Schlagwort: Humanismus (Seite 1 von 6)

Israel Finkelstein / Neil A. Silberman: Keine Posaunen vor Jericho – Die archäologische Wahrheit über die Bibel (2001)

Sehr, sehr grundlegendes Allgemeinwissen für jedermann

Ich zähle „Keine Posaunen vor Jericho“ (Englisch: „The Bible Unearthed“) von Finkelstein und Silberman zu den 20 wichtigsten Sachbüchern, die man gelesen haben sollte. Warum? Weil darin sehr grundlegendes Wissen über unsere Weltwirklichkeit mithilfe der historisch-kritischen Methode vermittelt wird.

Das Buch legt verständlich aber fundiert den derzeitigen Stand der Wissenschaft dar, was der reale Hintergrund für die Entstehung des grundlegenden Teiles der Bibel war: Es handelt sich weniger um Berichte von realen Ereignissen, als vielmehr um Texte, die in theopolitischer Absicht komponiert wurden, zusammengesetzt aus Historie, Mythen, Legenden, Wunschdenken und Zielvorstellungen, geschrieben zur Erreichung eines bestimmten Zwecks in einer konkreten Situation in der damaligen Gegenwart.

Was profitiert man davon?

Zunächst wird man von der Illusion befreit, die biblischen Geschichten seien wörtlich wahr. Dies ist für das persönliche Weltbild wichtig, da diese Geschichten immer noch in Kindergarten, Schule und Literatur erzählt werden, wie wenn sie historisch wahr seien.

Auch wenn man nie selbst an diese Geschichten glaubte, kann man mithilfe dieses Wissens die christlich-jüdisch-islamisch geprägten Kulturen besser verstehen. Und diese Kulturen prägen die gesamte Welt.

Man erwirbt sich die grundlegende Kompetenz, auch bei anderen Texten historisch-kritisch zu hinterfragen, ob sie denn wahr sein könnten und was die wahre Absicht ihrer Verfasser war. Das einmal kennengelernte Prinzip kann auf jeden anderen Text übertragen werden: Auf das Neue Testament, auf den Koran, auf antike Philosophen und Historiker, bis hin zu modernen Texten und Filmen und ihren Hintergründen.

Man bekommt auch ein Verständnis dafür, dass eine Entmythologisierung nicht unbedingt die Entwertung eines Mythos nach sich ziehen muss. Was nicht wörtlich wahr ist kann dennoch im übertragenen Sinn von Bedeutung sein. Und manchmal entpuppt sich ein Mythos auch als historische Wahrheit. Eine blindwütige Bilderstürmerei ist nicht angesagt.

Einladung an gläubige Leser

Gläubige Leser sollten dieses Buch nicht zuerst als Angriff auf ihren Glauben lesen. Die Erkenntnis, dass ein heiliger Text nicht wörtlich wahr ist, entwertet diesen noch lange nicht als Grundlage für eine Religion. Natürlich bringt dieses Buch Erschütterungen für den Glauben mit sich, aber Erschütterungen können auch heilsam sein! Jedenfalls lehren alle Religionen das Vertrauen in die Vernunft, und dieses Vertrauen sollte man aufbringen. Gläubige Leser sollten sich insbesondere auch nicht gezwungen fühlen, gleich für alles eine Erklärung zu haben, sei es pro oder contra. Vernunft braucht Zeit. Man kann die Erkenntnisse dieses Buches auch erst einmal distanziert zur Kenntnis nehmen und mit ihnen gedanklich spielen. Nach einer Weile wird sich dann ganz zwanglos herauskristallisieren, was sich bewährt, und wo umgedacht werden muss, und wie dieses Umdenken zu einem neuen Ganzen führt. Ganz falsch wäre es sicher, die Ideen dieses Buches bewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dann hätte man gegen die Religion gehandelt, weil man nicht auf die Vernunft vertraute.

Vierteilige TV Doku

Zum Buch gibt es eine sehr gut gemachte vierteilige TV-Doku von 4 x 50 Minuten, die die Inhalte des Buches gut und umfassend präsentiert und mit Bildern von Ausgrabungen, Papyri, Keilschrifttexten usw. unterlegt, sowie Interviews mit an der Forschung beteiligten Wissenschaftlern zeigt. Sie wird unter verschiedenen Titeln auf DVD vertrieben, z.B. „Die Enthüllung der Bibel“ oder „Was die Bibel verschweigt“. Empfehlung!

Auf Englisch aktuell auf Youtube z.B. unter „The Bible Unearthed (Full Version)“ zu finden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. März 2011)

Aischylos: Die Perser (472 v.Chr.)

Ein Grundstein der Weltliteratur und des Griechentums

Durs Grünbein hat mit den „Persern“ von Aischylos eine Übersetzung vorgelegt, deren Worte die Kraft haben, die Vergangenheit für die Gegenwart erinnerlich zu machen, bei der, anders als bei modernistischen Übersetzungen, jede Zeile sitzt und bewusst macht, dass dem Leser hier aus alter Zeit das unverändert Menschliche entgegenweht.

Diese älteste aller griechischen Tragödien, eine einzige handlungsarme Wehklage der Perser über den Verlust des Krieges mit den Griechen bei Salamis und Plataiai, wartet mit einer großen Überraschung auf und versetzt dadurch in Staunen: Die Sieger bringen die Besiegten in ihrem menschlichen Jammer auf die Bühne, ohne Spott, ohne Häme und mit großem Ernst. Es ist den griechischen Zuschauern klar: So hätten um ein Haar auch wir wehklagen müssen, wären wir nicht Sieger geblieben. Damit sprengt diese Tragödie durch das Mitleiden der Zuschauer jede nationale Engstirnigkeit und lenkt den Blick auf die Menschlichkeit aller Menschen, und sei es der Feind – gleichzeitig demonstriert der Plot aber auch die Überlegenheit des griechischen Weges: Wo sonst wäre solches zu zeigen möglich als in Athen?

Sehr anregend auch die kenntnisreichen Nachworte von Durs Grünbein. Widersprochen werden muss seiner zuletzt geäußerten Auffassung, dass die Verbindung zu den Gefallenen vergangener Kriege abreiße, sobald sich die Ideologie ändere oder die Nation auflöse. Dies ist nicht der Fall. Denn die Nachfahren werden immer das Bewusstsein in sich tragen, dass es Menschen waren wie sie selbst, die in ihrer Zeit mit sich und dem Schicksal gerungen haben, wie dies jeder Mensch tun muss. Und es fragt sich jeder: Hätte ich es anders getan als die Vorfahren? Die Vorfahren stecken in uns, ohne dass ein Abreißen der Tradition möglich wäre.

