könnte, jemand, dem es nicht egal ist, wenn Böses geschieht. Stanisic geht es um die Menschheit. Sein verlorener Traum ist das Zusammenleben der verschiedenen Völker im ehemaligen Jugoslawien. Nichts davon ist falsch. Und dennoch ist so vieles daran so unglaublich falsch.

Das Grundproblem von Sasa Stanisic ist sein ungeläuterter Idealismus. Ideale sind schön und gut, aber die Realität sieht oft anders aus. Es bedarf einer Übersetzung in die Realität. Einer Abstufung der Ideale. Einer realistischen Sicht auf die Dinge. Und beim Blick in die Realität würde man vielleicht auch manches Ideal entdecken, das man bisher übersehen oder gar verachtet hatte.

Beginnen wir mit Jugoslawien. Die Verklärung von Jugoslawien als einem multiethnischen Paradies geht in diesem Buch – trotz einer kurz eingeschobenen Kritik (S. 93, 96) – entschieden zu weit (S. 14, 93 f., 102). Jeder weiß doch, wie das in solchen multiethnischen Ländern läuft: Eine Volksgruppe gibt den Ton an, die anderen leiden. In diesem Fall gaben die Serben den Ton an. Das Bestreben der Völker, sich von Serbien abzulösen, kam doch nicht aus dem Nichts! Diese Menschen hatten bittere Erfahrungen gemacht, die in diesem Buch leider nicht vorkommen. In rücksichtsloser Multikulti-Manier wischt Sasa Stanisic die Existenz von verschiedenen Nationen, Völkern und Kulturen in Jugoslawien beiseite: Auf dem Balkan seien doch alle Völker mal durchgekommen, nichts sei so multikulturell wie der Balkan, meint er flapsig (S. 99 f.). Dass er mit diesem historischen Relativismus auf der gegenwärtigen Identität von Menschen herumtrampelt, ist ihm offenbar nicht klar.

Dass Sasa Stanisic den Begriff „nationale Interessen“ verachtet (S. 64), spricht Bände. Denn auch in der besten Demokratie vertreten die Politiker natürlich die Interessen ihres Wahlkreises oder ihres Bundeslandes! So funktioniert die Welt nun einmal. Kommt denn in dem Eid der jugoslawischen Pioniere, den Sasa Stanisic wohlwollend zitiert (S. 93), nicht auch das Wörtlein „selbstverwaltet“ vor? Aha! An nationalen Interessen ist nichts falsches, solange sie nicht in Nationalismus überschlagen. Es ist völlig legitim, erst einmal Selbstbestimmung erlangen zu wollen, bevor man sich dann – auf Augenhöhe – vielleicht wieder zusammenschließt, z.B. in der EU. Sehr vorbildlich, nämlich völlig friedlich, haben sich z.B. Tschechien und die Slowakei voneinander getrennt, und beide sind heute in der EU.

Sasa Stanisic kann von jedem Spieler der jugoslawischen Nationalmannschaft die Volkszugehörigkeit nennen (S. 14). Ein „melting pot“, den er selbst hier sehen will, sähe anders aus. Es erinnert an den Witz, in dem der Generalsekretär der KPdSU den US-Präsidenten fragt: „Im Moskauer Staatsorchester gibt es drei jüdische Geiger, zwei jüdische Trompeter usw., also können wir keine Antisemiten sein! Und wieviele Juden gibt es im New York Philharmonic Orchestra?“, worauf der US-Präsident die geniale Antwort gibt: „I don’t know!“ – Auch bei seinen Freunden von der Aral-Tankstelle kennt Stanisic die Herkunft von jedem einzelnen sehr genau. Sie war wohl doch nicht egal.

Ganz unfreiwillig gibt Sasa Stanisic auch zu, dass Herkunft auch ein Ort sein kann, sogar ein kultureller Raum. Also ein Ort, der sich durch die dort vorherrschende Kultur definiert. Denn genau das war das ehemalige Jugoslawien bzw. das war sein Heimatort Visegrad. Diese Orte gibt es heute noch, aber die Kultur, die damals dort herrschte, ist verloren. Die Kultur des ehemaligen Jugoslawien war zwar – wie schon gesagt – eine fragile und unehrliche Kultur; der Punkt ist aber, dass Sasa Stanisic diesem verlorenen kulturellen Raum definitiv nachtrauert, und damit unfreiwillig zugibt, dass kulturelle Räume Herkunft und Heimat sein können. Man verletzt Menschen, wenn man ihnen ihren kulturellen Raum wegnimmt und zerstört. Da kann Stanisic seine Großmutter noch so lange sagen lassen „Es zählt nicht, wo was ist.“ (S. 337) Es zählt eben teilweise doch: Manche Dinge können nur an bestimmten Orten geschehen.

