Schlagwort: Humanismus (Seite 1 von 6)

Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834)

Anregende und wirkmächtige Geistesgeschichte Deutschlands

Heinrich Heines „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ von 1834/5 ist aus mehreren Gründen absolut lesenswert: Zum einen, weil es eine sehr persönliche Sicht auf den Verlauf der Geistesgeschichte in Deutschland bietet, die durch Ehrlichkeit, Individualität und Offenheit überzeugt. Hier geht es nicht darum, Objektivität vorzutäuschen, sondern hier sagt jemand seine Meinung, und der Leser ist zum Selberdenken aufgefordert. Auch dort, wo man die Darstellung für zu oberflächlich und einseitig hält, hat Heine doch immer einen guten Punkt getroffen. Heine hat hier einige Einsichten mit Worten geprägt, die fast zu Sprichworten geworden sind.

Zum anderen sollte man dieses Buch deshalb lesen, weil es von vielen gelesen wurde, und ein Bild der deutschen Geistesgeschichte erzeugt hat, das von vielen geteilt wird. Auch und gerade, weil es auch Fehler hat, sollte man um die Wirkmächtigkeit dieser Irrtümer wissen. Schließlich ist Heines Werk aber auch ein Zeitdokument, das einem die Augen öffnet, wie die Dinge in den damaligen Zeiten gelaufen sind – und wie sie wohl zu allen Zeiten laufen bzw. laufen könnten.

Für Heinrich Heine mündet die Reihe Kant, Fichte, Schelling, Hegel in Pantheismus, in „Naturphilosophie“. Im Pantheismus, in der Romantik, lebt auch das alte Germanentum wieder auf, während die Juden als „Schweizergarde des Deismus“ nicht in das pantheistische Bild passen. Heine weiß, dass in der Naturphilosophie auch Gefahren liegen: Das Wiederaufleben der „Berserkerwut“ des Germanentums aus „tausendjährigem Schlummer“. Man meint, eine Prophezeiung auf Marx und Hitler zu lesen.

Hier gibt es eigentlich keinen Grund für Optimismus und Fortschrittsglaube. Es ist unverständlich, wie Heine den Gang der Geistesgeschichte einschließlich ihrer Gefahren so beschreiben kann, aber dann relativ optimistisch dabei ist. Heine hätte hier die Frage nach einer besseren Alternative stellen müssen. Aber das tut er nicht. Heine scheint vielmehr im Ganzen recht einverstanden zu sein mit der „Naturphilosophie“. Die Gefahren scheint er nicht ernst zu nehmen.

In diesen Zusammenhang muss wohl auch die Aussage Heines eingeordnet werden, dass er das Christentum selbst dann noch erhalten wollte, wenn der Glaube geschwunden ist. Das ist eine sehr unphilosophische Aussage. Hier wird deutlich, dass Heine selbst kein ganz klarer Kopf ist. An anderer Stelle äußert er, wie ihm unwohl ist, wenn Kant Gott seziert; damit zeigt er eine unphilosophische Religiosität. Von diesem Punkt aus lassen sich Heines Irrtümer und Fehlurteile verstehen.

Hierher gehört wohl auch, dass Heine seinen eigenen Fortschrittsoptimismus ein wenig relativiert, ohne ihn im Kern zu hinterfragen. Man kann sicher sein, dass Heine vor ideologischem Handeln und Fanatismus zurückgeschreckt wäre. Aber Heine mäßigt seinen Optimismus nur, statt dass er ihn grundsätzlich hinterfragt. Auch hier wird die Gefahr von Heine gesehen, aber kleingeredet. Eine bessere Alternative zum naiven Fortschrittsoptimismus wird nicht gegeben. Heine ist ganz offenkundig fasziniert von dem Neuen und will daran nur das vermeintlich Gute sehen. Heinrich Heine ist einer der ersten, die die Greuel von Kommunismus und Nationalsozialismus vor lauter Faszination nicht sehen wollten – wenn auch nur auf einer theoretischen Ebene.

Die Aufgabe des modernen Lesers ist es, sich dieser Faszination Heinrich Heines zu entziehen, und bessere Alternativen zu suchen.

Interessant die Aussagen über das deutsche Wesen: Methodisch, gründlich, langsam, auch im Hass, und mit einer Wirkung aufgrund der Gedankentiefe, die die Welt erschüttern wird. Die Deutschen sind generell langsam, wenn sie aber einmal eine Bahn eingeschlagen haben, verfolgen sie diese bis zum Ende.

Ein Irrtum ist u.a. die Auffassung, dass es eines Luthers bedarf, um etwas zu bewegen, und dass ein Erasmus und Melanchthon es allein nicht geschafft hätten. Denn Heine selbst spricht später davon, dass Kant und seine Nachfolger eine Wirkung entfalten würden, gegen die die französische Revolution nichts sei.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. August 2014)

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens – Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (2016)

Religion als Ursprung des Westens? No way!

Winkler baut die Entwicklung des Westens ganz auf Judentum und Christentum auf. Die Antike kommt bei ihm erst durch Hellenismus und römische Kaiserzeit ins Spiel, wegen des frühen Christentums. Stoische Philosophie ist bei ihm Beiwerk am Rande der eigentlichen Entwicklung, und fällt praktisch „vom Himmel“, ihre Herkunft bleibt tatsächlich unerwähnt. Platon, Aristoteles, Cicero: Kein Wort von ihnen.

Damit übergeht Winkler den wahren Wurzelgrund des Westens: Die griechisch-römische Antike! Es waren die griechischen Philosophen, die die erste Aufklärung in Gang brachten und humanistisches Gedankengut entwickelten. Der Aufstieg des Christentums drehte diese antike Aufklärung erst einmal wieder zurück und es folgte die dunkle Zeit des fundamental-religiösen Mittelalters. Die Religionen bedienten sich immer mehr an den antiken Denkern, und bauten sie in ihre Theologien ein, bis das antike Denken aus dem Schatten der Religion heraustreten konnte. Erst als man wieder begann, das antike Denken selbst und eigenständig zu entdecken, endete das Mittelalter und eine neue Aufklärung begann. Religionen wie das Christentum waren nicht die Quelle der Aufklärung. Es waren nicht die Religionen, die Demokratie und Menschenrechte hervorbrachten, sondern die Religionen mussten erst mühsam lernen, dass ihre religiöse Lehren mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar sind. Das ist nicht antireligiös gemeint: Religionen können an der Aufklärung teilhaben und sie sich zu eigen machen, und so ihre Wahrhaftigkeit steigern, aber dass Aufklärung und Humanismus aus Religionen hervor gegangen wären, ist historisch einfach nur falsch.

Winkler sieht im Monotheismus den Anfang des Westens. Es ist jedoch grundsätzlich die Frage, ob der Monotheismus der traditionellen Religionen wie Judentum und Christentum wirklich einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des Westens geleistet hat. Griechenland und Rom jedenfalls waren polytheistische Gesellschaften, und sie waren es, die Aufklärung und Humanismus hervorbrachten. Den „philosophischen Gott“ der griechischen und römischen Philosophen mit dem Gottesbegriff der traditionellen Religionen gleichzusetzen und deshalb zu behaupten, der Monotheismus sei eine Grundlage des Westens, ist jedenfalls unzulässig. Nebenbei: Es ist auch sachlich falsch, eine direkte Verbindungslinie vom Monotheismus eines Pharao Echnathon zum Monotheismus des Judentums zu ziehen. Sie entstanden zwar beide aus demselben von Winkler richtig benannten, politischen Grund, jedoch mit großer Sicherheit völlig unabhängig voneinander.

Das Fundament von Winklers „Westen“ wird fundamental-religiösen Menschen sehr gefallen. Aber bereits ein aufgeklärt-religiöser Mensch wird sich über dieses Werk höchst verwundern müssen. Das Buch erscheint auch etwas simpel geschrieben. Gutwillige Rezensenten nennen es „flüssig geschrieben“. Ein klarer, einfacher Stil muss kein Fehler sein, aber wenn man komplizierte Themen mit allzu wenigen Strichen zu zeichnen versucht, gerät es zur Karikatur. Soll das Buch weniger gebildete Leser ansprechen und für den „Westen“ gewinnen? Fast könnte man meinen, das Buch würde sich bewusst an einfach gestrickte religiöse Menschen wenden, um sie für den „Westen“ zu gewinnen …

Der „Westen“ ist als Begriff zudem hochproblematisch und missverständlich. Denn die Sache, um die es geht, ist nicht für eine bestimmte Himmelsrichtung reserviert. Vielmehr geht es um Aufklärung und Humanismus, die überall aufblühen können. Demokratie und Menschenrechte sind für alle Menschen da, nicht nur für den Westen. Der Westen war nur schneller als andere.