Das Erscheinen des Dareios im Stück signalisiert auch nicht das Abreißen einer Tradition, sondern im Gegenteil die Wiederaufnahme und Rückbesinnung auf eine Tradition, nämlich die Beschwörung des Besten, was Persien bislang hervorgebracht hatte, nämlich die Weisheit des Dareios gegen Hybris und Unvernunft.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Oktober 2010)

Katrin Himmler: Die Brüder Himmler – Eine deutsche Familiengeschichte (2005)

Eine persönliche Aufarbeitung, die in die Irre führt

Dies ist leider kein gutes Buch geworden. Es ist grundsätzlich legitim und zu begrüßen, wenn Angehörige von NS-Verbrechern ihre Familiengeschichte aufarbeiten und daraufhin befragen, was in der Familie falsch gelaufen ist. Aber wenn sich eine solche persönliche Aufarbeitung ohne gute Belege in direkten Widerspruch zur Geschichtsforschung setzt, wird es sehr problematisch. Denn dann entsteht der falsche Eindruck, hier würde jemand als Familienangehöriger aus erster Hand und authentisch berichten – was aber nicht der Fall ist, denn die Autorin ist nur eine späte Verwandte, die genauso wie jeder Historiker auf Quellen angewiesen ist. Sie hat als Verwandte keinen Erkenntnisvorsprung und kein Erkenntnisprivileg.

Zentral ist die Frage nach dem Vater von Heinrich Himmler.

Spätestens seit dem Buch „Der Vater eines Mörders“ von Alfred Andersch steht die Frage im Raum, ob Heinrich Himmler wegen seines Vaters zum Mörder wurde. Bei Alfred Andersch wird die Schuld in dem autoritären Wesen und – hanebüchen – in der klassisch-humanistischen Bildung des Vaters gesehen. Erstaunlicherweise wird das Buch von Alfred Andersch und die sich daran anknüpfende Kontroverse nirgendwo erwähnt. Nur in einer Bildunterschrift im Bildteil (ohne Seitenzahl) kommt es dann doch vor. Das allein ist schon sehr seltsam.

Ohne auf Alfred Andersch einzugehen, wird die Frage zudem allzu kurz und auf seltsame Weise abgehandelt. Auf S. 105 wird in wenigen Zeilen ausgeführt, dass es zu der Zeit, als sich Heinrich Himmler in der NSDAP engagierte, zwischen Vater und Sohn Himmler „erregte Gespräche“ über Politik gab. Es wird die Vermutung (!) geäußert, dass es dabei um ein Thema ging, „das ihnen allen am Herzen lag: die ersehnte nationale Wiedergeburt und Größe Deutschlands.“ Diese Aussagen führen den Leser völlig in die Irre. Denn in Wahrheit werden es Streitgespräche gewesen sein!

In Wahrheit hat die Geschichtsforschung klar herausgearbeitet (und sogar Alfred Andersch schreibt davon), dass Vater Himmler keineswegs glücklich damit war, dass Sohn Heinrich sich der NSDAP angeschlossen hatte. Davon schreibt auch die Autorin – aber nur im kleingedruckten Anmerkungsteil auf S. 311! Dort spricht die Autorin dann aus, was sie im Buchtext unterschlägt (wo es aber hingehört hätte): Dass die Eltern ihren Sohn als „verlorenen Sohn“ ansahen, und dass Heinrich Himmler bei den Eltern als „Versager“ galt, weil er sich der NSDAP angeschlossen hatte. Solches kann man sogar bei Alfred Andersch nachlesen. Aber die Autorin setzt sich über die Forschung kurzerhand hinweg, indem sie meint, die bloße Tatsache, dass Heinrich Himmler immer noch die Familie besuchte, zeige das Gegenteil. Außerdem habe Heinrich Himmler „begeisterte Zusprüche und Ermunterungen“ für sein nationalsozialistisches Engagement von der Familie bekommen. – Von seinem Vater jedenfalls sicher nicht, und darauf kommt es an! Und warum diese zentrale Diskussion nur im Kleingedruckten?!

Dieses Buch versucht die schwarze Legende, die duch das Buch von Alfred Andersch in die Welt kam, dass Heinrich Himmler durch seinen Vater zum Mörder wurde, noch schwärzer zu malen als ohnehin schon. Dieses Buch konstruiert den Vater nicht nur als autoritär wie bei Alfred Andersch, sondern versucht vor allem eine direkte Linie vom nationalkonservativen und katholischen Standpunkt des Vaters zum nationalsozialistischen Geist des Sohnes zu konstruieren. Dabei waren es gerade diese Standpunkte, die den Vater in Gegensatz zum Sohn brachten! Die Autorin hat immer wieder sichtlich Schwierigkeiten, nationales, konservatives und religiöses Denken von nationalsozialistischem Denken zu unterscheiden. Bei ihr ist das alles irgendwie dasselbe. Und das ist nun einmal grottenfalsch.

Zudem wird die Frage nach der klassisch-humanistischen Bildung von Vater Himmler, die bei Alfred Andersch eine wichtige Rolle spielt, weitgehend unterschlagen. Wäre die Autorin offen für alle Fragen gewesen, ohne eine spezielle Absicht zu verfolgen, hätte auch dies prominent diskutiert werden müssen. Aber es geschieht nicht. Denn die Autorin hatte offenbar eine spezielle Absicht mit diesem Buch, zu der das nicht passte. Also ließ sie es weg. – Interessanterweise taucht das Motiv der klassisch-humanistischen Bildung in den zustimmenden Amazon-Rezensionen auf, obwohl es im Buch gar nicht in dieser Weise vorkommt. Die Rezensionen feiern das Buch als Entlarvung der gutbürgerlichen, klassisch-humanistisch gebildeten, national gesinnten, konservativen und katholischen Familie als der insgeheimen Brutstätte des nationalsozialistischen Denkens. So bekommt es der Leser in diesem Buch tatsächlich auch vorgeführt. Und unkritische Leser glauben es.