Das gilt nicht nur für den Kulturraum einer einzelnen Kultur, sondern auch für die friedliche Begegnung verschiedener Kulturen an einem Ort. Denn ohne die entsprechenden Rahmenbedingungen geht weder das eine noch das andere. Meistens ist es ja so, dass Orte, an denen sich verschiedene Kulturen friedlich begegnen, in Wahrheit durch eine Monokultur eingerahmt sind. Das trifft z.B. bei den multikulturellen Metropolen der Welt zu: Ob New York oder Frankfurt am Main, ohne die Einrahmung in die jeweilige Nationalkultur würden diese Orte sofort in unverbundene Parallelgesellschaften zerfallen, die sich im Extremfall auch bekriegen würden, Stadtviertel um Stadtviertel, Häuserzug um Häuserzug. Sasa Stanisics Idee, dass für das Zusammenleben der kleinste gemeinsame Nenner genüge (S. 222) ist grober, idealistischer Unfug. Das funktioniert nur für Touristen und Gastarbeiter auf Zeit ohne Familie. Auch seine Klage, dass man bei den Vilen (Wilen, weibliche Naturgeister) nur nach deren Sinn integriert ist, nämlich weder gleichberechtigt noch frei (S. 353), zeugt von utopischem Multikulti-Denken. Die Gesellschaft fordert von jedem Anpassung. Auch „Urdeutsche“ sind in der deutschen Gesellschaft nicht gleichberechtigt und frei, wenn sie vom Mainstream abweichen.

Ganz unfreiwillig gibt Sasa Stanisic auch zu, dass Herkunft eben doch Einfluss auf unsere Eigenschaften und Talente hat. Die Erzählkunst soll er von seinem Großvater haben (S. 87 f.). Die Angst vor Schlangen hat er von seinem Vater geerbt (S. 339). Am Ende dankt Sasa Stanisic seinen Eltern, Großeltern, Freunden: Wofür, wenn er von ihnen nichts bekommen hat? (S. 363) – Die Idee des „blank slate“, der Sasa Stanisic in diesem Buch frönt, ist genauso falsch wie die Idee, dass ein Mensch qua Geburt völlig festgelegt wäre. Den richtigen Weg zwischen den Extremen hat Sasa Stanisic noch nicht gefunden. Die Frage ist auch, warum Sasa Stanisic an der nichtdeutschen Schreibweise seines Namens festhält. Bedeutet sie ihm am Ende doch etwas?

Auch Religion sieht Sasa Stanisic extrem einseitig (S. 117, 120, 211 f.). Sie spielt im Grunde immer die Rolle des Bösen. Das kam auch in seiner Dankesrede zum Deutschen Buchpreis heraus, als er sarkastisch anmerkte, dass die katholische Kirche Peter Handke schon zum Literaturnobelpreis gratuliert habe. Aber könnte man das nicht auch als eine Geste der Versöhnung sehen? Immerhin sympathisierte die katholische Kirche mit den katholischen Kroaten, während Handke mit den orthodoxen Serben sympathisierte. Wie sieht Stanisic eigentlich die historische Rolle des katholischen Humanisten Erasmus von Rotterdam, oder des islamischen Humanisten Averroes? Und wie sieht Stanisic die Rolle des Katholiken de Gaulle und des Katholiken Adenauer, die sich in der Kathedrale von Reims trafen, um die deutsch-französische Freundschaft zu besiegeln, und damit den Grundstein für die EU zu legen? Diese radikale Ablehnung von Religion ist nicht nur historisch und philosophisch falsch, sondern auch extrem unrealistisch und politisch völlig unklug. Man kann Religion besser oder schlechter machen, man kann sie aber nicht einfach abschaffen. Dass Sasa Stanisic am Ende nicht selbst das Kreuz zur Beerdigung seiner Großmutter trug, ist hingegen sehr verstehbar: Das ist seine ganz persönliche Entscheidung (S. 331, 360).

Sasa Stanisic zeigt sich offen linksradikal: Er zitiert Karl Marx mehrfach und lässt die Zitate unkommentiert stehen, was ohne Zweifel Zustimmung zum Ausdruck bringt. So z.B., dass Religion der Geist geistloser Zustände sei, oder dass Arbeiter kein Vaterland hätten, oder dass Karl Marx gute Ideen gehabt hätte; alles ohne jede Einschränkung dem Leser präsentiert (S. 120, 176). Bei Wahlen stört ihn nur, dass die AfD gute Werte erzielt, aber dass die SED-Nachfolgepartei ebenfalls gute Werte erzielt, stört ihn offenbar nicht (S. 102). Schließlich kritisiert Stanisic den Satz von Czaja: „Antifaschisten sind auch Faschisten“ (S. 142). Zugegeben: Vor „Antifaschisten“ hätte das Wörtlein „sogenannte“ gehört, um den Satz wirklich korrekt zu machen. Aber Sasa Stanisic weiß natürlich auch so, wie Czaja es meinte. Wenn Sasa Stanisic wirklich glaubt, dass die Antifa antifaschistisch ist, dann glaubt er auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.

