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Ludwig Erhard: Wohlstand für alle (1957)

Was soziale Marktwirtschaft wirklich ist – und was nicht

Das Buch „Wohlstand für Alle“ von Ludwig Erhard ist das Grundlagenwerk der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Hier gibt der Vater der sozialen Marktwirtschaft persönlich Auskunft, und jeder, der sich auf das Schlagwort der sozialen Marktwirtschaft berufen will, muss sich an diesem Buch messen lassen.

Die zentrale Botschaft lautet: Das Soziale an der sozialen Marktwirtschaft ist die Marktwirtschaft selbst. Wo immer ein echter Markt mit freiem Wettbewerb herrscht, werden die Ressourcen und kreativen Potentiale einer Volkswirtschaft optimal genutzt, und es entsteht größtmöglicher ökonomischer Nutzen. Deshalb hat für Ludwig Erhard das Kartellrecht eine zentrale Bedeutung, denn nur dadurch wird sichergestellt, dass tatsächlich Wettbewerb herrscht. Ein regelloser Kapitalismus mit Monopolbildungen wäre keine Marktwirtschaft; ein Nachtwächterstaat ist nicht das Ziel.

Die zweite Priorität ist die Stabilität der Preise. Die Stabilität der Preise ist sowohl für die Unternehmer wichtig, weil sie Planungssicherheit haben, aber auch für die ausländischen Kunden von Exportgütern, und schließlich auch für die Verbraucher, weil ihnen das Geld nicht durch Inflation aus der Tasche gezogen wird. Zur Erhaltung der Preise setzt Erhard auch auf staatliche Lenkungsmaßnahmen wie die Eindämmung einer überhitzten Konjunktur und im Idealfall auf die psychologische Wirkung seiner Aussagen.

Die dritte Komponente ist die Umverteilung des Wirtschaftswachstums an alle durch Lohnsteigerungen (oder durch Preissenkungen). Eine Umverteilung der Zuwächse ist politisch viel einfacher durchzusetzen als eine Umverteilung des bestehenden Vermögens, und setzt keine Fehlanreize. Ludwig Erhard spricht sich klar dagegen aus, die Sozialstruktur der Vorkriegszeit mit wenigen Reichen, einer breiten Unterschicht und einem schwachen Mittelstand fortzuführen. Lohnsteigerungen dürfen aber niemals die Produktivitätssteigerungen übertreffen, da es sonst zu Preissteigerungen kommt, die die Lohnerhöhung sinnlos sein lassen.

Vollbeschäftigung ist für Ludwig Erhard ein nachgeordnetes Ziel, das sich durch die höheren Ziele quasi von selbst erfüllen wird. Wichtig ist vor allem der Aufbau von Arbeitsplätzen, die sich ökonomisch selbst tragen. Einen Ausbau der sozialen Sicherungssysteme sieht Erhard skeptisch: Sie nehmen den Menschen die Freiheit und gaukeln eine Sicherheit vor, die es so nicht gibt.

Im Detail argumentiert Erhard, dass ein echtes Unternehmertum gar keine Kartelle wollen kann, will es nicht zur planwirtschaftlichen Bürokratenkaste verkommen. Auch Handwerksordnungen und andere bürokratische Regulierungen können Kartellcharakter annehmen, wenn sie den Markteintritt von Konkurrenten erschweren.

Der Export ist für Ludwig Erhard ein Schlüssel zum Erfolg. In diesem Zusammenhang äußert sich Erhard auch dazu, wie man Europa nicht integrieren darf, nämlich durch „Harmonisierung“ oder gar feste Wechselkurse zwischen den Staaten (erinnert an die heutige EU und das heutige Euro-System). Vielmehr wird sich die ökonomische Integration unterschiedlich leistungsfähiger Ökonomien durch eine freie Preisbildung und durch die Konvertibilität der Währungen ergeben. Alles andere würde zu einer schlimmen Desintegration führen, meint Erhard.

Stellenweise wird Ludwig Erhard philosophisch. So z.B., wenn er die These ablehnt, dass die Marktwirtschaft materialistisches Denken fördere. Vielmehr führe ein wachsender Wohlstand dazu, dass die Menschen durch die Marktwirtschaft mehr Freizeit für ihre geistig-seelische Erbauung haben, statt nur für ihren Broterwerb arbeiten zu müssen. Insoweit sei die Marktwirtschaft „ein Gott wohlgefälliges Beginnen“. Bedenken von Oberschichten, dass der Wohlstand die einfachen Menschen dekadent mache, weist er zurück: Man solle anderen gönnen, was man selbst hat. Eines Tages sei es sogar möglich, dass man bewusst auf Wirtschaftswachstum verzichte, um mehr Lebensqualität zu gewinnen – doch so weit sei man noch lange nicht. Ludwig Erhard warnt auch vor der Maßlosigkeit als einem typisch deutschen Charakterzug (S. 268). Freiheit und Demokratie sind für Ludwig Erhard untrennbar mit der Marktwirtschaft verknüpft. Hingegen lesen sich die zitierten Reden der SPD aus damaliger Zeit wie Honecker-Reden: Ihnen fehlt ganz offensichtlich jeder Glaube an die Kraft der Freiheit.

Die ersten 160 Seiten des Buches bilden eine Art politischer Autobiographie, die minutiös die politische Situation des ersten Jahrzehnts von Bizone und BRD durchgeht. Ludwig Erhard erklärt, warum er jeweils welche Entscheidung traf, und wie er mit der Militärbehörde bzw. der politischen Opposition um seine Ziele ringen musste. In diesem Teil bekommt der Leser allein durch die Praxis einen Begriff davon, was soziale Marktwirtschaft ist. Dabei schreibt Ludwig Erhard nicht lehrbuchmäßig, sondern präsentiert seine Maximen in Form von kurzen Faustregeln. Erhard wehrt sich gegen den Vorwurf, dass er amerikanische Befehle ausgeführt hätte (S. 194 f.).

Das erste Jahrzehnt von Bizone und BRD war geprägt von kriegsbedingten, großen Ungleichgewichten und Turbulenzen, von Kapitalmangel, Rohstoffmangel, Bevölkerungszuwachs durch Flüchtlinge und vielen anderen Problemen. Ludwig Erhard glaubte fest daran, dass eine wahrhaft freie Marktwirtschaft, beginnend mit der Einführung der Deutschen Mark in der Währungsreform von 1948, von ganz von selbst dazu führen würde, dass sich die Ungleichgewichte ausbalancieren würden. Und er hat Recht behalten. Auftauchende Probleme und Knappheiten überwand Erhard nicht durch ängstliches Zurückschrecken, sondern durch forsches Herauswachsen aus der Krise. Den Begriff „deutsches Wunder“ (heute: „Wirtschaftswunder“) lehnt Erhard ab, denn für ihn sei die Entwicklung alles andere als ein Wunder gewesen.

Das Buch ist leicht zu lesen, da es in lauter kleine Unterkapitel eingeteilt ist.

Fazit

Ein ökonomisch aufklärendes, fast schon weises Buch voller zeitloser Grundwahrheiten, das mit vielen seiner Aussagen gerade auch heute wieder verblüffend aktuell ist, nicht zuletzt mit seinen Warnungen, wie man es nicht machen sollte: Denn genau so wurde es in den letzten Jahrzehnten leider gemacht. Wir sind von dem vorgezeichneten, guten Weg Ludwig Erhards weit abgekommen, und alle warnenden Vorhersagen Ludwig Erhards haben sich bewahrheitet.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung ohne Fazit auf Amazon am 16. Mai 2016)

Anhang:
Zitate in Auszügen über richtige und falsche Arten der Integration Europas

Es scheint heute allenthalben eine gewisse Scheu vor dem Wettbewerb vorzuherrschen, der notwendigerweise mit der Schaffung von größeren Markteinheiten verbunden ist bzw. durch sie ausgelöst wird. Man wähnt, daß die Bedingungen für einen freien Wettbewerb bei einer derartigen Integration zu ungleich wären, als daß dieses Ordnungsprinzip der Marktwirtschaft gesetzt werden dürfte. Man sollte daher – so meinen manche Wirtschaftskonstrukteure – zuerst einmal alle diese Unterschiedlichkeiten ausgleichen bzw. sie alle auf ein gleiches Niveau bringen, ehe man den freien Wettbewerb eröffnet.

Solche Versuche könnten zwar in engen Grenzen zu einem bescheidenen Erfolg führen; es ist aber völlig illusionistisch, anzunehmen, daß man in dieser Welt, d.h. in einer konkurrierenden, in Wettbewerb stehenden Welt, in bezug auf die einzelnen Kostenfaktoren gleiche Startbedingungen herbeiführen könnte. Dieses Ziel auch nur anstreben zu wollen, müßte einen Dirigismus und Dilettantismus sondergleichen auslösen, der von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt wäre.