Wie Vorwort und Nachwort deutlich machen, war ein gewisser Michael Wildt vom „Hamburger Institut für Sozialforschung“ maßgeblich beratend an der Entstehung des Buches beteiligt. Dieses Privatinstitut ist bekannt dafür, einen gewissen politischen Linksdrall zu haben. Und so schreibt denn Michael Wildt prominent im Klappentext des Buches, dass – angeblich – „an dieser ’normalen‘ deutschen Familie Himmler“ das Netz der Verbrechen deutlich würde, „an dem so viele Deutsche auf ganz unterschiedliche Weise mitgeknüpft haben. Heinrich Himmler konnte sich des Einverständnisses dieser Familie sicher sein.“

Und das ist nun einmal völlig falsch und komplett ahistorisch.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. November 2018)

Manfred Fuhrmann: Rom in der Spätantike – Porträt einer Epoche (1994)

Extrem lehrreiches Buch über Antike, Mittelalter und europäische Kultur

Dieses Buch stellt eine Zeit in den Mittelpunkt, über die man sonst nur unzureichend informiert wird: Den Übergang von der Antike zum lateinischen Mittelalter. Obwohl man es nicht erwarten würde, lernt man hier enorm viel über die Antike, indem man sieht, auf was die Antike an ihrem Ende komprimiert wurde. Man lernt aber auch enorm viel über das Mittelalter, denn hier sieht man, wie es entstand. Vieles von dem, was wir für typisch mittelalterlich halten, ist in Wahrheit spätantik.

Für manche Leser mag der Ansatz ungewöhnlich sein, sich einem Zeitalter über seine Literatur zu nähern. Aber eigentlich ist das genau der richtige Ansatz: Hier diskutiert man die originalen Quellen, aus denen die Geschichtsschreiber dann die Erzählung der Geschichte ableiten. Mancher wird dabei die Seiten über Themen wie Bibelepik als langweilig überblättern, aber spätestens die Berichte über die Zustände während des schrittweisen Zusammenbruchs des römischen Reiches werden jeden fesseln.

Wir lesen von gebildeten Römern, die den bald kommenden Zusammenbruch nicht voraussehen. Wir lesen hier von Einzelschicksalen, die mit dem Zusammenbruch der staatlichen Strukturen zurecht kommen müssen. Wir sehen, wie es zu Arrangements mit den eindringenden germanischen Stämmen kommt. Wir sehen, wie die Kirche oft die letzte Institution ist, die noch funktioniert, und deshalb die Aufgabe des Staates übernimmt. Wir sehen, wie manche – als Bischöfe – die Verteidigung ihrer Heimat organisieren, andere von Germanen enteignet werden, wieder andere von ehrlichen Germanen unerwartet entschädigt werden, und wieder andere in noch sichere Gebiete des Reiches umgesiedelt werden. Wir sehen, wie die Bildung abnimmt und mit dem Schulwesen ihre Basis verliert. Wie die Bildung immer grobschlächtiger wird, bis sie ganz verschwindet. Wir sehen, wie manche Gebildete sich ins Mönchstum flüchten, um dort mit selbsterstellten Regeln für den Erhalt der Bildung zu sorgen (Cassiodor).

Über Antike und Mittelalter wusste man auch ohne dieses Buch Bescheid, und man wusste auch, dass es dazwischen die Völkerwanderung und überhaupt „irgendwie“ eine „dunkle“ Zeit gab, aber wie dies alles nun wirklich zusammenhängt, wie die Antike im Einzelnen zum Mittelalter transformiert wurde, dazu erfährt man in diesem Buch sehr viel. Man bekommt auch eine Ahnung davon, durch welche Zerrbrille wir die Antike teilweise noch heute sehen, wenn man sich klar macht, welche Prägungen die Wahrnehmung der Antike durch den Übergang zum Mittelalter erfahren hat.

Eine interessante Ergänzung zu diesem Buch könnte „Im Schatten des Schwertes“ von Tom Holland sein, das die Zeit der Spätantike im östlichen Mittelmeer schildert: Byzanz und Islam.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Juni 2015)

Stichworte: 5 von 5 Sternen, Antike, Bildungsverlust, Cassiodor, Dunkles Zeitalter, Europa, Germanen, Humanismus, Manfred Fuhrmann, Mittelalter, Mönchstum, Sachbuch, Spätantike, Völkerwanderung, Westeuropa

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie (2003)

Völlig am Ziel vorbei geredet

Wenn man von der „Macht der Philologie“ hört, dann denkt man an die große Bedeutung, die die richtige Interpretation alter (und neuer) Texte für die Gegenwart hat, insbesondere für Humanismus und Aufklärung. Man denkt an die historisch-kritische Methode, an Historisierung, korrekte Einordnung vergangener Zeiten, Korrekturen von bedeutsamen Schreibfehlern, oder die Wiedergewinnung bedeutender Texte. Und man denkt auch an die große Aufgabe, dies nun alles auch für den Koran und andere islamische Grundlagentexte durchzuführen, ohne Rücksicht auf die allzu Rücksichtsvollen.

Enttäuschte Erwartungshaltung

Aber in diesem Buch wird unter „Macht“ etwas anderes verstanden. Der Autor versteht unter „Macht“ die Ergriffenheit des Philologen während seiner philologischen Tätigkeit, bzw. den fast schon körperlichen (An-)Trieb, sich philologisch zu betätigen. Sozusagen den Eros der Philologie. Letztlich ist „Macht“ hier natürlich eine unpassende Wortbildung, weil das Wort „Macht“ üblicherweise so nicht gebraucht wird.

Und leider wird die Ausführung dieses Ansatzes den Erwartungen nicht gerecht. Man hätte sich gewünscht, von Platon und der intrinsischen Motivation des Philosophen zu hören, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, statt sich zurückzuziehen, oder von der Motivation der Stoiker versus der Demotivation der Epikureer, oder von Platons Mythen, die auch das Ziel verfolgen, die Rationalität emotional zu unterstützen. Oder ganz modisch: Von Schamanen und ihren Beschwörungen, von der Verschmelzung von Subjekt und Objekt, von Sigmund Freud und seinen zwei Antrieben Eros und Tod. Zum Beispiel.

Statt dessen: Langweilige Betrachtungen von Walter Benjamin über Wolken, die über das Heidelberger Schloss ziehen. Und vieles andere „gelehrige Geschwätz“. Durchaus nicht falsch. Aber immer am Punkt vorbei. Eine lange Kette von mühsamen Assoziationen, an deren Ende man sich fragt, was man jetzt eigentlich gelernt hat. Nutzlos in diesem Sinne wie die „Dialektik der Aufklärung“. Die einzelne Denkfigur kann nützen, wenn der Leser sie aus ihrem morastigen Zusammenhang befreit und selbst durch Klarheit zu neuem, besserem Leben erweckt.