Unfreiwillig zeigt Stanisic das Scheitern der deutschen Integrationspolitik (z.B. S. 132, 151): Die in großer Zahl ins Land kommenden Ausländer werden erst einmal in ein Ausländerviertel abgeschoben. Sowas gibt es also auch im schönen Heidelberg. Nach einer Schule, auf der es überhaupt nur Ausländer gab, ging er dann auf die „Internationale Gesamtschule Heidelberg“. Die Unehrlichkeit des Systems zeigt sich in dem euphemistischischen Namen der Schule: Bei „international“ denkt man an eine Privatschule, wo die Kinder von Gastprofessoren, ausländischen Managern und den oberen Zehntausend von Heidelberg unterrichtet werden. Es ist aber nur die Schule vom Viertel. In manchen Klassen seien die Deutschen in der Minderheit gewesen. Stanisic meint, das sei sicher eine gute Erfahrung, auch mal in der Minderheit zu sein. Was es bedeutet, im eigenen Land ungefragt in die Minderheit zu geraten, reflektiert er nicht.

Grenzen hält Sasa Stanisic offenbar für überflüssig. Jedenfalls meint er, dass er Grenzen nichts verdanke (S. 217). Was für ein Unsinn! Denn warum flüchtet ein Flüchtling über eine Grenze, wenn sie keine Bedeutung hätte? Die Grenze bietet Schutz, denn die Verfolgung endet an der Grenze. Irgendwie hat Stanisic nicht verstanden, dass Grenzen einen geschützten Raum konstituieren. Er meint auch, dass seine Flucht aus Jugoslawien heute an einem ungarischen Grenzzaun enden würde (S. 123). Auch das ist falsch. Damals kamen in 2-3 Jahren rund 350000 zumeist echte Bürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland. Das ist gar kein Vergleich zu den 1,5 Millionen Migranten von 2015, unter denen mehr Trittbrettfahrer als echte Flüchtlinge waren. Wieso hätte Ungarn damals die Grenzen schließen sollen? Die Situation war eine völlig andere! Wie man Horden junger Männer mit Smartphone und Designerklamotten in einen Topf werfen kann mit echten (Bürger-)kriegsflüchtlingen, nämlich eher Frauen und Kinder ohne Männer (wie meine schlesische Großmutter z.B.!), werde ich nie verstehen. Wieviel Energie zum Selbstbetrug muss jemand haben, um so zu denken? Stanisic übernimmt ja auch vorgegebene Sprachregelungen und redet konsequent von „Geflüchteten“, nicht von „Flüchtlingen“ (S. 125, 129, 152, 185, usw.). Man muss ja froh sein, dass Stanisic nicht mit Binnen-I schreibt.

Ganz im Stil der maßlos übersteigerten EU-Ideologie, mit der sich die EU tragischerweise gerade selbst zerstört, wettert Stanisic auch gegen die „Kleinstaaterei“ (S. 64). Haben kleinere Staaten nicht ihren eigenen Charme? Etwa die Schweiz? Oder Norwegen? Sind große Staaten nicht eher unpersönliche Machtblöcke ohne Individualität, denen jeder Charme fehlt?

Fazit

Sasa Stanisic ist literarisch und menschlich auf einem guten Weg. Er hat ein lesenswertes Denkmal für seine Herkunft aus Jugoslawien und seine Ankunft in Deutschland gesetzt. Auf tragisch-wunderbare Weise, denn manches an diesem Denkmal konterkariert, was er an anderer Stelle sagt. Leider ist Sasa Stanisic ein unaufgeklärter Idealist und politisch völlig auf dem Holzweg. Er steckt beim Thema Herkunft in einigen Selbstwidersprüchen fest, und er hat nicht verstanden, dass er die Dämonen selbst heraufbeschwört, die er so gerne bannen möchte. Er ist ein guter Beobachter, aber ein schlechter Denker.

Der Deutsche Buchpreis ging an dieses Buch, weil es den Zeitgeist der Eliten in Politik, Medien und Kultur traf, aber nicht, weil es ein Stachel im Fleisch wäre. Zu einem Stachel im Fleisch zu werden, dorthin muss Stanisic erst noch kommen. Man möchte ihm eine Midlife Crisis wünschen, in der er gegen das dumme öffentliche Geschwätz eine bessere Vereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit findet, in der er seine radikalen Einseitigkeiten zugunsten eines großen Sowohl-als-Auch fallen lässt.

Sasa Stanisic ist seit 2013 deutscher Staatsbürger, und mit Heidelberg-Romantik, Multikulti-Romantik und dem Romantiker Eichendorff steckt er mitten drin im deutschen Wald und Sumpf. Deutsch sein hieß aber schon immer auch, Wälder zu roden und Sümpfe trocken zu legen, um gutes Ackerland zu gewinnen, auf dem dann tausendfältige Frucht wachsen kann. Dazu muss man aber die Romantik fallen lassen, und sich für die Aufklärung öffnen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. November 2019)

Ralf Schuler: Generation Gleichschritt – Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde (2023)

Stark in der Beschreibung der Probleme, schwach in der Analyse

Ralf Schuler befasst sich in seinem Buch „Generation Gleichschritt“ mit der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass sich die Gesellschaft in unseren Tagen immer mehr „gleichschaltet“, obwohl wir doch mitten in einer Demokratie leben. Denn eigentlich ist es ja gar keine „Gleichschaltung“ im klassischen Sinn, sondern vielmehr eine Art Selbstgleichschaltung, ein Hineinsozialisieren der ganzen Gesellschaft oder doch wenigstens ihrer Eliten in kollektive Irrtümer. Der Autor nennt es „Gleichschritt“. Leider ist dabei am Ende doch nur ein typisches Journalisten-Buch ohne größeren Tiefgang herausgekommen und die Frage, wie es dazu kommen konnte, bleibt weitgehend unbeleuchtet.

