Schlagwort: Armut

Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951) – Teil 1 der Trilogie des Scheiterns

Stilistische Sprachspiele im Geist der frühesten BRD

Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ ist eine sich ständig abwechselnde Aneinanderreihung von kleinen Fortsetzungsepisoden aus dem Alltag der Menschen um 1950 in München, die sich innerhalb eines Tages von morgens bis abends ereignen und sich zunehmend miteinander verweben, bis die Verwicklungen einem Höhepunkt zustreben.

Gefolgt wird u.a. dem Tageslauf eines alten Amtmannes, der einen schwarzen amerikanischen Besatzungssoldat begleitet, der wiederum von einer Deutschen ein Kind erwartet, die wiederum abtreiben lassen möchte, deren Mutter wiederum Schande in der Verbindung mit einem Schwarzen sieht; eine Kommerzienratstochter, die mehrere Häuser besitzt, die in der damaligen Zeit aber niemand kaufen will, weshalb sie ihren Hausrat und Schmuck zu Pfandleihern tragen muss; Ihren Freund, einen inspirationslosen Schriftsteller; ein ratloser Psychiater; ein bekannter Schriftsteller und eine Gruppe amerikanischer Lehrerinnen auf Deutschland-Tournee; Straßenkinder; Huren; ein Kapellmeister; ein frömmelndes Dienstmädchen; ein übertrieben träumendes Dienstmädchen; und allerlei andere Leute.

Die Episoden sind sprachlich verschränkt, was in der einen Episode ein sinnvolles Wort war, ist in der angeschlossenen Episode ein absurder Kontrast dazu. Eingestreut werden immer wieder Schlagzeilen aus damaligen Zeitungen, die ebenfalls das Geschehen absurd kontrastieren. Koeppen spielt mit der Sprache, fast wie Arno Schmidt, aber nicht so extrem, aber mehr noch und absurder als Thomas Mann. Absurde Assoziationen lassen auch absurde und verdrängte Erinnerungen an die Vergangenheit 1914-1945 aufkommen.

Man sagt, wer die Atmosphäre in der damaligen BRD kennenlernen möchte, sollte diesen Roman lesen. Das stimmt wohl, auch wenn es nur ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist.

Weltanschaulich und moralisch vertritt das Werk die These, dass die Menschen und ihr Leben und Streben wie „Tauben im Gras“ erscheinen, ein bekanntes Zitat von Gertrude Stein: Zufällig und sinnlos. Auch das passt zur damaligen Atmosphäre. Die Menschen und die Gesellschaft haben kein Ziel und vegetieren vor sich hin. Der bekannte Schriftsteller, der in einem Vortrag die Kultur des Abendlandes beschwört, wird von niemandem verstanden.

Insofern dies eine Zustandsbeschreibung ist, ist es sehr treffend. Und das ist die Stärke des Romans. Insofern der Roman aber keine Perspektive bietet, und mögliche Perspektiven sogar ablehnt, ist der Roman ein Werk des Nihilismus, und damit abzulehnen. Die Sinnvernichtung und Sinnzerstörung, die sich lange vorbereitend 1945 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, wird durch diesen Roman leider bestätigt, statt dem etwas entgegen zu setzen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. März 2018)

PS 07.10.2023

Im März 2023 entbrannte eine absurde Debatte um den Umstand, dass der Roman wiederholt das Wort „Neger“ verwendet. Das Wort „Neger“ war ein völlig wertungsfreies Wort der deutschen Sprache. Es war allgemein im Gebrauch, auch und gerade bei Gegnern des Rassismus. Erst etwa in den 1980er Jahren begann man damit, bewusst auf dieses Wort zu verzichten, weil es lautlich ähnlich wie das amerikanische N-Wort klingt. Man wollte also Missverständnisse vermeiden. Man verzichtete aber nicht deshalb auf das Wort, weil das Wort selbst abwertend gewesen wäre. Die englische Entsprechung zu „Neger“ ist auch nicht das N-Wort, sondern das Wort „negro“. Laut Wikipedia 2023 ist auch das Wort „negro“ an sich wertungsfrei.

Das Wort „Neger“ kommt im Roman in neutralen, in abwertenden und in positiven Kontexten vor. Man mache die Probe, und ersetze das Wort „Neger“ in abwertenden Aussagen durch das heute gebräuchliche „Schwarzer“, und man wird sehen, dass der abwertende Ton unverändert erhalten bleibt. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie auch das Wort „Schwarzer“ in den entsprechenden Kontexten von den Romanfiguren gehässig hervorgestoßen wird. Es ist nicht das Wort „Neger“, das den abwertenden Effekt erzeugt.