Nicht alles an Winklers Denken ist falsch, es finden sich viele gute Einzelideen in einem teilweise recht seltsamen Rahmen eingespannt. Im Lauf der Lektüre fällt auf, dass Winkler Karl Marx am häufigsten zitiert. Es fällt schwer, Winkler einzuordnen. Welche verborgene Agenda hat er damit nur verfolgt? Welche politische Lobby freut sich über dieses Werk? Linke? Religiöse? Postmoderne Kulturrelativisten? Freimaurer?! Man ist ratlos. Winklers Werk muss als „eigenwillig“ im negativen Sinn eingestuft werden, es ist verkorkst und missglückt, so viele gute Einzelideen darin auch enthalten sein mögen. Wen immer Winkler überzeugen wollte: Mit diesem Buch stößt er nur ab.

Fazit

Heinrich August Winkler hat mit seiner „Geschichte des Westens“ ein seltsam verkorkstes Buch geschrieben, das den absonderlichen Versuch unternimmt, die Geschichte von Aufklärung und Humanismus ohne Platon, Aristoteles und Cicero zu erklären. Den wahren Ursprung des Westens verschleiert Winkler in einer unglaublich sträflichen Weise. Nein, so geht es nun einmal nicht. Deshalb schlechtestmögliche Note.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Juli 2012)

E.T.A. Hoffmann: Der goldene Topf (1814)

Skurriler und phantastischer Klassiker der Romantik – Großartiger Kunstmythos

Die Geschichte beginnt grau in grau im Dresden der Gegenwart (1814), doch nach und nach schleichen sich skurrile und phantastische Elemente in die Geschichte ein, die fast schon psychedelischen Charakter haben. Die Übergänge sind fließend und der Text ist voller Symbole, Anspielungen und Rückbezüge, so dass die Lektüre den Leser in eine reichlich seltsame Welt versetzt, in der er sich erst zurechtfinden muss. Auch das Aufeinandertreffen von skurrilen und läppischen Aspekten mit phantastischen und erhabenen Momenten trägt zur einzigartigen Atmosphäre dieser Geschichte bei. Ebenso die Sprache, die zunächst umständlich altertümlich erscheint, dann aber als stilistisch durchgearbeitet erkennbar wird, bis man sich zum Ende hin daran gewöhnt hat und sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass diese großartig-phantastische Erzählung in einer anderen Sprache hätte geschrieben werden können.

Die Handlung: Der Student Anselmus wird durch den Archivarius Lindhorst und durch die Liebe zu dessen Tochter Serpentina in die Wunderwelt der Poesie eingeführt, das hier als eigenständige Parallelwelt zur wirklichen Welt gestaltet ist. Ihnen gegenüber stehen die spießigen Philister, der Konrektor Paulmann mit seiner Tochter Viktoria, die unbedingt einen Hofrat heiraten möchte, sowie der Registrator Heerbrand. Es zeigt sich, dass der Archivarius Lindhorst einst aus dem Wunderreich der Poesie verbannt wurde, weil er den Funken des Gedankens in die Welt brachte, womit er die geliebte Lilie im Garten des Zauberreiches der Poesie verdarb, und erst zurückkehren kann, wenn er seine drei Töchter an poetisch gesinnte Jünglinge verheiratet haben wird. Jede Tochter bringt als Mitgift eine goldenen Topf mit in die Ehe, aus dem dann wieder eine Lilie erwächst. Derweilen trägt Lindhorst in dieser Welt einen Kampf mit dem sogenannten Äpfelweib aus, einer Hexe, die junge Leute vom Zugang ins Reich der Poesie abhalten möchte. Anselmus gerät zwischen die Fronten und muss sich entscheiden. Am Ende steht der Eingang und die endgültige Rückkehr ins Wunderreich der Poesie, wo alle Wesen im Einklang mit der Natur leben.

Ziel des Werkes ist es, die Wunderwelt der Poesie als einer Welt von eigenem Recht neben der schnöden Wirklichkeit darzustellen, die Abkehr von der einen und die Rückkehr zur anderen Welt zu propagieren, und die Spießer in ihrer Blindheit für das Schöne und Wahre kenntlich zu machen.

Der Text wird vom Autor selbst ein Märchen genannt, und die moderne Literaturwissenschaft spricht von einem Kunstmärchen. Doch ist diese Bezeichnung unzutreffend. Schließlich will der Text den Leser davon überzeugen, dass es tatsächlich eine dichterische Parallelwelt gibt, die ebenso Wirklichkeit für sich beanspruchen kann wie die Wirklichkeit der Philister. Dieser Anspruch bezieht sich natürlich selbstreflexiv auch auf den Text selbst, der das behauptet. Beweisbar ist das natürlich nicht, und die Wunderwelt wird reichlich mit dichterischer Phantasie ausgeschmückt. Aber das ist in diesem Fall kein Gegenargument, denn gerade das ist es ja, was die behauptete Parallelwelt ausmacht. Kurz: Hier liegt das Prinzip eines erdichteten „Platonischen Mythos“ vor, der mehr als eine bildhafte Allegorie ein tatsächlich Wahres darstellen will, aber nicht mit Argumenten und Belegen aufwartet, und die Wahrheit des Behaupteten letztlich offen lässt. Es ist also in Wahrheit kein Märchen, sondern ein Platonischer Kunstmythos.

Kritik

Zentrales Problem ist die scharfe Abgrenzung des Reiches der Poesie von dieser Welt. Die hohe Kunst wäre es gewesen, Wirklichkeit und Poesie zu einer Synthese zu bringen. Doch das Gegenteil geschieht. Damit verfehlt E.T.A. Hoffmann beides, die Poesie und die Wirklichkeit. Denn hier wird das Reich der Poesie zu einer weltfremden Zufluchtsstätte, in die sich der Poet flüchtet, statt sich der Realität zu stellen. Und zugleich wird der Realität jede Fähigkeit zur Poesie abgesprochen.

Das wird auch in der Darstellung der spießigen Philister deutlich. Ein Kennzeichen des Philistertums bei E.T.A. Hoffmann sind ihre Lateinkenntnisse, und dass sie Ciceros „De Officiis“ lesen. Damit wird aber die humanistische Bildung und die Philosophie verspottet. Doch ist es nicht gerade die humanistische Bildung und die Philosophie, auf deren Grundlage die Synthese von schnöder Realität und Poesie am ehesten gelingen kann? Die Verherrlichung des „kindlich poetischen“, „kindlich frommen“ Gemütes, verstanden als Gegensatz zur „sogenannten Weltbildung“ des „entarteten Menschengeschlechtes“ ist jedenfalls eine grob verfehlte Vorstellung von gelungener Menschenbildung. Beides zu synthethisieren, ohne dass das eine oder das andere zu kurz kommt, wäre die Kunst.

Ebenfalls kritikwürdig ist die Vorstellung von der höchsten Erkenntnis als dem „Innersten der Natur“, dem „tiefsten Geheimnis der Natur“, nämlich des „heiligen Einklangs aller Wesen“. Denn wieso gerade die Natur? Wenn es um den Einklang mit sich selbst gegangen wäre, was bereits ein hoher Anspruch ist, oder um den Einklang der Menschen untereinander, wäre das Anspruch genug, ohne gleich die ganze Natur einzubeziehen. Aber die Menschen werden zur Natur offenbar nicht dazugezählt. Ein Einklang mit der ganzen Natur ist also recht hoch gezielt. Zugleich ist Natur aber wieder zu wenig. Denn dieser pantheistische Einklang aller Wesen schreit geradezu nach einer Antwort auf die Frage nach einem gemeinsamen geistigen Bande, letztlich nach Gott. Aber zu solchen Fragestellungen dringt der Text nicht vor. Die Erkenntnis vom Einklang mit der Natur ist gewissermaßen eine seltsam blinde Erkenntnis, die sich mit diesem gefühlten Einklang begnügt, und dann nicht weiterdenkt und weiterfragt.