Nur der Preis, in welchem dann naturgemäß auch die Qualität Berücksichtigung und Ausdruck findet, ist der ökonomische Maßstab zur Beurteilung von Leistungen. … Integration bedeutet für jeden Einsichtigen daher freien und umfassenden Wettbewerb, bedeutet wirtschaftliche Zusammenarbeit auf einer funktionell höheren Ebene.

Diese kritische Anmerkung gilt natürlich auch gegenüber solchen Vorstellungen, die ebenso abwegige Gedanken unter einem anderen Motto, dem der „Harmonisierung“, verfolgen und unter dieser Flagge eine Gleichmacherei aller ökonomischen Verhältnisse betreiben wollen. Wollte man den Versuch unternehmen, alle betriebswirtschaftlichen Kostenelemente von Land zu Land und über einen größeren Bereich von Ländern hinaus so zu harmonisieren, d. h. auszugleichen, daß der Wettbewerb keine „störenden“ Wirkungen zeitigen kann, bedeutet dies nicht Integration, sondern eine Desintegration schlimmsten Ausmaßes.

Unter dem Stichwort „Harmonisierung“ ging das Ansinnen sogar so weit, daß am Ende der Übergangsperiode die Lohnniveaus der einzelnen Mitgliedsstaaten angeglichen und ihre Gesamtarbeitskosten „äquivalent“ sein müßten. Man könnte über diese Forderung hinweggehen, weil sie volkswirtschaftlich einfach nicht realisierbar ist, denn von Sizilien bis zum Ruhrgebiet kann es keine gleiche Produktivität und mithin auch keine gleichen Arbeitskosten geben. Die Praktizierung dieses Grundsatzes müßte gebietsweise sogar zu einem wirtschaftlichen Massensterben führen.

Niemand kann glauben wollen, daß es möglich sein könnte, in allen beteiligten Ländern quer durch alle Industriezweige einen gleichen Produktivitätsstandard zu setzen und einen gleichen Produktivitätsfortschritt zu erzielen. Selbst wenn durch künstliche Manipulationen an einem bestimmten Stichtag gleiche Startbedingungen gesetzt werden könnten, würden am Tage danach schon wieder Veränderungen Platz greifen, weil die Vorstellungen und das Verhalten der Menschen und auch der Völker hinsichtlich ihres Sparen-und-Verbrauchen-Wollens, des Leistungsstrebens, ihres Fleißes u.ä.m. auch in einem gemeinsamen Markt niemals auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können.

Jene Forderung beruht also auf einer völlig illusionären Verkennung ökonomischer Gesetze und Tatbestände, aber sie charakterisiert zugleich eine geistige Haltung, die sich in einem integrierten Europa unter keinen Umständen durchsetzen darf, wenn nicht menschliche Initiative und schöpferische Kraft, ja das Leben selbst, erstickt werden sollen.

Es ist also eine Illusion, die hinter diesen Vorstellungen steht, der Wahn, zu glauben, man könnte die natürlichen Gegebenheiten korrigieren und die strukturellen Bedingungen von Land zu Land mit künstlichen Mitteln so weit ausgleichen, daß jedes Land in jedem Bereich mit gleichen Kosten arbeitet. Ich halte dies – von der Unmöglichkeit, daß man dieses fragwürdige Ziel jemals wird erreichen können, einmal abgesehen – auch in keiner Weise für erstrebenswert.

Dann gäbe es auch keinen Hinderungsgrund mehr, wieder in die nationale Isolierung zurückzufallen, denn wenn jeder Mann jede Ware zu den gleichen Kosten anbieten kann, warum – so frage ich – soll ich sie dann anderwärts kaufen? Hier verliert der zwischenstaatliche Güteraustausch seinen letzten und eigentlichen Sinn. Das ist doch gerade der Witz, daß alle Länder unter verschiedenen Bedingungen arbeiten, daß bei dem einen die Gunst auf dieser, bei dem andern auf jener Seite liegt, daß der eine da und jener dort leistungsfähiger ist. Gerade hieraus erwächst ja die Notwendigkeit der gegenseitigen Ergänzung und die Fruchtbarkeit eines solchen Bemühens.

Wer dieser Harmonisierungstheorie folgt, darf nicht der Frage ausweichen, wer die Opfer bringen und womit die Zeche bezahlt werden soll. In der praktischen Konsequenz muß ein solcher Wahn naturnotwendig zur Begründung sogenannter „Töpfchen“ führen, d. h. von Fonds, aus denen alle diejenigen, die im Nachteil sind oder es zu sein glauben, entweder entschädigt oder künstlich hochgepäppelt werden. Das aber sind Prinzipien, die mit einer Marktwirtschaft nicht in Einklang stehen. Hier wird nicht die Leistung prämiiert, sondern das Gegenteil getan, es wird der Leistungsschwächere – aus welchen Gründen auch immer – subventioniert.

Gegenüber diesen Theorien habe ich zu wiederholten Malen darauf hingewiesen, daß ich jene „Sozialromantik“, die hier zum Ausdruck kommt, für außerordentlich gefährlich halte. Dagegen trete ich dafür ein, daß gemeinsame Mittel nach strukturellen und soziologischen Maßstäben einer echten Produktivitätssteigerung sowie für die Erhaltung lebensfähiger Wirtschaftszweige nutzbar gemacht werden. Die Geister scheiden sich nicht in der Fragestellung, ob ein gemeinsamer Markt sobald als möglich entstehen soll oder nicht; es geht ausschließlich um die Ordnungsprinzipien und die geistige Ausrichtung.

Ein bürokratisch manipuliertes Europa, das mehr gegenseitiges Mißtrauen als Gemeinsamkeit atmet und in seiner ganzen Anlage materialistisch anmutet, bringt für Europa mehr Gefahren als Nutzen mit sich.

Neben den politischen Gefahren, die mit der sogenannten sozialen Harmonisierung verbunden sind, ist diese Konzeption wissenschaftlich überhaupt nicht diskussionsfähig. Die soziale Harmonisierung steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Integration; sie ist nicht durch gequälte Konstruktionen zu verwirklichen, sondern durch eine Angleichung der Lebensformen und Lebensvorstellungen im Rhythmus der fortschreitenden Integration. Obwohl ich also einen gemeinsamen Markt bejahe, bin ich doch der Auffassung, daß auch in einem solcherart integrierten Europa die Lebens- und Produktionsbedingungen niemals einheitlich sein werden. In gewissem Sinne beruht die Funktion des Gemeinsamen Marktes ja gerade umgekehrt auf der Möglichkeit und Notwendigkeit einer fruchtbaren Ergänzung der einzelnen Länder nach Maßgabe ihrer besonderen und unterschiedlichen Leistungskraft und der Vielfältigkeit der naturgegebenen und strukturellen Bedingungen.

Es ist eine fast tragische Erkenntnis, glauben zu müssen, daß wir innerlich bereits derart verkrampft sind, Ordnung nur noch in der Vorstellung der „Organisation“ begreifen zu können. Wir haben den Sinn für echte Ordnung verloren, die gerade dort am stärksten ist und dort am reinsten obwaltet, wo sie als solche überhaupt nicht bemerkt und verzeichnet wird. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich europäischen Bindungen grundsätzlich widerstrebe. Ich möchte vielmehr die Voraussetzung hierfür schaffen, wenn ich zuvörderst die innere Ordnung der einzelnen Volkswirtschaften sichergestellt wissen will, weil sonst die Integration zwangsläufig zu einem übernationalen Dirigismus führen müßte.

Europa ist nicht mit kleinen Mittelchen zu bauen; es ist nur als eine komplexe, ökonomische und politische Funktion zu verstehen. Die Vorstellungen, daß fortschreitend einzelne Sachbereiche der nationalen Souveränität entzogen und supranationaler Verwaltung übergeben werden sollten und daß dann von einem bestimmten Augenblick an das Gewicht des supranationalen Einflusses automatisch zu einer totalen Überwindung nationaler Zuständigkeiten führen würde, erscheint mir wenig realistisch und hält einer wirtschaftstheoretischen Durchleuchtung nicht stand.

Die Ganzheit der volkswirtschaftlichen Funktion läßt sich nicht in Zuständigkeiten aufspalten. Jeder derartige Versuch müßte dahin führen, daß alle Volkswirtschaften zwischen den Stühlen sitzen, und niemand mehr weiß, wer Koch oder Kellner ist.

