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Victor Hugo: Der Klöckner von Notre Dame (1831)

Ein durch und durch gotisches Meisterwerk, voller Gedankentiefe, Tragik und bissiger Ironie

Der Roman „Notre Dame de Paris“ (deutsch: „Der Glöckner von Notre Dame“) ist ein durch und durch gotisches Meisterwerk. Im Mittelpunkt steht natürlich die gotische Kathedrale Notre Dame in Paris. Aber auch der Stil des Buches ist gewissermaßen „gotisch“: Teilweise ist er fast unerträglich burlesk, teilweise ist er recht grob gestrickt, und treibt die Handlung in „klobigen“ Stücken voran, teilweise verliert sich das Buch in Beschreibungen und Betrachtungen, und teilweise ist der Stil auch überraschend fein und verspielt. Nicht zuletzt wird die Kathedrale Notre Dame in einem großartigen Gleichnis als ein „Buch aus Stein“ bezeichnet, an dem ein ganzes Volk „mitgeschrieben“ hat. Aber auch die beiden Figuren des Glöckners Quasimodo und des Archidiakonus Claude Frollo verkörpern gotische Charakterzüge, die das Kirchengebäude wiederspiegeln, das sie bewohnen. Schließlich bricht Victor Hugo in diesem Roman ähnlich wie Goethe eine Lanze für den gotischen Baustil, und schmäht die Moden der späteren Baumeister.

Die Freiheit der Menschen habe sich gerade in der Baukunst ausgedrückt, meint Victor Hugo. Deshalb gäbe es so viele Bauten, Baumeister und Maurer. Der Gedanke geht in Richtung Freimaurerei, doch diese Beziehung wird nicht explizit ausgesprochen. Die Bauform der Priester und des Mythos sei die Romanik und der Hindu-Tempel, die Bauform des Volkes aber die Gotik, wo der Mensch im Mittelpunkt stehe, meint Victor Hugo. Hier schreibt Hugo manches, was man aus moderner Sicht nur als Pseudowissenschaft einordnen kann, aber die Absicht Hugos bleibt klar. Der Buchdruck werde das „Buch aus Stein“, die Baukunst verdrängen, meint Victor Hugo, und es entstehe ein neues Weltgebäude: Die Literatur.

Der Roman handelt jedoch nicht nur von der Kathedrale Notre Dame und der gotischen Bauform, sondern erweckt das ganze mittelalterliche Paris des Jahres 1482 zum Leben. Ausführlich werden die verschiedenen Stadtteile und Bauwerke darin beschrieben, und ebenso das bunte Treiben der Pariser Bevölkerung. Auch Gaunergilden und das mittelalterliche Gerichts- und Strafwesen sind ein Thema, und Victor Hugos Abneigung gegen die Todesstrafe kommt auch hier voll zum Ausdruck. Auch König Ludwig XI. wird vorgeführt, der Frankreichs Weg in den Absolutismus zu beschreiten begann. Insofern Victor Hugo hier das Leben und Wesen von Paris von damals beschreibt, und damit natürlich ganz Frankreich meint, hat er mit diesem Buch auch ein Nationalepos geschaffen.

Im Zentrum der Handlung steht „die Esmeralda“ (spanisch: Smaragd), eine bezaubernde junge Zigeunerin mit ihrer liebenswerten Zauber-Ziege Djali, die von allen begehrt wird (die Esmeralda, nicht die Ziege): Von Quasimodo dem hässlichen Glöckner von Notre Dame, der sich als erstaunlich selbstreflektiert erweist, denn er kennt seine bedauerliche Lage genau, vom gelehrten Archidiakonus von Notre Dame, und von dem schnöseligen, feschen Hauptmann Phoebus, in den sich die Esmeralda in jugendlicher Naivität rettungslos verliebt, obwohl er sie nur ausnutzt. Hinter allem steht ein dunkles Geheimnis, das die Esmeralda und Quasimodo verbindet: Einst wurde die Esmeralda von Zigeunern geraubt und durch Quasimodo ausgetauscht. Die unglückliche Mutter der Esmeralda und ihr Leiden ist eine der stärksten Figuren in diesem Roman, die man – wie vieles an diesem Roman – anfangs völlig unterschätzt.

Nebenfiguren sind Pierre Gringoire, der die Karikatur eines gescheiterten Dichters und Philosophen verkörpert, und Jean Frollo, der jüngere Bruder des Archidiakonus, der dessen Spiegelbild ist: Statt Gelehrsamkeit nur eitle Lebenslust. Ebenso König Ludwig XI., seine Errungenschaften und seine grausame Art. Eine Nebenhandlung sind die Bemühungen des Archidiakonus um Gelehrsamkeit und alchemistische Kunst, wobei öfter der name Nicolas Flamel fällt. Der Archidiakonus erscheint zunächst sehr sympathisch, denn er ist ein großer Gelehrter und kümmert sich vorbildlich um die Erziehung des Krüppels Quasimodo und seines jüngeren Bruders Jean Frollo. Doch im Laufe des Buches verwandelt er sich in das glatte Gegenteil, in einen geilen Priester, dem die Gelehrsamkeit nichts mehr gilt.

Immer wieder streut Victor Hugo Kommentare voller bissiger Ironie ein, die anhand der mittelalterlichen Zustände das Frankreich seiner Gegenwart kritisieren sollen. Leider ist dem modernen Leser nicht immer klar, worauf Victor Hugo damit anspielt, doch die Bissigkeit der Ironie spricht für sich. Lateinische Bildung und Gelehrsamkeit wird in diesem Buch leider konsequent durch den Kakao gezogen. Es werden viele lateinische Zitate gebracht, deren Übersetzung dem Leser überlassen bleibt. Der Roman endet tragisch für alle Beteiligten. Über allem sieht Victor Hugo die Ananke stehen, die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit des Schicksals. Auch hier möchte der moderne Leser ein Fragezeichen setzen, ob wirklich alles so unabweisbar notwendig geschieht.

Fazit: Ein großartiger Roman, der in vielfacher Hinsicht völlig unterschätzt wird.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. März 2020)

Marica Bodrožić: Sterne erben, Sterne färben – Meine Ankunft in Wörtern (2007)

Verwandelt zu neuem Leben in einer neuen Heimat – der deutschen Sprache

Marica Bodrozic hat erneut ein Sprachkunstwerk aus tiefem inneren Empfinden geschrieben. Hauptthema ist diesmal ihr Übergang von der jugoslawischen Sprache ihrer Kindheit hin zur Verinnerlichung der deutschen Sprache als ihrer neuen sprachlichen Heimat. Im Hintergrund steht dabei erneut stets die Grundlegung ihres Lebens in ihrer Kindheit, die sie in Dalmatien mit ihrem Großvater verbrachte, während ihre Eltern in Deutschland lebten.

Wohl selten wurde der Übergang von einer in eine andere Sprache so innig und subtil dargestellt. Herausgekommen ist dabei ganz nebenbei auch eine sehr glaubwürdige Liebeserklärung an die deutsche Sprache, wie man sie in unseren Tagen lange suchen muss. Ist doch die deutsche Sprache in Deutschland kein allgemein akzeptiertes Kulturgut mehr, in Zeiten, da selbst die Deutsche Bank um des lieben Geldes willen damit begonnen hat, auch noch die 3. und 4. Generation von türkischen Migranten (darf man sie noch so nennen?) in türkischer Sprache zu bedienen.

Die Einblicke, die Marica Bodrozic dabei in ihr Innenleben gewährt, sind teilweise sehr intim und in einer Bildersprache wiedergebeben, deren Dechiffrierung man als Außenstehender oft nur erahnen kann. An einigen Stellen fragt man sich als Leser, ob man das überhaupt erfahren sollte oder gar lesen darf, was die Autorin an Gedanken preisgibt.

Es erinnert ein wenig an Kafka, der seine Werke ja nicht für ein Publikum schrieb, sondern in ihnen seine seelischen Zustände wiederspiegelte und verarbeitete, nur für sich. Wie wir bei Kafka Einblick in ein Innenleben nehmen, der vom Autor gar nicht beabsichtigt war, so kommt es einem manchmal auch bei Marica Bodrozic vor.

Wer eine freie und phantasievolle aber einsame Kindheit hatte, die irgendwann einmal mit der „Realität“ zusammenstieß, wird ihr Empfinden gut nachvollziehen können, und auch bei sich selbst so manche Erinnerung, die halb vergessen war, wieder aufleben sehen. Ebenso erklärt sich das Bedürfnis der Autorin, ihr Erleben schriftstellerisch zu verarbeiten. Dies sollte nun zum Nutzen der deutschen Literatur auch gut gelungen sein, und man wartet gespannt auf ihr nächstes Werk, in dem die bekannten Topoi nun ganz verwandelt wiederkehren müssen und von allen Fesseln der Vergangenheit befreit auch völlig neue Wege beschritten werden können.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 10. Juni 2007)

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben (1999)

Ein sehr lehrreiches Buch und allein schon deshalb ein gutes Buch!

Dieses Buch ist für den aufmerksamen Leser in vielerlei Hinsicht lehrreich: Man erfährt etwas über deutsche Geschichte, über den linksliberalen Zeitgeist der BRD, und nicht zuletzt erhält man auch zahlreiche Anregungen für die eigene Lektüre.