Hier wie bereits oben wird deutlich, dass die Rationalität dem spießigen Philistertum zugeordnet wird, während der Dichter sich in die reine Gefühligkeit flüchtet. Philosophie wird verspottet (Cicero) und das Wesen der Natur verabsolutiert und nicht hinterfragt. Der Funke des Gedankens gilt als verderblich, Vernunft und Gefühl sind hier Gegensätze. Schließlich wird vor allem auch die Welt der Menschen als Gegensatz zur Natur begriffen, obwohl die Menschen zweifelsohne Teil derselben sind. Damit haben wir so ziemlich alle Irrtümer beisammen, an denen die Romantik krankt.

Der humanistisch gebildete Klassiker Goethe kritisierte E.T.A. Hoffmann scharf, der gefährlich romantische Traumtänzer Karl Marx hingegen liebte ihn.

Fazit

Es ist trotzdem ein großartiges Werk, das mit seiner Phantastik und seiner Skurrilität einen ganz eigenen Charme entfaltet, und das insofern seine Berechtigung teilweise behält, als die Menschen leider tatsächlich überwiegend allein der „sogenannten Weltbildung“ zuneigen und tatsächlich ein „entartetes Menschengeschlecht“ sind, vor dem man sich nur allzu oft und allzu gerne in das Refugium des Geistes flüchtet. Auch wenn die Zuordnung von Vernunft und Gefühl zu diesen beiden Welten anders ist bzw. sein sollte, als dargestellt, und Flucht letztlich keine Lösung ist. Und was die poetischen, schwärmerischen, gefühligen Aspekte eines erhabenen geistigen Lebens anbelangt, so erinnert einen dieses Werk wohltuend an diese vernachlässigte Seite unseres Daseins. Man sollte allerdings nicht bei diesen Einseitigkeiten stehen bleiben.

Atlantis

Die phantastische Wunderwelt der Poesie wird von E.T.A. Hoffmann kurzerhand Atlantis genannt. Das verwundert, denn mit Platons Atlantis hat Hoffmanns phantastische Wunderwelt der Poesie rein gar nichts zu tun. Platons Atlantis spielt eine radikal andere Rolle als E.T.A. Hoffmanns Atlantis. Hier gibt es keinen tragfähigen Vergleichspunkt. Zudem dürfte Platon über die allzu freie Phantasie in Hoffmanns Zauberreich wenig erbaut gewesen sein, denn Platon wollte eine an die Rationalität gebundene Dichtung. Aber das nur am Rande.

Der Name Atlantis wird hier als bloße Chiffre für ein dichterisches Sehnsuchtsland benutzt, und das, obwohl zu Beginn des 19. Jahrhunderts Atlantis noch keineswegs gemeinhin als eine Erfindung galt. Es gab damals immer noch zahlreiche Wissenschaftler, die verschiedene Existenzhypothesen vertraten. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts kippte die Meinung unter dem Eindruck neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse gegen die Existenz von Platons Atlantis.

Es wäre interessant nachzuvollziehen, wie E.T.A. Hoffmann dazu kam, den Namen Atlantis als eine Chiffre für ein Wunderland der Poesie zu benutzen, das als Parallelwelt gedacht ist. Wären andere Namen nicht näher gelegen, insbesondere z.B. Arkadien oder das Goldene Zeitalter? – Bekannt ist, dass E.T.A. Hoffmann durch die „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ des romantischen Naturforschers Gotthilf Heinrich Schubert von 1808 beeinflusst war. Dort ist Atlantis im Sinne neuerer französischer Theorien ein Ort im hohen Norden, wo die Menschheit noch im Einklang mit der Natur gelebt haben soll. Allerdings ist das immer noch ein realer Ort. Schubert entnahm seine Thesen offenbar der 1781 von Michael Hißmann übersetzten „Neuen Welt- und Menschengeschichte“ von Delisle de Sales, wie sich an der Wortwahl zeigen lässt. – Eine weitere Möglichkeit wäre, dass E.T.A. Hoffmann Atlantis mit dem Adjektiv „verloren“ in Verbindung brachte, das auch damals vielfach durch die Literatur über Atlantis geisterte. Und bei Hoffmanns Reich der Poesie handelt es sich in der Tat um ein „verlorenes“ Reich, das es wiederzufinden gilt. – Eine sehr interessante Möglichkeit wäre eine direkte Reaktion auf den Göttinger Materialisten und Empiristen Michael Hißmann. Michael Hißmann hatte 1781 in seiner Übersetzung der „Neuen Welt- und Menschengeschichte“ eine sehr gehässige Darstellung von Platons Atlantis als einer bloßen Erfindung eingefügt, in der auffällig viele Worte Verwendung finden, die wir im „Goldenen Topf“ von E.T.A. Hoffmann so oder so ähnlich wieder antreffen, z.B. Atlantis als „Wunderwelt“ oder „Feenwelt“. Indem er orientalisch inspirierte Träumereien und Erdichtungen als „lächerlich und abgeschmackt“ verurteilte, handelte Hißmann gerade so wie die spießigen Philister in E.T.A. Hoffmanns „Goldenem Topf“, für die Poesie als „orientalischer Schwulst“ gilt. Und „die Träumereien über Platons Traum“ seien „weit erbärmlicher und unterträglicher“ als die Fabel selbst, meinte Hißmann. Hißmann entwarf zudem eine Theorie der schönen Künste und der Poesie, die sich ganz auf materialistische Antriebe stützte, und jede Schwärmerei verurteilte. Es scheint, als habe E.T.A. Hoffmann den „Goldenen Topf“ auch als eine Antwort auf diese Anschläge Hißmanns auf die dichterische Phantasie verfasst, denn er gestaltete sein poetisches Reich Atlantis präzise so, dass es jede Verurteilung und jeden Vorwurf von Hißmann aufgriff. Damit hätte das spießige Extremurteil des geistlosen Materialisten Hißmann die Überreaktion des dichterischen Phantasten Hoffmann provoziert. – Diese Thesen wären allerdings noch im Einzelnen nachzuweisen.

Jedenfalls hat E.T.A. Hoffmann durch die Wahl des Namens Atlantis für sein Wunderland der Poesie mit dazu beigetragen, Platons Atlantis in der allgemeinen Wahrnehmung den Ruf einer phantastischen und rein dichterisch zu verstehenden Welt zuzuschreiben. Das ist bedauerlich. So verwendete noch 1939 Hermann Rauschning in seinem Werk „Gespräche mit Hitler“ den Namen Atlantis in unmissverständlicher Anspielung an E.T.A. Hoffmann als Chiffre für alle möglichen Phantastereien. Manche haben Rauschnings Worte als Beleg dafür verstanden, dass die Nationalsozialisten an die Existenz von Atlantis glaubten – eine Deutung, die falscher nicht sein könnte.

Der goldene Topf

Der Titel des Werkes ist ein Missgriff. Der goldene Topf ist in diesem Kunstmythos nur eine phantastische Requisite neben anderen, seine Symbolik überflüssig oder mindestens nebensächlich. Die Geschichte hätte auch ganz ohne goldenen Topf funktioniert. Es ist nicht recht verständlich, warum der goldene Topf also den Titel der Erzählung ausmacht. „Das Wunderland Atlantis“ wäre ein sehr viel zutreffenderer Titel gewesen, oder auch „Wiederfindung des verlorenen Wunderlandes Atlantis“.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. August 2020)

Ulf Poschardt: Shitbürgertum (2025)

Die Geburt des Shitbürgers aus dem Ungeist des NS-Wendehalses

Mit „Shitbürgertum“ hat Ulf Poschardt einen neuen Begriff geprägt für etwas, was wir schon kennen: Das „linksliberale“ Bürgertum der BRD. In seiner anekdotischen Beschreibung des „linksliberalen“ Elends hat dieses Buch viele Überschneidungen mit anderen Werken zum Thema, etwa „Unter Linken“ von Jan Fleischhauer.

Das Besondere dieses Buches

Ulf Poschardt liefert allerdings keine heiter-gelassene Beschreibung des Shitbürgertums. Bei Poschardt kommt ein aggressiver Ton hinzu: Das Shitbürgertum muss weg. Weil es uns inzwischen kaputtzumachen droht. Die letzten Reste liberalkonservativer Bürgerlichkeit sind aufgezehrt, der Marsch durch die Institutionen ist vollendet. Niemand hindert das Shitbürgertum mehr an seinem selbstzerstörerischen Wirken. Die Antwort auf den Marsch durch die Institutionen muss die Schleifung der Institutionen sein.