Kein überzeugendes Buch. Habe es nach zwei Fünfteln abbrechen wollen –
– Habe es dann aber doch zu Ende gelesen. Man lernt so dies und das. Und bekommt diesen oder jenen Einblick. Aber eher im Sinne von Wissenschaftsgeschichte. Nicht im Sinne von Wissenschaft selbst.

Nach dem ersten Kapitel hört man dann nicht mehr viel von der „Macht“ der Philologie, und die Überlegungen geraten in das Fahrwasser von üblichen philologischen Überlegungen. Vieles ist „g’schwoll’nes G’schwätz“, das dem Leser gegenüber offenbar bewusst einen klaren und unzweideutigen Zugang zum Verständnis des Textes verstellt. Man kann streckenweise nur raten, was das Buch wohl meint. Am Ende zeigt sich oft, dass man dasselbe auch wesentlich klarer und einfacher hätte formulieren können. An so einem ärgerlichen Text möchte man nicht „scheitern“. So weit kommt’s noch …

Gegen Ende kommt das Buch wieder auf die Ergriffenheit, auf die „Macht“ der Philologie zurück, von der bisher nur im ersten Kapitel die Rede war. Das Erlebnis der Konfrontation mit einer komplexen zu lösenden Aufgabe, für deren Lösung man nicht unter Zeitdruck steht, wird als das Erlebnis bezeichnet, was die Faszination der Philologie ausmache. Das ist aber in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Diese Faszination kann man auch beim Schachspiel erleben, in einem schwierigen Stellungsspiel, ohne Schachuhr. Ja, das ist auch eine Faszination. Aber es ist nicht die Faszination der Philologie.

Die wahre Macht der Philologie

Aus irgendwelchen Gründen redet das Buch völlig am Kern der Sache vorbei. Die Faszination der Philologie besteht natürlich darin, dass die alten Texte elementare Einsichten über das Menschsein enthalten, die jeden betreffen und berühren. Deshalb u.a. haben sich diese alten Texte schließlich auch erhalten, und andere Texte nicht. Die Apologie des Sokrates hatte offenbar mehr Menschen zu allen Zeiten etwas zu sagen, als religiöse Hymnen oder technische Anleitungen, die verloren gegangen sind. Eine zweite Betroffenheit als Mensch ergibt sich aus der Erkenntnis, dass alte Texte über geistesgeschichtliche Entwicklungen Auskunft geben, die unser Denken bis heute prägen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind – und dass wir uns dessen nur bewusst werden und dadurch freier und verständiger werden können, wenn wir die alten Texte kennen. Hüter und Pfleger dieses wertvollen Erbes der Menschheit zu sein, das ist die faszinierende Aufgabe der Philologie. Dies ist die Faszination der Philologie, dies ist der Zauber, der von ihr ausgeht, dies ist die Ergriffenheit dessen, der mit alten Texten arbeitet.

Das gilt auch für zunächst unwichtig erscheinende Texte, denn man weiß nie, zu welchen Schlussfolgerungen sie führen können. Es ist ein komplexes, nie endendes Puzzlespiel, das ist richtig. Der Philologe ist Gralshüter und Schatzsucher zugleich. Auf dem Weg zum Schatz sind natürlich – Dan Brown lässt grüßen – einige faszinierende Rätsel zu lösen, aber das eigentlich faszinierende ist der Schatz. Der Weg ist nicht das Ziel.

Wilamowitz-Moellendorff ist da mit seiner Erkenntis der Pflichtethik aus dem humanistischen Menschenbild heraus erheblich näher am Thema dran als das Buch. Ein authentisches Verständnis von Pflicht, nicht als blinder Gehorsam, sondern als innerer Antrieb, das zu tun, was einem als Mensch zu tun zukommt, ein solches authentisches Verständnis von Pflicht kann z.B. aus alten Texten gewonnen werden, und den, der es begreift, ergreift es. Pflicht eben. Von dieser Ergriffenheit ist in diesem Buch aber nicht die Rede.

Demotivierender Defätismus

Statt dessen finden wir die völlig unverständliche Auffassung, dass niemand mehr an den Nutzen der Geisteswissenschaften glaube, und dass alle Versuche, einen Nutzen zu begründen, gewissermaßen unästhetisch seien. Unästhetisch? Wo doch das Schöne selbst der höchste Nutzen ist. Unverständlich.

Völlig unverständlich auch der folgende Satz: „Nie wieder möchte ich Behauptungen hören müssen wie den Satz, die Geisteswissenschaften seien ‚aufklärend‘, weil sie angeblich den Auftrag haben, ‚als Barriere gegen die Remythisierungstendenzen unserer Zeit‘ zu fungieren.“ – Gewiss, solche Anforderungen sind manchmal etwas oberflächlich. Die persönliche Ergriffenheit durch die Botschaft alter Texte ist immer zunächst intim und privat, und ihre Anwendung für die Öffentlichkeit erscheint manchmal als Schamverletzung und Profanierung. Aber solche Anforderungen sind eben auch nicht falsch, denn die Philologie kann das tatsächlich leisten. Fühlt sich der Autor dieses Buches denn nicht ergriffen von der Macht der Philologie, Einsichten bewirken zu können, zuerst bei sich selbst, und dann auch bei anderen?

Aber die Gedanken verlaufen seltsam krumm in diesem Buch. So heißt es z.B., dass Historisierung etwas „erschaffen“ würde, was sonst nicht da wäre. Das ist aber ganz falsch. Historisierung ist nichts anderes als eine richtige Erkenntnis von real existierenden Sachverhalten. Wer nicht erkennt, dass Dinge vergangen sind, einer anderen Zeit angehören, und unter der Perspektive dieser Zeit gesehen werden müssen, und nicht unter der Perspektive der Gegenwart, und dass die Perspektive der Vergangenheit einem Urteil unter der Perspektive der Gegenwart unterliegt, der schaut die Dinge nicht so an, wie sie sind, sondern der ist es, der den Dingen etwas zufügt, was sie nicht an sich haben. Ebenso ist es mit dem Klassischen. Klassisch ist, wo vergangene Perspektive und heutige Perspektive zusammenfallen. Etwas buchstäblich zeitloses. Auch da wird nichts „erschaffen“, sondern erkannt. Die Theorie dieses Buches, dass Historisierung sich nicht dem Streben nach richtiger Erkenntnis verdankt, sondern dem Streben nach der Überwindung des Todes, ist sehr schräg.