Was die deutsche Geschichte anbetrifft, fallen zwei Dinge auf: MRR lobt immer wieder das „preußische Gymnasium“ und dessen humanistischen Geist. Negative Assoziationen werden hingegen mit dem Wort „deutsch“ verknüpft. Das ist schon bemerkenswert. – Was den Holocaust anbetrifft, so liest man hier (wie oft auch anderswo), dass sich quasi bis zu allerletzt niemand vorstellen konnte, auch unter Juden nicht, dass Hitler die Juden nicht nur schikanieren und vertreiben, sondern einfach massenhaft töten würde. Das wird von MRR mehrfach betont.

Was den linksliberalen Zeitgeist anbelangt, so war MRR natürlich ein Teil davon. Aus den Ausführungen von MRR kann man Dinge entnehmen, die die negativen Seiten dieser Szene betreffen, also die Charakterschwächen, die Seilschaften und die Machtspiele um die Meinungshoheit. Man erkennt, dass die Generation von MRR durch den Nationalsozialismus so verschreckt war, dass sie in ihrem Trauma offenbar zu pauschal alles abwehrte, was nicht links war. Es war also keinesfalls böse Absicht, sondern ein verständliches Trauma, das sie leitete und ihre Sensibilität störte.

Natürlich war es gut, dass es MRR gab. Ganz so simpel linksliberal wie manch anderer war er nämlich auch gar nicht. Für MRR stand es außer Frage, dass es eine erhaltenswerte deutsche Kultur gibt. Schließlich hatte er sein Leben der Aufgabe gewidmet, Werbung für die deutsche Literatur zu machen, wie er selbst sagt. Das eigentliche Problem war eher, dass es keinen liberalkonservativen Gegenspieler zu MRR gab, sondern nur MRR allein auf weiter Flur. Dann hätte die Balance gestimmt, und MRR wäre erst dann richtig zu Höchstleistungen herausgefordert gewesen. Für dieses Fehlen eines Gegenspielers kann man aber nicht MRR verantwortlich machen. MRR hat seinen Part gut gespielt, und er hat viel Gutes bewirkt.

Was schließlich die zahllosen Lektüre-Anregungen in diesem Buch anbetrifft: Hier findet wirklich jeder was. Nur zu! Übrigens gibt es bei Wikipedia eine Liste aller Sendungen des literarischen Quartetts, mit allen Teilnehmern und den dort besprochenen Büchern, und alle diese Sendungen findet man bei youtube: Auf geht’s!

Fazit: Ein Top-Buch. Kaufen. Lesen. In Kultur und Intellektualität eintauchen. Aber nicht nur mit MRR, bitte *schmunzel*

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2018)

Miguel de Cervantes: Don Quijote von der Mancha (1605/1615)

Eine saftige Satire auf die Irrungen des Zeitgeistes, mit viel Witz und literarischer Finesse

Das spanische Nationalepos, der Roman „Don Quijote von der Mancha“ von Miguel de Cervantes, ist ein Schlüsselroman der europäischen Geistesgeschichte, der alle späteren literarischen Werke stark beeinflusst hat. Ein Roman voller Witz und ein großes Lesevergnügen!

Eine Parodie

Oberflächlich betrachtet handelt es sich bei „Don Quijote“ um eine recht simpel gestrickte Parodie auf die damals in Spanien fast schon krankhaft populären Ritterromane: Ein kleiner spanischer Landadliger hat zu viele dieser Ritterromane gelesen und bildet sich daraufhin ein, es handele sich bei den Abenteuern von Ritter Roland oder des Amadis von Gallien um wahre Geschichten. Deshalb fühlt er sich dazu berufen, das Rittertum wieder aufleben zu lassen und in der Gegenwart des Romanlesers (17. Jahrhundert) als fahrender Ritter durch die Lande zu ziehen, um Elende, Witwen und Waisen zu beschützen und gegen Schurken und Riesen zu kämpfen.

Dabei deutet Don Quijote alles, was ihm begegnet, im Sinne seines Wahnes um: Schenken hält er für Burgen, Windmühlen für Riesen, Frauen für Prinzessinnen, Soldaten für Ritter, Schafsherden für Heere, ein Scherbecken für einen Ritterhelm, und seinen alten Klepper Rosinante für ein stolzes Ross. Kommt es zu Widersprüchen oder offensichtlichen Enthüllungen, die diese Wahnwelt stören, glaubt Don Quijote sich durch böse Zauberer getäuscht, die alles nach Belieben verwandeln können. Erst im letzten Kapitel, kurz vor seinem Tode, erwacht Don Quijote aus seinem Wahn, um final allen Ritterromanen abzuschwören.

Sancho Pansa

Einen der Bauern aus einem Nachbardorf, Sancho Pansa, hat Don Quijote gegen Geld angeheuert, um ihm als Knappe zu dienen. Zwischen Don Quijote und Sancho Pansa entspinnen sich köstliche Dialoge: Hier der idealistische aber unrealistische Don Quijote, dort der praktisch denkende aber auch zynische und egoistische Sancho Pansa. Der Leser kann beiden Sichtweisen etwas abgewinnen, aber auch keiner der beiden Sichtweisen unumschränkt zustimmen, und wird so zum eigenen Nachdenken gezwungen.

Sancho Pansa ist auch nicht immer ehrlich, sondern lügt Don Quijote manchmal etwas vor, woraufhin Don Quijote diese Lügen prompt in sein wahnhaftes Weltbild einbaut, was zu urkomischen Verwicklungen führt. Sancho Pansa lässt sich an manchen Stellen selbst in die Wahnwelt seines Herrn hineinziehen, mit der typischen Pragmatik des Unintellektuellen: Was weiß ich denn schon? Außerdem wird Sancho Pansa durch die Bezahlung gelockt, die ihm winkt, insbesondere auch durch das Versprechen Don Quijotes, ihm ein Eiland zum gubernieren zu verschaffen, nachdem Don Quijote seinerseits als Belohnung für seine Ritterdienste – so sein Wahn – dereinst ein Königtum erhalten haben wird. Das „Eiland zum gubernieren“ ist einer der vielen running gags dieses Romans. Obwohl das Versprechen reiner Wahn ist, kann Sancho Pansa sich nicht überwinden, diese „Chance“ fahren zu lassen, denn zu verlockend ist für seinen beschränkten Bauernverstand diese Aussicht.

Sancho Pansa ist außerdem eine köstliche Quasseltante, die in einem fort Sprichwörter herunterrattert, die sich nicht selten reimen und seinen praktischen Bauernverstand zum Ausdruck bringen. Außerdem verdreht Sancho Pansa gerne Sätze oder auch die Lautfolge einzelner Worte, vor allem bei Fremdworten, die er nicht kennt, und die ihm deshalb nicht leicht von der Zunge gehen. Seine gewitzte Bauernschläue zeigt sich, wenn Sancho Pansa schwierige Aufgaben und Rätsel mit der ungetrübten Klugheit des einfachen Hausverstandes meistert. Zum Schluss hat sich bei Sancho Pansa auch eine gewisse Zuneigung zu seinem Herrn herausgebildet, die ihn zu ihm halten lässt, trotz seines Wahns. Aber auch zu seinem „Grauohr“, seinem Esel, hat Sancho Pansa ein inniges Verhältnis, das zu manchem komischen Verhalten führt. Sancho Pansa ist ohne Zweifel eine zu Don Quijote mindestens ebenbürtige Hauptfigur des Romans. Aber auch seine überaus praktische Ehefrau Teresa Pansa hat immer ein Wörtchen mitzureden.

Komische Abenteuer

Zusammen erleben Don Quijote und Sancho Pansa zahlreiche Abenteuer, die sich meistens daraus ergeben, dass Don Quijote irgendwelche Belanglosigkeiten in seiner Phantasie zu wilden Abenteuern aufbläst und sich als Ritter zum Einschreiten berufen fühlt. Die Menschen, die ihm begegnen, wissen oft nicht, wie ihnen geschieht, und nehmen reißaus. Andere lassen sich auf den Wahn von Don Quijote ein und machen sich einen Spaß mit ihm. Nur wenige versuchen, mit Don Quijote zu argumentieren. Noch öfter aber endet alles damit, dass Don Quijote und Sancho Pansa eine Tracht Prügel einstecken müssen. An diesen Stellen erinnert der Roman an modernen Slapstick à la Dick und Doof. Häufig trifft es Sancho Pansa dabei härter als Don Quijote, der sich mehr als einmal mit irgendeiner Ausrede, an die er selbst glaubt, feige zurückhält, statt Sancho Pansa zu Hilfe zu eilen.

Der übersteigerte Idealismus des Don Quijote führt dabei – zusätzlich zu seinem Ritterwahn – manchmal zu höchst unerwarteten doch sehr lehrreichen Konsequenzen. Die entsprechenden Episoden erinnern an manche bissige Kurzgeschichte von Mark Twain. So befreit Don Quijote z.B. einige Galeerensträflinge aus ihrer Gefangenschaft, doch als er Dank erwartet, rauben ihn die soeben befreiten Sträflinge kurzerhand aus.