Das Buch ist auf jeden Fall ein höchst taugliches Zeitdokument: Denn es werden nicht nur sämtliche wichtigen Anekdoten der letzten Jahre durchgesprochen, die als Symptome des Gleichschritts wahrgenommen werden konnten, sondern der Autor ist als Journalist in der Nähe von Angela Merkel auch selbst Zeitzeuge. Es werden auch durchaus Ansätze einer tieferen Analyse versucht. Aber sie bleiben in Ansätzen stecken. Im folgenden wollen wir eine tiefere Analyse versuchen, die in diesem Buch leider fehlt.

Der Gleichschritt ist schon lange mit uns

Ganz grundsätzlich muss bemerkt werden, dass der zu beobachtende Gleichschritt nicht neu ist. Im Gegenteil. Dieser Gleichschritt ist schon länger mit uns, als viele meinen. Diese klare Erkenntnis fehlt in diesem Buch.

Schon vor 1989 war z.B. der Gedanke an die deutsche Wiedervereinigung in Westdeutschland in ganz ähnlicher Weise verpönt. Viele hielten eine Wiedervereinigung für obsolet. Ein bekannter öffentlich-rechtlicher Moderator sagte: „Deutschland? Wir wollen doch Europa!“ Die Diktatur der DDR wurde verharmlost, es gab sogar ein gemeinsames Papier von SPD und SED, in dem die DDR als Demokratie bezeichnet wurde. Der Politologe Konrad Löw hat diesen Verrat der Freiheit allüberall in der westdeutschen Gesellschaft minutiös protokolliert. Später publizierten Hubertus Knabe u.a. die Stasi-Unterwanderung Westdeutschlands, soweit sie noch rekonstruiert werden konnte. Auch der spätere russische Präsident Vladimir Putin war damals Agentenführer für Agenten in Westdeutschland.

Wie heute ging es damals weit über das Politische hinaus. Es ging so weit, dass sogar westdeutsche Kalendermacher den gesetzlich gültigen Feiertag zum Gedenken an den Aufstand vom 17. Juni 1953 nicht mehr als „Tag der deutschen Einheit“, sondern nur noch als namenlosen Feiertag in ihren Kalendern abdruckten, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem Zeitgeist. Das kommt uns heute sehr bekannt vor. Schon damals wurde also eine wahnwitzige Idee gegen den Geist und den Buchstaben von Verfassung und Gesetzen gesellschaftlich penetrant.

Als dann mit dem Zusammenbruch des Ostblock-Kommunismus die Realität unerwartet hereinbrach, durfte die deutsche Einheit keinesfalls eine nationale Angelegenheit sein: Sie wurde nur als Vorstufe zur Vereinigung Europas akzeptiert, im Grunde nur lieblos geduldet und nie wirklich gutgeheißen. Geistig setzte man einfach die alte BRD fort. Seitdem hängt Deutschland im Geist der 80er der alten BRD fest. Noch immer dominieren Jürgen Habermas, Claudia Roth und Heiner Geißler (letzterer starb erst kürlich, 2017). Erst das erneute Hereinbrechen der Realität am Ende der Ära Merkel (pointiert durch den Ukrainekrieg) markiert wohl den Anfang vom Ende dieses Ungeistes.

Ein anderes Beispiel für frühen Wahnwitz war der Umstand, dass es in den 1990ern völlig angesagt war, den Wehrdienst zu verweigern. Wer den Wehrdienst bejahte, weil es gesetzlich vorgeschrieben war und aus Gründen der Wehrfähigkeit und Wehrgerechtigkeit Sinn machte, wurde als Depp betrachtet. Wer sich auf der Höhe der Zeit wähnte, verweigerte. Ganz klar. Wer doch zum Militär ging, rechtfertigte dies bei Strafe der sozialen Ächtung nicht mit dem guten Sinn der Wehrpflicht, sondern mit Ausreden: Dass z.B. der etwas längere Ersatzdienst nicht mit dem Termin des Studienbeginns zusammengepasst hätte. Oder dass der Verdienstausfall hier am geringsten war. Es wurden damals auch grundsätzlich alle Verweigerungen durchgewunken. Sogar per Postkarte konnte man verweigern. Der Staat selbst war es, der die Wehrpflicht gegen den Geist und den Buchstaben der Gesetze in eine Wahlfreiheit zwischen Wehr- und Ersatzdienst umwandelte. Bis heute glauben viele, dass sie tatsächlich diese Wahlfreiheit gehabt hätten. Das Bewusstsein von Gesetz und Pflicht sowie der Sinn für die Realitäten der Wehrnotwendigkeit und der Wehrgerechtigkeit im Ernstfall wurde für ganze Generationen korrumpiert. Unser Staat handelte also schon damals zeitgeistgeleitet und nicht gemäß den Gesetzen. Es ist nichts neues.