Vor allem aber überrascht das Buch mit seiner Kritik an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus: Etwas ist gründlich schief gegangen bei der Vergangenheitsbewältigung, und zwar von Anfang an, und es zieht sich bis heute durch. Den Ursprung des Shitbürgertums sieht Ulf Poschardt in der inneren Abspaltung der bösen Vergangenheit durch NS-Wendehälse wie Günter Grass oder Walter Jens. Diese NS-Wendehälse belehrten uns ihr ganzes Leben lang, wie böse und faschistisch die BRD-Gesellschaft doch sei, aber dann stellte sich heraus, dass diese Gestalten selbst überzeugte Nazis gewesen waren!

Diese innere Abspaltung des eigenen Bösen hat eine manichäische Haltung von absolut rein und gut vs. absolut schmutzig und böse hervorgebracht, die bis heute beim „linksliberalen“ Bürgertum anhält. Das Shitbürgertum ist in diesem Sinne infantil und regressiv, weil es ein radikal simplifiziertes Weltbild hat: Das Böse, das ist immer das „Eigene“, also das Deutsche und das Normale, und die Bösen, das sind immer die anderen. Wer nicht „linksliberal“ ist, der ist „Nazi“. Dieser Manichäismus ist auch der Grund, warum dieses „linksliberale“ Bürgertum jeden selbstzerstörerischen und selbstverleugnenden Unsinn mitmacht, so dass sich die Gesellschaft immer mehr in einen autoritären Kindergarten verwandelt. Diese Kritik ist ein fulminanter Angriff gegen das juste milieu der BRD, und ja: Ulf Poschardt trifft den wunden Punkt unserer Gesellschaft sehr gut.

Für das Shitbürgertum dürfte allein die Tatsache, dass ihre „linksliberalen“ Ikonen wie Günter Grass und Walter Jens fast alle (!) ehemalige Nazis waren, eine ungeheure Provokation sein. Bislang nimmt man dieses Phänomen immer noch als Einzelfall wahr. Dass aber die BRD geistig dermaßen stark durch ehemalige Nazis geprägt wurde, die auf Wendehals machten, ist bislang noch nicht zu Bewusstsein gekommen. Dieser Teil unserer Geschichte wird immer noch tapfer verdrängt, und mit ihm die üblen Konsequenzen bis heute.

Was dem gegenüber wieder gewonnen werden muss, ist die Fähigkeit zur Ambivalenz, die Integration der eigenen Schattenseiten in das eigene Bewusstsein, gewissermaßen ein Erwachsenwerden hin zum Realismus und weg von manichäischen Illusionen über sich und andere. Deutschland liegt bei Ulf Poschardt also auf der Couch und bedarf der Therapie. Auch das ist kein völlig neuer Gedanke.

Rettung sieht Ulf Poschardt von der Pop-Kultur her kommen: Diese ist rücksichtslos und frech, aber auch zur Ambivalenz fähig. Die Kettensäge von Milei oder Donald Trump sind für Ulf Poschardt popkulturelle Phänomene.

Kritik – Weiterentwicklungen des Shitbürgertums

Mindestens zwei historische Weiterentwicklungen des Shitbürgertums werden bei Ulf Poschardt nicht oder nicht ausreichend thematisiert. Die Urquelle des Shitbürgertums sind zweifelsohne die NS-Wendehälse. Das ist richtig.

Aber 1989/90 kam der Antifaschismus der DDR hinzu. Die DDR definierte sich kurzerhand als antifaschistischer Staat, was zur Folge hatte, dass die DDR zur Selbstkritik nicht mehr fähig war. Im ZK der SED tummelten sich die NSDAP-Funktionäre, die Freie Deutsche Jugend wurde maßgeblich von Hitlerjugend-Funktionären aufgebaut, die Volksarmee der DDR war von einer NS-Aufarbeitung so weit entfernt wie der Mond, und auch die starke Skinhead-Szene der DDR verdankt sich der völligen Unfähigkeit der DDR, die deutsche Vergangenheit adäquat aufzuarbeiten. Die DDR war gewissermaßen der Staat-gewordene NS-Wendehals, der manichäische Abspaltung betrieb. Mit der Wiedervereinigung kamen in diesem (Un-)Geist geprägte Gestalten aus der DDR an die Schaltstellen von Politik und Gesellschaft in der BRD.

Die zweite große Weiterentwicklung des Shitbürgertums kam aus dem angelsächsischen Raum: Dort hatte sich eine ganz ähnlich shitbürgerliche Deutung der dortigen Kolonialvergangenheit herausgebildet, die alles, was früher war, verteufelte. Zugleich hatten sich an den US-Universitäten postmoderne Ideologien durchgesetzt, die den klassischen Humanismus zersetzten: Vernunft, Realismus oder Freiheit sind für postmoderne Ideologen lediglich Machtmittel von „alten, weißen Männern“, die es zu dekonstruieren gälte. Dieser Ungeist schwappte mit voller Wucht in unsere Gesellschaft herüber und wurde von den hiesigen Shitbürgern begierig aufgesogen. Ein irrwitziger Multikulti-Fanatismus und eine realitätsverleugnende Gender-Ideologie machten sich breit, bis hin zur Zerstörung unserer geliebten deutschen Sprache. Teilweise wurde in sklavischer Übernahme angelsächsischer Shit-Ideen sogar versucht, den Holocaust gegenüber der deutschen Kolonialvergangenheit herunterzuspielen. Antisemitismus ist der heimliche Trumpf im heutigen Shitbürgertum.

Kritik – Zentraler Irrtum von Ulf Poschardt

In einem entscheidenden Punkt übernimmt Ulf Poschardt eine shitbürgerliche These der NS-Wendehälse, statt diese als einen wesentlichen Bestandteil ihrer inneren Abspaltung von allem Bösen zu erkennen: Ulf Poschardt meint, dass die deutsche Kultur vor 1933 tatsächlich schlimm, schlecht und böse gewesen sei und mehr oder weniger zwangsläufig zum Nationalsozialismus geführt habe. Also ganz so, wie die NS-Wendehälse es uns einzureden versuchten.

Dabei ist diese Art der Geschichtsbetrachtung doch allzu leicht als ein integraler Bestandteil der Abspaltungsstrategie zu durchschauen! Denn die totale Schlechtredung von allem, was früher war, ist gewissermaßen der Gipfel der inneren Abspaltung. Je reiner die NS-Wendehälse sich selbst fühlen wollten, desto schmutziger musste alles andere sein. Und der Gipfel des Schmutzes ist es natürlich, wenn nicht nur die Nazis Nazis waren, sondern am besten alle Deutschen, und das nicht nur 1933-45, sondern möglichst schon seit es Deutsche gibt. Das ermöglichte es den NS-Wendehälsen auch, sich über ihre Mitmenschen zu erheben: Denn wenn sie auch keine Nazis mehr waren, so waren sie doch immer noch Deutsche, trugen also das „böse Erbe“ in jedem Fall noch in sich. Die Flucht vor dem Deutschsein nach „Europa“, die Flucht in einen völlig irrwitzigen Multikulti-Fanatismus haben hier ihre Erklärung, und ebenso natürlich der Hass auf alles Deutsche, wie er in der Gendersprache zum Ausdruck kommt.

Dass Ulf Poschardt bei all seiner Einsicht in das Wesen der NS-Wendehälse dieses zentrale Märchen nicht erkannt hat, ist bedauerlich und fast schon seltsam. Es gibt übrigens noch eine weitere Steigerung dieses Märchens der NS-Wendehälse: Die nächste Steigerung wäre, dass alle Menschen verdorben und schlecht, mithin „Nazis“ sind, und dass die Übel der Welt nur durch die Überwindung des Menschen selbst ausgerottet werden können. Da sind wir dann bei den postmodernen Klimaapokalyptikern und Extinktionalisten angelangt, für die die „unberührte“ Natur alles ist, und der Mensch nichts.

Im den folgenden Abschnitten widerlegen wir im Detail die Argumente, mit denen Ulf Poschardt die ganze deutsche Vergangenheit vor 1933 zum Problem erklärt, danach nehmen wir den Faden der Kritik wieder auf.