Meine Befürchtung bleibt deshalb bestehen, daß wir allzusehr geneigt sein könnten, die europäische Integration zu sehr auf die Schaffung von Institutionen abzustellen, d. h. also, daß wir das Institutionelle gegenüber dem Funktionellen überbewerten

In diesem Zusammenhang mag auch ein Wort zu der Hoffnung mancher Planwirtschaftler gesagt werden, sie könnten ihre Ideen und Ideologien, die sie im nationalen Raum nicht durchzusetzen vermochten, nunmehr auf der europäischen Ebene verwirklichen. Nach unseren Erfahrungen im nationalen Raum bedarf es keiner Erklärung mehr, warum die Prinzipien der Plan- und Lenkungswirtschaft nicht geeignet sind, nun etwa im weiteren Raum die Produktivkräfte Europas zu entwickeln. Diese Wirtschaftsauffassung ist nicht einmal geeignet, auch nur zu den primitivsten Formen einer Arbeitsteilung, geschweige denn zu einer fruchtbaren und reibungslosen Zusammenarbeit der Volkswirtschaften zu gelangen.

Meiner Auffassung nach steht uns gar kein anderer Weg offen, als in allen Fragen des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, des Geld- und Kapitalverkehrs, der Behandlung der Zollpolitik und hinsichtlich der Freizügigkeit der Menschen in raschem Fortschreiten zu immer umfassenderen Freiheiten zu gelangen und auf dem Wege dorthin auf alle staatlichen Manipulationen zu verzichten, die diesen Prinzipien zuwiderlaufen. Wo institutionelle Einrichtungen zur Durchsetzung dieser Prinzipien der Freiheit unvermeidlich sind, trete auch ich für sie ein. Mir will scheinen, daß derjenige ein wahrhaft guter Europäer ist, der diese Gemeinsamkeit des Handelns und Verhaltens zur Verpflichtung aller Beteiligten erhoben wissen will.

[Fußnote zur Ausgabe von 1964:] Die geistige Grundhaltung, die damals für die Beurteilung der Integrationsbemühungen ausschlaggebend war, muß aber auch in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen bestimmend sein und in Zukunft bestimmend bleiben.

[Gegen ein System starrer Wechselkurse in Europa:]

Ich muß immer wieder dieselbe Feststellung treffen: Es ist schon ein merkwürdiger, um nicht zu sagen grotesker Zustand, daß trotz der so unterschiedlichen Preisentwicklung in den einzelnen Volkswirtschaften die Wechselkurse dieser Länder starr geblieben sind, so als ob zwischen diesen beiden Größen überhaupt keine innere Beziehung bestünde. Aus einer derartigen widerspruchsvollen Politik müssen sich notwendigerweise erhebliche Verschiebungen der Exportchancen ergeben: Jedenfalls ist das ein wesentlicher Grund dafür, daß die Bundesrepublik immer größere Außenhandelsüberschüsse erzielt, die nach der negativen Seite hin die Bändigung der innerdeutschen Konjunktur erschweren.

Der Verzicht auf die von mir immer und immer wieder geforderte Konvertibilität mußte fast naturnotwendig zu dieser Entwicklung führen. Nur durch die freie Konvertierbarkeit der Währungen kann meines Erachtens die gedeihliche Grundlage für einen wirklich funktionsfähigen freien Weltmarkt geschaffen werden. Nur auf solche Weise wird nach aller praktischen Erfahrung eine einheitliche und auf Stabilität ausgerichtete Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Nationalwirtschaften erzwungen werden. Damit wäre aber auch den gegenwärtigen Verzerrungen wie den extremen Zahlungsbilanzpositionen der Boden entzogen.

Die umfassende Funktion konvertierbarer Währungen wird niemals in einer auch nur ähnlich vollendeten Weise durch andere Maßnahmen ersetzt werden können. Alle diesbezüglichen Versuche fahren sich meist schon in den Anfängen fest, immer bleiben sie Stückwerk.

Auszüge aus: Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle, 1957, letzte Fassung von 1964, S. 285-293, 322 f.

Heather De Lisle: Amiland – Streitschrift für die Weltmacht USA (2010)

Ein engagiertes Plädoyer für die konservative Seite der USA

Ein überfälliges und engagiert vorgetragenes Plädoyer für die konservative Seite der USA. Es ist schon ein Armutszeugnis für die deutsche Medienlandschaft, wie George W. Bush, die Republikaner und die USA insgesamt hierzulande nach Strich und Faden verleumdet wurden und werden. Und es ist ein intellektuelles Armutszeugnis, wie deutsche Politiker und Intellektuelle auf dieser Welle skrupellos mitschwimmen. Die Liebe zur Wahrheit regiert hierzulande nicht. Und jeder Deutsche, der da nicht mitmacht, sondern selber denkt, kämpft einen einsamen Kampf und hat bitter zu leiden.

Heather De Lisle klärt so manches festgefahrene Missverständnis auf, das sich in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit festgesetzt hat. Sie lässt auch kaum ein gutes Haar an Bill Clinton, der in seiner Amtszeit so manches Problem einfach liegen ließ. Obama ist bei ihr praktisch schon wieder abgewählt.

Köstlich, wie Heather De Lisle das Thema Folter abhandelt. Sie stellt hier Fragen, die in der deutschen Öffentlichkeit systematisch unter Tabu gestellt werden. Wir Deutschen sind vielleicht gar nicht so anders als die Amerikaner, wenn man uns nur ordentlich informieren und wirklich vor die Wahl stellen würde. Statt dessen bekommen wir Deutschen immer nur genau eine Meinung „alternativlos“ vorgesetzt. Der Unterschied zwischen den Parteien ist immer nur, dass die einen es schneller (SPD, Grüne), die anderen es langsamer (CDU, FDP) haben wollen. Aber links sind sie alle. Noch.

Über manche Argumentation muss man schmunzeln … da hat wohl weniger eine Rolle gespielt, dass Heather De Lisle eine Amerikanerin ist, sondern dass sie … nun, tja … also … eine Frau ist!

Bei der Erklärung des amerikanischen Wahlsystems hätte man auch auf die verrückten Missstände des deutschen Wahlsystems eingehen können, wo man ja manchmal den politischen Gegner (!) wählen muss, um die eigene Partei zu unterstützen. Und wie war das noch gleich mit jenen ominösen Wahlzetteln in Hamburg, als Ronald Schill (quasi ein deutscher Republikaner) final abgesägt wurde, bei denen die CDU schon „vorangekreuzt“ war? Lacht da noch jemand über das Wahldebakel von Florida?

Zum Irakkrieg hätte man noch sagen können, dass die Waffeninspekteure bis zuletzt behindert wurden und George W. Bush also keinesfalls so schlecht beraten war, wie Heather De Lisle meint. Auch hätte Saddam Hussein den Bau von Massenvernichtungswaffen angestrebt, hätte er gewusst, dass ihm nichts mehr droht. Deutschland hatte sich auf Seiten von Frankreich und Russland gestellt, die die Konzessionen für die Ölquellen im Irak hielten und die meisten Waffenverkäufe an den Irak getätigt hatten. Außerdem gab es im Irak keinen Guerillakrieg gegen die Amerikaner, sondern einen Bürgerkrieg der Volksgruppen untereinander, der nur deshalb auch gegen die Amerikaner ging, weil jede Volksgruppe meinte, die Amerikaner stünde auf Seiten der jeweils anderen Volksgruppe. Der Sieg kam, als es den Amerikanern unter Petraeus (und George W. Bush) gelang, den Volksgruppen klar zu machen, dass sie keine Seite bevorzugen, sondern Garant für einen fairen Ausgleich sind. Es ist übrigens auch nicht richtig, dass der Irak keine demokratische Vorbildung hatte. Der Irak war bereits einmal eine Demokratie, und nicht wenige der heutigen irakischen Politiker sind die Nachfahren der damaligen demokratischen Politiker. Inzwischen sind die Ölquellen im Irak versteigert worden – an den Meistbietenden. Zum ersten Mal könnten die Gewinne aus dem Öl dem irakischen Volk zugute kommen. Soviel noch zum Irakkrieg.

Man sieht: Als denkender Deutscher hat man eine Menge unterdrückter Gedanken auf dem Herzen, und dieses Buch gibt eine gute Gelegenheit, all das, was sich über viele Jahre in Verschwiegenheit aufgestaut hat, einmal auszusprechen. Danke Heather De Lisle! Danke für diese Labsal der Seele. Und zum Teufel mit unserer Journaille, die jeden Andersdenkenden in die gesellschaftliche Isolation treibt! Der Zorn der Gerechten möge über Euch kommen, Ihr %#?$*§!

