Schlagwort: Absurdität

Ralf Günther: Der Gartenkünstler – Ein Fürst-Pückler-Roman (2010)

Fürst Pückler in einem köstlich hochnotpeinlichen Schlamassel

Fürst Pückler, der große Landschaftsarchitekt und Gartenbaukünstler war auch in der Realität eine skurrile Type. Dieser Roman baut auf einer fast nicht zu glaubenden, aber dennoch wahren Geschichte auf: Aus einer finanziellen Notlage heraus lassen sich die Pücklers scheiden und Fürst Pückler reist nach England, um sich dort eine reiche Frau zu suchen – seine geliebte Ehefrau verwaltet derweil sein Gut in Muskau.

Aus dieser völlig absurden Idee schöpft das Buch seine teils köstliche Komik; denn in England weiß schon jeder, mit welchen Absichten Fürst Pückler gekommen ist, und so wird er entsprechend empfangen. In dieses oberpeinliche Schlamassel hinein hat der Autor noch eine Kriminalgeschichte verwoben: Die von Pückler umworbenen Frauen kommen eine nach der anderen zu Tode! Dieser Handlungsstrang entwickelt sich allerdings kaum und der Leser kann leider nicht wirklich mitraten, wer der Täter ist. Etwa ab der Hälfte des Buches hätte die Story diesen Drive einer Entwicklung gebraucht, statt dessen dreht die Handlung noch einige Wiederholungsschleifen und alle Dinge kommen erst am Ende und ein wenig zu plötzlich zur Aufklärung. Ein guter Lektor hätte dieses dramaturgische Defizit niemals durchgehen lassen. Deshalb nur 4 von 5 Punkten.

Ansonsten aber eine wirklich amüsante und köstlich peinliche Geschichte, die mit viel Charme, herrlich altmodischem Stil und angemessen schlüpfrigem Witz erzählt wird. Als gehoben-leichte Lektüre für unbeschwerte Stunden bestens geeignet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 24. August 2012)

Margaret Atwood: Der Report der Magd (1985)

Ein moderner Klassiker der dystopischen Literatur

Margaret Atwoods „Report der Magd“ ist eine Dystopie, die eine post-moderne US-amerikanische Gesellschaft beschreibt, in der christliche Traditionalisten ein totalitäres Regime namens „Gilead“ errichtet haben. Insofern es eine Kombination aus christlich-traditionalistischen Elementen mit bekannten Elementen anderer totalitärer Regime ist, handelt es sich um das exemplarische Beispiel eines totalitären Staates. Dem Alten Testament verdankt sich die Praxis, dass sogenannten „Mägde“ Kinder für ihre unfruchtbaren Herrinnen empfangen und gebären müssen.

Aus der Ich-Perspektive einer solchen „Magd“ beschreibt Atwood die typischen Auswirkungen des Systems, wie wir sie auch von anderen literarischen Dystopien und authentischen Zeugenberichten aus realen dystopischen Staaten (Kommunismus, islamischer Traditionalismus, usw.) kennen: Die völlige Zurückgeworfenheit des Individuums auf sein Inneres, das traumatisierende Im-Kreis-Drehen der eigenen Gedanken, die Flucht in die Phantasie, das Klammern an alte Erinnerungen und an jeden Strohhalm der Hoffnung, die Erfahrung der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins und der Gedanke an Selbsttötung, das Alleinsein und das Misstrauen gegenüber jedermann, die Angst und das völlige äußere Anpassen und willenlose Mitlaufen, das Abtöten aller Gefühle und Regungen, die Korruption und Verbiegung von Gefühlen wie Liebe und Vertrauen, schließlich auch das absurde Sich-Einrichten in einer kafkaesken Welt. – Zugleich bilden sich die üblichen informellen Strukturen, die die offizielle Ideologie unterlaufen: Ein Schwarzmarkt für verbotene Artikel wie Zeitschriften, Bücher, Alkohol oder Zigaretten, geheime Zusammenkünfte zwischen Mann und Frau, sogar ein Bordell für die höheren Funktionäre. All diese typischen Eigenschaften einer solchen Dystopie werden von Atwood in sehr eindringlicher Weise vor Augen geführt.