Widerlegung: Gegen die Vollschuldigkeit aller Deutschen

Die These, dass die Deutschen im Nationalsozialismus gewissermaßen kollektiv und allesamt schwer schuldig geworden waren, ist völlig falsch. Diese These spiegelt nicht die Realität, sondern natürlich nur die manichäische innere Abspaltung der NS-Wendehälse. Denn wenn alle Deutschen mehr oder wenig schuldig waren, dann ist auch ihre eigene Schuld nicht mehr so groß. Außerdem kann man sich hinterher umso besser moralisch über seine Mitbürger erheben, wenn man sie alle für schuldig erklärt.

In Wahrheit ist die Schuld am Nationalsozialismus jedoch sehr ungleich verteilt. Für Humanisten gilt immer die individuelle Verantwortung. Jeder sündigt für sich allein. Es gibt keine Kollektivschuld und keine Sippenhaft.

Die meisten Deutschen waren keine Nazis. Thomas Mann und Karl Jaspers waren z.B. auch Deutsche: Wie sollte man auf die Idee kommen, ihnen eine nennenswerte Schuld zu unterstellen? Martin Walser erzählte von seiner Mutter, die für den NS-Seniorenbund Kuchen backte und sich dort mit älteren Damen zum Kaffeekränzchen traf: Diese Seniorinnen waren wohl kaum sehr schuldig, sondern hatten ganz einfach keine Ahnung von dem, was wirklich geschah. In den letzten wirklich freien Wahlen gewannen die Nationalsozialisten gerade einmal 33% der Stimmen. Das ist erstaunlich wenig. Und auch die meisten Wähler der NSDAP hatten vermutlich höchst naive Vorstellungen über die Politik, die von den Nationalsozialisten gemacht werden würde. Das war damals nicht anders als heute: Was weiß der durchschnittliche Wähler denn z.B. schon davon, was Angela Merkel mit ihrer Euro-Rettungspolitik angerichtet hat? Wenn die Medien nicht Alarm schlagen, wird es die Masse der Menschen nicht realisieren. So war es immer, so wird es immer sein.

Gerade weil die Deutschen meistens nur wenig oder gar nicht schuldig waren, war es 1945 eine effektive Methode zur Entnazifizierung, die Deutschen durch die KZs zu führen: Denn das, was die Deutschen da zu sehen bekamen, war nicht das, was sie gewollt hatten, jedenfalls die meisten nicht. Und es musste ihnen gezeigt werden, damit sie es glauben konnten, sonst hätten sie es – irrig aber ehrlich – rundweg abgestritten. Hätten die Deutschen diese Verbrechen gewollt, hätten die Führungen durch die KZs keinen Effekt gezeigt. Hier ist auch an Hannah Arendt zu erinnern, die nach den ersten Berichten aus den befreiten KZs an alliierte Propaganda glaubte und einige Tage benötigte, um zu begreifen, dass die Berichte wahr sind. Wenn schon eine Hannah Arendt es nicht wusste und erst nicht glauben konnte, wie dann erst ein Otto-Normal-Deutscher?

Eine größere Schuld trifft natürlich intellektuelle Menschen, die ideologische Texte zugunsten des Nationalsozialismus produziert hatten und in die NSDAP eingetreten waren. Das trifft auf die von Ulf Poschardt ins Auge gefassten NS-Wendehälse meistens zu. Es ist kein Wunder, dass gerade solche Leute das Märchen in die Welt setzen wollen, dass „die Deutschen“ insgesamt schuldig am Nationalsozialismus geworden seien. Das liegt doch auf der Hand! Warum hat Ulf Poschardt das nur nicht gesehen?

Widerlegung: Gegen eine pauschale Deutschfeindlichkeit

Von George Steiner, einem US-Literaturwissenschaftler, zitiert Ulf Poschardt zustimmend, dass man offenbar zugleich Goethe und Rilke lesen und Menschen in Auschwitz Menschen ermorden könne. Und: „For let us keep one fact clearly in mind: the German language was not innocent of the horrors of Nazism.“

Die Vorwürfe von George Steiner sind leicht zu widerlegen. Haben denn britische Kolonialoffiziere, die Verbrechen begangen haben, keinen Shakespeare gelesen? Was will man damit überhaupt aussagen, dass klassische Bildung angeblich nichts nütze gegen Verbrechen?! Das Gegenteil ist doch richtig: Natürlich kultiviert Bildung den Menschen. Natürlich trägt sie zur Humanisierung bei. Das ist doch gar keine Frage! Wer jedoch von den Ausnahmen her ein Argument gegen Bildung konstruieren will, der schüttet das Kind mit dem Bade aus. Es wird immer Menschen geben, die sich dem tieferen Sinn von Bildung gegenüber verschlossen zeigen und diese falsch und schief interpretieren. Das macht die Bildung aber nicht wertlos.

Genau dieser falsche Vorwurf an die klassische Bildung, womöglich zum Nationalsozialismus beigetragen zu haben, wurde von den NS-Wendehälsen erhoben, die Poschardt kritisiert. So z.B. Alfred Andersch in seinem Buch „Der Vater eines Mörders“, in dem auf groteske Weise versucht wird, dem Vater Heinrich Himmlers, der Direktor an einem humanistischen Gymnasium war, eine Mitschuld am Nationalsozialismus anzuhängen (mit der vergifteten Frage: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“). Es ist völlig unverständlich, warum Ulf Poschardt diese falsche und freche Verleumdung der klassischen Bildung durch die NS-Wendehälse mitmacht, indem er George Steiner zustimmend zitiert.

Schließlich noch zu dem Vorwurf von George Steiner, dass schon die deutsche Sprache schuldig sei. Hier sind wird dann endgültig bei der These angekommen, dass die deutsche Kultur schlechthin verdorben und Nazi-artig sei. Wenn das wahr wäre, dann müsste man die deutsche Kultur tutto completto abräumen. Von Walther von der Vogelweide bis Michael Ende. Genau das ist ja auch das Ziel nicht weniger „Linksliberaler“. Es ist die reine Deutschfeindlichkeit. Aber sie ist natürlich nur dumm und falsch. Wer die 1000jährige deutsche Geschichte – oder auch die jahrhundertealte Geschichte Preußens – nur als ein Vorspiel zum Nationalsozialismus verstehen will, der hat schlicht eine Macke. Man kann es nicht anders sagen.

Gewiss kann und soll und muss die deutsche Kultur gereinigt und erhöht werden – aber nur, wie jede andere Kultur auch. Wer Adolf Hitler zum Inbegriff des Deutschen schlechthin macht, ist auf dem Holzweg. Ulf Poschardt verweist selbst auf Thomas Mann und dessen These von der Ambivalenz der deutschen Kultur (S. 150). Eine Ambivalenz existiert aber nur dort, wo es auch das Gute gibt.

Widerlegung: Gegen ein falsches Preußenbild

Ein zentrales Argument Poschardts für die Schuldigkeit der deutschen Kultur ist die Forschung der britischen Historikerin Helen Roche zu preußischen Militärschulen und zu nationalsozialistischen Napola-Militärschulen. Helen Roche glaubt, dass in beiden Fällen das „Härteideal Spartas“ eine zentrale Rolle gespielt habe, beidemale als Antwort auf Niederlagen (gegen Napoleon und 1918). Poschardt spricht auch von dem „unbarmherzigen Preußentum“. (S. 21)

Es hört sich zunächst martialisch und unmenschlich an: Das Härteideal Spartas an preußischen und NS-Schulen. Aber es handelt sich um eine große psychologische Irreführung. Die Wahrheit ist viel banaler.

Die Wahrheit ist zunächst, dass im 19. Jahrhundert die klassische Bildung in ganz Europa Hochkonjunktur hatte. Es dürfte überall in Europa an allen Militärschulen aller Länder über Sparta nachgedacht worden sein. Sparta steht im klassischen Bildungskanon für das Militärische wie nichts anderes, und nichts lag deshalb näher, als sich an Militärschulen mit Sparta zu befassen. Nicht nur in Preußen, sondern auch in England oder Frankreich. Rezensionen zur Forschung von Helen Roche merken an, dass ihre Belege für die Rezeption Spartas an preußischen Kadettenschulen weniger eindeutig sind als die für die NS-Napola-Anstalten und mehr als ein Hinweis auf die damals vorherrschende klassische Bildung zu deuten sind (z.B. Hagen Stöckmann auf H-Soz-Kult 31.03.2014).

