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Gustav Meyrink: Der Golem (1913/14)

Kein Golem, statt dessen ein schwüles romantisch-phantastisches Kabbala-Psychodrama

Dieser Roman ist kein Klassiker, der für alle Zeit zu lesen lohnen würde. Vielmehr ist es ein Zeitdokument für die Verwirrung der romantischen Phantastik und der psychoanalytisch induzierten Schwülheit im Fühlen und Denken der damaligen Zeit, soweit man überhaupt von „Denken“ sprechen sollte. Der Autor Gustav Meyrink befasste sich zu seiner Zeit mit Freimaurerei, Kabbala und Theosophie, und daraus produzierte er einen so konfusen Cocktail, dass er am Ende Hilfe dabei benötigt haben soll, sich in seinem eigenen Roman zu orientieren und einen halbwegs runden Abschluss zu schreiben. Das sagt alles.

Erzählstil und grobe Handlung

Das Buch ist eine einzige Traumreise, man weiß nie, was Wirklichkeit ist und was Wahn. Aber nicht nur die Handlung, auch die handelnden Figuren stehen auf schwankendem Grund, denn womöglich sind sie nur psychodramatische Alter Egos ein und derselben Person. Das ganze Buch hindurch herrscht eine gehetzte und beklemmte Stimmung, gepaart mit Hoffnungen, Ohnmacht und Enttäuschungen, Visionen, Offenbarungen, irren Seelenzuständen, und Obsessionen, bis hin zum fanatischen Hass. Rückblenden und Vorausblenden erhöhen die Konfusion. Hinzu kommen schwüle und schlüpfrige Szenen am laufenden Band. Und immer wieder ist der Protagonist unfähig zu reden, wenn er reden sollte.

Im Zentrum dieses Romans steht der Gemmenschneider Athanasius Pernath, der in der Hahnpassgasse im alten Judenviertel in Prag wohnt. Pernath hatte in jungen Jahren den Verstand vor Liebe verloren und war vorübergehend im Irrenhaus, wo man ihm jede Erinnerung an die Vergangenheit durch Hypnose nahm. Jetzt sucht er nach der Erinnerung an sein Vorleben.

Im Haus gegenüber befindet sich der Laden des reichen jüdischen Trödlers Wassertrum, dessen Sohn Augenarzt geworden war. Doch der Augenarzt betrog seine Patienten, indem er sie zu unnötigen Operationen drängte. Deshalb trieb ihn der Student Charousek in den Tod. Charousek wiederum ist ein unehelicher Sohn von Wassertrum, der seinen Vater abgrundtief hasst, weil er dessen Mutter erst schwängerte und dann ins Freudenhaus verkaufte.

Die Adlige Angelina ist auf der Flucht vor Wassertrum, weil Wassertrum ihren heimlichen Geliebten Dr. Savioli verdächtigt, schuld an dem Tod seines Sohnes zu sein. Angelina sucht Hilfe bei Pernath, den sie von Jugend an kennt. Wichtig für Fortgang und Deutung der Handlung sind außerdem der Kabbala-Gelehrte Schemajah Hillel und dessen Tochter Mirjam, die im selben Haus wie Pernath wohnen. Athanasius Pernath ist den ganzen Roman über hin- und hergerissen zwischen Angelina und Mirjam.

Wassertrum wird schließlich von dem hässlichen Loisa ermordet, wie zuvor auch der „Freimaurer“ Zottmann, der sich an minderjährigen Mädchen vergriffen hatte. Der Mord an Zottmann wird wiederum Athanasius Pernath angelastet, der dafür in Untersuchungshaft kommt. Dort trifft er sein Alter Ego, den Lustmörder Laponder, der ihm seine Erscheinungen deutet.

Als Athanasius Pernath wieder aus dem Gefängnis entlassen wird, sind alle seine Bekannten verschwunden und die alte Judengasse befindet sich miten im Abbruch begriffen. Pernath nimmt eine neue Wohnung – ausgerechnet in dem Haus des Golems, dazu gleich mehr – und als es bei einer neuerlichen Erscheinung des Golem zum Brand kommt, endet seine Geschichte, und die Rahmenhandlung setzt wieder ein.

Golem?