Es ist auch befremdlich, wie leicht sich der Autor dieses Buches der Auffassung hingibt, dass nach dem Tode nichts mehr komme. Woher will er das wissen? Das ist doch plumper Materialismus. Ein Geisteswissenschaftler weiß es doch besser. Es ist nicht so einfach. Es stört auch, wenn der Autor von seinen „sozialdemokratischen“ Instinkten spricht. Da fragt sich der Leser doch, ob das hier noch eine Abhandlung mit argumentativem Anspruch sein soll, oder eher ein persönliches Tagebuch? Seltsam auch, wenn die preußische Moral von Wilamowitz-Moellendorff mit „Eisen“ assoziiert wird und das für schlecht gehalten wird. Wäre eine Moral aus Gummi denn besser? Eisen ist doch für eine Moral eine sehr schöne Assoziation. Eisen lässt sich nämlich schmieden, verliert aber danach nicht so leicht seine Form, bricht aber andererseits auch nicht, sondern biegt sich, aber nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. Man vergleiche auch mit Granit.

Und ach ja: Werner Jaeger … und dass man so heute nicht mehr denken könne. Nicht wirklich eine neue Einsicht. Aber was dann? Wie sollen wir denn Identität sinnvoll konstruieren? Denn ohne Identität lebt es sich nicht gut. Werner Jaeger hat uns eine Aufgabe gestellt, die wir noch nicht gelöst haben. Immer diese abwehrenden Reden gegen Jaeger, deren bloße Existenz das Eingeständnis ist, dass an Jaeger doch was dran war. Wenn an Jaeger nichts dran gewesen wäre, würde man von ihm nämlich schweigen. Es ist also ein komplexes Problem, das schon Jahrzehnte ungelöst vor uns liegt. Man könnte das faszinierend finden. Und sich zur Tat animiert fühlen.

Wir leben in einer Zeit, in der das Wort „Humanismus“ eine äußerst bedenkenswerte Bedeutungsverschiebung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit erfährt: Unter „Humanismus“ verstehen heute viele eine auf Atheismus gegründete Weltanschauung. Es ist so töricht. Und so elend. Man könnte sich dagegen empören. Aus innerster Seele. Dieses ganze gegenwärtige Unverständnis für das Erbe der Vergangenheit, für Tradition, für die Tiefe der Geschichte, für die conditio humana, und wie darüber die Errungenschaften des Westens aufgegeben werden zugunsten eines kulturvergessenen Kulturrelativismus: Man könnte sich darüber empören und kreativ werden. Daran geht dieses Buch aber vorbei.

Fazit

Ein Buch, das vor manche Tür geführt hat. Hineingehen musste man aber immer selber. Das Buch blieb draußen.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. Oktober 2017)

Theodor Gomperz: Griechische Denker – Eine Geschichte der Antiken Philosophie (1896-1909)

Aufklärung über die Aufklärung anhand der griechischen Aufklärung

Das Werk

Obwohl Gomperz‘ dreibändiges Werk über die „Griechischen Denker“ in den Jahren 1896-1909 veröffentlich wurde, ist es dennoch erstaunlich modern: Der Grund dafür ist, dass der Verfasser politisch-weltanschaulich ein klassischer Liberaler war, der auch mit den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit bestens vertraut war, die bis heute die Grundlage unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes bilden: Evolutionstheorie, Psychologie, Religionskritik, Ethnologie, Ökonomie, Atomphysik und Astrophysik, bis hin zu den Gedanken, dass hinter den Atomen noch kleinere Teilchen stehen könnten oder dass es im Weltraum noch andere Planeten mit Leben geben müsste. Teilweise stand der Autor mit den Vordenkern der Moderne in persönlichem Kontakt, etwa mit Sigmund Freud oder dem Physiker Ernst Mach. Aber auch unter historisch-kritischen Gesichtspunkten ist Gomperz immer noch modern genug: Eine gläubige Verklärung der Antike findet sich bei ihm nicht, auch wenn er noch nicht jede Hinterfragung kennt, von der wir heute, 100 Jahre später, wissen.

Das Werk nimmt mit seiner Eindringtiefe in den behandelten Stoff eine Mittelstellung zwischen kurzer Einführung und tiefgehender Einzelabhandlung ein. Dadurch kann Gomperz etwas bieten, was es heute so nicht mehr gibt: Neben der Behandlung der großen und bekannten Denker wie Demokrit, Platon oder Aristoteles, geht Gomperz einerseits auch auf viele „kleinere“ Denker ein, von denen man sonst eher selten liest, so z.B. die Megariker, die Kyrenaiker und die Kyniker, oder Theophrast und Straton. Andererseits kann Gomperz so viel besser die Entwicklungszusammenhänge zwischen den Denkern aufzeigen, so z.B. die Einteilung der Vorsokratiker in die Ionischen Naturphilosophen, die Eleaten und spätere komplexere Denker, oder die Entstehung der Stoiker und Epikureer aus den Kynikern und Kyrenaikern, über die man nur selten liest. Gomperz breitet den ganzen Horizont vor seinen Lesern aus: Nicht nur Philosophen im engeren Sinne, sondern das ganze geistige Umfeld wird erfasst: Er beginnt mit Religion und Mythos, und vergisst nicht den wesentlichen Einfluss von Dichtern und Geschichtsschreibern. Gleichzeitig verliert sich Gomperz aber auch nicht in Teilproblemen, wie dies Spezialabhandlungen tun. Gomperz geht teilweise recht tief, bleibt dabei aber doch immer klar.

Gomperz bringt die Dinge auf den Punkt, und zwar ihren eigenen Punkt. Wo andere eher beschreiben als erklären, oder ihre moderne Ideologie in der antiken Philosophie wieder entdecken wollen, dort ist Gomperz ein Meister in der Kunst, den entscheidenden Punkt, die innere Motivation, die tiefere Triebkraft herauszuarbeiten, die hinter den antiken Entwicklungen steht. So erst werden Inhalte und Entwicklungen der antiken Philosophie wirklich verständlich.

Wer Gomperz lesen will, muss vor allem Geduld und Konzentration mitbringen. Pausen empfehlen sich. Notizen ebenfalls. Man wird später auch immer wieder noch einmal nachlesen, was Gomperz sagte, und dabei immer noch neues entdecken. Man hätte sich eine bessere Gliederung des Stoffes in einer Hierarchie von Unterkapiteln wünschen können, um dadurch einenn besseren Überblick und eine mnemotechnisch nützliche Wissensordnung zu haben. Besonders ungünstig ist die Kapiteleinteilung im dritten Band, aber auch im ersten Band ist z.B. das Kapitel über Demokrit und die Atomlehre ungünstig gehalten. Die Sätze sind manchmal etwas verwickelt und altertümlich, hier hilft lautes Lesen.

