Schlagwort: Abenteuer

Jack London: König Alkohol (1913)

Lesenswert: Gesellschaftskritik und Weltschmerz eines Alkoholikers

Das autobiographische Buch „König Alkohol“ (original: „John Barleycorn – Alcoholic Memoirs“) von Jack London beschreibt, wie der Lebensweg des Autors aus verschiedenen Gründen immer von Alkohol begleitet war, bis in die Sucht hinein, die den Autor bald nach der Veröffentlichung des Buches im Alter von 40 Jahren in den Tod führen sollte. Überraschenderweise steht dabei weniger die Alkoholsucht als solche im Zentrum des Buches, sondern vielmehr die „verschiedenen Gründe“ für das Trinken. Diese Gründe lassen sich im wesentlichen in drei Themenbereichen zusammenfassen:

Thema (1): Soziale Akzeptanzrituale, die für sich allein betrachtet sinnlos, albern oder sogar schädlich sind (Gessler-Hut-Rituale): In diesem Buch ist es das gemeinsame Trinken von Alkohol, durch das man als „Mann“ anerkannt wird. Aber es sind andere Beispiele von Ritualen aus unserer heutigen Lebenswelt denkbar, die zur Akzeptanz in gewissen Milieus führen: Vom Reden und Prahlen über Fußball und Autos, über die Verfemung von Microsoft, Wehrdienst und George W. Bush, bis hin zum gemeinsamen Bordell-Besuch. Das Problem ist: Entweder man macht mit, oder man bleibt einsam und erfolglos. Und wer mitmacht, gewöhnt sich daran.

Thema (2): Die Entfremdung des lesenden Menschen von den „normalen“ Menschen durch seine Bildung. Das Problem ist: Der Abgrund zu den weniger gebildeten Menschen ist auch durch ein gewolltes Herablassen auf deren Niveau nicht wirklich überbrückbar. Man bleibt innerlich einsam, und wird nur noch von wenigen, einzelnen Mitmenschen wirklich verstanden, die leider schwer zu finden sind.

Thema (3): Desillusionierungen über Gesellschaft, Mitmenschen, Religion und Weltanschauung, die zu einer verschärften Form der Sinnfrage führen (Weltschmerz, Weltekel). Das Problem ist: Entweder man findet neue, eigene Antworten auf die Sinnfrage, oder man endet in Verzweiflung und Zynismus.

Jack London hatte sich als junger Mann dem Ritual des gemeinsamen Alkoholtrinkens hemmungslos hingegeben, um Abenteuer und Kameradschaft zu erleben, was ihn für die Sucht vorbereite. Später wurde ihm die Herablassung auf das Niveau der weniger gebildeten Menschen durch den Alkohol erleichtert. Er hatte aber auch jene wenigen, einzelnen Menschen gefunden, mit denen er sich ganz ohne Alkohol auf Augenhöhe unterhalten konnte, darunter seine Ehefrau. Bis zu diesem Punkt kann noch nicht von einer Sucht gesprochen werden.

In die Sucht geriet Jack London durch die Sinnfrage. Jack London war Sozialist und vor allem Materialist. Anders als die meisten Materialisten hatte er die Folgerungen dieser Weltanschauung jedoch konsequent zu Ende gedacht, sowie mögliche Alternativen rigoros abgelehnt, so dass er dem Leben keinen Sinn mehr abgewinnen konnte. Alles wurde schal und sinnlos für ihn, und seine Perspektive auf die Welt und die Menschen wurde zynisch. Es gab offenbar nichts mehr, was seinen Geist durch Sinnhaftigkeit in Stimmung bringen konnte: Kein Streben nach Wissen, kein Suchen nach etwas Unbekanntem, keine Anschauung des Schönen, und zuletzt vielleicht auch kein echter Glaube mehr an die Möglichkeit gesellschaftlicher Verbesserungen.

Um sich gegen Pessimismus und Zynismus immer wieder in Stimmung zu bringen, musste Jack London zur Flasche greifen, und verfiel auf diese Weise schrittweise der schleichenden Sucht.

Man könnte es auch andersherum deuten: Möglicherweise führte der langjährige, „soziale“ Alkoholkonsum zu einer Depression, und diese Depression war es, die eine rationale, positive Antwort auf die Sinnfrage verhinderte („Weiße Logik“ des Alkohols), und das wiederum ließ Jack London am Ende freiwillig zur Flasche greifen. Ob nun eher eine kranke Psychologie (Depression wegen Alkoholkonsum), oder eher eine falsche Philosophie (Materialismus mit allen Konsequenzen) die Ursache für das finale Scheitern waren, wird sich wohl nie mehr ganz klären lassen. Das eine schließt das andere ja keineswegs aus.