Anders als bei anderen Dystopien stehen bei Atwood die Frauen als Täter und Opfer im Mittelpunkt, weshalb manche von einer „feministischen Dystopie“ sprechen. Das Tun und Leiden der Männer in diesem System wird von der Autorin aber keineswegs vergessen. – Immer wieder wird das Wörtlichnehmen diverser Bibelstellen ad absurdum geführt, indem ihre Realisierung sehr konkret beschrieben wird. Ein kritisches Vaterunser wird formuliert.

In einigen Passagen klingt auch Kritik an manchen Zuständen in unserer modernen, freien Welt an: Der allzu oberflächliche und ignorante Umgang der Geschlechter miteinander, das Alleinsein alleinerziehender Mütter, eine Mode, die raubgierig und auf Beute aus ist, Enttäuschungen bei der Partnersuche und in der Ehe. Dass Atwood unsere Welt und unser Sozialleben in der Dystopie kritisch spiegelt, ist eine der Stärken dieses Werkes, die es über eine bloße Warnung vor totalitären Strömungen hinaushebt.

Zwei Kritikpunkte

Der Leser hat lange Zeit Schwierigkeiten zu verstehen, in welchem geschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmen sich die Handlung abspielt, und was überhaupt passiert ist, dass es zu dieser dystopischen Gesellschaft kommen konnte. Wenn der Klappentext nicht einige hilfreiche Hinweise dazu gegeben hätte, hätte dies die Lektüre ernsthaft trüben können.

Die Errichtung einer christlich-traditionalistischen Dystopie in den USA nach einer atomaren Verseuchung ist ein etwas weit hergeholter Plot. Denn zum einen ist diese atomare Verseuchung, die viele Frauen unfruchtbar gemacht haben soll, ein Anlass, ein klein wenig Verständnis dafür aufzubringen, dass eine dergestalt bedrohte Gesellschaft drastisch auf eine demographische Katastrophe reagiert. Wie für alles in Atwoods Roman gibt es auch dafür historische Beispiele, etwa die Erlaubnis der höchst unchristlichen Vielehe in manchen deutschen Staaten nach der Entvölkerung ganzer Landstriche im Dreißigjährigen Krieg. Ohne den Aspekt der atomaren Verseuchung wäre die Absurdität einer christlich-traditionalistischen Dystopie klarer zutage getreten. Hier stehen sich zwei typische Themen Atwoods gegenseitig im Weg herum: Weniger wäre mehr gewesen.

Zum anderen ist der christlichen Rechten in den USA ein solches Vorgehen nicht zuzutrauen. Denn erstens hält die christliche Rechte die Verfassung der USA quasi für heilig. Das mag zwar manchmal holzschnittartige Formen annehmen, garantiert aber doch wesentliche Freiheiten. Und zweitens ist die christliche Rechte in den USA auch nicht so stark, als dass sie eine solche Machtübernahme bewerkstelligen könnte.

Man kann den Plot nur aus der Zeit der Entstehung des Romans und aus dem politischen Denken von Margaret Atwood verstehen: Für Margaret Atwood sind Dinge wie Atomkraft oder konservative Christen der leibhaftige Gott-sei-bei-uns. Das Tragische daran ist, dass diese allzu vehemente, unabgestufte, radikale Ablehnung von Andersdenkenden selbst wiederum in Gefahr ist, totalitäre Züge anzunehmen. Wir sehen heute die Gegenreaktion: Die Präsidentschaft von Donald Trump bedeutet weniger ein Erstarken der christlichen Konservativen als vielmehr einen Protest der gesellschaftlichen Mitte gegen eine kulturelle Hegemonie der Linksliberalen, die oft keinen Raum mehr für Andersdenkende lässt, und die kein Verständnis mehr für die Legitimität von rational oft höchst begründbaren Gegenpositionen aufzubringen vermag.

Dennoch ein Klassiker

Glücklicherweise spielen diese zeitbedingten Aspekte in Atwoods „Report der Magd“ nur am Rande eine Rolle. Atwoods Werk ist eine sehr überzeugende und geradezu exemplarische Darstellung der Zustände in einer dystopischen Gesellschaft jedweder Couleur und der conditio humana in einem solchen Regime. Deshalb hat dieses Werk das Zeug zum Klassiker, und in der Tat wird der „Report der Magd“ immer wieder völlig zurecht ein „moderner Klassiker“ genannt.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Juni 2018 mit einer Bewertung von 5 von 5 Punkten)

Randall Munroe: what if? – Serious Scientific Answers to Absurd Hypothetical Questions (2014)