Der Inhalt

Das Hauptthema der Antike ist natürlich der Prozess der Aufklärung und die Gewordenheit unserer heutigen geistigen Welt. Gomperz weiß noch ganz genau, warum die Beschäftigung mit der Antike so wichtig ist, während der Zeitgeist uns weismachen will, die Antike sei von gestern.

Gomperz legt aber nicht nur die Entwicklung der Aufklärung in der Antike dar, sondern zeigt ständig die Zusammenhänge und Parallelen zur modernen Aufklärung und Wissenschaft auf. Er erklärt anhand der Antike die aufklärerischen Prinzipien von philosophischem und wissenschaftlichem Denken im allgemeinen, so dass der der Leser nicht nur die Schritte der Aufklärung der griechischen Denker kennenlernt, sondern auch selbst Schritt für Schritt aufgeklärt wird.

Man kann mit Fug und Recht sagen: Bei Gomperz lernt man das Denken selbst. Dazu gehört nicht nur exakte Berechnung und konsequente Logik, sondern vor allem auch die Fähigkeit der richtigen Einschätzung. Die Kunst des Abwägens. Das Maß der Erkenntnis. Das richtige Interpretieren anhand von Indizien. Man lernt auch, wie Dinge sich entwickeln, und dass vieles nur schrittweise voran geht, dass auch Irrwege nützlich sein können, usw.

Aus heutiger Sicht ist Gomperz erfrischend vernünftig und unideologisch. Die Lektüre dieser 100 Jahre alten Abhandlung ist eine wahre Labsal für die vom Zeitgeist geplagte Vernunft. Gomperz hat in vielen Punkten den richtigen, differenzierten Ansatz, er trifft an den entscheidenden Weggabelungen der Erkenntnis die richtigen Entscheidungen, während ein irriger Zeitgeist die falschen Abzweigungen nimmt und eine schiefe Ideologie entwickelt.

Die Sophisten werden von Gomperz korrekt als eine Stufe des Fortschreitens der Aufklärung gesehen; man darf dabei nur nicht vergessen, dass Sokrates die nächste, höhere Stufe ist: Nach der De-konstruktion kommt die Re-konstruktion. – Bei Platon ist Gomperz ungewöhnlich kritisch: Fast schon respektlos kritisiert er Platon als einen Denker des Absoluten, der in seiner absoluten Präzision oft genug absolut falsch lag. Auch wenn Gomperz hier nicht immer Platons Genialität voll erfasst hat, so ist sein respektlos kritischer Ansatz berechtigt und anregend. – Platon wird bei Gomperz einseitig Demokratie-kritisch und Tyrannen-freundlich gesehen. Hier und in anderen Punkten erliegt Gomperz dem Geist seiner Zeit. – Aristoteles erscheint bei Gomperz als ein Ausbund an Inkonsequenz und kompromisslerischem Pragmatismus. Was für die Philosophie im engeren Sinne eher fragwürdig ist, hat sich für Politik und Wissenschaft jedoch als Segen erwiesen: Hier hat Aristoteles mehr Erfolge bewirkt als Platon. Im letzten dürften sich beide Ansätze jedoch in der Mitte treffen, zumal Platon in den Nomoi bereits den Weg hin zu mehr Pragmatismus zu gehen begonnen hatte, und Aristoteles nicht zufällig ein Schüler Platons war. Diese Erkenntnis deutet sich bei Gomperz an, wird jedoch nicht in dieser Klarheit formuliert.

Der Autor

Erschreckend ist es zu lesen, wie Gomperz kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Auffassung vertritt, die Staaten Europas seien auf einem guten Wege des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes, und würden immer enger zusammenrücken; Krieg sei undenkbar geworden. Im Sinne des „Zauberberges“ von Thomas Mann ist Gomperz ein wahrer „Settembrini“, ein durchaus sympathischer aber vielleicht doch allzu optimistischer klassischer Liberaler mit etwas zu wenig Einfühlungsvermögen in das „absolute“ Denken Platons. Da es aber besser so als andersherum ist, verzeiht man ihm diese Schwäche gern.

Wer ein vernünftiges, rundes, schönes, klares, erhellendes, bildungsbürgerliches, vollständiges, gutes, menschenfreundliches Buch über die antiken Denker lesen möchte, das nicht angekränkelt ist von den Irrtümern unserer Zeit, sondern wesentliche und richtige zeitlose Einsichten als Basis für eigenes Weiterdenken vermittelt, der ist mit den „Griechischen Denkern“ von Gomperz bestens bedient. Sicher eines der Bücher, die man gelesen haben sollte.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juni 2013)

Haito und Walahfried Strabo: Visio Wettini (824)

Einblick in Denk- und Lebenswelt der Reichenauer Mönche um 824

Dieses Büchlein bietet sowohl die von Abt Heito verfasste Originalprosafassung der Vision des Mönches Wetti von 824 als auch deren dichterische Bearbeitung durch den jungen Walahfried Strabo, beides in Latein und Deutsch und mit Verweisen aufeinander, sowie einen ausführlichen Einleitungs- und Kommentarteil, der nichts zu wünschen übrig lässt.

Die religiöse Gelehrsamkeit und Frömmigkeit bis hin zum Aberglauben scheint damals eindeutig im Mittelpunkt gestanden zu haben, und weniger das, woran wir heute zuerst denken, wenn wir von der Gelehrsamkeit der mittelalterlichen Mönche sprechen (also z.B. Überlieferung antiker Texte, scholastische Philosophie, Astronomie, Medizin). Diese Art von Gelehrsamkeit drückt sich höchstens indirekt in der lateinischen Gewandtheit des Walahfried Strabo aus. Ebenfalls ein wichtiger Aspekt sind persönliche Beziehungen, z.B. zwischen Lehrer und Schüler (Walahfried Strabo und Wetti), zwischen Mönch und Abt (Walahfried Strabo und Heito und Erlebald), oder zwischen jungem Mann und Förderer (Walahfried Strabo und Grimald, Erzkapellan des Kaisers und später Abt von St. Gallen).