Zum Militärischen gehören auch heute noch Dinge wie Pflicht, Gehorsam, Drill, Opferbereitschaft, Patriotismus. Ein Militär ist ohne diese Dinge schlicht nicht denkbar. Auch jede moderne Armee muss sich damit auseinandersetzen. Und warum sollte man das nicht mit dem antiken Sinnbild für das Militärische schlechthin tun? Man sollte hoffen, dass auch heute noch in den Bildungseinrichtungen der Bundeswehr klug über Sparta nachgedacht wird. Aber natürlich auch über Athen.

Denn im 19. Jahrhundert stand unter Gebildeten nicht Sparta, sondern Athen im Mittelpunkt. Wir lesen in der Gefallenenrede des Perikles, dass auch die Athener sich auf das Militär verstanden, und zwar nicht schlechter als die Spartaner. Das wusste man auch im 19. Jahrhundert. Die Ideen der preußischen Reformer hören sich jedenfalls wesentlich mehr nach Athen als nach Sparta an, darunter die Heeresreform mit ihrem Konzept des Bürgers als dem geborenen Verteidiger seines Landes. Auch die Flottenbegeisterung zur Kaiserzeit konnte wesentlich besser an Athen als an Sparta anknüpfen, denn Sparta galt als Landmacht, Athen jedoch als Seemacht.

Hinzu kommt, dass der Militarismus Spartas noch keinen Rassismus, ja, überhaupt nicht zwingend irgendeinen Antihumanismus bedeuten muss. Die „bösen“ Spartaner haben jedenfalls keinen Völkermord begangen, sondern ausgerechnet die „guten“ Athener, nämlich gegen die Bewohner der Insel Melos. Der berühmt-berüchtigte Melierdialog bei Thukydides gehört zum unverlierbaren Bildungsgut der Menschheit als Mahnung für alle Zeiten. Seit damals stellen sich Historiker die Frage, wie es möglich war, das gerade eine Bildungsnation wie Athen einen Völkermord begehen konnte. Es ist dieselbe Frage, die man sich im 20. Jahrhundert zu Deutschland und dem Holocaust stellte, denn auch Deutschland war ein Land der Bildung. Wer da in einer Befassung mit Sparta ein besonderes Problem sehen will, hat den Ernst der Lage nicht erkannt.

Schließlich ist Ulf Poschardt einfach völlig auf dem Holzweg, wenn er von „unbarmherzigen Preußentum“ spricht. Das war die primitive Sicht der ungebildeten Nazis auf das Preußentum. Kadavergehorsam war eine Idee der Nazis, nicht Preußens. Preußen lebte auch von seinen Legenden und Mythen, und eine dieser unverlierbaren, wahren Legenden ist die des preußischen Generals von der Marwitz (1723-1781), der einen Befehl Friedrichs des Großen aus Gewissensgründen verweigerte. Ikonisch schrieb man auf seinen Grabstein: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“ Dieser Satz gehört fest zum kollektiven Gedächtnis Preußens. Und er hat Wirkung gezeigt, z.B. im bekannten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. Gleichzeitig machte sich Hitlers Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel über diverse moralischen Bedenken der preußischen Offiziere in der Wehrmacht lustig. Keitel war eben kein Preuße, sondern ein Nazi.

In Wahrheit war Preußen einfach ein Staat wie jeder andere, sagen wir: wie England, mit Höhen und Tiefen, mit guten und schlechten Seiten. Die Kritik an Preußen ist bestens bekannt und teilweise auch berechtigt. Aber Preußen stand – durch Friedrich den Großen und Immanuel Kant – eben auch für die Aufklärung. Die preußischen Reformer und die Humboldt-Brüder standen für Fortschritt, Aufklärung, Geist und Moderne.

Das Spießrutenlaufen schaffte das „unbarmherzige“ Preußen als eines der ersten Länder im Jahr 1806 ab, also genau in der Phase, in der an preußischen Militärschulen über das Härteideal Spartas nachgedacht wurde. In süddeutschen Ländern geschah dies erst viel später, z.B. in Württemberg erst 1818, in Österreich sogar erst 1855.

In der Revolution von 1848 zeigte sich der preußische König mit der schwarz-rot-goldenen Fahne, nachdem ein versehentlicher Schuss (bis heute ungeklärt woher) zu Barrikadenkämpfen in Berlin geführt hatte. Jedenfalls gab es keinen Befehl zum Schießen und die Kämpfe begannen in jedem Fall ungewollt. Ebenso wurden die Berliner Straßenkämpfe nicht erst beendet, nachdem alle Revolutionäre besiegt waren, sondern der König selbst ließ den ohne Befehl spontan ausgebrochenen Kampf wieder beenden, zeigte sich mit der schwarz-rot-goldenen Fahne und ehrte die Getöteten. Man kann ehrlicherweise nicht behaupten, dass Preußen die Revolutionäre zusammenschießen ließ wie es die Kommunisten am 17. Juni 1953 taten. Alles andere als das. Aber die Shitbürger plappern munter von der „Unbarmherzigkeit“ Preußens.

Man beachte auch, dass die Frankfurter Nationalversammlung dem preußischen Königshaus die deutsche Kaiserkrone antrug. Preußen scheint also in den Augen der Frankfurter revolutionären Parlamentarier nicht der Inbegriff alles Bösen gewesen zu sein. Jeder weiß auch, dass Preußen die Kaiserkrone wegen Österreich ablehnen musste, um einen innerdeutschen Krieg zu vermeiden (der dann 1866 doch noch kam). Auch die Erschießung des Abgeordneten Robert Blum war ein Werk der Österreicher, nicht der Preußen. Der ganze Vormärz wurde von den Österreichern und ihrem Staatskanzler Metternich beherrscht.

Historiker wie Hedwig Richter haben darauf hingewiesen, dass das Kaiserreich moderner und demokratischer war als viele meinen.

Es ist einfach eine falsche und ungerechte schwarze Legende, dass Preußen „unbarmherzig“ und „hart“ gewesen wäre, und dass dies mehr oder weniger zielstrebig im Nationalsozialismus geendet hätte. Diese primitive Sicht auf Preußen wurde dann nahtlos von den NS-Wendehälsen in die BRD hineingetragen. Es macht traurig, dass Ulf Poschardt in diesem Punkt den NS-Wendehälsen auf den Leim gegangen ist.

Schließlich ist es Ulf Poschardt selbst, der Preußen auf S. 87 positiv konnotiert und damit seiner eigenen Preußenfeindlichkeit vom Anfang des Buches widerspricht. Dort echauffiert sich Poschardt darüber, dass Oskar Lafontaine „den preußischen Hanseaten“ Helmut Schmidt attackierte, um gegen die preußischen Sekundärtugenden zu polemisieren. Hier hat Ulf Poschardt die Verhältnisse wieder gerade gerückt: Oskar Lafontaine ist der Shitbürger, der die preußische Vergangenheit abspaltet und Sekundärtugenden nur verachtet, obwohl sie wertvoll sind, während Helmut Schmidt diese preußische Vergangenheit nicht abspaltet, sondern in seine Persönlichkeit inkorporiert, und auf vernünftige Weise für seine Gegenwart fruchtbar macht.

Ulf Poschardt wiederholt hier übrigens denselben Denkfehler, den auch Andreas Rödder in seinem Buch „Konservativ 21.0“ begangen hat: Erst sagt Rödder, dass es durch den Nationalsozialismus einen Traditionsbruch gegeben habe, und deshalb müsse man mit allem, was davor war, brechen. (Was für ein Unsinn! Gerade deshalb, weil der Nationalsozialismus ein Bruch war, kann man sehr wohl an das, was davor war, wieder anknüpfen.) Später dann beruft sich Rödder auf den Preußen Wilhelm von Humboldt und fordert Allgemeinwissen über Preußen und die Hohenzollern ein. Auch hier bei Rödder finden wir also diese völlig verklemmte Selbstwidersprüchlichkeit im Umgang mit Preußen: Erst verdammt man gut shitbürgerlich alles, dann erachtet man aber doch dies oder das oder jenes für wertvoll, und merkt den Widerspruch nicht.

Kritik – Keine konstruktive Vision

Fahren wir mit unserer Kritik fort: Ulf Poschardt erhofft sich Rettung von der Popkultur und deren respektlosen Zerstörung der Verhältnisse. Aber eine konstruktive Vision ist das eigentlich nicht. Gut, es ist eine libertäre Vision. Aber nach dem libertären Kettensägenmassaker muss eine Ordnung übrig bleiben, und die will konstruktiv gedacht sein. Hier schwächelt Poschardt.