Komische und lehrreiche Absurditäten, die in ihrer unpolitischen Harmlosigkeit politischer sind, als es scheint

Randall Munroe, Autor der Nerd-Comic-Reihe xkcd, hat mit „what if?“ eine Sammlung von herrlich absurden Fragestellungen vorgelegt, die er mit ebenso absurder Konsequenz zu beantworten versucht – darin liegt die Komik. So geht es z.B. um die Frage,

  • ob man in einem Abklingbecken für Atombrennstäbe gefahrlos schwimmen könnte (ja, könnte man),
  • ob man eine Mauer in Form des bekannten Periodensystems der Elemente errichten könnte, wobei jeder Mauerstein tatsächlich aus dem entsprechenden Element des Periodensystems gefertigt ist (nein),
  • ob man den Mond rot färben könnte, wenn jeder Mensch einen Laserpointer auf den Mond richten würde (nein),
  • ob man ein Steak braten könnte, indem man es aus hoher Höhe auf die Erde fallen lässt (nein),
  • was geschehen würde, wenn das sprichwörtliche Glas plötzlich tatsächlich halb leer wäre (Vakuum-Implosion führt zu Scherben),
  • wann das Internet eine größere Bandbreite haben wird als eine Postsendung mit Datenträgern (niemals),
  • ob die Beschreibungen antiker Schlachten wahr sind, dass die Pfeile der Bogenschützen die Sonne verdunkelten (nein).

Der konsequente Versuch, diese Fragen zu beantworten, führt zu originellen Überlegungen und bringt einen immer wieder zum lachen. Da viele Möglichkeiten zu einem Versagen oder auch zum Tod führen, ist Sarkasmus die vorherrschende Form des Humors. Alle Fallbeispiele sind reichlich mit Grafiken im xkcd-Stil garniert.

So nutzlos die besprochenen Beispiele auch sind, so kann man doch eine Menge lernen: Man lernt vor allem, Möglichkeiten und Plausibilitäten abzuschätzen, mit Statistik umzugehen, und um die Ecke und out-of-the-box zu denken. Und nicht zuletzt die Dinge mit ein wenig Humor zu nehmen. Das ist nicht wenig.

Kritik

Die Auswahl der Themen ist konsequent harmlos: Es geht um rein naturwissenschaftliche Fragen, vor allem aus Physik und Astronomie, um den Büroalltag, um Sport, Freizeit und Urlaub – es geht durchweg nicht um „gefährliche“ Themen wie Politik und Religion. Das ist sehr unglücklich.

Denn erstens kommen gerade bei diesen „gefährlichen“ Themen die oben genannten Kompetenzen voll zum Tragen: Kann das überhaupt stimmen, was die Medien uns erzählen? Kann das überhaupt funktionieren, was die Politiker planen? Da ist es schon seltsam und auffällig, gerade diese Fragen auszuklammern. Nur die Frage, ob man in einem Abklingbecken für Atombrennstäbe schwimmen könnte, ist ein wenig politisch, aber auch nur für deutsche Verhältnisse. Denn in den USA, wo das Buch entstand, ist auch dies offenbar eine völlig unpolitische Frage.

Es ist aber zweitens auch deshalb unglücklich, weil damit eine Geisteshaltung des Vermeidens „gefährlicher“ Themen eingeübt wird. Der aufrechte Demokrat will aber keine „gefährlichen“ Themen vermeiden, sondern diese vielmehr unerschrocken ansprechen und rational diskutieren. In diesem Sinne ist dieses Buch ein Beitrag zu einer mindestens undemokratischen, wenn nicht gar antidemokratischen Gesinnung. Man erinnert sich an „Generation Golf“ von Florian Illies, wo es für unprofessionell gehalten wurde, sich politisch zu äußern. Für den humanistisch gesinnten Bildungsbürger ist das keine akzeptable Position. Ein Teil unserer heutigen Probleme mit der Demokratie geht definitiv auf solches Denken zurück.