Leider haben gewisse Kreise seit den 1980er Jahren ganze Arbeit in Sachen Desinformation geleistet. Sie haben die Unwahrheit verbreitet, dass das Wort „Neger“ ein abwertendes Wort gewesen wäre. Sie vermeiden außerdem konsequent, das Wort explizit auszusprechen, und sprechen statt dessen ständig vom „N-Wort“. Damit vermischen und verwirren sie aber das neutrale deutsche Wort „Neger“ mit dem amerikanischen N-Wort, das schon immer eindeutig abwertend gemeint war. Solche verwirrten Meinungen sind heute im real existierenden Wissenschaftsbetrieb vorherrschend.

Auf diese Desinformation ist im März 2023 offenbar eine Ulmer Deutschlehrerin mit Migrationshintergrund hereingefallen. Sie glaubte tatsächlich, dass das Wort „Neger“ abwertend gemeint sei. Die „Urdeutschen“ wissen alle, dass das nicht der Fall ist, denn sie oder ihre Eltern haben das Wort bis in die 1980er Jahre völlig wertfrei benutzt. Aber die Deutschlehrerin mit Migrationshintergrund konnte das nicht wissen, weil sie und ihre Eltern in den 1980ern noch nicht in Deutschland lebten. (Oder sie verdrängte die Wahrheit, denn sie ist zugleich eine politische Aktivistin der bekanntlich recht einseitig ausgerichteten „Black Lives Matter“-Bewegung.) Also unterstellte sie dem Autor Wolfgang Koeppen und überhaupt der deutschen Gesellschaft insgesamt Rassismus. Sie mag es gut gemeint haben, aber sie hat natürlich vollkommen Unrecht.

Wir, die wir das Wort selbst noch wertfrei und deshalb völlig ohne Bedenken gebrauchten, kennen die Wahrheit aus eigenem Erleben. Aber man kann es auch belegen: Denn wenn man tatsächlich den Maßstab anlegen würde, dass das Wort „Neger“ wie das amerikanische N-Wort ein rassistisches Wort war, dann wären auch die edelsten Geister der letzten Jahrhunderte allesamt üble Rassisten gewesen, denn das Wort findet sich querbeet in der gesamten deutschsprachigen Literatur. Insbesondere auch erklärte Gegner des Rassismus gebrauchten natürlich das Wort „Neger“, um jene Menschen zu bezeichnen, die sie in Schutz nahmen.

Es macht Sinn, das Wort „Neger“ heute nicht mehr zu verwenden, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber im nachhinein sämtliche historischen Verwendungen des Wortes für rassistisch zu erklären, ist einfach nur falsch.

PS 25.01.2024

Weil es schon länger her ist, dass ich das Buch gelesen hatte, und weil die öffentliche Debatte unter dem „N-Wort“ derzeit unterschiedslos sowohl das N-Wort als auch das Wort „Neger“ subsumiert, ist mir gar nicht aufgefallen, dass der Roman neben dem Wort „Neger“ an einigen Stellen tatsächlich auch das N-Wort enthält. Aber auch das ist völlig in Ordnung, weil der Roman an diesen Stellen ganz offensichtlich rassistische Sprache wiedergeben will, wie sie nun einmal ist.

An dem Umstand, dass ich irrigerweise dachte, die Debatte ginge ausschließlich um das Wort „Neger“, kann man erkennen, zu welchen unnützen Verwirrungen diese Sprechverbote führen. Abgesehen davon, dass sie einfach nur überflüssig sind und dazu führen, dass man gar nicht mehr weiß, worüber man eigentlich spricht, sind diese Sprechverbote auch noch kontraproduktiv: Denn durch das Sprechverbot erschafft man erst eine „Beleidigung“ für Schwarze, die es vorher nicht gab. Plötzlich gilt bereits die bloße Nennung des Wortes als Beleidigung, selbst wo der Kontext völlig klar macht, dass es nicht als Beleidigung gemeint ist.

Hans Rosling: Factfulness – Ten Reasons We’re Wrong About The World – And Why Things Are Better Than You Think (2018)

Justified 3rd-world optimism, guide to skeptical thinking, although somewhat biased itself

This is an amazing book, amazing under several aspects:

First, it is amazing, because you think that most human beings live in poverty, that the increase of population is eating up all successes in development, and that there is no improvement at the horizon – and then you see: By silent development, by small steps over long times, and without media attention, this world has become a better place, and many problems are already solved, or will soon be solved. Change is possible, is already on its way, or is even already reality. Some major examples:

  • World’s population is no longer living in great poverty. Most countries managed to reach a medium level of development.
  • World’s population is not just increasing without limits. Instead, „peak child“ is already reached!
  • The number of children has almost nothing to do with religion, but is clearly related to the level of development.
  • The visualisation of life circumstances on the author’s „Dollarstreet“ Web site is very valuable.