Was fehlt, ist natürlich eine positive Vision für Deutschland. Ein geläutertes Nationalbewusstsein ohne Abspaltungen: Darum geht es Poschardt doch! Ein Deutschland, das mit sich im Reinen ist. Ein Deutschland, das stolz auf den – sprechen wir es aus – preußischen Humanismus ist. Ein Deutschland, das auch Zuwanderer gerne in seine wunderbare Kultur integriert, die eine offene und humanistische Kultur ist, aber keinesfalls eine selbstvergessene Kultur. Aber solche Töne fehlen bei Poschardt. Vielleicht hätte ihm das zu national gesinnt geklungen? Es wäre aber nur folgerichtig.

Man hätte z.B. die Vision entwickeln können, den Staat Preußen als ganz normales Bundesland, bestehend aus den historischen Gebieten auf dem Boden der ehemaligen DDR, wiederzuerrichten. Wer die falsche Abspaltung der NS-Wendehälse überwinden wollte, müsste genau das tun. Endlich die volle Versöhnung mit der eigenen Geschichte, endlich die volle Ambivalenz ins eigene Nationalbewusstsein integriert. Deutschland macht ohne Preußen gar kein Bild in der Seele, hier ist erst der Schlüssel zu allem!

Vielleicht scheitert Ulf Poschardt aber gerade deshalb an einer solchen positiven Vision, weil er den Shitbürgern in einem Punkt auf den Leim gegangen ist: Dass Deutschland und die deutsche Kultur vor 1933 durchweg „böse“ und schuldig seien. Auf dieser ideologischen Basis kann man nie mehr zu einer Geisteshaltung ohne Abspaltung kommen.

Kritik – Shitbürgertum von Rechts kaum thematisiert

Ulf Poschardt erwähnt, dass die starken Männer in der AfD gegen den Westen und gegen den Liberalismus sind (S. 144). Aber leider zieht er nicht die direkte Verbindung zum Shitbürgertum, die hätte gezogen werden müssen!

Wenn wir Alexander Gaulands Buch „Anleitung zum Konservativsein“ lesen, finden wir dort im Zentrum des Buches in mehreren Kapiteln (!) eine fundamentale Kritik an Preußen. Gauland zieht alle nur erdenklichen Register der preußenfeindlichen Propaganda. Schließlich meint Gauland, dass Preußen gesellschaftlich und territorial verloren sei, und will auf gar keinen Fall – und niemals nicht! – dass Preußen wieder sei. Das ist schon auffällig nahe am Shitbürgertum.

Gleichzeitig freut sich Gauland darüber, wie die Osteuropäer wieder an die Zeit vor 1933 anknüpfen, bevor sie durch Nationalsozialismus und Kommunismus geknebelt wurden. Und das, obwohl diese Länder kaum weniger als Preußen „gesellschaftlich und territorial“ gelitten haben. Auch hat Alexander Gauland überhaupt kein Problem mit Bayern, und das, obwohl Bayern das Bundesland mit den engsten Bindungen zum Nationalsozialismus war: München war die Hauptstadt der Bewegung, Nürnberg die Stadt der Reichsparteitage, und in Bayreuth residierte der große Inspirator des Nationalsozialismus auf dem Grünen Hügel. Für Gauland kein Problem. Aber Preußen mit seiner Rationalität und seinem preußischen Humanismus, das ist für Gauland ein Riesenproblem.

Auch sonst ist Gauland der typische Shitbürger: Sein Antiamerikanismus ist unübersehbar. Sein Antiliberalismus ist penetrant. Und konservativ ist er eigentlich auch nicht, wenn man es recht bedenkt. Sondern unangenehm bräunlich. Eine Fixierung auf Hitler scheint offensichtlich.

Schließlich missbraucht Alexander Gaulands Freund Björn Höcke Preußen immer wieder als Projektionsfläche für seine schrägen Phantasien. Höcke kann dies tun, weil das juste milieu der BRD ihm Preußen völlig überlassen hat. Höcke kann über Preußen den größten Unsinn verzapfen, wie einst die NS-Wendehälse, und niemand widerspricht ihm.

Insbesondere aber denkt Höcke keine Sekunde daran, Preußen als Bundesland wiederherzustellen. Das wahre Preußen wäre für Höcke ein Problem. Das wahre Preußen ließe sich nicht so leicht missbrauchen. Es stünde Höckes Visionen von Deutschland nur im Wege. Wir erinnern uns, wie Kaiser Wilhelm II. in seinem Exil in Doorn mehrere Stunden vergeblich versuchte, Göring zu erklären, dass man Deutschland nur in Ländern regieren könne: „Zwei Stunden lang habe ich diesem Rindvieh klarzumachen versucht, dass man Deutschland nur auf der Grundlage des Föderalismus regieren kann.“

Kritik – Kleine Fehler

Richard von Weizsäcker wird von Ulf Poschardt den Shitbürgern entgegengestellt (S. 37). Er hätte seine Rede vom 8. Mai 1985 nur deshalb halten können, weil er selbst aufgrund seiner Familiengeschichte die Ambivalenzen integriert hätte. Doch das ist falsch. Ganz falsch. Bekanntlich wurde Weizsäckers Rede für die Aussage gefeiert, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung war. Doch diese Einseitigkeit der Perspektive auf den 8. Mai ist genau die Abspaltung von allem Bösen und Problematischen, das Ulf Poschardt anprangert. Denn viel besser als Richard von Weizsäcker hatte es der erste Bundespräsident Theodor Heuss gesagt, der in einer Rede vor dem Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 eine andere Deutung des 8. Mai präsentiert hatte, die bis 1985 unter Liberalkonservativen unbestritten war: „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“ Hier, bei Theodor Heuss, finden wir die Integration der Ambivalenz, nach der Ulf Poschardt verlangt, während Richard von Weizsäcker einfach nur ein weiteres abspalterisches Dogma des Shitbürgertums bestätigt hat.

Martin Walser wird bei Ulf Poschardt zu den Shitbürgern und Antisemiten gezählt, seine Friedenspreisrede in der Paulskirche scharf kritisiert (S. 32). Diese Perspektive ist fragwürdig. Martin Walser hatte sich von der linksliberalen Schickeria losgesagt und gründlich zu denken begonnen („Nichts ist wahr ohne sein Gegenteil“), weshalb er ausgegrenzt blieb. Auch seine Paulskirchenrede ist nicht einfach antisemitisch, sondern im Gegenteil ein Versuch, die Ambivalenz, nach der Ulf Poschardt verlangt, wieder sichtbar zu machen. (Es wäre interessant zu wissen, was Ulf Poschardt von Hans Magnus Enzensberger denkt.)

Fazit

Mit „Shitbürgertum“ hat Ulf Poschardt einen laut vernehmbaren Weckruf in die Welt gesandt, der hoffentlich zu einer vermehrten Bewusstseinsbildung beiträgt, indem Realitäten auf Begriffe gebracht werden, vor allem den Begriff des „Shitbürgertums“. Völlig richtig ist, dass Ulf Poschardt den Kern des Übels in einer falschen Vergangenheitsbewältigung sieht. Leider ist Ulf Poschardt selbst nicht völlig frei von den Lebenslügen der Shitbürger. Deshalb bleibt seine positive Vision für Deutschland auch seltsam dünn. Aber es ist eine Streitschrift, lanciert zum Streiten. Und das ist gut, denn es ist der Anfang von aller besseren Erkenntnis.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit (1511)

Rundumschlag quer durchs Leben, gelungen und doch irreführend

Erasmus lässt die personifizierte Torheit eine Lobrede auf sich selbst halten. Versteckt hinter der Maske der Torheit und der Ironie kann Erasmus die Fehler der großen und kleinen Leute durchsprechen. Teilweise ist das anregend und witzig und auch für die heutige Zeit oft gut getroffen.

Teilweise ist es aber auch sehr unübersichtlich: Dummheit als Hauptthema einer Arbeit eröffnet ein viel zu weites Feld, als dass noch ein gemeinsames Band hinter allem zum Vorschein käme.