Aufgefallene Einzelaspekte:

  • Die berühmte (aber recht kurze) Beschreibung der Reichenau.
  • Unzucht unter Mönchen scheint ein großes Problem gewesen zu sein.
  • Weltliche Äbtissinnen verdarben die ihnen unterstellten geistlichen Nonnen.
  • Graf Gerold fiel im Kampf gegen die Heiden zur Verteidigung der Kirche und erhielt dafür das ewige Leben: Im Prinzip dasselbe wie der Dschihad im Islam.
  • Bezüge zu Dante: Dante mag die Visio Wettini tatsächlich verwendet haben, einen großen Einfluss hatte sie jedoch offenbar nicht auf sein Werk.
  • Verbreitet war offenbar eher die originale Prosafassung von Abt Heito, weniger Walahfried Strabos dichterische Fassung.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.
(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. Februar 2020)

Niccolò Machiavelli: Der Fürst (1513)

Der erwartete Klassiker mit Einsichten am Rande

Das bekannte Buch von Machiavelli liest sich recht schnell und bietet im Original tatsächlich ungefähr das, was man überall darüber lesen kann: Es ist eine Anleitung für Fürsten, wie sie die Macht erlangen und erhalten, wobei die Wahl der Mittel ohne Rücksicht auf moralische Bedenken geschieht. Auch der immer wieder zitierte Rat kommt vor, dass man den Untertanen nicht an den Geldbeutel oder die Frau gehen soll, was fast schon tröstlich ist, da dadurch eine gewisse Grenze und ein gewisser Schutz für die Untertanen vor ihren Fürsten definiert wird, auch wenn es ein rein egoistischer Rat ist.

Der Gipfel der Skrupellosigkeit ist der Mord von Cesare Borgia an diversen Verschwörern in Senigallia 1502, wohin er sie eingeladen hatte. Machiavelli stellt diese Beseitigung von Rivalen als herrschaftssichernde Maßnahme dar, die sehr erfolgreich und deshalb legitim war.

Interessant ist das „Schachspiel“ der Mächte untereinander: Wer mit wem gegen wen, und wie man jemanden in Schach hält, oder ihn unfreiwillig zur Eroberung einlädt usw. Hier können naive Menschen gut lernen, dass gutgemeinte Taten oft das Gegenteil dessen zur Folge haben, was beabsichtigt war. Man bekommt zudem Einblicke in die politischen Verhältnisse im Italien der damaligen Zeit: Franzosen, Venezianer, der Papst … alle ringen um Einfluss und Herrschaft.

Interessant sind auch die Ratschläge, wie man verschiedene Länder zu einem Land zusammenschließt. Der Fürst sollte entweder Teile der Bevölkerung umsiedeln, oder seine Residenz im neu eroberten Gebiet nehmen. Republiken könne man nur durch Zerstreuung der Bevölkerung dauerhaft in den Griff bekommen, weil die Erinnerung an die einstige Freiheit zu stark ist. Für die Konstrukteure des EU-Überstaates sind hier wertvolle Einsichten zu finden, die zeitlos gültig sind.

Der viel beschworene Begriff der „virtù“ fiel mir bei der Lektüre der Übersetzung nicht auf. Vermutlich fällt er bei Machiavelli in einem eher unscheinbaren Nebensatz, und man muss schon einen Blick dafür haben, dies zu erkennen und die Neuerung im Denken darin zu sehen. Das Denken Machiavells ist sicher eine Befreiung gegenüber einem scholastischen Denken, aber es ist andererseits doch wieder zu zügellos.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Dezember 2017)

Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834)

Anregende und wirkmächtige Geistesgeschichte Deutschlands

Heinrich Heines „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ von 1834/5 ist aus mehreren Gründen absolut lesenswert: Zum einen, weil es eine sehr persönliche Sicht auf den Verlauf der Geistesgeschichte in Deutschland bietet, die durch Ehrlichkeit, Individualität und Offenheit überzeugt. Hier geht es nicht darum, Objektivität vorzutäuschen, sondern hier sagt jemand seine Meinung, und der Leser ist zum Selberdenken aufgefordert. Auch dort, wo man die Darstellung für zu oberflächlich und einseitig hält, hat Heine doch immer einen guten Punkt getroffen. Heine hat hier einige Einsichten mit Worten geprägt, die fast zu Sprichworten geworden sind.

Zum anderen sollte man dieses Buch deshalb lesen, weil es von vielen gelesen wurde, und ein Bild der deutschen Geistesgeschichte erzeugt hat, das von vielen geteilt wird. Auch und gerade, weil es auch Fehler hat, sollte man um die Wirkmächtigkeit dieser Irrtümer wissen. Schließlich ist Heines Werk aber auch ein Zeitdokument, das einem die Augen öffnet, wie die Dinge in den damaligen Zeiten gelaufen sind – und wie sie wohl zu allen Zeiten laufen bzw. laufen könnten.

Für Heinrich Heine mündet die Reihe Kant, Fichte, Schelling, Hegel in Pantheismus, in „Naturphilosophie“. Im Pantheismus, in der Romantik, lebt auch das alte Germanentum wieder auf, während die Juden als „Schweizergarde des Deismus“ nicht in das pantheistische Bild passen. Heine weiß, dass in der Naturphilosophie auch Gefahren liegen: Das Wiederaufleben der „Berserkerwut“ des Germanentums aus „tausendjährigem Schlummer“. Man meint, eine Prophezeiung auf Marx und Hitler zu lesen.

Hier gibt es eigentlich keinen Grund für Optimismus und Fortschrittsglaube. Es ist unverständlich, wie Heine den Gang der Geistesgeschichte einschließlich ihrer Gefahren so beschreiben kann, aber dann relativ optimistisch dabei ist. Heine hätte hier die Frage nach einer besseren Alternative stellen müssen. Aber das tut er nicht. Heine scheint vielmehr im Ganzen recht einverstanden zu sein mit der „Naturphilosophie“. Die Gefahren scheint er nicht ernst zu nehmen.

In diesen Zusammenhang muss wohl auch die Aussage Heines eingeordnet werden, dass er das Christentum selbst dann noch erhalten wollte, wenn der Glaube geschwunden ist. Das ist eine sehr unphilosophische Aussage. Hier wird deutlich, dass Heine selbst kein ganz klarer Kopf ist. An anderer Stelle äußert er, wie ihm unwohl ist, wenn Kant Gott seziert; damit zeigt er eine unphilosophische Religiosität. Von diesem Punkt aus lassen sich Heines Irrtümer und Fehlurteile verstehen.

Hierher gehört wohl auch, dass Heine seinen eigenen Fortschrittsoptimismus ein wenig relativiert, ohne ihn im Kern zu hinterfragen. Man kann sicher sein, dass Heine vor ideologischem Handeln und Fanatismus zurückgeschreckt wäre. Aber Heine mäßigt seinen Optimismus nur, statt dass er ihn grundsätzlich hinterfragt. Auch hier wird die Gefahr von Heine gesehen, aber kleingeredet. Eine bessere Alternative zum naiven Fortschrittsoptimismus wird nicht gegeben. Heine ist ganz offenkundig fasziniert von dem Neuen und will daran nur das vermeintlich Gute sehen. Heinrich Heine ist einer der ersten, die die Greuel von Kommunismus und Nationalsozialismus vor lauter Faszination nicht sehen wollten – wenn auch nur auf einer theoretischen Ebene.