Jeder Ritter verehrt eine Dame, und so hat sich Don Quijote ein Mädchen, das er vor langer Zeit in dem Nachbardorf Toboso gesehen hatte, zu seiner Dame erkoren. Diese Dame wird von ihm zur schönsten Prinzessin verklärt und mit dem Phantasienamen „Dulcinea von Toboso“ versehen, während Sancho Pansa genau weiß, dass es sich um eine sehr praktisch veranlagte Bäuerin handelt. Auch dieser Widerspruch zwischen Phantasie und Wirklichkeit sorgt für manche komische Verwicklung im Verlauf der Geschichte. – Ein weiterer running gag sind die anderen Dorfbewohner aus Don Quijotes Dorf, namentlich der Pfarrer, der Barbier und der Baccalaureus Samson Carrasco, die immer wieder neue Listen ersinnen, wie sie Don Quijote zurück in ihr Dorf locken und von seinem Wahn befreien könnten.

Einzelthemen

Neben der Parodie auf die Ritterromane und der Komik des Paars Don Quijote und Sancho Pansa enthält die Geschichte zahlreiche durchaus ernst gemeinte Aussagen und Lehren, die am Rande eingeflochten werden. So hält Don Quijote immer wieder kluge Reden über Themen, die mit dem Rittertum nichts zu tun haben, und alle verwundern sich, wie jemand, der einem so schrecklichen Wahn verfallen ist, so kluge Reden halten kann. Auch werden vor allem im ersten Teil einige Novellen nach Art des Decamerone eingeflochten (z.B. Cardenio und Luscinda, Alfonso und Lotario, Don Luis und Clara, Claudia und Don Vicente, Quiteria, Camacho und Basilio, der Narr von Sevilla, der Abstieg in die Höhle des Montesinos (II 22 f.)), die weitgehend unabhängig von der übrigen Handlung erzählt werden. Hier sind insbesondere Auseinandersetzungen mit islamischen Piraten zu nennen, sowie die Befreiung und der Freikauf von Christen aus der sarazenischen Gefangenschaft. Es erinnert so vieles an den bekannten Plot von Mozarts Oper „Die Entführung aus dem Serail“, einschließlich des Auftretens eines Renegaten, dass man hier wohl einen Einfluss sehen muss.

Einige Geschichten sind regelrecht feministisch: In der Episode um die Schäferin Marcela (I 12-14) wird beißender Spott gegen alle Männer geübt, die glauben, von einer Frau erhört werden zu müssen, wenn sie nur intensiv genug um diese werben – doch die Schäferin Marcela bleibt lieber unverheiratet und beklagt sich über die Zudringlichkeit der Männer. Diese wiederum vergehen reihenweise buchstäblich vor Liebe, und es ist urkomisch. – Die schöne Leandra wiederum, um die zahllose Jünglinge warben, verschmähte alle guten Angebote und brannte statt dessen mit einem Blender durch (I 52). Ihre verschmähten Liebhaber sehen daraufhin keinen Sinn mehr im Leben und ziehen sich in Scharen in eine Einöde zurück, um dort ein arkadisches Schäferleben zu fristen. Zynisch sagt einer der Hirten über eine seiner Ziegen: „Denn als Weib, das sie ist, schätze ich sie gering“. – Die Ehefrau von Sancho Pansa gibt diese Weisheit zum Besten: „Es ist nun mal das Kreuz von uns Frauen, dass wir unseren Männern gehorsam sein müssen, wenn’s auch die größten Gimpel sind.“ (II 5) Schließlich begegnet uns noch eine Frau, die sich als Mann verkleidet, um aus dem Haus gehen zu können (II 49). – In manchen Episoden werden Freundschaft und Liebe ähnlich schwärmerisch gefeiert wie in Hölderlins Hyperion.

In einer Rede über Waffenkunst und Wissenschaft doziert Don Quijote, dass das Ziel des Krieges der Frieden ist, dass Waffen und Recht einander bedingen, auch wenn der Soldat über dem Rechtsgelehrten stünde, sowie über die Veränderung des Krieges durch die Erfindung des Schießpulvers (I 37). An anderer Stelle belehrt Don Quijote über die Weltgeographie des Ptolemaios (II 29). Für das Gubernieren eines Eilandes weiß Don Quijote weisen Rat an den zukünftigen Herrscher Sancho Pansa zu erteilen (II 42).

An der Ständegesellschaft wird reichlich Kritik geübt. So wird der Adel sehr grundsätzlich delegitimiert: „Glaubst du aber, dein Fürstenblut würde verderben, wenn du es mit dem meinen mischst, bedenke, dass es auf Erden wenig oder keinen Adel gibt, der diesen Weg nicht gegangen wäre, und dass der Frauen Herkunft für die Vornehmheit der Nachkommen nicht von Bedeutung ist, umso mehr, als der wahre Adel in der Tugend liegt“ (I 36). Die Welt wird mit einem Theater verglichen: „Das Gleiche … spielt sich auf der Bühne unserer Welt ab, wo die einen die Kaiser geben, andere die Päpste, kurzum, all die Masken, die man auf den Theatern sieht. Aber wenn man zum Schlussakt gelangt, wenn das Leben also endigt, zieht der Tod allen die Kostüme aus, die sie voneinander unterschieden haben, und im Grab ist einer wie der andere.“ (II 12) Vom Papst sagt Sancho Pansa: „Jeder ist Kind seiner Taten, der Papst ist auch nur ein Mensch wie ich, da kann ich doch allemal Gubernator eines Eilandes werden“ (I 47). Und Don Quijote teilt die Menschen in vier Klassen ein: Hoch und niedrig stehende Menschen, aber vor allem auch sich erhöhende und sich erniedrigende Menschen (II 6): Für Don Quijote ist die soziale Hierarchie also durchlässig und sollte durch Leistung bestimmt werden. – In dem 1668/69 erschienenen „Simplicissimus“ von Grimmelshausen wird übrigens eine ähnliche Kritik an Adel und Ständegesellschaft geübt.

Don Quijote spricht sich eindeutig gegen Sklaverei aus: „Mir jedoch erscheint es grausam, wenn man die zu Sklaven macht, die Gott und die Natur frei erschuf.“ (I 22) Auch Rassismus wird besprochen: Rassismus gegen Schwarze wird in den Worten des zynisch-praktischen Sancho Pansa saftig ironisiert und damit kritisiert. Für den Fall, dass sein zu gubernierendes Eiland in Afrika liegt, macht sich Sancho Pansa folgende Gedanken: „Was juckt es mich, wenn meine Vasallen schwarz sind? Was muss ich anderes tun, als sie einsammeln und nach Spanien bringen? Da verkaufe ich sie und kriege bare Münze dafür, damit besorge ich mir einen Titel oder irgendein Amt, und davon lebe ich und habe für den Rest meiner Tage keine Sorgen mehr. Ja, immer schön wach und rege, so viel Verstand und Geschick wirst du doch haben, dass du dreißig- oder vierzigtausend Vasallen in einem Schwupp an den Mann bringst! Bei Gott, die will ich ihm Nu verschachert haben, paarweise oder im Haufen, und so pechschwarz sie auch sein mögen, ich will sie mir versilbern und vergolden. Nur her zu mir, ich bin ein harmloser, kleiner Windelschisser! Mit derlei Gedanken war er so beschäftigt und zufrieden, dass er ganz den Verdruss vergaß, zu Fuß gehen zu müssen.“ (I 29) – Wie gesagt, die Kritik am Umgang mit Schwarzen kommt ironisch durch den zynischen Pragmatismus des Sancho Pansa zum Ausdruck. Wenige Absätze später ist von dem „berühmten Mohr Muzaraque“ die Rede: Diese positive Konnotation eines Mohren kontrastiert auffallend zu den Worten Sancho Pansas. – An ganz anderer Stelle wird die Geschichte eines Mohren erzählt, der eine Gefangene bewachen soll, sie küsst, und dafür bestraft wird (II 26). Auch dieses Motiv taucht in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ auf. Die Geschichte wird als Marionettentheater aufgeführt. Anschließend zerhaut Don Quijote im Wahn alle Mohrenfiguren, wie wenn sie echt wären, nur um hinterher kleinlaut Schadenersatz zu bezahlen.

Juden kommen als Thema fast gar nicht vor. An einer Stelle sagt Sancho Pansa: „Und selbst wenn ich mir sonst nichts zugute halten könnte, als fest und unerschütterlich an Gott zu glauben, wie ich’s tue, und an all das, was die heilige römisch-katholische Kirche sagt und glaubt, und Todfeind der Juden zu sein, wie ich’s bin, müssten doch die Geschichtenschreiber Erbarmen mit mir haben und mich in ihren Schriften gut behandeln.“ (II 8) – Wir vermuten auch hier die Ironie des Autors, die diese naive Haltung durch ihre Darstellung kritisieren will. Ganz so deutlich wie bei den Mohren wird die ironische Kritik hier allerdings nicht.