Als dann in den Jugoslawien-Kriegen Flüchtlinge kamen (oder waren es gar keine Flüchtlinge?) war ihre dauerhafte Aufnahme als Zuwanderer eine ausgemachte Sache. Hinterfragen war verboten. Nur böse Rechtsradikale taten das, hieß es. Damals spielten die rechtsradikalen „Republikaner“ die Rolle des Buhmanns, geführt von dem bräunlichen Schönhuber. Migranten wurden und werden grundsätzlich als potentiell diskriminierte Minderheit wahrgenommen, die vor jeder (!) Kritik zu schützen ist, so berechtigt sie auch sei. Dass Zuwanderung dazu führen könnte, dass die Gesellschaft kippt, liegt außerhalb des Vorstellungsvermögens dieses Zeitgeistes. So schrieb der Urgrüne Winfried Kretschmann noch 2018, dass es sich an der Veränderungsbereitschaft des Islam entscheide, ob dieser in unserer Gesellschaft mitspielen dürfe. Dass der Islam mitzuspielen anfängt, auch ohne dass man ihm dies „erlaubt“, kam ihm offenbar nicht in den Sinn.

Schon in den 1990ern begann man in gewissen Kreisen Gendersprache mit Binnen-I zu schreiben. Es wurde nicht weiter ernst genommen und durchgewunken: „Wir sind ja liberal!“, so hieß es. – Ebenfalls schon länger geistert in linken Kreisen die Vorstellung umher, dass Menschen sich allein aufgrund ihrer Umwelt zu dem entwickeln, was sie sind. Jeder könne Abitur machen! Im Jahr 2010 wurde Thilo Sarrazin für das simple Aussprechen der Tatsache, dass Intelligenz teilweise auch erblich ist, als Rassist verfemt. Der heutige Transgender-Hype ist qualitativ also nichts neues, es ist nur eine quantitative Steigerung desselben Wahnwitzes. Wenn sich die Intelligenz allein den Umwelteinflüssen verdankt, wieso dann nicht auch das Geschlecht?

Und dann der Antiamerikanismus. Die ganze deutsche Gesellschaft lachte über den „dummen Cowboy“ George W. Bush und seinen Irakkrieg. Die unglaublichsten Lügen wurden über den Irakkrieg und George W. Bush verbreitet und geglaubt, bis heute. Die Deutschen bemerkten gar nicht, dass sie sich mit Franzosen und Russen ausgerechnet mit den Hauptwaffenlieferanten von Saddam Hussein gegen die USA verbündeten, der seine Waffenlieferanten mit Ölizenzen bezahlt hatte. Es wird auch nicht zwischen der Politik verschiedener Präsidenten differenziert. Immer sind es „die“ Amerikaner. Die Irrtumsverstrickung der Deutschen ist in Sachen USA besonders groß.

Und dann der Antikapitalismus. Diese völlige ökonomische Unbedarftheit und Naivität vieler. Dieses ewig unsägliche Nichtbegreifen, dass unperfekte Zustände nicht das System an sich infrage stellen. Antikapitalisten fragen nie nach der Verbesserung des Systems und dem Schließen von Schlupflöchern, sondern immer nur nach der Überwindung des Systems. Ohne dass sie eine bessere Alternative benennen könnten. Sie sind Schwurbler und Realitätsleugner allesamt.

Und dann die katholische Kirche: Dass sie trotz Zweitem Vatikanischen Konzil immer noch rückständig wäre und sich gefälligst nach liberalistischen Gesichtspunkten radikal zu reformieren hätte, galt überall als gesetzt. Als die Nachricht, dass mit dem konservativen Reformtheologen Ratzinger ein Deutscher zum Papst gewählt worden war, in eine deutsche Talkshow platzte, gab es betretene Gesichter. Nur ein anwesender Ostdeutscher freute sich spontan, wie man es von vernünftigen Menschen hätte erwarten können. Ein sehr bezeichnender Moment.

Es gab auch eine Liberalisierung für Homosexuelle in der Gesellschaft, was im Grundsatz eine gute Sache war, aber auch eine Abwertung der Normalfamilie und liberale Tendenzen in Sachen Pädophilie, Stichworte: Grüne Vergangenheit, Odenwaldschule und Entkriminalisierung im Strafrecht. Die damalige Liberalität, an die sich heute keiner mehr erinnern will, fällt heute der katholischen Kirche auf die Füße. Paradoxerweise stehen heute die „Erzkonservativen“ im Fokus der linksgrünen Kritik am Pädophilie-Skandal der katholischen Kirche (während man gleichzeitig zum Nationalismus und Traditionalismus mancher islamischer Gemeinden dröhnend schweigt, es ist eine einzige Heuchelei).