Obwohl der Titel des Romans „Der Golem“ lautet, kommt im ganzen Roman kein Golem vor. Vielmehr wurde die Überlieferung des Golem durch die überdrehte Phantastik der Romantik bis zur Unkenntlichkeit entstellt, so dass es am Ende um etwas ganz anderes geht. Der Höhepunkt dieser Entwicklung scheint dieser Roman zu sein.

Der Golem wird in diesem Roman als eine kabbalistische Geisterfigur aufgefasst, die alle 33 Jahre im Prager Judenviertel erscheint. Die Erscheinung geht immer von demselben Haus im Judenviertel aus, in dem es einen Raum mit einem Fenster aber ohne Türen gibt. Und ebenso plötzlich verschwindet der Golem wieder. Es handelt sich aber nicht um eine zum Leben erwachte Lehmfigur, sondern um einen Menschen mit asiatischen Gesichtszügen und einer mittelalterlichen Jacke. Die Ankunft des Golem kündigt sich dabei durch kleine Zeichen an: Eisblumen an den Fenstern fließen zu seinen Gesichtszügen zusammen, ein Gelegenheitsschnitzwerk zeigt seine Züge, usw.

Zu Beginn bringt der Golem dem Athanasius Pernath das Buch Ibbur zur Ausbesserung. Ibbur bedeutet „Schwängerung“. Im Sinne der Kabbala bedeutet Ibbur, dass eine Seele für eine Weile im Körper einer anderen Seele Wohnstatt nimmt. Eine Rolle spielt auch das Tarot-Spiel, das Athanasius Pernath in dem Raum ohne Türen findet. Die Figuren des Tarot sollen der Kabbala entnommen sein.

Zugleich wird der Golem aber auch psychoanalytisch gedeutet: Denn der Golem ist praktisch der Doppelgänger von Athanasius Pernath. In ihm erkennt er sich selbst wieder. In ihm steht er sich selbst gegenüber. Zwischendurch kommt es zu einer Begegnung mit einem nebulösen Geschöpf ohne Kopf, das Athanasius Pernath eine Hand mit Körnern entgegenstreckt, die Pernath dem Wesen aus der Hand schlägt, statt sie anzunehmen oder abzulehnen. Und der Schlüssel zu allem sei das Symbol des Hermaphroditen, die Vereinigung von Mann und Frau, so erfährt man später. Wie genau ….. das erfährt man nicht.

Tatsächlich deutet die Rahmenhandlung des Romans an, dass die Eigenschaft des Golem alle 33 Jahre auf eine andere Person übergeht, und zwar durch die Verwechselung des Hutes beim Besuch des Dom auf dem Hradschin. Wer dort aus Versehen den Hut eines anderen mitnimmt und darin den Namenszug „Athanasius Pernath“ findet, der ist der nächste „Golem“. Und alle diese Golems sehen sich zum Verwechseln ähnlich, stehen einander gegenüber, erkennen sich ineinander selbst.

Prag, Judenviertel, Milieu

Einen zeitdokumentarischen Wert haben die Schilderungen von Prag, dem alten Judenviertel und des Mileus, in dem sich Athanasius Pernath bewegt. Die engen Gassen, schiefstehenden Häuser, die Falltüren und Gänge: All das lässt das Judenviertel lebendig werden. Dazu gehört natürlich auch die Person des jüdischen Trödlers Wassertrum und des Kabbala-Gelehrten Schemajah Hillel und seiner Tochter Mirjam. Die Schilderung dieser beiden herzensguten, weisen und heiligen Menschen, deren Leben voller Optimismus, Heilung und Wunder ist, gehört zu den liebenswertesten Passagen im ganzen Roman.

Aber auch die Freunde von Athanasius Pernath sind wahre Originale, darunter ein Puppenspieler und ein armer Student. Zusammen gehen sie in die Kneipen, vor allem in den Loisitschek, wo es hoch hergeht. Unter anderem tanzt hier Rosina, ein lüsternes jüdisches Mädchen, das bald in die Prostitution abrutscht, so wie ihre Mutter und ihre Großmutter vor ihr auch schon. Als die Polizei kommt und Razzia machen will, stellt sich ein adliger Gast mit seiner Autorität der Polizei entgegen, so dass sie unverrichteter Dinge wieder abziehen muss. Im Loisitschek verkehrt auch das „Bataillon“, eine Gruppe von Gaunern, die von einem berühmten Rechtsprofessor gebildet und beschützt wurde, nachdem dieser von seiner Frau betrogen worden war und dem Suff verfiel.