Der Islam kommt immer wieder vor, vor allem als Bedrohung durch Piraten von den nordafrikanischen Küsten. Aber auch die Vertreibung der Morisken aus Spanien wird wiederholt angesprochen. Die Morisken waren die letzten Muslime, die in Spanien nach der Reconquista zurückblieben und zum Christentum konvertierten. Doch viele von ihnen nur zum Schein, weshalb auch sie später vertrieben wurden. Dieses Schicksal spiegelt sich vor allem in der Person von Ricote wieder, einem Krämer aus dem Dorf von Sancho Pansa (II 54). Dieser brachte seine Familie nach Deutschland, um als Pilger nach Spanien zurückzukehren. Einerseits ist er voller Trauer über den Verlust seiner Heimat Spanien, andererseits zeigt er volles Verständnis für die Vertreibung der Morisken: „… dass es meiner Meinung nach göttliche Eingebung war, die Seine Majestät bewogen hat, einen so beherzten Entschluss in die Tat umzusetzen, nicht etwa, weil wir alle schuldig gewesen wären, nein, manche unter uns waren aufrechte, wahre Christen, doch so wenige, dass sie gegen die nicht ankamen, die es nicht waren, und eine Schlange nährt man nicht am Busen. Kurzum, zu Recht war unsere Strafe die Vertreibung“ (II 54).

Von Deutschland heißt es in diesem Zusammenhang: „Ich zog weiter nach Italien und kam schließlich nach Deutschland, wo wir, wie mir schien, freier würden leben können, denn die Leute dort sind nicht allzu zimperlich, jeder lebt, wie er mag, nach eigenem Gusto und Gewissen.“ (II 54) – Deutschland kommt im ganzen Roman sonst nur noch an einer einzigen anderen Stelle vor, an der von „feinstem Tuch aus deutschen Landen“ die Rede ist (II 32), als Gegensatz zu grobem, gewöhnlichen Tuch.

Auch die Moriskin Ana Felix wurde nach Algerien vertrieben, flieht jedoch zurück nach Spanien, weil sie überzeugte Christin ist (II 63). Dort wird sie gut aufgenommen, und alle reden davon, dass sie sich dafür einsetzen wollen, dass Ana Felix in Spanien bleiben darf. Dabei wird ausdrücklich der Beauftragte für die Vertreibung der Morisken, Don Bernardino de Velasco, Graf von Salazar, als konsequent und nicht barmherzig im Einzelfall beschrieben, und dafür auch gelobt, weil dies so notwendig sei (II 65). – Schließlich wird auf einen Unterschied im Rechtssystem zwischen Spanien und den islamischen Ländern hingewiesen. Hier mit dem Wort „Mohr“, aber gemeint sind wiederum Muslime: „Da könnt Ihr sehen, das Verbrechen ist kaum begangen, und die Strafe folgt auf dem Fuß, denn unter den Mohren gibt es kein Vorladen der Parteien, kein Vertagen zur Erbringung weiterer Beweise wie bei uns.“ (II 26)

Neben der Kritik an den Ritterromanen ist auch eine Kritik an anderer Literatur sowie der Schauspiele zur damaligen Zeit eingeflochten (I 48). In einem Vortrag über Dichtung fordert Don Quijote eine Dichtung in der Nationalsprache (II 16). Als Don Quijote einem Transport von Gemälden begegnet, kommentiert er die verschiedenen Gemälde mit Kennerschaft (II 58). – Immer wieder streut Cervantes auch Zitate, Hinweise und Vergleiche zu Autoren der klassischen Antike ein, die er offenbar gut kannte.

Literarische Finessen

Wie schon gesagt, ist „Don Quijote“ ein Schlüsselroman der europäischen Geistesgeschichte, der alle späteren literarischen Werke stark beeinflusst hat. Eine Besonderheit für die damalige Zeit war es, dass die handelnden Personen des Romans nicht nur Adlige, Geistliche und Ritter waren, sondern das einfache Volk: Bauern, Barbiere, Schankwirte, usw., die sich mit ihren praktischen Sichtweisen und ihrer einfachen Sprache zur Geltung bringen.

Die größte literarische Finesse des Romans liegt aber in seiner Selbstbezüglichkeit. Wir sahen bereits, dass der Roman die Forderung nach einer Literatur in der Landessprache enthält, und diese Forderung zugleich erfüllt. Auch an anderen Stellen beziehen sich die Romanfiguren auf den Verfasser des Romans, in dem sie als Romanfiguren existieren, z.B. Sancho Pansa: „… müssten doch die Geschichtenschreiber Erbarmen mit mir haben und mich in ihren Schriften gut behandeln. Aber sollen sie sagen, was sie wollen, nackt bin ich geboren, nackt bin ich jetzt, hab nichts gewonnen, nichts hinzugesetzt. Und solang ich nur in einem Buch stecke und von Hand zu Hand kreuz und quer durch die Welt gereicht werde, schere ich mich den Teufel drum, was immer man von mir sagen mag.“ (II 8)

Es wird aber noch doller: Im zweiten Band begegnen Don Quijote und Sancho Pansa lauter Leuten, die den ersten Band des Romans schon gelesen haben! Diese wissen bereits, mit wem sie es zu tun haben, und treiben nun erst recht ihren Scherz mit den beiden. Es wird auch deutlich, dass insbesondere die Quasseleien des Sancho Pansa besonders gut beim Publikum angekommen sind. Besonders auffällig wird dies bei der Begegnung mit der Herzogin und dem Herzog, der einen Großteil des zweiten Bandes einnimmt (II 30 ff.). Das Herzogspaar lässt ihre Dienerschaft ganze Szenerien aus der Traumwelt des Don Quijote vorgaukeln, um ihn auf die Schippe zu nehmen, so z.B. einen Aufmarsch der bösen und der guten Zauberer im Wald (II 34 f.), und dass Sancho Pansa sich viele tausend Schläge selbst versetzen muss, um Dulcinea von Toboso aus einer angeblichen Verzauberung zu lösen (ein running gag im zweiten Band). Oder der vorgegaukelte Ritt auf dem Holzpferd Clavilegno durch die Lüfte (II 36). Vom Herzog erhält Sancho Pansa zum Schein das Gubernament über ein „Eiland“, nämlich über ein Dorf namens Baratária (II 44). Und Sancho Pansa schlägt sich erstaunlich wacker und weise als Gubernator!

In den Kapiteln beim Herzogspaar verlaufen die Handlungsstränge mit Don Quijote und Sancho Pansa getrennt. Deshalb alternieren die Kapitel: Mal verfolgen wir, was mit Don Quijote passiert, mal, was mit Sancho Pansa vor sich geht.

Ebenfalls im zweiten Band besucht Don Quijote eine Druckerei (II 62). Es wird genau beschrieben, wie es damals in einer Druckerei zuging, und es wird bei dieser Gelegenheit auch ausgiebig über das Elend des Verlagswesen und die Schwierigkeiten von Autoren mit ihren Verlegern hergezogen. Vor allem aber wird in dieser Druckerei auch der erste Band des Don Quijote gedruckt. Als Don Quijote dies bemerkt, verlässt er die Druckerei schnell wieder. – Der zweite Band (II 1) nimmt auch Bezug zu einem Bruch im Handlungsverlauf des ersten Bandes, der dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein kann (I 25): Zuerst wird das Grauohr des Sancho Pansa gestohlen, doch wenig später reitet Sancho Pansa wieder munter auf ihm, wie wenn es nie gestohlen worden wäre. Die Schuld für diesen Bruch in der Handlung wird dem Drucker zugeschoben.

Nicht zuletzt kommt im zweiten Band auch ein anderer zweiter Band des „Don Quijote“ vor, der aber gar nicht von Cervantes geschrieben wurde, sondern von einem Unbekannten, der sich an den Erfolg des ersten Bandes anhängen wollte (II 59, 70, 74). Da der falsche zweite Band erwähnt, dass Don Quijote angeblich in Saragossa war, beschließt Don Quijote, Saragossa zu meiden, um den Autor des falschen zweiten Bandes Lügen zu strafen.

Schließlich wird die gesamte Geschichte von Don Quijote als eine Geschichte des fiktiven maurischen Autors Cide Hamete Benengeli dargestellt. Cervantes selbst gibt sich als der Übersetzer der Geschichte aus, der die Geschichte aber nicht nur übersetzt, sondern auch kommentiert, z.B. so: „Cide Hamete, der Chronist dieser großen Historie, tritt zu Beginn dieses Kapitels mit folgenden Worten auf: ‚Ich schwöre als guter Katholik und Christ …‘ Dazu merkt sein Übersetzer an, wenn Cide Hamete als guter Christ schwöre, wo er doch tatsächlich Maure sei, habe er nichts anderes sagen wollen, als dass ein Katholik beim Schwören die Wahrheit schwört oder stets Wahres schwören und sagen sollte und er nun ebenfalls die Wahrheit spreche, ganz wie ein solcher Katholik“ (II 27) – In Wahrheit ist es natürlich Cervantes selbst, der spricht.

Ein tieferer Sinn?