Überhaupt sind wir ja angeblich ein reiches Land, und wir können uns angeblich alles leisten. Wir können auch Griechenland und ganz Südeuropa gegen die Naturgesetze der Ökonomie „retten“ und auch sonst alle Probleme mit Geld zuschütten. Wunschdenken und Träumerei beherrschten das Feld. Es ist der Ungeist der Schmuddelkinder von 1968, der sich gesellschaftlich durchgesetzt hat. Nicht zuletzt auch in den Medien. Frühe Seismographen des Gleichschritts waren z.B. Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, Henryk M. Broder oder Seyran Ates.

Was ist heute anders?

Was ist der Unterschied zu damals? Warum hatten viele bislang nicht das Gefühl der „Gleichschaltung“, heute aber doch? Die Antwort ist einfach: Bislang spitzten sich die Probleme noch nicht zu, heute tun sie es, und es sind viele Probleme:

  • Gescheiterte Euro-Politik mit Inflation und unerschwinglichen Immobilien und Mieten. (Nein, es ist nicht der „Kapitalismus“, es ist die Politik.)
  • Gescheiterte Europapolitik (Brexit, der Rest der EU über D verärgert).
  • Gescheiterte Zuwanderungspolitik mit unkontrollierter Massenzuwanderung spätestens ab 2015, im Verbund mit gescheiterter Integration von Migranten mit hohen sozialen Folgekosten in Form von Geld, Kultur und Menschenleben.
  • Gescheiterte Klimapolitik. Energiepolitik. Wirtschaftspolitik.
  • Gescheiterte Außenpolitik (Russland, China).
  • Gescheiterte innere Integration Deutschlands (Der „Osten“, neuerdings auch: der „Süden“).
  • Gender-Gaga und Trans-Hype in heilloser Übertreibung. Weniger wäre mehr, gerade auch für die Betroffenen.
  • Ein Krieg vor unserer Haustüre, während die Bundeswehr kaum wehrfähig ist.
  • Das teilweise fragwürdige politische Handeln in der Corona-Pandemie nicht zu vergessen.

Immer mehr Bürger bemerken, was denkende Menschen beginnend (spätestens) in den 1980er Jahren voraussehen konnten, je mehr linksliberaler Unsinn hinzukam: Es passt nicht zusammen, es kann nicht gutgehen. Die Konflikte, denen man viele Jahre lang aus dem Weg gegangen war, sie verlangen nun nach Entscheidungen. Und indem sie dies langsam bemerken, bemerken die Menschen auch den Gleichschritt, der eigentlich schon länger da war.

Und in Reaktion auf dieses langsame Erwachen von Vernunft und Widerstand gebärden sich die Vertreter des alten linksgrünen Denkens, die überall dick drinsitzen, nur umso unerbittlicher und radikaler, denn sie sehen ihre Macht und Meinungshoheit in Gefahr. Die Grenzen des Sagbaren werden aus Angst immer enger gezogen. Die Politisierung wird in immer mehr Bereiche hineingetragen, die bislang tabu waren. So gibt es heute z.B. eine politische Indoktrinierung der Belegschaften von Unternehmen durch die Unternehmensleitungen, die wiederum auf die ESG-Anforderungen der Finanzindustrie reagieren. Die Cancel Culture wiederum geht heute nicht mehr nur an das politische Ansehen, sondern immer gleich an die ökonomische Existenz eines Menschen. Immer mehr staatliche Institutionen, Medien und Unternehmen unterwerfen sich politisch immer einseitigeren Ansichten, obwohl sie in einer Demokratie Neutralität wahren sollten (bzw. es wenigstens versuchen sollten).

Es ist ein politischer Kampf um sachliche Konflikte, der eng verwoben ist mit einem gesellschaftlichen Kulturkampf, der dieselben Sachkonflikte auf einer symbolischen Ebene verhandelt. Heute stehen wieder viele Gesslerhüte auf der Stange, die gegrüßt werden wollen. Von Verfechtern der Gendersprache hört man nicht selten, dass ihre Hauptmotivation darin besteht, dass sie damit „Konservative“ ärgern können. Ein Reformdenken aus gesellschaftlicher Verantwortung ist also oft gar nicht mehr die Motivation, sondern nur noch Mitmachen, sich klug und modern fühlen, und das Bashen der „anderen“ Seite. Wie jämmerlich.

Übrigens erwacht die Kritik an der politischen Marschrichtung derzeit immer noch nur punktuell. Während der ökonomische und gesellschaftliche Wahnsinn von Klima, Transgender und Migration vielen langsam dämmert, verstehen viele immer noch nicht, dass Militär mitsamt Wehrpflicht notwendig ist, dass die katholische Kirche sich treu bleiben muss, oder dass nicht immer die USA schuld sind, wenn in der Welt etwas schief läuft. Auch der Zusammenhang von Inflation und Eurokrise ist vielen nicht transparent.

Ein ganz anderer Grund für den Gleichschritt ist natürlich der Umstand, dass es immer weniger „Gründer“ gibt und immer mehr „Erben“. Die Generation, die Deutschland nach dem Krieg aufbaute, war sehr realitätsbezogen und voll von Erfahrung, wohin Flausen im Kopf führen können. Spätere Generationen kannten keine Not mehr und hatten Flausen im Kopf. Auch das ist ein Grund für den zunehmenden Gleichschritt. Es gibt zu wenig bittere Realitätserfahrung und damit zu wenig Nachdenken über die Realität bei den weniger gebildeten Menschen. Man nennt es Dekadenz.