PS 15.06.2024

Zum Abfassungszeitpunkt dieser Rezension war der Irak erfolgreich befriedet. Zwei Jahre später zog Obama die Truppen ab und entfesselte ein Inferno. Die Lizenzen für die Ölquellen gingen übrigens an Chinesen und Norweger, nicht an US Firmen. Inzwischen weiß man auch, dass die Regierung von George W. Bush zum Thema Massenvernichtungswaffen im Irak tatsächlich schlecht beraten wurde.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Februar 2012)

Per Petterson: Pferde stehlen (2003)

Reiches, atmosphärisches Buch über Väter, Einsamkeit, das Leben schlechthin

Es ist die Geschichte eines Jungen und seines Vaters, die beide 1948 einen Sommer auf einer Hütte in der norwegischen Provinz nahe der schwedischen Grenze verbringen. Es ist ein Sommer voller Abenteuer für den Jungen, ein Leben in und mit der Natur, einsam, arbeitsam und einfach, ein Leben mit glücklichen und tragischen Momenten. Vater und Sohn kommen sich dabei so nahe wie nie, und der Sohn beginnt zum Mann zu werden.

Doch was der Sohn nicht weiß: Sein Vater war schon einmal hier, im Krieg, und hatte Flüchtlingen über die Grenze nach Schweden geholfen. Und sich dabei verliebt. Es ist der letzte Sommer, den Vater und Sohn gemeinsam verbringen, bevor der Vater die Familie endgültig verlassen und ohne Wiederkehr zu seiner Geliebten gehen wird.

Die Geschichte wird aus der Perspektive des Sohnes erzählt, wie er nun seinerseits als alter Mann erneut in eine Hütte in derselben Gegend zieht, um seine letzten Jahre in jener arbeitsamen Einsamkeit zu verbringen, die er damals von seinem Vater kennengelernt hatte. Auch jetzt sind Glück und Tragik nahe beieinander: Ehefrau und Schwester sind gestorben, aber seine Tochter besucht ihn überraschend. Die Einsamkeit tut gut und wird mit der Lektüre von Charles Dickens abgerundet, sie wird aber auch als Risiko empfunden. Aber da ist noch sein Hund Lyra, und ein guter Nachbar, den er noch aus dem Sommer 1948 im Zusammenhang mit tragischen Ereignissen kennt.

Per Petterson ist ein sehr atmosphärisches, ruhiges Buch gelungen, das den Leser teilhaben lässt an den Gedanken und Gefühlen der Protagonisten. Ein Buch über Väter und Söhne, über Einsamkeit und Freundschaft, über Liebe und Verlassenheit, über Stadt und Land, über Krieg und Frieden, über Jugend und Alter, über unmittelbares Erleben und späteres Erinnern, über das Leben schlechthin, kurz: Es ist ein sehr reiches Buch.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. August 2018)

Michel Houellebecq: Unterwerfung (2015)

Linksliberale Sinnentleertheit wird „demokratische“ Islamisierung akzeptieren

Houllebecq ist ein Meister des zynischen Realismus. Der Held der Geschichte ist ein politisch unbedarfter linksliberaler Literaturwissenschaftler ohne Sinn und Ziel im Leben, außer Fressen und Ficken. Auch seine eigene Literaturwissenschaft gibt ihm keinen Sinn. Als Single kennt er kein Familienglück, sondern lebt ein äußert reduziertes Leben aus Mikrowelle und Youporn. Hin und wieder angelt er sich eine seiner Studentinnen oder bestellt sich den Escort-Service.

Parallel dazu wird beschrieben, wie die politische Linke aus Angst davor, fremdenfeindlich zu wirken, mit den mittlerweile als Partei organisierten Islamisten paktiert. Auf diese Weise kommt ein traditionalistischer, verfassungsfeindlicher Islam an die Macht, und beginnt das Land Stück für Stück umzubauen. Zuerst sind die Bildungseinrichtungen dran. Alles läuft ohne Härten ab, jeder wird mit Geldern aus Saudi-Arabien fürstlich bezahlt oder erhält ebenso fürstliche Vorruhestandsbezüge. Die identitäre Bewegung startet einen Bürgerkrieg, es gibt einige Tote, doch wird sie damit keinen Erfolg haben.

Während auf der großen politischen Bühne das Dogma der Fremdenfreundlichkeit jeden Widerstand gegen die Islamisierung lähmt, sind die kleinen Akteure gezwungen, im vorgegebenen politischen Rahmen eine Entscheidung zu treffen, um sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Viele treten auch zum Islam über, weil sie persönliche Vorteile davon haben: Saudische Geldgeber finanzieren Wohnen und üppige Gehälter an islamisierten Unis, zudem werden den alternden linksliberalen Professoren junge Studentinnen als Ehefrauen vermittelt, die sie sexuell und sozial versorgen.

Überhaupt zeigt sich die Widerstandskraft linksliberal denkender Menschen gegen einen philosophisch argumentierenden Islam als erstaunlich gering. Denn linksliberale Menschen haben heute kein Weltbild mehr, von dem sie überzeugt sind, und auch kein Ethos, für das sie Opfer bringen würden – heutige Linke leben nach einem sehr primitiven Weltbild: Links ist, was Fressen und Ficken garantiert.

Das Buch ist literarisch kein Hit, aber sein zynischer Realismus ist äußerst treffend und eine Warnung: Die politische Linke ist tatsächlich auf dem Weg, über ihrer Fremdenfreundlichkeit und ihre platte politische Ideologie Demokratie und Menschenrechte zu verraten. Der traditionalistische, verfassungsfeindliche Islam ist tatsächlich auf dem Weg, nicht durch Gewalt, sondern durch geistige Eroberung und durch den Marsch durch die Institutionen Positionen zu erobern, und so unsere freiheitliche, säkulare Gesellschaft schrittweise auszuhöhlen. Noch geschieht dies im Kleinen, doch das Schweigen von Medien und „aufgeklärten“ Politikern ist schon heute oft erschreckend. Und es nimmt zu. Schon bald wird es Vorteile bringen, Muslim zu sein, so wie es in Bayern Vorteile bringt, in der CSU zu sein.

Der Hauptgrund für diese Fehlentwicklung ist die bildungslose, satte Sinnentleertheit der linksliberalen Menschen, die nichts mehr wollen, nichts mehr erstreben, und sich für nichts mehr zu schade sind.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon Mai 2015 in einer zensierten Fassung; diese ist inzwischen verschwunden.)

Charles Dickens: David Copperfield (1849/50)

Heiter-ironischer Entwicklungsroman von herausragender Bedeutung

Mit „David Copperfield“ hat Charles Dickens einen heiter-ironisch gestimmten Entwicklungsroman geschrieben, der ein wahres Lesevergnügen ist und der auf viele spätere Autoren Einfluss ausgeübt hat.

Heiter-ironisch soll heißen: Der angeschlagene Ton macht von Anfang an klar, dass die Geschichte gut ausgehen wird. Der Protagonist blickt wohlwollend und weise auf die Höhen und Tiefen seines Lebens zurück. Teilweise nimmt der Roman den Charakter eines Schelmenromans an. Aber auch traurige, erschreckende, unglückliche und schmerzvolle Ereignisse kommen vor, deren Schrecklichkeit durch den Grundton gemildert und im Hinblick auf das erwartbare gute Ende aufgehoben ist.

Entwicklungsroman soll heißen: Es wird das Leben von David Copperfield von seiner Kindheit bis ins mittlere Alter erzählt. Dabei werden verschiedene Themen behandelt, darunter: Die Ausgeliefertheit des Kindes an die Erwachsenenwelt. Die Unsicherheiten und Tölpelhaftigkeiten und Unbeholfenheiten eines Kindes und jungen Mannes. Böse Stiefeltern und gute Tanten. Spießige, unironische Menschen. Schule im Kasernenhofstil. Freundschaften und Enttäuschungen. Berufswahl und Berufsweg. Liebschaften und Ehen. Wiederholt das Thema Einsamkeit, Sinnverlorenheit und Unbehaustheit.

Die jeweiligen Stationen sind in vielen Aspekten so exemplarisch und archetypisch erzählt, dass sich wohl jeder Leser ein wenig in ihnen wiederfinden kann. Dickens kann die psychologische Lage jeder Situationen gut darstellen. Eine ganze Reihe von Lebenseinsichten werden in der Handlung demonstriert und dann auch explizit formuliert: Etwa, dass ein Ehepartner Anteil an den Gedanken des anderen Ehepartners nehmen sollte. Oder dass Nachlässigkeit und allzu große Gutmütigkeit eine Verführung der Mitmenschen zum Ausnutzen derselben sind. Oder dass, wer an sich selbst glaubt, sich für gewöhnlich nicht selbst lobt.

Der Roman hilft dem Leser dabei, das Leben unter der Perspektive eines heiteren Grundtons zu sehen, und Menschlichkeit und Herzlichkeit zu bewahren. Es lässt sich vorstellen, dass dieses Buch für denkende junge Menschen ein guter Begleiter, Seelentröster und Ratgeber sein könnte.

Skurrilität als Nebenthema: Im Laufe seines Lebens begegnet David Copperfield einer ganzen Reihe von äußerst skurrilen Typen. Diese sind sehr liebevoll gestaltet und erhöhen das Vergnügen an diesem Roman erheblich. Man erkennt hier auch ein wenig das Thema des englischen Exzentrikers.