Gibt es hinter dem vergnüglichen aber oberflächlichen Plot und den vielen Weisheiten am Rande eine große Weisheit, einen tieferen Sinn der Gesamtgeschichte? Viele meinen, dass Cervantes seine Leser darüber hätte verwirren wollen, was Wahrheit und was Fiktion ist. Doch das ist nicht der Fall. Das ganze Buch hindurch ist immer und zu jedem Zeitpunkt klar, dass Don Quijote nicht mehr alle Tassen im Schrank hat und einem Wahn verfallen ist. Es ist immer klar, was Wirklichkeit ist und was nur Phantasie, auch wenn es manchmal etwas verwickelt wird. Auch dort, wo es in einem Disput zwischen Sancho Pansa und einer anderen Person über die Frage, ob ein Scherbecken ein Ritterhelm und der Packsattel eines Esels das wertvolle Riemenwerk eines Pferdes sei, für einen Moment zu der Situation kommt, dass Wahn und Wirklichkeit für die Romanfiguren ununterscheidbar scheinen, wird diese Unklarheit sofort eindeutig aufgelöst durch den Stoßseufzer des Kontrahenten, der sich schlussendlich doch nicht beirren lässt: „Ich schwör’s …, niemand auf Erden kann mir einreden, das hier sei kein Scherbecken und das da kein Eselsattel.“ (I 45)

Die beiden Romanfiguren Don Quijote und Sancho Pansa kommen allerdings immer wieder in Verwirrung, was Realität und was Trug ist. Don Quijote wegen seines Wahnes, Sancho Pansa wegen seiner Unintellektualität, die ihn vor einem eigenen Urteil zurückschrecken lässt und allzu bereitwillig anderen glauben lässt, die er für klüger hält. Doch der Leser des Romans kommt an keiner Stelle in Zweifel.

Während Sancho Pansa durchaus auch manches aus der blauen Luft heraus erfindet, und sich darüber meistens auch bewusst ist, glaubt Don Quijote praktisch alles, was er in seinem Wahn zu sehen glaubt. Nur an einer einzigen Stelle scheint es, als habe Don Quijote ein Bewusstsein davon, dass es sich bei dem, was er anderen erzählt, um Lüge handele: Als Sancho Pansa reichlich Lügen auftischt, was er am Himmel angeblich gesehen habe, als er mit dem Holzpferd Clavilegno zu den Sternen ritt, sagt Don Quijote zu ihm: „Sancho, wenn man ihm glauben soll, was er am Himmel gesehen hat, soll er mir auch glauben, was ich in der Höhle des Montesinos gesehen habe. Wir verstehen uns.“ (II 41) – Doch was isoliert wie eine recht klare Aufforderung nach dem Muster aussieht: „Glaubst Du meine Lügen, glaub‘ ich Deine Lügen“, ist in Wahrheit anders zu verstehen. Denn nur wenige Kapitel zuvor wird berichtet, wie Don Quijote in Zweifel darüber kommt, ob seine Erlebnisse in der Höhle des Montesinos (II 22 f.) Realität oder Traum waren: „weil sich ihm die Frage, ob es Wirklichkeit war, was er in der Höhle des Montesinos erlebt hatte, immer mehr verwirrte.“ (II 34) Es geht also nicht um erfundene Lüge, sondern um Traum, und es sind Zweifel, ob es Realität oder Traum war, aber keine Gewissheit, dass es ein Traum war. Damit ist der obige Satz an Sancho Pansa eine Aufforderung, weniger misstrauisch zu sein, dann werde auch er, Don Quijote, weniger misstrauisch sein. Aus moderner Perspektive ist das von Don Quijote vorgeschlagene gegenseitige Vertrauen natürlich nicht sehr vernünftig, aber es geht nicht um Vernunft, sondern es geht um Ritterlichkeit und gutes Benehmen, zu dem Don Quijote Sancho Pansa immer wieder ermahnt. So auch hier. Das ist alles.

Es gibt auch Stimmen, die sagen, der Roman solle zeigen, dass tugendhafte Menschen Idioten sind, die nicht verstanden haben, wie die Welt funktioniert. Wer tugendhaft und gut sein will, sei ein Idiot, und die klugen Menschen seien bauernschlau wie Sancho Pansa. Doch auch das ist falsch. Denn die Idiotie des Don Quijote liegt nicht zuerst in seinem Streben nach Tugendhaftigkeit, sondern vor allem in seinem Wahn, der ihn die Realität verkennen lässt. Und der zynische Pragmatismus des Sancho Pansa wird in diesem Roman mehr als einmal gehörig auf die Schippe genommen.

Eine Kritik, die man durchaus aus dem Roman herauslesen könnte, ist eine Kritik an den holzschnittartigen Vorstellungen von Tugendhaftigkeit des Don Quijote, der seine Ideale ohne Rücksicht auf eigene Verluste durchzusetzen versucht, und damit immer wieder scheitert. Aber auch hier ist nicht die Tugendhaftigkeit selbst das Problem, sondern das Verkennen der Realität, die im Wahn des Don Quijote begründet ist. Damit formuliert der Roman eine Kritik an der Gesinnung von „Gutmenschen“. „Gutmenschen“ sind Menschen, die stets das Gute wollen, was an sich kein Problem wäre, die aber von der Realität und damit auch von dem, was wirklich gut ist, keine Ahnung haben. Man könnte auch von Naivlingen sprechen. Aber diese Kritik steht nicht im Zentrum des Romans.

Im Zentrum des Romans steht die Kritik an den Ritterromanen. Das ist der Plot, der bis zuletzt durchgehalten wird. Auch die Bekehrung des Don Quijote von seinem Wahn am Ende des zweiten Bandes wird einzig dadurch motiviert, dass Don Quijote auf diese Weise den Ritterbüchern abschwören kann, bevor er stirbt. Ein anderer Sinn ist in der Bekehrung des Don Quijote nicht erkennbar, es wird auch kein Grund genannt, warum sich Don Quijote bekehrt.

Eine moderne Deutung

Cervantes ging es in seinem Werk um die Verwirrung des Menschen darüber, was Realität und was Trug ist, so schreiben es Literaturwissenschaftler. Doch das gibt der Roman so nicht her. Denn Verrücktheit auf der einen Seite (Don Quijote) und Unintellektualität auf der anderen Seite (Sancho Pansa) sind nicht das, was wir meinen, wenn wir von der Verwirrung über Realität und Trug in einem tieferen, philosophischen Sinne sprechen. Dieses Thema finden wir in dem Schauspiel „Das Leben ist ein Traum“ von Pedro Calderón von 1634/35, aber nicht hier.

Doch es gibt eine unverhofft moderne Deutungsmöglichkeit für „Don Quijote“! Man könnte den Wahn des Don Quijote, der aus seiner völligen Versenkung in die Welt der Ritterromane herrührt, mit dem modernen Phänomen der Informationsblase vergleichen: Durch eigene Präferenzen und durch die Algorithmen elektronischer Medien bekommt jeder heute ein anderes Universum von Informationen serviert, das bestimmte Teile der Wirklichkeit – alternative Meinungen – ausblendet, und im Extremfall in der Verstrickung in einem Verschwörungswahn enden kann. Das trifft den Wahn des Don Quijote ziemlich gut!

Wir alle kennen das Phänomen von Andersdenkenden, die sich in einem Universum von Irrtümern eingerichtet haben, bei dem ein Irrtum den anderen stützt, und die richtige Argumente falsch verwenden. Es ist unheimlich schwierig, ein solchermaßen geschlossenes Weltbild argumentativ aufzusprengen. Und tatsächlich gibt es mindestens zwei Versuche in diesem Roman, Don Quijote mithilfe von Argumenten davon zu überzeugen, dass er sich in einem Wahn befindet. Doch sie scheitern, denn Don Quijote weiß seinen Wahn mit Argumenten zu verteidigen. Als der Pfarrer des Dorfes z.B. nach den Riesen fragt, bringt Don Quijote die Knochenfunde von Zwergelefanten auf Sizilien vor, die man damals für Knochen von riesenhaften, einäugigen Zyklopen hielt (II 1). Und auch ein Domherr kommt mit seinen Argumenten nicht weit und muss Don Quijote einige Zugeständnisse machen, dass er in diesem und jenem Punkt durchaus Recht hat. „Der Domherr konnte nicht genug über solch durchdachten Unfug staunen, den er von Don Quijote hörte …“ (I 50).

Aber auch Sancho Pansa passt hervorragend in diese moderne Deutung: Denn Sancho Pansa ist der exemplarisch unintellektuelle Mensch, für den der Unterschied zwischen Wahr und Falsch nicht so wichtig ist, der seinen eigenen Verstand unter die Autorität von Leuten stellt, die er für gelehrt hält, und der von der Aussicht, das Gubernament eines Eilandes zu erlangen, so geblendet ist, dass er völlig außer acht lässt, dass diese Aussicht auf Sand gebaut ist. Das Zitat über den Domherrn von oben setzt sich so fort: „… und schließlich staunte er über Sanchos Torheit, den es so hartnäckig nach der Grafschaft verlangte, die sein Herr ihm versprochen hatte.“ (I 50)

Diese beiden Charaktere, der irrende Intellektuelle und der irrende Unintellektuelle, begegnen einem auch in der Gegenwart auf Schritt und Tritt, und in der Welt der Sozialen Netzwerke des Internets wurde daraus ein Massenphänomen. Schon Hannah Arendt meinte, Intellektuelle hätten es leichter, sich an eine Diktatur anzupassen, weil sie über die besseren geistigen Fähigkeiten verfügen, sich selbst argumentativ zu betrügen. Und unintellektuelle Menschen, für die die Wahrheit keinen hohen Stellenwert hat, die irgendwelchen Autoritäten hinterherlaufen, und die auf falsche Versprechungen oder falsche Angstmacherei hereinfallen, gibt es heute ebenfalls zuhauf.