Es gibt auch etwas zuviel Sarkasmus in diesem Buch, so dass die Stimmung manchmal in Zynismus hinübergleitet. Zynismus ist aber keine erstrebenswerte Geisteshaltung. Sarkasmus und Zynismus korrespondieren mit der festgestellten undemokratischen Gesinnung: Man hält es für klug, sich rauszuhalten, und lacht dann sarkastisch oder zynisch, wenn die Dinge den Bach heruntergehen. Was fehlt ist Optimismus, Mut zum Ausprobieren und auch Bereitschaft, Kritik zu kassieren, sowie die Freude am Gelingen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951) – Teil 1 der Trilogie des Scheiterns

Stilistische Sprachspiele im Geist der frühesten BRD

Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ ist eine sich ständig abwechselnde Aneinanderreihung von kleinen Fortsetzungsepisoden aus dem Alltag der Menschen um 1950 in München, die sich innerhalb eines Tages von morgens bis abends ereignen und sich zunehmend miteinander verweben, bis die Verwicklungen einem Höhepunkt zustreben.

Gefolgt wird u.a. dem Tageslauf eines alten Amtmannes, der einen schwarzen amerikanischen Besatzungssoldat begleitet, der wiederum von einer Deutschen ein Kind erwartet, die wiederum abtreiben lassen möchte, deren Mutter wiederum Schande in der Verbindung mit einem Schwarzen sieht; eine Kommerzienratstochter, die mehrere Häuser besitzt, die in der damaligen Zeit aber niemand kaufen will, weshalb sie ihren Hausrat und Schmuck zu Pfandleihern tragen muss; Ihren Freund, einen inspirationslosen Schriftsteller; ein ratloser Psychiater; ein bekannter Schriftsteller und eine Gruppe amerikanischer Lehrerinnen auf Deutschland-Tournee; Straßenkinder; Huren; ein Kapellmeister; ein frömmelndes Dienstmädchen; ein übertrieben träumendes Dienstmädchen; und allerlei andere Leute.

Die Episoden sind sprachlich verschränkt, was in der einen Episode ein sinnvolles Wort war, ist in der angeschlossenen Episode ein absurder Kontrast dazu. Eingestreut werden immer wieder Schlagzeilen aus damaligen Zeitungen, die ebenfalls das Geschehen absurd kontrastieren. Koeppen spielt mit der Sprache, fast wie Arno Schmidt, aber nicht so extrem, aber mehr noch und absurder als Thomas Mann. Absurde Assoziationen lassen auch absurde und verdrängte Erinnerungen an die Vergangenheit 1914-1945 aufkommen.

Man sagt, wer die Atmosphäre in der damaligen BRD kennenlernen möchte, sollte diesen Roman lesen. Das stimmt wohl, auch wenn es nur ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist.

Weltanschaulich und moralisch vertritt das Werk die These, dass die Menschen und ihr Leben und Streben wie „Tauben im Gras“ erscheinen, ein bekanntes Zitat von Gertrude Stein: Zufällig und sinnlos. Auch das passt zur damaligen Atmosphäre. Die Menschen und die Gesellschaft haben kein Ziel und vegetieren vor sich hin. Der bekannte Schriftsteller, der in einem Vortrag die Kultur des Abendlandes beschwört, wird von niemandem verstanden.

Insofern dies eine Zustandsbeschreibung ist, ist es sehr treffend. Und das ist die Stärke des Romans. Insofern der Roman aber keine Perspektive bietet, und mögliche Perspektiven sogar ablehnt, ist der Roman ein Werk des Nihilismus, und damit abzulehnen. Die Sinnvernichtung und Sinnzerstörung, die sich lange vorbereitend 1945 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, wird durch diesen Roman leider bestätigt, statt dem etwas entgegen zu setzen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. März 2018)

PS 07.10.2023

Im März 2023 entbrannte eine absurde Debatte um den Umstand, dass der Roman wiederholt das Wort „Neger“ verwendet. Das Wort „Neger“ war ein völlig wertungsfreies Wort der deutschen Sprache. Es war allgemein im Gebrauch, auch und gerade bei Gegnern des Rassismus. Erst etwa in den 1980er Jahren begann man damit, bewusst auf dieses Wort zu verzichten, weil es lautlich ähnlich wie das amerikanische N-Wort klingt. Man wollte also Missverständnisse vermeiden. Man verzichtete aber nicht deshalb auf das Wort, weil das Wort selbst abwertend gewesen wäre. Die englische Entsprechung zu „Neger“ ist auch nicht das N-Wort, sondern das Wort „negro“. Laut Wikipedia 2023 ist auch das Wort „negro“ an sich wertungsfrei.