Wir sehen ein bunt gemischtes Völkchen aus Deutschen, Tschechen und Juden und wie sie zusammenleben und in verschiedenen Sprachen, Jargons und Dialekten sprechen. Gewisse antisemitische Züge kommen vor allem in der Zeichnung der Figur des Wassertrum zum Tragen. Allerdings sollte man das nicht überbewerten, denn zugleich wird mit Schemajah Hillel und dessen Tochter Mirjam ein äußerst positives Bild von jüdischem Leben gezeichnet. Der Roman ist also nicht antisemitisch.

Unklares Ende

Die Handlung ist so wirr, mehrfach geschachtelt, teilweise unlogisch und überhaupt traumhaft, so dass der Leser am Ende nicht recht weiß, was eigentlich in Wirklichkeit passiert ist und was er davon halten soll. Immerhin fügen sich am Ende des Romans doch eine ganze Reihe von Fäden zu einem Gesamtbild zusammen, womit man gar nicht mehr gerechnet hätte.

Am Ende findet der Protagonist der Rahmenhandlung Athanasius Pernath und Mirjam wohlvereint in dem Geisterhaus am Ende des Goldenen Gässchens auf dem Hradschin, das immer nur bei Nacht und Nebel sichtbar wird, wo tagsüber ein steiler und gefährlicher Abgrund zum Hirschgraben klafft. Ende gut alles gut? Oder soll die Person des Lustmörders Laponder, ein Alter Ego des Athanasius Pernath, bedeuten, dass Athanasius Pernath Mirjam in einem Lustmord „geheiratet“ hat? Und das Happy End findet nur im geistigen Reich der Romantik statt? Wir werden es niemals erfahren.

Es handelt sich bei dem „Golem“ von Gustav Meyrink um ein schwüles, romantisch-phantastisches Kabbala-Psychodrama, das ein Dokument für seine Zeit ist, aber nicht als Klassiker mit einem überzeitlichen literarischen Anspruch gelten kann.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Victor Hugo: Der Klöckner von Notre Dame (1831)

Ein durch und durch gotisches Meisterwerk, voller Gedankentiefe, Tragik und bissiger Ironie

Der Roman „Notre Dame de Paris“ (deutsch: „Der Glöckner von Notre Dame“) ist ein durch und durch gotisches Meisterwerk. Im Mittelpunkt steht natürlich die gotische Kathedrale Notre Dame in Paris. Aber auch der Stil des Buches ist gewissermaßen „gotisch“: Teilweise ist er fast unerträglich burlesk, teilweise ist er recht grob gestrickt, und treibt die Handlung in „klobigen“ Stücken voran, teilweise verliert sich das Buch in Beschreibungen und Betrachtungen, und teilweise ist der Stil auch überraschend fein und verspielt. Nicht zuletzt wird die Kathedrale Notre Dame in einem großartigen Gleichnis als ein „Buch aus Stein“ bezeichnet, an dem ein ganzes Volk „mitgeschrieben“ hat. Aber auch die beiden Figuren des Glöckners Quasimodo und des Archidiakonus Claude Frollo verkörpern gotische Charakterzüge, die das Kirchengebäude wiederspiegeln, das sie bewohnen. Schließlich bricht Victor Hugo in diesem Roman ähnlich wie Goethe eine Lanze für den gotischen Baustil, und schmäht die Moden der späteren Baumeister.

Die Freiheit der Menschen habe sich gerade in der Baukunst ausgedrückt, meint Victor Hugo. Deshalb gäbe es so viele Bauten, Baumeister und Maurer. Der Gedanke geht in Richtung Freimaurerei, doch diese Beziehung wird nicht explizit ausgesprochen. Die Bauform der Priester und des Mythos sei die Romanik und der Hindu-Tempel, die Bauform des Volkes aber die Gotik, wo der Mensch im Mittelpunkt stehe, meint Victor Hugo. Hier schreibt Hugo manches, was man aus moderner Sicht nur als Pseudowissenschaft einordnen kann, aber die Absicht Hugos bleibt klar. Der Buchdruck werde das „Buch aus Stein“, die Baukunst verdrängen, meint Victor Hugo, und es entstehe ein neues Weltgebäude: Die Literatur.