Die modernen Don Quijotes kämpfen nicht gegen Windmühlen, die sie für Riesen halten, sondern z.B. gegen Rassismus, den sie überall zu sehen glauben, auch dort wo keiner ist. Sie haben tausend Argumente, warum man die Stromversorgung einer modernen Volkswirtschaft allein aus Sonne und Wind bestreiten könnte, und übersehen dabei wesentliche Randbedingungen. Oder sie wiegeln berechtigte Hinweise auf die Radikalität einer Partei mit dem Argument ab, es handele sich nur um die Propaganda der Gegenseite.

Die modernen Sancho Pansas wiederum hängen sich mit ihrer Meinung an irgendeine Fernsehpersönlichkeit an, statt selbst zu denken. Insbesondere könne es nicht sein, dass die Experten einer bevorzugten Partei dermaßen irren, denn es sind ja Experten! Die modernen Sancho Pansas hoffen auf mehr Bürgergeld und höhere Renten, ohne zu sehen, dass die Sozialsysteme unbezahlbar werden und massive Fehlanreize gesetzt werden, und sie lassen sich von politisch interessierter Seite übertriebene Ängste einreden, etwa vor der Atomkraft, dem Fracking oder dem Klimawandel.

Womöglich ist diese moderne Deutung zugleich auch die originale Deutung für das 17. Jahrhundert, nur, dass wir modernen Menschen den Zeitgeist von damals nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen und deshalb die Anspielungen darauf für uns nicht mehr erkennbar sind.

Fazit

Der Roman „Don Quijote“ von Cervantes ist eine gelungene Zeitkritik, die mit viel Witz geschrieben ist und ein großes Lesevergnügen bereitet. Viele der Verhaltens- und Denkweisen, die Cervantes im 17. Jahrhundert auf die Schippe nahm, finden sich auch in unserer Gegenwart wieder, und so ist der Roman immer noch höchst lesbar und von einer geradezu zeitlosen Aktualität.

Die neue Übersetzung von Susanne Lange bringt den Witz in den Dialogen hervorragend zum Ausdruck. Das Hörbuch wurde von Christian Brückner wie immer bestens vorgelesen. Allerdings ist Christian Brückner ein langsamer Leser. Man kann die Geschwindigkeit auf 1.7 steigern und es hört sich immer noch gut an. Die Plappereien des Sancho Pansa kommen dabei vielleicht sogar noch besser zur Geltung. Das Hörbuch hat eine Länge von 46 Stunden. Mit einer Geschwindigkeit von 1.7 sind es noch 35 Stunden. – Die Übersetzung von Susanne Lange ist im Hanser-Verlag in zwei Bänden erschienen, die zusammen 1490 Seiten haben, und über Anmerkungen, Register und ein Nachwort verfügen. Die verlangten 78,- EUR sind dafür wohlinvestiert.

Im allgemeinen Bewusstsein ist Don Quijote heute nur noch wegen seines Kampfes gegen die Windmühlen bekannt. Das liegt vermutlich daran, dass der Kampf gegen die Windmühlen eine sehr anschauliche Episode ist, die ziemlich am Anfang des ersten Bandes vorkommt. Vermutlich haben viele Leser auch gar nicht viel weiter in den Roman hineingelesen. Es ist ähnlich wie beim „Simplicissimus“ von Grimmelshausen, der auch nur noch für die Ereignisse am Anfang der Geschichte bekannt ist, obwohl so viel mehr darin enthalten ist. – Das deutsche Sprichwort „gegen Windmühlen kämpfen“ hat übrigens eine andere Bedeutung als der Kampf gegen die Windmühlen im Roman. Im Roman täuscht sich Don Quijote über die wahre Natur der Windmühlen und hält sie für Riesen. Das Sprichwort kennt diesen Aspekt der Selbsttäuschung hingegen nicht und geht von einem durchaus bekämpfenswerten Gegner aus, den zu bekämpfen allerdings sinnlos ist, weil er nicht besiegt werden kann.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit (1967)

Das Epos Lateinamerikas

Der Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Marquez aus dem Jahr 1967 ist ein wahres Epos: Es ist nicht nur eine Geschichte, sondern die Geschichte aller Geschichten, eine Erzählung, die eine ganze Welt umgreift und in Worte fasst. Es ist die Welt Lateinamerikas um 1850-1950 und ihr Lebensgefühl.

Der Roman entfaltet sein Panorama anhand der Geschichte der Familie Buendía über mehrere Generationen hinweg. Am Anfang steht die Gründung des Ortes Macondo, der klein und beschaulich ist, ohne Kontakt zur Außenwelt, der nur von Zigeunern besucht wird. Nach und nach ziehen Staat und Kirche ein, dann kommt ein immer wieder aufflammender Bürgerkrieg zwischen „Liberalen“ und „Konservativen“, dann kommen italienische Tanzlehrer und französische Huren, dann eine ausbeuterische Bananengesellschaft und die Eisenbahn, Streiks und Erschießungen von Arbeitern, schließlich die Mode der 20er Jahre, das Motorrad und (fast) das Flugzeug. Die Geschichte der Buendías wiederholt sich in jeder Generation auf immer gleiche und doch immer wieder andere Weise. Verwirrenderweise wiederholen sich auch die immergleichen Namen: Aureliano, José Arcadio, Amaranta, Remedios, usw. Der Eindruck eines ewigen Kreislaufes entsteht, von Streben und vergeblicher Hoffnung, von Verrücktheit und Genie. Der Roman enthält zahllose „running gags“, die immer wieder und wieder vorkommen. Der Roman hat Züge eines psychedelischen Flusses, der rauschhaft vor den Augen des Lesers vorübergleitet.

Zum Lebensgefühl Lateinamerikas scheint auch der Aberglaube als fester Bestandteil zu gehören. Er wird in diesem Roman durch diverse übernatürliche Phänomene repräsentiert, die als faktische Gegebenheiten ohne weiteres in die Handlung eingebaut werden. Dazu gehören die Geister von Verstorbenen, Vorahnungen, Telepathie, die Levitation eines Priesters, Gegenstände, die im Haus umherwandern, Vieh, das besonders fruchtbar ist, je mehr Sex seine Besitzerin hat, oder jahrelanger Dauerregen, und ein Zimmer, in dem die Zeit stehen zu bleiben scheint – aber nicht für jeden. Dazu gehören auch Menschen, die über 100 Jahre alt werden und über mehrere Generationen im Leben mitmischen, und eine Schönheit in edler Einfalt, die der Oberst für die klügste von allen hält, weil sie ein vernünftiges Verhältnis zur Sexualität hat, und die leibhaftig in den Himmel auffährt. Diese Vorkommnisse sind aber nicht plakativ „esoterisch“ aufgebauscht, sondern zur Gesamtatmosphäre passend in die Handlung eingewoben.

Zu diesen übernatürlichen Phänomenen gehört insbesondere auch der Zigeuner Melquiades, der Alchemie, antike Texte und geheime Manuskripte nach Macondo bringt, und eine Prophezeiung über die Zukunft der Familie Buendía ausspricht. Und natürlich der „weise Katalane“, der eine Buchhandlung für seltene Bücher im Ort eröffnet, die am Ende des Romans zur Entzifferung der Manuskripte des Melquiades und seiner Prophezeiung gebraucht werden, woraufhin der Ort Macondo der endgültigen Zerstörung anheim fällt.

Sexualität wird in diesem Roman vorwiegend derb gelebt. Liebe im eigentlichen Sinne kommt zwar vor, aber selten. Es mag dem Milieu entsprechen, aber man hätte sich etwas mehr Kritik gewünscht, und sei es nur durch Ironie. Es ist so ziemlich alles dabei: Angefangen von Männern, die Hausmägde schwängern und dann verlassen, über Zweitfrauen und Scheinehen, über Mütter, die ihre Töchter dem berühmten Oberst wie einem Zuchtbullen zuführen, über ständig vorkommende Prostitution, die vom Autor immer wieder als heilsam und hilfreich gezeichnet wird, über hin und wieder vorkommende Inzucht, über die Andeutung eines Päderasten, bis hin zu Beziehungen, die allein auf rauschhaftem Sex gegründet sind.

Ein Grundthema des Romans, das allerdings immer nur angedeutet und nie zu größeren Höhen der Einsicht geführt wird, ist die Einsamkeit, das Scheitern der Hoffnungen und die Sinnlosigkeit, schließlich das Warten auf den Tod. Dabei die ewige Wiederholung des Immergleichen. Obwohl meistens recht heiter, durchzieht ein melancholischer Grundton das Buch.

Der Schluss des Romans ist etwas seltsam: Für Sippen, die zu hundert Jahren Einsamkeit verdammt waren, so heißt es, gibt es keine zweite Chance. Damit schneidet der Roman seine Verbindung zur Gegenwart ab, und lässt auch keinen Raum für eine bessere Zukunft. Der Roman beschreibt, was geschieht, gibt aber keine Ratschläge und vermittelt keinen Sinn.