Eine solche Analyse, oder etwas Vergleichbares, hätte man sich gewünscht, doch sie fehlt in diesem Buch.

Merkels Motive

Eine Besonderheit dieses Buches ist der Umstand, dass der Autor als Chefjournalist eine besondere Nähe zu Kanzlerin Angela Merkel hatte und sie z.B. auf Auslandsreisen im Regierungsflieger begleiten durfte. Dort gab es Hintergrundgespräche, in denen man dem wahren Denken von Angela Merkel näher kam als anderswo. Der Autor spricht also als unmittelbarer Zeitzeuge.

Der Autor berichtet, dass Angela Merkel sich immer vollauf bewusst war, dass ihre Maßnahmen teils rein symbolisch aber sachlich sinnlos waren, teils schwierige Konsequenzen nach sich ziehen würden. Völlig richtig hat der Autor erkannt, dass Merkels Politik oft schlicht darin bestand, einfach den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Dabei kam es allerdings weniger auf den Widerstand der Menschen an, sondern auf den Widerstand der Journalisten und Linksintellektuellen. Angela Merkel war in diesem Sinne eine begnadete Populistin, allerdings nicht dem Staatsvolk gegenüber, sondern dem Völkchen der Journalisten und linken Intellektuellen gegenüber. Probleme wurden auf diese Weise nie wirklich gelöst, sondern immer nur vorläufig ruhiggestellt und vertagt.

In einigen Punkten hätte Merkel allerdings auch unpopuläre Maßnahmen durchgeboxt, meint der Autor. Der Autor vermutet, dass Angela Merkel Europa retten wollte: Das Projekt Europa war ihr wichtiger als Deutschland. Um einen Rückstau auf der Balkanroute zu vermeiden, ließ sie die Migranten 2015 einfach nach Deutschland hinein, um den osteuropäischen Staaten Belastungen zu ersparen. Und um Griechenland im Euro zu halten, wurde Griechenland kurzerhand „gerettet“.

Doch diese Erklärung verfängt nicht. Denn es waren die osteuropäischen Staaten, die am Ende selbst die Grenze schlossen, gegen den erklärten Willen von Merkel. Auch der Brexit kam als Reaktion auf Merkels Politik zustande und war ein Schlag gegen die europäische Idee. Und die Griechenland-„Rettung“ hat die Stabilität des Euro zerstört. Am Ende hat Angela Merkel Europa also gar nicht zusammengehalten, sondern vielmehr unfassliche Spreng- und Fliehkräfte entfesselt, also das genaue Gegenteil dessen, was Schuler vermutet. Nur unglaubliche Kurzsichtigkeit, die man dann ohne Umschweife als Inkompetenz bezeichnen müsste, würden noch zu der Erklärung passen, dass Merkel Europa retten wollte.

Entweder war Angela Merkel also hochgradig inkompetent und tatsächlich so knödelig dumm wie sie manchmal erscheint, im Amt gehalten durch eine kurzsichtige Bauernschläue und eine linksgewickelte Presse, die sie hochschrieb – das würde auch mit der schlichten Erklärung zusammenpassen, dass Merkel auch in Sachen Europa immer nur den Weg des geringsten Widerstandes ging, und nicht etwa unpopuläre Maßnahmen durchboxte, wie der Autor meint, denn unpopulär waren diese Maßnahmen nur beim Volk, nicht bei den Eliten in Politik und Medien. – Oder Angela Merkel tat das alles aus kluger Berechnung und mit voller Absicht, um Europa zu sprengen und Deutschlands Kraft zu schwächen und eine geheime Agenda von wem-auch-immer durchzusetzen (Putin? Davos? China? …?). Wie man es auch dreht und wendet: Der Autor hat bei dieser Frage nicht genau genug hingeschaut.

Exkurs: Bis heute hat die deutsche Öffentlichkeit den wahren Grund für die Balkanroute 2015 nicht erfahren dürfen: Es war nicht der Syrienkrieg. Denn der tobte 2015 schon mehrere Jahre. Es waren auch nicht Rationskürzungen der UN in den Flüchtlingslagern. Denn die Rationen waren schon immer knapp, und die meisten syrischen Flüchtlinge sind auch nach 2015 in ihren Lagern geblieben und nicht nach Deutschland gekommen. Sie hätten auch gar nicht kommen können, egal wie stark die UN die Rationen gekürzt hätte, denn die griechische Grenze war fest geschlossen. Sondern es war natürlich der Amtsantritt der linksradikalen Regierung von Ministerpräsident Tsipras in Griechenland Anfang 2015. Wir erinnern uns: Der linksradikale Tsipras wurde von den Griechen gewählt, weil diese unter dem Euro-Diktat von Merkel verzweifelten. Vor Tsipras (und nach Tsipras, wie wir heute wissen) bewachten die griechischen Grenzschützer die europäische Außengrenze scharf. Der Linksradikale Tsipras öffnete die Außengrenze der EU 2015 mit Absicht. Und zuvor war er noch in Moskau, um sich mit Putin abzusprechen. Und Merkel spielte das Spiel ganz wunderbar mit, wie wir gesehen haben. Gekommen sind dann nur zu einem kleineren Teil Syrer, die Mehrheit der Migranten auf der Balkanroute kam anderswoher.