This book is also amazing in giving its readers a lecture in skeptical thinking. There are so many mistakes you can make when following mainstream thoughts. Here, you learn to develop a sense of skepticism, and to ask the right questions to debunk easy and popular answers. The book is a plea for rationality, against emotional judgements. It also teaches skepticism towards a belief in experts. Experts e.g. are only experts for their field, not for other fields. And it teaches how to interpret statistics correctly: You shall not interpret data out of context, expect linear increase instead of curves, ignore the possibilty of change, e.g. by still working with statistics from the 1960s – which are simply wrong because unexpected change has arrived!

Amazing is also, that the author can provide first-hand experience from poor countries about the mindset of poor people, and about their real needs, since he worked there as a doctor. Many valuable experiences from his eventful life are openly presented, including fatal mistakes he made. Priorities are different, if living in poor circumstances. And development depends on things you would not imagine. E.g. saving the children of the poor by modern medicine does not mean to increase world’s population without limits. Because the children’s health security is an important step towards parents having fewer children. If you want to put a limit on the world’s population, save the children! Human life in past centuries had a balance in population numbers only because so many children were dying. It was not paradise, as some imagine.

Not everything in this book is convincing:

  • The problems of immigration from underdeveloped countries into developed countries are very generally downplayed.
  • The book concentrates on the decrease of the number of children, yet it completely ignores that in the meantime, childlessness in developed countries has become a new problem on its own. Closing the gap of births by immigrants from poorer countries is highly problematic, since so many immigrants are needed to fill the gap that they cannot integrate into the developed culture any more. Furthermore, there is the problem that emigration of educated citizens from poorer countries into developed countries deprives the poorer countries from the fruits of their development.
  • „Peak child“ is reached also because of the childlessness of developed countries. This means that still too many children are born on a lower level of development. Especially in Africa, „peak child“ is by far not reached, yet, and as the book itself says, Africa’s population will increase from one billion to three billion, if slow but steady development in Africa will do its work as expected.
  • More developed countries means more need for natural resources, and indeed the rivalry over the natural resources of the planet is increasing. China e.g. is on a big „shopping tour“ in Africa, while at the same time building a fleet of aircraft carriers to fight for its interests in the world. Wars could be the consequence, and are likely. Especially the development of middle-developed countries can quickly be destroyed by war. The author ignores the not-at-all linear but disruptive quality of the statistics of war casualties which he himself presents.
  • The author suggests that companies should strip off their national roots and pretend to be „global“, although this deprives them of their identity, their traditions, and creates anonymity and informal cultural power structures.
  • Concerning the media (and schools!), the author sees no politically intended bias as driver of wrong information, but only a bias because of ignorance and dramatization.
  • The author is a strong advocate for the idea that climate change is man-made, that it will have catastrophic effects, and that quick and strong measures are needed to tackle the problem.

All in all, the author favours sometimes a naive optimism, and has a clear political left-wing bias. Indeed, the author has a left-wing background. He is e.g. member of IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War). This organization helped Soviet Union during Cold War to spread FAKE NEWS creating irrational fears of nuclear war in Western countries, in order to „democratically“ dismantle the West from its nuclear defence, and thus to ensure the victory of communism over the West. Hans Rosling himself tells in this book how his fears of nuclear war are irrational and deeply rooted in his family. IPPNW got the Noble Peace Prize in 1985. Former US president Obama, Noble Peace Prize in 2009 and himself known to be a left-wing politician, is advocating Rosling’s book.

Yet amazing again, the author is excused:

Reading this book it becomes clear that the author got over the usual politically biased propaganda. This becomes especially clear when he advocates against typical left-wing notions: For example, he explicitly rejects emotionalized „thinking“ about immigration as created by pictures of drowned children. Or he explicitly says that in Fukushima nobody was killed by radioactivity, but by senseless evacuations driven by irrational fear of radioactivity. Or he explicitly advocates against „thinking“ under the pressure of alleged urgency when it comes to climate change. And he strongly rejects the idea that overdramatization is justified to make politicians act on climate change! This is great.

And last but not least: Yes, the author is basically right to have a certain optimism, and he is right in his basic idea, that only development is the solution, and nothing else, and that development is indeed possible, despite all pessimists.

Summary

This is an amazing book. Not only that it gives you a much more optimistic view of the world. It teaches you also to think on your own. And while you cannot agree with the author in all questions, his way of thinking is still convincing. This is really amazing.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Mai 2019)