Der Roman handelt jedoch nicht nur von der Kathedrale Notre Dame und der gotischen Bauform, sondern erweckt das ganze mittelalterliche Paris des Jahres 1482 zum Leben. Ausführlich werden die verschiedenen Stadtteile und Bauwerke darin beschrieben, und ebenso das bunte Treiben der Pariser Bevölkerung. Auch Gaunergilden und das mittelalterliche Gerichts- und Strafwesen sind ein Thema, und Victor Hugos Abneigung gegen die Todesstrafe kommt auch hier voll zum Ausdruck. Auch König Ludwig XI. wird vorgeführt, der Frankreichs Weg in den Absolutismus zu beschreiten begann. Insofern Victor Hugo hier das Leben und Wesen von Paris von damals beschreibt, und damit natürlich ganz Frankreich meint, hat er mit diesem Buch auch ein Nationalepos geschaffen.

Im Zentrum der Handlung steht „die Esmeralda“ (spanisch: Smaragd), eine bezaubernde junge Zigeunerin mit ihrer liebenswerten Zauber-Ziege Djali, die von allen begehrt wird (die Esmeralda, nicht die Ziege): Von Quasimodo dem hässlichen Glöckner von Notre Dame, der sich als erstaunlich selbstreflektiert erweist, denn er kennt seine bedauerliche Lage genau, vom gelehrten Archidiakonus von Notre Dame, und von dem schnöseligen, feschen Hauptmann Phoebus, in den sich die Esmeralda in jugendlicher Naivität rettungslos verliebt, obwohl er sie nur ausnutzt. Hinter allem steht ein dunkles Geheimnis, das die Esmeralda und Quasimodo verbindet: Einst wurde die Esmeralda von Zigeunern geraubt und durch Quasimodo ausgetauscht. Die unglückliche Mutter der Esmeralda und ihr Leiden ist eine der stärksten Figuren in diesem Roman, die man – wie vieles an diesem Roman – anfangs völlig unterschätzt.

Nebenfiguren sind Pierre Gringoire, der die Karikatur eines gescheiterten Dichters und Philosophen verkörpert, und Jean Frollo, der jüngere Bruder des Archidiakonus, der dessen Spiegelbild ist: Statt Gelehrsamkeit nur eitle Lebenslust. Ebenso König Ludwig XI., seine Errungenschaften und seine grausame Art. Eine Nebenhandlung sind die Bemühungen des Archidiakonus um Gelehrsamkeit und alchemistische Kunst, wobei öfter der name Nicolas Flamel fällt. Der Archidiakonus erscheint zunächst sehr sympathisch, denn er ist ein großer Gelehrter und kümmert sich vorbildlich um die Erziehung des Krüppels Quasimodo und seines jüngeren Bruders Jean Frollo. Doch im Laufe des Buches verwandelt er sich in das glatte Gegenteil, in einen geilen Priester, dem die Gelehrsamkeit nichts mehr gilt.

Immer wieder streut Victor Hugo Kommentare voller bissiger Ironie ein, die anhand der mittelalterlichen Zustände das Frankreich seiner Gegenwart kritisieren sollen. Leider ist dem modernen Leser nicht immer klar, worauf Victor Hugo damit anspielt, doch die Bissigkeit der Ironie spricht für sich. Lateinische Bildung und Gelehrsamkeit wird in diesem Buch leider konsequent durch den Kakao gezogen. Es werden viele lateinische Zitate gebracht, deren Übersetzung dem Leser überlassen bleibt. Der Roman endet tragisch für alle Beteiligten. Über allem sieht Victor Hugo die Ananke stehen, die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit des Schicksals. Auch hier möchte der moderne Leser ein Fragezeichen setzen, ob wirklich alles so unabweisbar notwendig geschieht.

Fazit: Ein großartiger Roman, der in vielfacher Hinsicht völlig unterschätzt wird.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. März 2020)