Nebenbei erfahren wir auch, dass sich die Führer der deutschen Wirtschaft in lächerlicher Weise unterwürfig gegenüber Kanzlerin, Zeitgeist und China aufgeführt haben. Freies, selbständiges Unternehmertum in einer freien Marktwirtschaft auf der Grundlage von demokratischen Überzeugungen kann man von unserer derzeitigen Wirtschaftselite wohl kaum erwarten. Demokratisch und marktwirtschaftlich gesinnte Politiker und Journalisten würden eine solche Wirtschaftselite in Grund und Boden kritisieren. Leider geschieht es nicht, was Rückschlüsse auf den Grad der demokratischen Gesinnung in Politik und Medien ermöglicht.

Rezepte gegen den Gleichschritt

In einem kurzen Kapitel versucht der Autor herauszufinden, was Menschen dazu bringt, sich dem Gleichschritt zu versagen. Leider sind seine Befunde recht entmutigend. Am Ende ist es der individuelle Charakter des Einzelnen. Dieser formt sich aber individuell. Der Autor vermutet zwar richtig, dass man auch über die Erziehung etwas erreichen kann, aber wenn sich der Gleichschritt erst einmal eingeschlichen hat, ist es für Erziehung zu spät, denn Erziehung erfolgt dann längst im Sinne des Gleichschritts.

Man hätte sich gewünscht, dass der Autor Ratschläge gibt, wie z.B., dass der kleine Mut oft wichtiger ist als der große Mut: Eine nüchterne Differenzierung freundlich ausgesprochen hilft oft viel, während es illusorisch ist, mit großem Mut vor Fürstenthronen etwas zu erreichen: Das können nur wenige, die in der richtigen Position sind. – Oder der Ratschlag, dass Humor oft weiterhilft. Das Kuriose spöttisch auf die Schippe zu nehmen, hilft oft mehr als tausend Argumente. Immerhin, der Autor empfiehlt „fröhlichen Ernst“.

Leider haben sich die Vertreter des träumerischen, linksliberalen „Denkens“ vor allem in Milieus etabliert (und ziehen dort auch ständig grässlichen Nachwuchs heran), die uns in Politik, Journalismus, Wirtschaft und Kultur beherrschen. So möchte die übergroße Mehrheit z.B. keine Gendersprache, doch die Eliten drücken sie mit eiskaltem Lächeln durch.

Es wäre eine eigene Diskussion wert, wie dieses Problem zu lösen ist, wenn die Elite eines Staatsvolkes auf breiter Front anders denkt als das Volk selbst. In einer reibungslos funktionierenden Demokratie würde es zu einem teilweisen Austausch der Elite kommen, entsprechend der Mehrheitsverhältnisse. Aber die alten Eliten sind so beherrschend, dass der demokratische Prozess schwer behindert wird. Es kommt zu Verklemmungen und Polarisierungen.

Der Bürger hat oft das Gefühl, dass er nur die Wahl zwischen Pest und Cholera hat, zwischen Links- und Rechtsradikalen. Die Linken freuen sich insgeheim über die Rechtsradikalen und schreiben sie hoch, weil sie die besten Buhmänner zur Rechtfertigung der Alternativlosigkeit der linken Politik darstellen. Die Rechtsradikalen von der rechtsradikal gewordenen AfD, sie sind „Merkels beste Jungs“! Vernünftige Bürgerliche hingegen werden heruntergeschrieben oder als Rechtsradikale verleumdet (was aber nicht so gut funktioniert, denn die Wähler bemerken den Unterschied, ob einer tatsächlich rechtsradikal ist oder nur als solcher verschrieen wird). Es ist möglich, dass an diesem Konflikt die Demokratie zerbricht.

Es gilt, bürgerliche, liberalkonservative Kräfte zu stärken, die einerseits konsequent sind, aber gleichzeitig Radikalismus vermeiden. Nur so kann das Umdenken und Umsteuern demokratisch gestaltet werden. Auch wenn es schwierig ist.

Fazit

Am Ende ist es leider doch nur das typische, tagesaktuelle, politjournalistische Buch geworden, ohne den nötigen Tiefgang. Der Autor ist überzeugend in seinen Ausführungen, ein guter Beobachter und Seismograph der Gesellschaft, mithin also ein guter Journalist, aber er ist offenbar kein Denker. Oder er wollte mit Absicht nicht zu tief in eine Analyse einsteigen. Vielleicht würde das seinem Selbstverständnis als Journalist widersprechen? Wie auch immer: Denken muss der Leser dann schon selbst. Das sollte er allerdings sowieso tun. Diese Rezension will dabei behilflich sein.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

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