Das Wort „Neger“ kommt im Roman in neutralen, in abwertenden und in positiven Kontexten vor. Man mache die Probe, und ersetze das Wort „Neger“ in abwertenden Aussagen durch das heute gebräuchliche „Schwarzer“, und man wird sehen, dass der abwertende Ton unverändert erhalten bleibt. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie auch das Wort „Schwarzer“ in den entsprechenden Kontexten von den Romanfiguren gehässig hervorgestoßen wird. Es ist nicht das Wort „Neger“, das den abwertenden Effekt erzeugt.

Leider haben gewisse Kreise seit den 1980er Jahren ganze Arbeit in Sachen Desinformation geleistet. Sie haben die Unwahrheit verbreitet, dass das Wort „Neger“ ein abwertendes Wort gewesen wäre. Sie vermeiden außerdem konsequent, das Wort explizit auszusprechen, und sprechen statt dessen ständig vom „N-Wort“. Damit vermischen und verwirren sie aber das neutrale deutsche Wort „Neger“ mit dem amerikanischen N-Wort, das schon immer eindeutig abwertend gemeint war. Solche verwirrten Meinungen sind heute im real existierenden Wissenschaftsbetrieb vorherrschend.

Auf diese Desinformation ist im März 2023 offenbar eine Ulmer Deutschlehrerin mit Migrationshintergrund hereingefallen. Sie glaubte tatsächlich, dass das Wort „Neger“ abwertend gemeint sei. Die „Urdeutschen“ wissen alle, dass das nicht der Fall ist, denn sie oder ihre Eltern haben das Wort bis in die 1980er Jahre völlig wertfrei benutzt. Aber die Deutschlehrerin mit Migrationshintergrund konnte das nicht wissen, weil sie und ihre Eltern in den 1980ern noch nicht in Deutschland lebten. (Oder sie verdrängte die Wahrheit, denn sie ist zugleich eine politische Aktivistin der bekanntlich recht einseitig ausgerichteten „Black Lives Matter“-Bewegung.) Also unterstellte sie dem Autor Wolfgang Koeppen und überhaupt der deutschen Gesellschaft insgesamt Rassismus. Sie mag es gut gemeint haben, aber sie hat natürlich vollkommen Unrecht.

Wir, die wir das Wort selbst noch wertfrei und deshalb völlig ohne Bedenken gebrauchten, kennen die Wahrheit aus eigenem Erleben. Aber man kann es auch belegen: Denn wenn man tatsächlich den Maßstab anlegen würde, dass das Wort „Neger“ wie das amerikanische N-Wort ein rassistisches Wort war, dann wären auch die edelsten Geister der letzten Jahrhunderte allesamt üble Rassisten gewesen, denn das Wort findet sich querbeet in der gesamten deutschsprachigen Literatur. Insbesondere auch erklärte Gegner des Rassismus gebrauchten natürlich das Wort „Neger“, um jene Menschen zu bezeichnen, die sie in Schutz nahmen.

Es macht Sinn, das Wort „Neger“ heute nicht mehr zu verwenden, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber im nachhinein sämtliche historischen Verwendungen des Wortes für rassistisch zu erklären, ist einfach nur falsch.

PS 25.01.2024

Weil es schon länger her ist, dass ich das Buch gelesen hatte, und weil die öffentliche Debatte unter dem „N-Wort“ derzeit unterschiedslos sowohl das N-Wort als auch das Wort „Neger“ subsumiert, ist mir gar nicht aufgefallen, dass der Roman neben dem Wort „Neger“ an einigen Stellen tatsächlich auch das N-Wort enthält. Aber auch das ist völlig in Ordnung, weil der Roman an diesen Stellen ganz offensichtlich rassistische Sprache wiedergeben will, wie sie nun einmal ist.

An dem Umstand, dass ich irrigerweise dachte, die Debatte ginge ausschließlich um das Wort „Neger“, kann man erkennen, zu welchen unnützen Verwirrungen diese Sprechverbote führen. Abgesehen davon, dass sie einfach nur überflüssig sind und dazu führen, dass man gar nicht mehr weiß, worüber man eigentlich spricht, sind diese Sprechverbote auch noch kontraproduktiv: Denn durch das Sprechverbot erschafft man erst eine „Beleidigung“ für Schwarze, die es vorher nicht gab. Plötzlich gilt bereits die bloße Nennung des Wortes als Beleidigung, selbst wo der Kontext völlig klar macht, dass es nicht als Beleidigung gemeint ist.