Sozialkritik als Nebenthema: Schul- und Gefängniswesen werden heftig kritisiert. Auch die Pädagogik, die Charaktere wie den schmierigen Uriah Heep hervorbringt, wird aufs Korn genommen. Gerichts- und Parlamentswesen werden nicht verschont. Diese Kritik taucht aber nur am Rande auf. Eine kleine antisemitische Spitze zu Wechselgeschäften ist enthalten. Und dann ist da noch „der Türke“ als Urbild eines Menschen, dem das Wohl seiner Familie egal ist. Solche Stereotypen schrieb man damals sorglos.

Die Romanhandlung ist bei Lichte besehen ein wenig unglaubwürdig. Einerseits ereignen sich doch recht viele Unglücksfälle, andererseits findet der Protagonist immer wieder Menschen, die ihm aus der Patsche helfen. David Copperfield wirkt dadurch manchmal (nicht immer) ein wenig wie ein Passepartout, ein Stehaufmännchen, bei dem Schmerz und Leid keine Spuren hinterlassen. Am Ende rundet sich alles, und alle Fäden kommen zu einem guten und gerechten Ende. Die Wirklichkeit sieht leider oft anders aus. Daraus eine Kritik an diesem Roman zu machen, wäre allerdings ein Missverständnis: Der Roman scheint auch mit der Absicht geschrieben worden zu sein, seine Leser aufzumuntern, damit sie trotz Widrigkeiten nicht am Leben verzweifeln. Diesen Zweck hat der Autor bestens erfüllt.

Da es ein sehr guter Roman ist, blieb er nicht ohne Folgen. Man teilt die englische Literaturgeschichte gemeinhin in die Zeit vor Dickens und die Zeit nach Dickens ein. Der Einfluss von „David Copperfield“ reicht von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, in dem Skurrilität und Sprachspiele („begin at the beginning“) auf die Spitze getrieben wird, bis zu Joanne K. Rowlings Harry Potter, wo zahlreiche Anleihen bei „David Copperfield“ in Stil und Thematik nachweisbar sind. Aber auch weltweit haben sich Autoren beeindrucken und beeinflussen lassen, so z.B. Tolstoj.

Fazit

Ein Klassiker wie er sein soll: Immer noch ein sehr großes Lesevergnügen, immer noch sehr lehrreich, und man erkennt, welche Spuren er hinterlassen hat.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. September 2018)

Peter Hacks: Der Bär auf dem Försterball (1966)

Zeitlose Parodie auf das menschliche Sozialverhalten

Eine köstliche Kurzgeschichte, die sehr viel mehr ist als nur ein Kinderbuch. Mit wenigen, wohlgesetzten Worten wird folgende Geschichte erzählt: Der Bär möchte verkleidet als Förster zu einem Maskenball von Bären, doch er begegnet einem Förster, der ihn für einen Förster hält, sogar für den Oberförster, weil er so tief brummt, und sie gehen gemeinsam zum Försterball. Der Bär übernimmt sofort die Führungsrolle der Festgesellschaft, indem er am dicksten aufträgt: Er säuft am meisten, hat die meisten Haare im Gesicht und schlägt seinen Kameraden am kräftigsten auf die Schulter. Die Förster sind blind für ihren Irrtum und gehen am Ende soweit, dass sie einen jungen, schwächlichen Kollegen für den Bären halten. Für den Bären ist es der reine Spaß, wie er die Förster an der Nase herumführen kann. Er geht sogar soweit, sich offen zu erkennen zu geben. Wie es nach dieser Offenbarung weitergegangen wäre, bleibt jedoch offen, denn in diesem Moment wird der Bär von seiner Ehefrau nachhause geholt.

Peter Hacks führt in dieser Parodie das Phänomen vor Augen, wie eine Gesellschaft, oder eine Organisation, sich einem Anführer unterwirft, selbst wenn er ihr größter Widersacher ist, solange er nur am dicksten aufträgt. Es ist also eine Studie in Sozialverhalten. Dieses können wir überall in der Gesellschaft im Kleinen wie im Großen bestätigt sehen. Dick auftragen verschafft Aufmerksamkeit und Respekt, unabhängig von Kompetenz und moralischer Qualität. Und das Böse kann sich oft genug ganz offen und frech zeigen, ohne als das benannt zu werden, was es ist, gerade weil es offen und frech daherkommt und auf diese Weise soziale Ausrichtung stiftet.

Es gibt auch eine Deutung, dass der Bär gar nicht bemerkt habe, dass er auf dem Försterball ist, sondern denkt, er wäre auf einem Maskenball mit lauter Bären. Dem ist zu widersprechen. Erstens wären auf einem Maskenball verschiedene Masken anwesend. Zweitens gibt der Bär klare Kriterien an, woran ein Bär zu erkennen ist, und er weist darauf hin, dass der junge Kollege kein Bär ist, so dass ziemlich klar ist, dass der Bär wusste, dass er nicht unter Bären ist. Zu keinem Zeitpunkt ruft der Bär verwundert aus, dass die Förster keine Krallen usw. haben, so wie die Förster es am Ende bei ihm tun. Und nur wenn der Bär sich im Klaren darüber war, dass er nicht unter Bären ist, kommt auch die Deutung zum tragen, dass Frechheit siegt. Der Bär, „schon in der besten Laune“, hatte einfach die Gelegenheit ergriffen und frech die Scharade mitgemacht, die ihm in der Zufallsbegegnung mit dem Förster angeboten wurde.

Das Insel-Buch ist neu illustriert von Reinhard Michl. Die neuen Illustrationen sind gut gelungen und „erwachsener“, und bringen den Schalk des Bären gut zum Ausdruck. aber auch die alten Illustrationen hatten in ihrer genialen Einfachheit ihren Reiz und Wert.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant (1867/68)

Vergnüglich-pseudodramatische Weltumrundung durch südliche Geographie und Völkerkunde

Der Titel des Romans ist irreführend: Hauptthema ist die Suche nach dem schiffbrüchig gewordenen Vater der Kinder des Kapitän Grant. Als der schottische Lord Glenarvan eine Flaschenpost des verschollenen Kapitäns findet, zögert er nicht, ihn zu suchen. Da die Schrift der Flaschenpost verwaschen ist, weiß man jedoch nur, dass Kapitän Grant sich irgendwo auf dem 37. Grad südlicher Breite befinden muss. Nacheinander wird die Theorie aufgestellt, dass er sich in Südamerika, Südostaustralien oder Nordneuseeland befinden muss, und damit beginnt eine etwas irre Durchquerung dieser Länder immer stur dem 37. Breitengrad folgend.

Auf der Segeldampfjacht „Duncan“ hat sich dazu eine bunte Truppe versammelt: Zunächst Lord Glenarvan mit seiner jungen Ehefrau Lady Helena, dann sein tapferer Kapitän John Mangles mit seinen Matrosen, dann der stets dienstbereite Butler und Steward Olbinett, natürlich auch die beiden Kinder des Kapitän Grant Mary und Robert, außerdem der Major Mac Nabbs und der französische Geograph Jacques Paganel. Letztere beiden entwickeln eine Hassliebe und sorgen meist für den Humor im Roman: Während Major Mac Nabbs kühl, überlegt und skeptisch ist, ist Paganel begeisterungsfähig, schwärmerisch und zerstreut. Im Hörbuch wird Paganel mit französischem Akzent gelesen, was das Vergnügen noch einmal steigert.

Im Laufe der Reise erfährt man viel über Geographie, Flora und Fauna sowie das Klima der jeweiligen Länder, aber auch Interessantes über die jeweils dort lebenden Ureinwohner und die europäischen Kolonisten. Teilweise erfährt man es durch die Abenteuer, die zu bestehen sind, teilweise durch eingeschobene Vorträge des französischen Geographen Paganel. Egal welche Abenteuer zu bestehen sind, egal wie vergeblich die Suche nach Kapitän Grant immer wieder ist: Der Leser weiß genau, dass die Sache gut ausgehen wird. Alle Dramatik in diesem Roman ist eine vergnügliche Pseudodramatik, und die Lektüre ein wahrer Genuss. Deshalb stört es auch nicht, wenn sich der Leser oft im voraus denken kann, was passieren wird, oder wenn sich Zufälle ereignen, die man in anderen Romanen für unglaubwürdig halten würde: Hier gehört das alles zum Vergnügen der Pseudodramatik dazu. Schließlich ist auch dieses Buch mit der für Jules Verne charakteristischen kosmopolitischen Menschenfreundlichkeit und seinem Aufklärungsoptimismus geschrieben, der sich von Fortschritt und Wissenschaft alles Gute erhofft.