Am Ende des Buches behauptet Jack London überraschend, dass er die „Weiße Logik“ überwinden konnte, indem er gelernt habe, der Sinnfrage auszuweichen. Trinken würde er allerdings dennoch hin und wieder, weil er sich daran gewöhnt hatte, Alkohol mit der guten Erinnerung an Geselligkeit und Kameradschaft in Verbindung zu bringen. Das ist alles andere als ein überzeugender Schluss! Denn erstens kann man der Sinnfrage nicht auf Dauer ausweichen. Und zweitens befindet sich Jack London damit immer noch in dem Zustand, Alkohol gerne zu trinken, um eine angenehme Stimmung hervorzurufen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Mai 2018)

Robert Löhr: Das Erlkönig-Manöver – Historischer Roman (2008)

Gelungene Satire auf Goethe & Co.

Man kann es sich kaum vorstellen, aber Goethe, Schiller, Alexander von Humboldt und Heinrich von Kleist machen sich gemeinsam auf den Weg, um in einer Geheimaktion den französischen Thronfolger aus dem revolutionär-französischen Mainz zu befreien! Lässt man sich erst einmal auf diesen Plot ein, findet man sich in einer anspielungsreichen Satire wieder, in der die genannten Geistesgrößen eine Action-reiche Abenteuergeschichte zu bestehen haben. Der Autor hat es vermocht, typische Züge der Protagonisten auf diese ungewöhnliche Situation umzumünzen. Die Dialoge verwenden reichlich bekanntes Material aus Leben und Werk der Charaktere, allerdings auf urkomische Weise in völlig anderen Situationen. Es empfiehlt sich, einige Werke und vielleicht auch eine Goethe-Biographie gelesen zu haben, denn nur dann kann man alle Anspielungen entschlüsseln. Die Romantik ist mit Bettine und Achim von Arnim ebenfalls mit von der Party. Man liest dieses Buch in einem Zug.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Februar 2013)

Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz (1973)

Ein weises Buch von geradezu mythischer Kraft

Dieses Buch ist ganz anders als andere Bücher von Astrid Lindgren. Weniger lustig. Ernster. Trauriger. Aber auch tröstend. Und unsagbar weise. Zudem Hoffnung und ein gewisses Urvertrauen gebend.

Das Buch erzählt die Geschichte von Krümel, dem kleinen Bruder von Jonathan, der an einer Krankheit jung sterben muss. Zuvor erzählt ihm Jonathan davon, dass man nach dem Tod nach Nangijala gelangt, dem Land der Abenteuer, Sagen und Lagerfeuer. Durch ein Unglück stirbt Jonathan noch vor seinem kleinen Bruder, und beide treffen sich bald im Kirschtal in Nangijala wieder. Doch das Paradies, das sie dort erwartet, entpuppt sich als eine Welt mit Problemen, und ein Abenteuer auf Leben und Tod beginnt. Am Ende stehen beide Brüder wieder vor dem Tod, und Jonathan erzählt von Nangilima, dem Land, in das sie als nächstes kommen werden.

Diese Geschichte erscheint märchenhaft, sie wird aber in einer so einfachen, elementaren und bildkräftigen Weise erzählt, und spricht so elementare Themen an, dass dieses Buch bei aufnahmefähigen Naturen eine geradezu mythische Kraft entfalten kann: Ein Gewinnen von Erkenntnissen über die Welt und sich selbst, was Realismus und den „kleinen“ Mut fördert, und eine Hoffnung und ein Urvertrauen, dass es Unglück, Versagen, Verlust, Scheitern und Tod geben kann, dass dies aber dennoch nicht das Ende sein muss – durch mythischen Mitvollzug und Aufgehen in der Geschichte.