Nebenbei:

Der Autor des Romans war Unterstützer diverser kommunistischer Regime. Davon ist im Roman aber kaum etwas zu merken. Eine leichte Sympathie für die „Liberalen“ hat damit nichts zu tun. Im Roman sind „Konservative“ und „Liberale“ gleichermaßen albern. Auch die Bananengesellschaft der „Gringos“ wird zumindest nicht auffallend für ein antiamerikanisches Ressentiment ausgeschlachtet.

Unter den Manuskripten des Melquiades sind auch die Texte von Hermann dem Lahmen, einem Mönch von der Insel Reichenau („damit er das Astrolabium, den Kompass und den Sextanten bedienen konnte“).

Die Neuübersetzung von Dagmar Ploetz erweist sich als sehr gelungen. Als Vorleser hat Ulrich Noethen komplett überzeugt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. November 2018)

Ian Wright: Brilliant Maps – An Atlas for Curious Minds (2019)

Irritierende Karten regen zum Nachdenken an

Mit Statistik kann man viel Unsinn treiben und Verwirrung stiften. Hier jedoch werden Statistiken in Form von verblüffenden Karten präsentiert, die den Betrachter irritieren und zum nachdenken bringen sollen. Dabei wird mancher Zusammenhang klar, der zuvor unbekannt war, und manches Vorurteil wird hinterfragt.

Das Buch versammelt eine Auswahl von verblüffenden Karten des erfolgreichen Blogs „Brilliant Maps“, der 2014 gestartet wurde. Ein längeres Vorwort erzählt die Erfolgsgeschichte dieses Blogs, wie ein Amateur ohne größere Absichten aus bescheidenen Anfängen eine weltbekannte Marke entwickelte. Schließlich ist das Buch selbst farbenfroh und auch als Taschenbuch von größerem Format und damit als Hingucker für jedes Buchregal geeignet.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie (1991)

Genialer Roman, geniale Philosophie-Einführung, nicht nur für Jugendliche

Die Grundidee von Jostein Gaarders „Sofies Welt“ ist genial: Philosophie wird nicht nur trocken abgehandelt, sondern auch gleich praktisch vorgeführt. Dabei ist dem Autor auch eine bemerkenswerte Buch-im-Buch-Konstruktion gelungen, die ihresgleichen sucht. Die Darlegung der philosophischen Ideen ist zudem sehr überzeugend und ausgewogen gelungen. Auch die Auswahl der dargestellten Philosophen geht in Ordnung und wird sinnvoll durch einen Gang in eine Buchhandlung und den Blick zum Sternenhimmel ergänzt. Die Story hat Esprit und saugt einen in sich hinein.

Wichtigster Schwachpunkt ist eine zu sanfte Kritik gegenüber Gottesglaube und Religion, die einen jungen Ministranten aus behütetem Hause kaum ins Grübeln bringen dürfte. – Gleich das nächste Problem ist die affirmative Übernahme des Zeitgeistes der 1980er Jahre, die mit den Stichworten „Öko“ und „Uno“ bezeichnet sei. Ein Philosoph ist eher linksliberal, so scheint es, während auf gesellschaftliche Ordnung bedachte Menschen eher keine Philosophen sind. Aber diese Ausfälle halten sich in Grenzen und haben teils ein inzwischen schon nostalgisches Flair an sich.

Zu Beginn des Romans hat man den Eindruck, dass zu wenig geschieht und zuviel über Philosophie doziert wird. Doch das legt sich schnell. – Schließlich scheint das Entkommen der beiden Hauptpersonen aus der Gedankenwelt des Majors nicht völlig überzeugend zu sein, da sie in einer Phantasiewelt landen; es wäre vielleicht besser gewesen, wenn sich Sofie und Alberto als Alter Egos von Hilde und dem Major herausgestellt hätten, dann wäre ihr Entkommen aus einer unterbewussten Existenz überzeugender gewesen.

Fazit: Genial mit kleinen Schwächen, ein guter Einstieg in die Philosophie nicht nur für Jugendliche, und eine verrückte, lesenswerte Geschichte. Lesen!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

Alejandro Amenábar: Agora (Film 2009)

Wie sich eine kollektive Weltanschauung Schritt für Schritt durchsetzt

Der Film „Agora“ ist gut, sehr gut sogar – verstörend gut. Er zeigt, wie eine kollektive Weltanschauung X – in diesem Fall das Christentum – sich in einer Gesellschaft Zug um Zug durchsetzt, und andere kollektive Weltanschauungen Y oder Z – in diesem Fall Serapis-Kult und Judentum – dabei schrittweise an Boden verlieren. Nebenbei kommen Freidenker, die mit den bisherigen kollektiven Weltanschauungen ein Arrangement gefunden hatten, unter die Räder, weil sie ein solches Arrangement mit der neuen kollektiven Weltanschauung eben noch nicht gefunden haben.

Der Film zeigt sehr gut, dass guter Wille allein nicht genügt, um widerstreitende kollektive Weltanschauungen zu befrieden. Denn die Dinge schaukeln sich hoch und haben eine Dynamik, die nicht beherschbar ist. Es nützt nichts, auf die Vereinfacher und Hetzer zu schimpfen – sie sind nun einmal immer da, man muss sie mitdenken, sonst hat man kein volles Bild der Wirklichkeit. Man sieht, wie auch vernünftige Menschen auf allen Seiten – auch wenn sie Macht haben – gegen die Neigung zur Dummheit, die in jeder kollektiven Weltanschauung angelegt ist, nichts ausrichten können.

Das Dumme an der Dummheit ist, dass man sie vollkommen gleichberechtigt mit der Realität behandeln muss, wenn sie nur gesellschaftliche Macht hat. Man muss mit ihr verhandeln. „Seit wann gibt es in Alexandria so viele Christen?“ lautet einer der Schlüsselsätze im Film. Dass in den Verfassungstexten einer Gesellschaft irgend etwas kodifiziert ist, spielt dann keine Rolle mehr – das wird alles gnadenlos Bestandteil der Verhandlungsmasse, wenn die Gewichte in der Gesellschaft sich verschieben.

Und dann gibt es noch die Möglichkeit, mit den Wölfen zu heulen, nur lauter. Im Film scheitert dieser Weg, weil der Protagonist nicht laut genug „mit den Wölfen heulte“ (der Moment, wo Orestes sich nicht niederkniet).

Natürlich denkt man bei all dem an das derzeitige Erstarken von Formen des Islams, die fern von der Vernunft sind (womit gesagt sein soll, dass der Islam auch vernünftig sein kann). Man kann die Sache aber auch tiefer hängen. Welcher Politiker z.B. könnte es sich leisten, Kohlendioxid als Verursacher des Klimawandels anzuzweifeln? Wer könnte es wagen, gegen das gedankenlose Multikulti und den Softsozialismus in der Gesellschaft anzugehen? Usw. usf.

Auch dies: Noch nie jedenfalls habe ich das Christentum so hinterfragt gesehen. Die meisten von uns sind ja mit einem „lieben“ Bild von Christentum aufgewachsen, und auch wenn wir alle es längst hinterfragt haben: So krass wie in diesem Film hat man es noch nie gesehen, und der Eindruck ist gerade auch deshalb so stark, weil der Film nicht übertreibt, sondern glaubwürdig bleibt: Auch wenn die wahre Story um Hypatia nicht exakt genau so gewesen ist, so kann man sich dennoch nur zu gut vorstellen, dass das Christentum diese üble Rolle auf diese Weise spielen kann und auch oft genug gespielt hat. „Halleluja“ statt „Allahu akbar“ – das kann man sich nur zu gut vorstellen.

Der Film war fast zu perfekt. Sogar die Aussprache von „Agora“ war richtig. Die meisten sagen ja „Agoora“, aber es heißt natürlich „Agoraa“ 🙂

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. März 2010; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden.)

Asterix Band 40: Die Weiße Iris (2023)

Bester Asterix seit langem: Massive Zeitkritik am Wokismus

Nachdem die Gestaltung der Asterix-Bände vor einigen Jahren endgültig auf ein neues Zeichner-Texter-Duo übergegangen war, hat die Asterix-Reihe nach einem Tiefpunkt wieder an alte Erfolge anknüpfen können. Mit traditionellen Rezepten entstanden einige Bände, die vor allem als skurrile Abenteuer und als Verballhornung der bereisten Länder gut funktionierten. Doch was den zeitkritischen Aspekt anbelangt, fehlte der richtige Biss noch. Das holt der aktuelle Band nun nach! Während der Zeichner Didier Conrad beibehalten wurde, wechselte der Texter von Jean-Yves Ferri zu Fabcaro. Und der hat ganze Arbeit geleistet.