Zwei Themen ziehen sich darüber hinaus durch das ganze Buch: Zum einen Jules Vernes Vorliebe für Schottland und die Schotten. Zum anderen eine scharfe Kritik an den Engländern, die alle Länder der Welt erobern und die Ureinwohner massakrieren. Damit und mit der Skepsis des Major Mac Nabbs wird ein gewisser Gegenpol zum sonst bei Jules Verne üblichen Fortschrittsoptimismus gesetzt. Sie findet sich in anderen Büchern auch in der pessimistischen Weltsicht von Kapitän Nemo wieder.

Aus der Sicht des modernen Leser gibt es an manchen Stellen etwas zuviel Rührseligkeit. An anderen Stellen ist die Belehrung über die jeweiligen Länder etwas zu penetrant. Das alles kann aber das Vergnügen nicht stören. Von besonderem Interesse sind die Sichtweisen des 19. Jahrhunderts unter der Perspektive unserer modernen Gegenwart. So mancher Abschnitt ist politisch sehr unkorrekt und könnte auch durch den Austausch einzelner Worte nicht mehr für den heutigen Zeitgeist gerettet werden – und zugleich ist doch alles sehr wahr und menschlich, was Jules Verne ohne zeitgeistige Bedenken zu Papier bringt.

Am Ende wird Kapitän Grant – natürlich – gefunden, und außerdem der Schurke Ayrton auf einer einsamen Insel ausgesetzt, womit ein Teil der Handlung des Romans „Die geheimnisvolle Insel“ vorbereitet ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 25. Juli 2020)

Xenophon: Das Gastmahl (4. Jhdt. v.Chr.)

Eine Party als lebendiges Sinnbild des Humanismus

Xenophon macht uns in dieser Schrift zu Zeugen einer Party, und so müsste auch eine korrekte Übersetzung des Titels in modernes Deutsch lauten: „Die Party“. An sich ist eine Party ja nichts außergewöhnliches, aber diese Party fand bereits vor 2500 Jahren statt – und ist dennoch erfrischender und moderner als so manche Party unserer Tage. Neugierig geworden?

Wir erleben mit, wie die Partygäste sich einfinden, gemeinsam plaudern, lachen, scherzen, sich auf das Essen stürzen, Kleinkunst bewundern, und am Ende voller Freude, Elan und guter Ideen wieder auseinander gehen. Auch Sokrates ist zu dieser Party geladen, aber wer erdenschwere philosophische Monologe erwartet, wird angenehm enttäuscht: Xenophon schreibt ganz anders als Platon, und so regieren nicht Ernst und Gedankenschwere, sondern Witz und Esprit diesen Text. Hier findet man keine von der Lebenswirklichkeit isolierten Gedankengänge, sondern das pralle Leben.

Doch es ist eben nicht nur das pralle Leben, sondern auf subtile Weise auch der Geist, der aus diesen uralten und doch so jungen Zeilen spricht: Der Geist des klassischen Athen, der eine völlig neue und noch nie dagewesene Welt hervorbrachte: Die Lust am Leben, an der Natur, am Spielerischen, an der Freiheit des Ausprobierens, an der Vernunft, am Denken selbst; das also, was sich an Lebendigem hinter Begriffen wie „Humanismus“ oder „Aufklärung“ verbirgt.

Wer eintauchen will in die Ursuppe der Moderne und verstehen will, aus was sich das alles zusammengebraut hat, der sollte seine Schuhe schnüren und sich auf den Weg machen, um teilzunehmen an dieser einmaligen Party, die die Leser Xenophons nun schon seit 2500 Jahren begeistert feiern.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Juni 2010)

Apuleius: Der goldene Esel (2. Jhdt. n.Chr.)

In die Vollen des antiken Alltagslebens gegriffen

Der Goldene Esel des Apuleius (auch bekannt als: Metamorphosen) ist ein Stück antike Unterhaltungsliteratur, die uns auch heute noch bestens amüsieren kann. Mit Witz und Ironie wird eine Abenteuergeschichte erzählt, die weitere Erzählungen und Anekdoten in sich einschließt, darunter auch so bekannte Erzählungen wie die von Amor und Psyche.

Der Leser erhält Einblick in das Denken und Leben antiker Menschen im 2. Jahrhundert n.Chr. Ob Handel, Handwerk, Reisen und Erotik, ob Geizhälse, Räuber, Frauen und Mägde, ob Zauberei und Isis-Kult – man kommt voll auf seine Kosten.

Wegen der Erzählkunst des Autors, und wegen der tiefen Einblicke in die antike Welt wird dieses Kleinod mit gutem Grund zur Weltliteratur gezählt.

Die kostenlose Kindle-Ausgabe der Übersetzung von August Rode 1920 ist erfreulich fehlerfrei und akzeptabel lesbar.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 28. September 2013)

Tom Holland: In the Shadow of the Sword / Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs (2012)

Vernünftige, faire und maßvolle Aufklärung über die wahren Anfänge des Islam

Gleich vorweg: Tom Hollands Buch ist viel besser als seine BBC TV Dokumentation „Islam: The Untold Story“. Die TV Dokumentation musste wegen ihrer Kürze an diesem komplexen Thema scheitern, und statt Antworten lässt sie unnötigerweise viele Fragen offen. Vielleicht hat man die Antworten aus falsch verstandener „Rücksicht“ auf Muslime weggelassen? Das wäre dann sehr dumm gewesen, denn Muslime können mit den Antworten von Tom Holland sehr gut leben, mit den offenen Fragen der TV Dokumentation hingegen eher nicht.

Zum Buch

Nicht nur der Islam, sondern die Geschichte des gesamten Zeitalters der Spätantike wird von Tom Holland in den Blick genommen. So liefert er den dringend nötigen Kontext zum Verständnis der Entstehung des Islams. Dabei werden vom Leser zunächst unbemerkt alle die Elemente eingeflochten, die weiter hinten im Buch zur Erklärung des Islam benötigt werden und die klar zeigen, dass der Islam und seine Überlieferung Kind ihrer Zeit sind. Tom Hollands Rekonstruktionsversuch der Ursprünge des Islam ist einer der überzeugendsten und vollständigsten. Sein Buch ist absolut lesenswert.

Das gewählte Verfahren ist auch didaktisch geschickt: Indem Tom Holland zunächst die Wirren und Verfehlungen der religiösen Entwicklungen von Christentum, Judentum und Zoroastrismus und deren teils absichtslos, teils absichtlich verfälschte Überlieferungen aufzeigt, macht er den Leser an eher unumstrittenen Beispielen mit dem Wissen um die historisch-kritische Interpretation solcher Überlieferungen bekannt, um die historisch-kritische Interpretation dann später im Buch in überzeugender Weise auf den Islam anzuwenden. (Bemerkenswert ist Tom Hollands Würdigung des deutschen Beitrages zur Entwicklung der historisch-kritischen Methode, den er bis in die Gegenwart in Deutschland wirken sieht.)

Durch dieses Verfahren vermeidet Tom Holland zugleich auch den verbreiteten Irrtum, dass speziell der Islam ein Problem mit seinen Überlieferungen hätte. Wie der Leser zuvor an Christentum, Judentum und Zoroastrismus sehen konnte, haben alle Religionen dieses Problem, nicht nur der Islam. Es geht also nicht um „Islam-Bashing“, sondern darum, den Islam auf das heute übliche Niveau der Selbstkritik (!) von Religionen zu heben, auf dem sich andere Religionen zu ihrem eigenen Nutzen bereits befinden; Schaden haben sie dadurch jedenfalls keinen erlitten. Das Vorgehen von Tom Holland ist vernünftig, fair und maßvoll.

Keine maßlose Islamkritik

Muslime haben allen Grund, Tom Holland dankbar zu sein: Sein Werk bietet eine Lösung dafür an, wie man Islam und historische Kritik miteinander vereinbaren könnte. Aber für Gläubige (ob Christen oder Muslime), die zum ersten Mal mit historischer Kritik konfrontiert werden, sieht es leider immer so aus, als ob die Religion durch historische Kritik „komplett zerstört“ werden soll. Aber so ist es eben nicht. Man muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass manches anders ist, als man dachte, ohne dass dabei gleich alles verloren ist. Es geht nur um die Wahrheit, und wenn diese etwas anders aussieht, als man lange Zeit dachte, dann muss man der Wahrheit eben folgen, wo immer sie hingeht.