Die Aufgabe des modernen Lesers ist es, sich dieser Faszination Heinrich Heines zu entziehen, und bessere Alternativen zu suchen.

Interessant die Aussagen über das deutsche Wesen: Methodisch, gründlich, langsam, auch im Hass, und mit einer Wirkung aufgrund der Gedankentiefe, die die Welt erschüttern wird. Die Deutschen sind generell langsam, wenn sie aber einmal eine Bahn eingeschlagen haben, verfolgen sie diese bis zum Ende.

Ein Irrtum ist u.a. die Auffassung, dass es eines Luthers bedarf, um etwas zu bewegen, und dass ein Erasmus und Melanchthon es allein nicht geschafft hätten. Denn Heine selbst spricht später davon, dass Kant und seine Nachfolger eine Wirkung entfalten würden, gegen die die französische Revolution nichts sei.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. August 2014)

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens – Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (2016)

Religion als Ursprung des Westens? No way!

Winkler baut die Entwicklung des Westens ganz auf Judentum und Christentum auf. Die Antike kommt bei ihm erst durch Hellenismus und römische Kaiserzeit ins Spiel, wegen des frühen Christentums. Stoische Philosophie ist bei ihm Beiwerk am Rande der eigentlichen Entwicklung, und fällt praktisch „vom Himmel“, ihre Herkunft bleibt tatsächlich unerwähnt. Platon, Aristoteles, Cicero: Kein Wort von ihnen.

Damit übergeht Winkler den wahren Wurzelgrund des Westens: Die griechisch-römische Antike! Es waren die griechischen Philosophen, die die erste Aufklärung in Gang brachten und humanistisches Gedankengut entwickelten. Der Aufstieg des Christentums drehte diese antike Aufklärung erst einmal wieder zurück und es folgte die dunkle Zeit des fundamental-religiösen Mittelalters. Die Religionen bedienten sich immer mehr an den antiken Denkern, und bauten sie in ihre Theologien ein, bis das antike Denken aus dem Schatten der Religion heraustreten konnte. Erst als man wieder begann, das antike Denken selbst und eigenständig zu entdecken, endete das Mittelalter und eine neue Aufklärung begann. Religionen wie das Christentum waren nicht die Quelle der Aufklärung. Es waren nicht die Religionen, die Demokratie und Menschenrechte hervorbrachten, sondern die Religionen mussten erst mühsam lernen, dass ihre religiöse Lehren mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar sind. Das ist nicht antireligiös gemeint: Religionen können an der Aufklärung teilhaben und sie sich zu eigen machen, und so ihre Wahrhaftigkeit steigern, aber dass Aufklärung und Humanismus aus Religionen hervor gegangen wären, ist historisch einfach nur falsch.

Winkler sieht im Monotheismus den Anfang des Westens. Es ist jedoch grundsätzlich die Frage, ob der Monotheismus der traditionellen Religionen wie Judentum und Christentum wirklich einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des Westens geleistet hat. Griechenland und Rom jedenfalls waren polytheistische Gesellschaften, und sie waren es, die Aufklärung und Humanismus hervorbrachten. Den „philosophischen Gott“ der griechischen und römischen Philosophen mit dem Gottesbegriff der traditionellen Religionen gleichzusetzen und deshalb zu behaupten, der Monotheismus sei eine Grundlage des Westens, ist jedenfalls unzulässig. Nebenbei: Es ist auch sachlich falsch, eine direkte Verbindungslinie vom Monotheismus eines Pharao Echnathon zum Monotheismus des Judentums zu ziehen. Sie entstanden zwar beide aus demselben von Winkler richtig benannten, politischen Grund, jedoch mit großer Sicherheit völlig unabhängig voneinander.

Das Fundament von Winklers „Westen“ wird fundamental-religiösen Menschen sehr gefallen. Aber bereits ein aufgeklärt-religiöser Mensch wird sich über dieses Werk höchst verwundern müssen. Das Buch erscheint auch etwas simpel geschrieben. Gutwillige Rezensenten nennen es „flüssig geschrieben“. Ein klarer, einfacher Stil muss kein Fehler sein, aber wenn man komplizierte Themen mit allzu wenigen Strichen zu zeichnen versucht, gerät es zur Karikatur. Soll das Buch weniger gebildete Leser ansprechen und für den „Westen“ gewinnen? Fast könnte man meinen, das Buch würde sich bewusst an einfach gestrickte religiöse Menschen wenden, um sie für den „Westen“ zu gewinnen …

Der „Westen“ ist als Begriff zudem hochproblematisch und missverständlich. Denn die Sache, um die es geht, ist nicht für eine bestimmte Himmelsrichtung reserviert. Vielmehr geht es um Aufklärung und Humanismus, die überall aufblühen können. Demokratie und Menschenrechte sind für alle Menschen da, nicht nur für den Westen. Der Westen war nur schneller als andere.

Nicht alles an Winklers Denken ist falsch, es finden sich viele gute Einzelideen in einem teilweise recht seltsamen Rahmen eingespannt. Im Lauf der Lektüre fällt auf, dass Winkler Karl Marx am häufigsten zitiert. Es fällt schwer, Winkler einzuordnen. Welche verborgene Agenda hat er damit nur verfolgt? Welche politische Lobby freut sich über dieses Werk? Linke? Religiöse? Postmoderne Kulturrelativisten? Freimaurer?! Man ist ratlos. Winklers Werk muss als „eigenwillig“ im negativen Sinn eingestuft werden, es ist verkorkst und missglückt, so viele gute Einzelideen darin auch enthalten sein mögen. Wen immer Winkler überzeugen wollte: Mit diesem Buch stößt er nur ab.

Fazit

Heinrich August Winkler hat mit seiner „Geschichte des Westens“ ein seltsam verkorkstes Buch geschrieben, das den absonderlichen Versuch unternimmt, die Geschichte von Aufklärung und Humanismus ohne Platon, Aristoteles und Cicero zu erklären. Den wahren Ursprung des Westens verschleiert Winkler in einer unglaublich sträflichen Weise. Nein, so geht es nun einmal nicht. Deshalb schlechtestmögliche Note.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Juli 2012)

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