Im neuen Band sehen wir, wie das Gallische Dorf von einer schrecklichen Ideologie namens „Weiße Iris“ befallen wird: Plötzlich wollen alle achtsam sein und positiv denken! Alles säuselt sich an, nirgendwo fliegt eine Faust. Und statt Fleisch essen alle nur noch Fisch. Darüber gehen die Traditionen und die Wehrhaftigkeit des Dorfes verloren. – Das Phänomen der „sozialen Ansteckung“ durch neue, verrückte Ideen und Moden wird von Fabcaro hervorragend eingefangen, aber auch, dass eine solche Ideologie nicht wirklich „von selbst“ um sich greift, und nur bei bestimmten Charakteren. Natürlich zielt die Kritik auf den aktuell grassierenden Wokismus ab, der seinen Zenit inzwischen wohl überschritten haben dürfte. Dessen Irrsinn wird, ohne ihn direkt zu nennen, in einem Feuerwerk der Einfälle durch den Kakao gezogen.

Aber auch darüber hinaus hat dieser Band eine ganze Reihe interessanter Gags zu bieten. So z.B. den Zenturio Daximplus, der durch seinen Realismus zu überzeugen vermag, eine Satire auf moderne Kunst oder die Verballhornung der Durchsagen der Deutschen Bahn. Viele dieser Witze verdanken die deutschen Leser wohl vor allem der Übersetzung.

Fazit: Mit diesem Band ist die Asterix-Reihe wieder zur Hoch- und Bestform aufgelaufen! So muss ein Asterix sein. An manchen Stellen wird der deutsche Leser denken: Oh oh, die Franzosen sind einfach die besseren Revolutionäre, und ein deutscher Autor würde sich manches wohl nicht getrauen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Thilo Sarrazin: Europa braucht den Euro nicht – Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat (2012)

Sachlich brilliant – linker Zeitgeist als tiefere Ursache

Wie immer schildert Sarrazin ganz sachlich die Zusammenhänge, wie man sie selten so geduldig und ausführlich erklärt bekommt. Man erfährt auch manches, was man selbst als aufmerksamer Zeitungsleser noch nicht wusste: Dass z.B. hohe Staatsschulden kein Problem sind, wenn der Staat bei seinen eigenen Bürgern verschuldet ist, aber dafür niedrige Steuern hat, wie z.B. Japan; aber das ist ein Randthema. Sehr gut auch die Erkenntnis von Sarrazin, dass ein Goldstandard in der Währung nichts nützt, wenn auch hier die Regeln nicht eingehalten werden (Bretton Woods). Das entscheidende sind gute Regeln und wirksame Mechanismen, die deren Einhaltung tatsächlich garantieren bzw. Übertretungen konsequent abstrafen. Dabei ist es egal, ob Goldstandard oder „Papierwährung“. Die DM war auch eine „Papierwährung“ und hatte wunderbar funktioniert.

Auf dieser sicheren Sachgrundlage führt Sarrazin dann eine klar nachvollziehbare Argumentation, warum man einen Schuldner nicht aus seiner Schuldenkultur herausholen kann, indem man ihm immer mehr Geld zusteckt; hier ist „moral hazard“ das Schlüsselwort, mit vielen Beispielen aus der Vergangenheit, wo dies ebenfalls scheiterte. Politik handelt nun einmal unter dem Druck verschiedener Interessen, und wenn man den Druck zu Reformen lockert, finden sie eben nicht statt. Sarrazin erklärt weiter, warum vertragliche Zusagen das Papier der Verträge nicht wert sind, auf dem sie gedruckt stehen, wenn kein wirksamer Mechanismus zur Durchsetzung dahinter steht; warum die Geldempfänger ihre Geldgeber keineswegs lieben, sondern im Gegenteil zu hassen und zu verachten beginnen; warum also der ganze Euro-„Rettungs“- Wahnsinn ein Wahnsinn ist, der ins Unglück führt, statt ins Paradies eines vereinten Europa.

Der einzig richtige Weg ist der argentinische Weg: Griechenland muss Bankrott erklären, aus dem Euro raus, abwerten, und dann wird es nach einer kurzen Phase der Turbulenzen wieder auf Kurs sein. Statt diesen ehrlichen, realistischen, gerechten und marktwirtschaftlichen Weg zu gehen, der keinesfalls die ganz große Katastrophe sondern vielmehr die handhabbare „kleine“ Katastrophe wäre, geht Europa derzeit aus ideologischen Gründen (Europagläubigkeit, Sozialgläubigkeit) den Weg der Planwirtschaft und Entdemokratisierung, den Weg der Ausbeutung der Fleissigen und Erfolgreichen (Deutschland …) und der demütigenden Gängelung und Bevormundung der Verschuldeten, der immer tiefer in die Misere führt, statt aus ihr heraus.

Sehr richtig analysiert Sarrazin, dass Deutschland vom Euro kaum profitiert haben dürfte, und dass der Export-Anteil in die Euro-Länder sogar rückläufig war. In Ländern wie Griechenland wurde durch den Euro hingegen die an sich schon schwach entwickelte Industrie vollends ruiniert, weil der Euro für sie zu stark ist, eine Abwertung der nationalen Währung nun aber nicht mehr möglich war. Auch können diese Länder nun nicht mehr einfach ihr eigenes Geld drucken, um sich über eine Inflation aus der Affäre zu ziehen. Auch hat Sarrazin richtig beobachtet, dass das gegenseitige Kennenlernen in Europa ebenfalls rückläufig ist, und sich alles mehr und mehr an einer angelsächsischen Weltkultur orientiert, was ein interessanter Punkt jenseits aller Ökonomie ist.

Wer schon längst den Überblick über die Bankenkrise und die später folgende Eurokrise verloren hat: Bei Sarrazin wird das alles noch einmal chronologisch aufgedröselt und analysiert. Auch die Zeitpunkte, an denen die entscheidenden Fehler gemacht und Vertrags- bzw. Verfassungsbrüche begangen wurden, werden genannt. Teilweise war Sarrazin als Beamter selbst dabei und berichtet aus dem Nähkästchen, wie es wirklich war. So wurde die Einführung des Euro von Helmut Kohl gegen die Meinung seiner Beamten beschlossen, vermutlich, um Frankreich für die deutsche Einheit zu gewinnen. Gegen alle linke Propaganda kommt Sarrazin immer wieder zu demselben Schluss: Schuld an allem sind nicht die Banken oder „Spekulanten“ oder Konzernbosse oder diese oder jene Lobby oder wer auch immer, sondern im Kern muss die Ursache für alle diese Probleme im Politikversagen gesucht werden. Die Politiker sind schuld. Die politische Klasse und ihre Ideen.

Sarrazin geht in seiner Analyse aber noch tiefer: Er arbeitet auch die tieferen Gründe für das erschreckende Versagen der deutschen politischen Klasse heraus. Im Kern ist es eine fundamentale Kritik am linken Zeitgeist, der sich ab 1968 in Deutschland immer mehr durchsetzen konnte: Ein falsches Verständnis von Verantwortung in bezug auf die deutsche Vergangenheit, die Meinung, gerade als Deutscher müsste man immer eher geben und nachgeben statt andere zu kritisieren und klare, für alle heilsame Grenzen zu setzen. Sarrazin beobachtet eine erschreckende Ahnungslosigkeit und Naivität bezüglich ökonomischer Fragestellungen gepaart mit einer irrationalen Abneigung gegen den „Kapitalismus“, d.h. unsere erfolgreiche Marktwirtschaft, sowie eine sozialistische Verteilungsmentalität, die vergisst, dass Wohlstand erwirtschaftet werden muss, und wie das eigentlich funktioniert. Auch die verschiedenen Nationalcharaktere in Europa werden angesprochen, die von Multikulti-verliebten Politikern häufig ignoriert werden. Sie stehen einem zu engen Zusammengehen in Europa entgegen, weil man damit zusammen zwingen würde, was nicht zusammen gehört, auch und gerade ökonomisch nicht. In den Ländern des Südens ist Papier sehr viel geduldiger als im Norden. In der EZB ist die stabilitätsorientierte Tradition der deutschen Bundesbank vollkommen unter die Räder gekommen, dort herrscht jetzt der „Club Med“ mit Mehrheit. Namentlich wird als Vordenker der ideologischen Verblendung auch Jürgen Habermas kritisiert, womit Sarrazin ins Herz der herrschenden Zeitgeist-Klasse trifft. Es sind also die Politiker und ihre Vordenker schuld.

Gegen all das formuliert Sarrazin den Gegenentwurf eines Europas, der für Europa-Euphoriker sicher unerträglich „spießig“ klingt, in Wahrheit aber einfach nur realistisch und vernünftig ist. Die europäischen Staaten müssen dort kooperieren, wo es Sinn macht, aber ihre eigenen Wege gehen, wo es keinen Sinn macht. Insbesondere muss jeder Staat für sich allein wirtschaften, und darf nicht von anderen Staaten „gerettet“ werden, so wie es vertraglich einst vorgesehen war. Ein Euro-Austritt überschuldeter Länder darf kein Tabu sein. Nur in einem einzigen Punkt ist Sarrazin bereit, sich Europa auch „ideologisch“ etwas kosten zu lassen: Sarrazin warnt davor, dass Frankreich durch Deutschland gedemütigt wird, weil das deutsch-französische Verhältnis die unabdingbare Basis für ein kooperatives Europa ist, in dem Frieden herrscht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Erstveröffentlichung auf Amazon am 1. Juli 2012.

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