Tom Holland zeigt, dass die historische Kritik des Islams keineswegs zwangsläufig bei dem Resultat enden muss, dass es einen Propheten Mohammed gar nicht gab. Im Gegenteil: Tom Holland geht davon aus, dass es einen Propheten Mohammed sehr wohl gab, und dass der Koran im Kern auf Worte Mohammeds zurückgeht (ob diese Worte wiederum auf Gott zurückgehen, ist Glaubenssache). Mohammed wird als ein literarisch gebildetes Genie interpretiert, das vorhandene Lehren und Anschauungen auf geniale Weise (unter göttlicher Anregung? Auch das ist Glaubenssache) zu etwas Neuem verknüpfte: Gotteswort ist zugleich Menschenwort, in eine bestimmte Zeit hineingesprochen, wie bei anderen Religionen auch, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ebenfalls als authentisch islamisch werden von Tom Holland eingestuft: Der strikte Monotheismus, die Verträge von Medina, tägliche Gebete, die Verpflichtung zur Wallfahrt.

Man kann mit Tom Hollands Rekonstruktionen auch weiterhin Muslim sein, so wie Christen und Juden mit dem historisch-kritischen Wissen um die Enstehung ihrer Religionen auch weiterhin Christen und Juden sein können.

Spätere Hinzuerfindungen zum Islam sind nach Tom Holland z.B:

  • Ein Großteil der Hadith und der Prophetenbiographie sind für Tom Holland spätere Interpretationen oder Erfindungen; das ist nichts neues, sondern allgemeine Meinung unter seriösen Islamwissenschaftlern.
  • Im Koran ist nur von drei Gebeten die Rede, erst in späteren Texten von fünf.
  • Im Koran ist die Strafe für Apostasie die Hölle nach dem Tod, in späteren Texten jedoch sollen Apostaten hingerichtet werden. (Andere meinen mit Recht, dass der Koran gar nicht auf Apostasie als solche abzielt, sondern auf den militärischen Verrat, der im damaligen Kontext mit Apostasie verbunden war.)
  • Im Koran sind Ungläubige hauptsächlich Monotheisten, die ihren Monotheismus nicht streng nehmen. In den späteren Überlieferungen sind die Ungläubigen plötzlich Götzenanbeter: Auch hier wird deutlich, dass spätere Zeiten sich ein Lebensumfeld für Mohammed phantasievoll ausgemalt haben, das historisch so nicht existierte.
  • Im Koran ist die Strafe für Ehebruch die Auspeitschung. Das Steinigen hingegen geht auf jüdische Quellen zurück, nicht auf Mohammed.
  • Das Konzept des Dschihad als ein religiöser Angriffskrieg unter Selbstopferung wurde erst später in Anlehnung an die Askese christlicher Wüstenmönche entwickelt. Die angebliche chronologische Reihenfolge der Koransuren wurde nachträglich so fingiert, dass Dschihad-Suren chronologisch später kamen, um gegenteilige, frühere Lehren als „abrogiert“, d.h. aufgehoben, hinstellen zu können – wie es der offizielle Islam bis heute tut.
  • Die Vertreibungen und Massaker an den drei jüdischen Stämmen von Medina haben vermutlich niemals stattgefunden: Spätere Autoren haben mit diesen Erzählungen versucht, die Juden aus der Umma „herauszuoperieren“. Die Namen der Stämme tauchen nämlich nicht in den authentischen Verträgen von Medina auf, die Massaker sind auch sonst nirgends historisch belegt, wovon aber auszugehen wäre, wenn sie stattgefunden hätten.

Wie entstand die ismaelitische Bewegung?

Nach Tom Holland ist entscheidend, dass die Araber an einer Grenze des römischen bzw. byzantinischen Reiches lebten: So wie die Germanen im Norden, die außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches lebten, zunächst als Hilfstruppen angeworben wurden, um später selbst einen ausreichend hohen Organisationsgrad zu erreichen, um die Römer besiegen zu können, genauso sei es auch mit den Arabern geschehen, die im Niemandsland südlich der beiden rivalisierenden Reiche Byzanz und Persien lebten. Das lateinische Wort „Sarazenen“ für Araber könnte auf ein latinisiertes arabisches Wort für „Hilfstruppen“ zurückgehen.

Anders als Germanien war Arabien ein Rückzugsgebiet für christliche Häretiker, die aus dem Römischen Reich vertrieben wurden. Deren Lehren (z.B. Nabatäer, Nasoräer, oder das Evangelium des Basilides: Jesus nicht gekreuzigt, vgl. Sure 4:157) konnten in Arabien ungestört vor sich hinwuchern und unter Arabern auf fruchtbaren Boden fallen.

Hinzu kam das wachsende Selbstbewusstsein der Araber, als die direkten Nachkommen von Abrahams Sohn Ismael einen gleichberechtigten Platz neben Juden (und Christen) zu beanspruchen. Lange bevor Muslime sich „Muslime“ nannten, nannten sie sich „Ismaeliten“.

Mohammed lebte nicht in Mekka, sondern in der Region der Nabatäer, also an der Grenze des byzantinischen Reiches. Statt Mekka habe Mohammed das arabische Heiligtum von Mamre gemeint. Argumente dafür sind die Tradition von Mamre als Ort der Verehrung Abrahams durch die Araber, die Erwähnung von Sodom und Gomorrha im Koran als nahegelegener Ort, die Beschreibung des Heiligtums analog zu Beschreibungen von Mamre, das Fehlen von Agrikultur in Mekka, u.v.a.m. (Man beachte die Forschungen von Dan Gibson, der zeigen konnte, dass alle frühen Moscheen nicht nach Jerusalem, sondern nach dem nabatäischen Petra zeigten, von wo die Kaaba später nach Mekka verlegt worden sein soll.)

Mohammeds großes Werk scheint vor allem in der politischen Einigung der Araber bestanden zu haben. Diese politische Einigung war aber untrennbar verbunden mit dem ideellen Anspruch auf die Nachkommenschaft Abrahams. Mohammeds Monotheismus scheint eine direkte Reaktion auf das religiöse Chaos im arabischen Grenzgebiet zum römischen Reich seiner Zeit gewesen zu sein. Nicht Götzenanbeter, sondern „unklare“ und uneinige Monotheisten werden im Koran kritisiert, man solle wieder „zurück“ zur Religion Abrahams kehren.

Zündfunke für die ismaelitische Bewegung

Unmittelbar vor Entstehung des Islam gab es durch Pest und Krieg einen großen Mangel an Soldaten bei Byzantinern und Persern, weswegen verstärkt Araber als Hilfstruppen angeworben wurden. Immer mehr Araber wanderten deshalb nach Norden zur Grenze (Wanderung=Hidschra?), um sich zu verpflichten. Dadurch wurden diese Araber aus ihren traditionellen Stammesverbänden herausgelöst, so dass sich eine neue Identität entwickelte: eine arabische Nation (Umma) über den Stammesverbänden. Lange bevor sich Muslime „Muslime“ nannten, nannten sie sich auch „Muhadschirun“, d.h. die Ausgewanderten. Spätere Texte bezogen dies auf eine angebliche Auswanderung der Muslime von Mekka nach Medina, doch der wahre Hintergrund dieser Selbstbezeichnung dürfte ein anderer sein.

Hinzu kam, dass Byzanz unter Kaiser Heraklios damit begonnen hatte, Juden unter Zwang zu Christen zu „bekehren“. Viele Juden flüchteten deshalb über die Grenze nach Arabien, wo sie die Araber vermutlich ideell bestärkten, denn Juden transportierten mit ihrem Glauben die Idee, dass die Araber die Nachkommen von Ismael, dem Sohn Abrahams sind. In den Verträgen von Medina sind die Juden Teil der Umma.

Das durch Pest und Krieg stark geschwächte Römische Reich bot den Arabern reiche Beute. Man kann davon ausgehen, dass die politische Einigung der Araber stark durch die Aussicht auf Beute befördert wurde. Deshalb nimmt das Thema Beute auch im Koran eine prominente Stellung ein.

Gründe für die anfänglichen Siege der Ismaeliten

Vor der Zeit Mohammeds wütete eine Pest im ganzen Mittelmeerraum, die ähnlich verheerende Ausmaße annahm wie die Pest des Mittelalters. Zudem führten die beiden Großmächte Byzanz und Persien einen ausufernden Krieg gegeneinander, an dessen Ende beide Mächte erschöpft waren. In Persien brach daraufhin die Dynastie der Sassaniden zusammen; die Byzantiner hatten nicht mehr genügend Soldaten und mussten mehr Araber als sonst als Hilfstruppen werben. Die Verteidigungskraft war entscheidend geschwächt.

Insbesondere die Juden begrüßten die Araber anfangs überschwänglich: Sie wurden von der drohenden Zwangstaufe befreit und durften sogar wieder nach Jerusalem hinein, was ihnen lange verboten war. Der fromme Feldherr der Araber, Umar, begann sogar den Tempelberg für ein kommendes Bauwerk (der jüdische Tempel?) von Trümmern freizuräumen, weshalb Juden ihn als Retter feierten.

In Ägypten kam den Arabern zugute, dass die Ägypter als Monophysiten (Kopten) in ständigem Streit mit dem orthodoxen Byzanz lagen. Einige Ismaeliten sollen sich in Ägpyten angeblich sogar haben taufen lassen.