Auch ich habe es nach Jahrzehnten noch einmal als Erwachsener gelesen, wie so viele hier, und war gerührt und überrascht, wieviel darin steckt, wieviel man daraus mitgenommen hatte. Ein erstaunliches Phänomen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Juli 2018)

Kazuo Ishiguro: Der begrabene Riese (2015)

Literarisch Gelungenes inmitten einer billigen Computerspiel-Atmosphäre

Der Roman „Der begrabene Riese“ von Kazuo Ishiguro spielt im England des Frühmittelalters, als die Britannier und Sachsen die Insel gemeinsam bewohnten. Es beginnt mit einem alten Ehepaar, das offenbar an Demenz leidet und deshalb vieles vergessen hat. Mit Mühe klauben sie ihre letzten Erinnerungen zusammen und machen sich auf die Reise zu ihrem Sohn, der sich um sie kümmern soll. Die Begebenheiten rund um das alte Ehepaar sind literarisch anspruchsvoll und teilweise hochsymbolisch. Der Umgang mit der verlorenen Erinnerung bzw. mit wieder auftauchenden, schmerzlichen oder gefährlichen Erinnerungen ist literarisch gut gestaltet. Auch die Symbolik des Fährmanns am Ende der Reise vermag zu überzeugen.

Doch im Vordergrund des Romans steht ein Abenteuer, das literarisch vollkommen anspruchslos erzählt wird. Die Handlung geht voran von Ort zu Ort und von Szene zu Szene wie in einem Dungeons & Dragons Computerspiel. Im Fokus steht immer der Fortgang des Abenteuers. Mal bekommt man neue Hinweise, die zur nächsten Station führen. Mal trifft man neue Gefährten. Mal erhält man nützliche Artefakte. Das alles wird sehr kontextfrei erzählt. Von einem Roman über das englische Frühmittelalter hätte man sich einige Hintergrundinformationen erwartet. Doch ohne jede Erklärung wird unvermittelt von Pikten oder Britanniern erzählt, von verfallenen Römerstraßen oder neu ankommenden Sachsen. Und mit Gawain ist noch ein alter Ritter von König Artus‘ Tafelrunde in die Handlung eingebaut worden. Dessen Aufgabe wird wiederholt als „Queste“ bezeichnet, ein Wort, das es im Deutschen so nur in der Sprache der Computerspiele gibt, wo es achtlos aus dem Englischen übernommen wurde.

Genau diese Atmosphäre des Romans herrscht auch in einem Computerspiel vor, in dem man ein Abenteuer von Szene zu Szene durchspielen muss. Auch dort ist der Fokus vollkommen auf dem Abenteuer. Kontextinformation wird so gut wie keine gegeben, denn ein Computerspiel ist kein Buch. Bekannte literarische Charaktere wie z.B. Gawain werden häufig unpassend, weil ahistorisch und ohne weitere Erklärung, in die Handlung eingebunden. Gawain erinnert streckenweise an Don Quijote, den Ritter von der traurigen Gestalt. Und schließlich kippt die Handlung ins Esoterische. Kobolde, Mischwesen und eine eigene Spezies von Menschenfressern kommen vor. Und am Ende ein Drache. Die Kobolde mögen symbolisch sein, die Menschenfresser, das Mischwesen und der Drache sind es nicht.

– – – Spoilerwarnung – – –

Der Kern des Plots ist dieser: Einst hatte der britannische König Artus den Sachsen versprochen, ihre Frauen und Kinder in jedem Fall zu schonen. Doch irgendwann brach er dieses Versprechen und richtete ein Gemetzel unter der sächsischen Zivilbevölkerung an. Damit verriet er auch jene, die dieses Versprechen in seinem Namen verbreitet hatten. Um Britannier und Sachsen zu befrieden, brachte der Zauberer Merlin mithilfe des Atems eines Drachens ein großes Vergessen über das Land. Nicht nur die beiden Alten, sondern alle Menschen in diesem Roman haben mit einer gewissen Vergesslichkeit zu kämpfen. Das Ende des Drachens ist auch das Ende des Vergessens: Die Erinnerung, der lang begrabene Riese, wird wieder erwachen, und mit ihm Rache, Mord und Totschlag.

Fazit

Die literarische Gestaltung eines alten Ehepaares, das an Demenz leidet, wie sie um ihre Erinnerung kämpfen und mit schmerzlichen und gefährlichen Erinnerungen umgehen, ist gut gelungen. Aber das alles ist in ein Abenteuer eingebunden, das nur und ausschließlich als Abenteuer funktioniert, und nicht mehr ist als ein lediglich spannendes Jugendbuch. Karl May hat mehr zu bieten. Das verwundert, da der Autor Kazuo Ishiguro doch 2017 den Literaturnobelpreis bekommen hat.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.