Nach Tom Holland wollte Mohammed nur das Heilige Land, das Land Abrahams und dessen „Heiligtum“, erobern. Dass die Araber mehr eroberten, lag einfach daran, dass die Motivation der Araber nicht rein religiös war. Erst später interpretierte man die weitergehenden Eroberungen als einen göttlichen Auftrag, die ganze Welt zu erobern.

Schneller Zerfall der religiösen Bewegung

Nach dem Tod von Mohammed und dessen General Umar ging die Herrschaft über die Ismaeliten und ihr Reich an die Familie der Umayyaden über. Diese waren etablierte Geschäftsleute, die schon vor Mohammeds Auftreten mit Byzanz Handel getrieben hatten und in Syrien Land besaßen. Mit anderen Worten: Wie immer nach einer Phase der Schwärmerei und der Begeisterung kamen nun wieder die wahren Realitäten zum Tragen, die das Menschengeschlecht von jeher bestimmen: Ökonomische Zwänge, soziale Milieus wie Besitzende, Gebildete, usw., und natürlich die Indifferenz der Massen.

Damit war das eroberte Reich kein religiöses, „islamisches“ Reich, sondern ein arabisches Reich, genauer: Ein Reich mit arabischen Herrschern und einem nicht-arabischen, vornehmlich christlichen Staatsapparat und Volk. Die Umayyaden gewährten für Christen und Juden eine gewisse religiöse Duldung, die gegenüber der byzantinischen Zeit eine echte Verbesserung darstellte. Mohammed begann, in Vergessenheit zu geraten. Weil ihre Beamten und Untertanen vornehmlich Christen waren, näherten sich die Umayyaden den Christen an, während sie von den Juden, den ursprünglichen Verbündeten der Araber, Abstand zu nehmen begannen. Der Umayyade Muawija pilgerte sogar wie ein Christ nach Jerusalem, um ein Zeichen für die Christen zu setzen. Münzen zeigten weiterhin christliche Symbole. Wer noch an Mohammed festhielt, stand am Rand und wurde bekämpft, so z.B. Ali und die Karidschiten.

Die Zoroastrier wurden nicht geduldet und konvertierten u.a. zum Christentum und wurden Nestorianer. Dadurch erlebte das Christentum eine unverhoffte Blüte! Christliche Missionare reisten bis nach Indien, China, und in die Mongolei. Christen sahen die Zukunft auf ihrer Seite! Von einem islamischen Reich war nicht die Rede.

Wiederaufleben der religiösen Bewegung zur Machtsicherung

Dann kam es zu einer Phase der Unruhen aus machtpolitischen Gründen, in der aus machtpolitischen Gründen auch wieder die Berufung auf Mohammed gesucht wurde. Auch die religiöse Opposition der Mohammed-Anhänger erstarkte jetzt wieder: Az-Zubair begann, sich auf Mohammed zu berufen und wurde von den Umayyaden verfolgt und vernichtet. U.a. wurde dabei die Stadt Medina erobert und ihre Bevölkerung massakriert bzw. massenvergewaltigt. Ebenso wurde ein „Heiligtum“ zerstört, das offensichtlich nicht in Mekka stand.

Um seinen Herrschaftsanspruch gegen religiös aufgeladene Unruhen abzusichern, begann der Umayyade al-Malik, die Definitionsmacht über die religiöse Bewegung der Ismaeliten für sich zu beanspruchen. Zu diesem Zweck formte er aus der wenig definierten ismaelitischen Bewegung den Islam als eine Religion in seinem Sinne:

  • Al-Malik übernahm die Berufung auf Mohammed von az-Zubair.
  • Erste Sammlung des Koran (nicht Uthman, wie später überliefert).
  • Al-Malik nannte sich erstmals „Kalif“ (Stellvertreter), und zwar Stellvertreter Allahs!
  • Erst jetzt wurde Arabisch als Amtssprache eingeführt.
  • Bau des Felsendoms in Jerusalem, solange das „Heiligtum“ in der Hand von az-Zubair war, als Konkurrenz zu diesem „Heiligtum“ und als Konkurrenz zur christlichen Grabeskirche, von der der Felsendom architektonische Anleihen nahm.
  • Definition der ismaelitischen Religion im Felsendom als „Islam“ = Unterwerfung (freundlicher: Hingabe).
  • Nach Zerstörung des „Heiligtums“ verlegen die Umayyaden das „Heiligtum“ nach Mekka. Die Gebetsrichtung wurde dementsprechend im ganzen Reich umorientiert.
  • Da die Religion an Bedeutung gewinnt, waren christliche Beamte u.a. jetzt motiviert, zum Islam zu konvertieren. Dadurch beginnt der Islam, zu einer Religion auch für Nichtaraber zu werden, obwohl er als ismaelitische Bewegung, also als arabische Bewegung, begonnen hatte.

Intellektualisierung und juristische Formung des Islam

Die Christen, Juden und Zoroastrier, die nach und nach zum Islam konvertieren, beginnen den Islam nach ihren Vorstellung zu formen. Das geschieht vor allem dadurch, dass immer neue Aussprüche Mohammeds (Hadith) „entdeckt“ werden, die diesen Vorstellungen entsprechen. Um einen Hadith als „echt“ zu beglaubigen, wird immer die angebliche Kette der mündlichen Überlieferer angegeben (Isnad).

Vorbild für dieses Verfahren sind die jüdischen Gelehrten der mesopotamischen Schulen, in deren Nähe die neuen Schulen der islamischen Rechtsgelehrten entstanden. Die dortigen jüdischen Gelehrten hatten bereits lange zuvor genau dasselbe Verfahren entwickelt, um eine angebliche mündliche Überlieferung von Worten des Moses aufzuschreiben. Auch hier wurde zu jedem angeblich überlieferten Wort eine Kette von mündlichen Überlieferern angegeben, die angeblich bis zu Moses zurückreichte.

Was brachten Christen, Juden und Zoroastrier in den Islam hinein? Auf jüdischen Einfluss dürfte z.B. die Steinigung als Strafe für Ehebruch zurückgehen; im Koran ist dafür nur das Auspeitschen vorgesehen. Zoroastrier brachten ihre fünf Gebete ein, das Tötungsgebot für Apostaten, und die zoroastrische Zahnpflege – im Koran ist nur von drei Gebeten die Rede, für Apostaten ist nur die Hölle nach dem Tod als Strafe vorgesehen, und von Zahnpflege ist nicht die Rede. Auf christliche Askese-Mönche könnte die Idee des Selbstaufopfern für die Sache Allahs zurückgehen. Auch die angebliche Chronologie der Suren des Koran, die damals ausgearbeitet wurde, scheint darauf hin angelegt worden zu sein, die Suren nach „friedlich“ und „kriegerisch“ zu sortieren und eine entsprechende Hintergrundstory zu erfinden, um das Argument vorbringen zu können, dass die späteren „kriegerischen“ Suren die früheren „friedlichen“ Suren aufheben würden.

Religiöse Abbasiden verdrängen weltlich gesinnte Umayyaden-Herrscher

Die nichtarabischen Religionsgelehrten trugen am Ende den Sieg über die arabischen Kalifen davon, indem sie die Definitionsmacht über den Islam an sich ziehen konnten. Demgegenüber war der Anspruch der Umayyaden, „Stellvertreter Allahs“ zu sein, eine Blasphemie.

Gestützt auf die alten Anhänger Mohammeds und die Lehren der Religionsgelehrten vertrieben die Abbasiden die Umayyaden von der Macht und nannten sich nun „Stellvertreter des Propheten“. Damit war die Vorherrschaft der Araber vollends gebrochen und der Islam zu einer Weltreligion für alle geworden. Jetzt wurde mit Baghdad die „Stadt des Friedens“ gebaut und an die Tradition des (hellenistisch geprägten) Perserreiches angeknüpft. Jetzt erst schrieb Ibn Ishaq die Prophetenbiographie, die alle bislang gestrickten Legenden zu einer zusammenhängenden Erzählung vereinigte, die von der wahren Geschichte natürlich stark abweicht.

* * *

Hinweis: Der Originaltitel „In the Shadow of the Sword – The Battle for Global Empire and the End of the Ancient World“ lässt niemanden vermuten, dass es sich um ein Buch über den Islam handelt, denn „Islam“ taucht in diesem Titel nicht auf, und dass es kein reißerisches Buch ist, sondern eine sehr niveauvolle Aufarbeitung der historisch erforschten Umstände und offenen Fragen der Entstehung des Islams. Die erste deutsche Ausgabe trug zunächst den Titel: „Im Schatten des Schwertes – Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs“. Später wurde der Untertitel zum Haupttitel gemacht, was absolut sinnvoll ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. August 2013)

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