Teilweise ist es auch irreführend. Die Torheit redet teils so überzeugend und doppelt-ironisch, dass der Leser an manchen Stellen wirklich nicht mehr wissen kann, was Erasmus nun selbst ernst meint, und was er nur ironisch meint. Weniger gebildete Leser werden so manchen Rat der Torheit ernst nehmen und ihn entweder als Provokation empfinden oder sogar gutheißen! Das zynische Klischee des Weisen, der am Leben vorbeilebt und von den Frauen verschmäht wird, das Klischee von den Frauen, für die man sich zum lächerlichen Narren machen müsse, um sie zu gewinnen, das Klischee vom erfolgreichen Toren und dem erfolglosen Weisen (leidvolle Erfahrungen von Erasmus?): Sie sind wenig hilfreich und polarisieren die Leser, statt zu differenzieren.

Teilweise ist so manches, was die Torheit als Torheit hinstellt, in Wahrheit gar nicht töricht, wodurch das Werk schiefe und halbwahre Aussagen trifft. Witz, Ironie und Höflichkeit als Dummheiten hinzustellen, ohne die die Welt nicht funktionieren würde, ist irrig. Ebenso irrig ist es, das „Ich weiß dass ich nichts weiß“ des Sokrates für töricht zu halten.

Gegen Ende des Werkes kommt Erasmus auf die Vernunftlogik des Glaubens zu sprechen, die in den Augen der Nichtgläubigen Torheit ist (Paulus: Wir sind Narren um Christi willen; Gott lässt die Weisheit der Weisen zuschanden werden und offenbart sich in Torheit). Dass die Worte des Paulus nicht vernunftfeindlich gemeint sind, sondern lediglich besagen, dass man mit derselben Vernunft zu anderen Schlüssen kommt, wenn man von anderen Voraussetzungen ausgeht (Jesus lebt, oder eben auch nicht), kommt nicht zum Ausdruck. Die Verwirrung zwischen Torheit und Vernunft ist perfekt.

Der eigentliche Wert des Werkes liegt vermutlich weniger in dieser oder jener Aussage, sondern in der Provokation selbst. Diese ist zweifelsohne in mehrfacher Hinsicht gelungen. Die Frage ist, ob Erasmus es mit der Provokation nicht übertrieben hat, und wohin die Provokation führen soll, da es doch teilweise an Klarheit mangelt. Unter diesem Gesichtspunkt verliert das Werk stark an Wert. Das „Lob der Torheit“ ist ein Querschläger, der schief und krumm in der Landschaft herumsteht, und viel Nebel verbreitet. Auch die heutigen Interpreten sind sich nicht völlig einig darin, was Erasmus eigentlich wollte, jeder sieht es wieder ein wenig anders.

Teilweise ist der Mangel an Klarheit auch dem Umstand geschuldet, dass Erasmus mit diesem Werk die politische Korrektheit seiner Zeit unterlief und unter der Maske der Torheit Dinge aussprach, die man nicht ungestraft sagen konnte. Erasmus soll durch dieses Büchlein das Aufbrechen von Tabus gelungen sein, so dass er als Wegbereiter der Reformation gilt.

Es finden sich interessante Reformgedanken zum Christentum, bis hin zu historisch-kritischen Denkweisen: Zum einen in der Feststellung, dass die Apostel einst kaum über das theologisch spitzfindige Wissen der Theologen aus Erasmus‘ Zeit verfügt haben werden, und was für einen Sinn es dann haben sollte? Zum anderen z.B. in der Feststellung, dass auch der Apostel Paulus die Altarinschrift für den unbekannten Gott in Athen zu seinen Gunsten zurechtbog. Beides erstaunliche Gedanken, die das scholastische Christentum massiv hinterfragen.

Die Anzahl der antiken Anekdoten, die Erasmus einbaut, ist erstaunlich. Die Interpreten sagen, die Torheit würde mit ihnen nur so um sich werfen, weil sie selbst sage, dass die Toren mit Zitaten nur so um sich werfen. Aber gleichzeitig kann Erasmus so seine Belesenheit beweisen, ohne selbst als töricht zu gelten.

Fazit

Eine geschickte und wirkmächtige, aber leider auch teils undurchsichtige Provokation, die das mittelalterliche Denken ordentlich durchschüttelte und bis an seine Grenzen in Richtung der Moderne dehnte. Nebenbei auch mancher Ratschlag, manche Einsicht der Lebensklugheit und Menschenkenntnis, die auch heute noch von Wert ist.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Januar 2014)

Tommaso Campanella: Die Sonnenstadt (1602)

Campanellas Sonnenstadt als Brutstätte sozialistischen Denkens

Der Text „Die Sonnenstadt“ (La città del Sole), oft fälschlich als „Sonnenstaat“ übersetzt, ist das politische Programm eines praktizierenden Sozialrevolutionärs aus dem Jahr 1602, veröffentlicht 1623. Es ist keine satirische Schrift wie die „Utopia“ des Thomas Morus, der seiner Zeit ironisch den Spiegel vorhalten wollte und nicht ernsthaft an die Verwirklichung seiner Ideen dachte. Und es ist auch keine Wissenschaftsvision wie das „Neu-Atlantis“ von Francis Bacon, wo der Schwerpunkt auf noch zu machenden Erfindungen liegt. Campanella zählt an Techniken und Methoden nur auf, was die Renaissance bereits zu bieten hatte, bis hin zur Idee der Flugmaschinen.

Lupenreiner Sozialismus

Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen die sozialen Verhältnisse, die in herzlich naiver Weise einen lupenreinen Sozialismus propagieren. Es ist für den modernen Leser ganz und gar erstaunlich, wie exemplarisch die einzelnen Aspekte des Sozialismus in dieser Schrift Punkt für Punkt abgehandelt werden:

Niemand besitzt etwas für sich, alle bekommen das Ihre von den Beamten zugeteilt. Die Menschen seien durch Besitzlosigkeit zum Gemeinsinn befreit. Die Familie ist aufgelöst. Geschlechtsverkehr findet ausschließlich zur Triebbefriedigung und zur Fortpflanzung statt, wobei die Partner von Beamten ausgewählt werden. Die Kinder werden gemeinschaftlich erzogen. Liebe spielt sich nur auf platonischer Ebene ab, Eifersucht gäbe es nicht.

Es gibt keine schweren Verbrechen, da die Menschen zu höchstem Edelsinn befreit seien. Eine Erbsünde, d.h. eine grundsätzliche Verstricktheit des Menschen in das Böse, gäbe es nicht, sondern Fehler und Verbrechen seien immer eine Folge falscher Erziehung, falscher gesellschaftlicher Verhältnisse usw. und damit grundsätzlich beseitigbar.

Die Herrscher gäben ihr Amt freiwillig ab, wenn sich jemand fände, der weiser ist als sie. Die Menschen strebten alle voller Eifer nach Bildung und Pflichterfüllung für die Gemeinschaft. Eigeninitiative ist nicht vorgesehen. Individuelle Begabungen sind darauf angewiesen, von Beamten erkannt und gefördert zu werden.

Kritik

Es ist kein Zufall, dass Campanella Aristoteles grundsätzlich ablehnt und schmäht. Ein realistischer Einwand des Aristoteles, der stellvertretend die ganze Kritik an solchen sozialistischen Blütenträumen repräsentiert, dass nämlich der Eine immer darauf warte, dass ein anderer die Arbeit für ihn tue, wird kurz abgetan. Der Realist Aristoteles wird von Campanella als Pedant verschrieen.

Damit wird auch deutlich, dass Campanellas Naivität nicht verzeihlich ist. Manche meinen ihn entschuldigen zu müssen, weil er ein so früher Denker sei, dass er noch nicht wissen konnte, wie der Sozialismus an der Realität scheitern wird. Doch dies ist unzutreffend. Man hat dies schon immer gewusst und wissen können.

Da ist es auch keine Entschuldigung, dass die spanische oder kirchliche Herrschaft zu seiner Zeit nach einer Revolution schrie. Eine Revolution muss keine sozialistische Revolution sein, wenn sie z.B. humanistisch orientiert ist und Athen und Rom vor Augen hat, was der Zeit Campanellas nicht ferngelegen hätte.

Herkunft der sozialistischen Ideen

Was aber hatte Campanella dann vor Augen, wenn nicht Athen oder Rom? Woher kommen überhaupt seine sozialistischen Ideen? Es wird deutlich in seinen Worten von den vielen Gliedern des einen Gemeinwesens, einem Wort des Apostels Paulus, das das ideale Zusammenwirken aller Gläubigen in der heiligen Gemeinschaft der Kirche beschreibt. Campanellas Sonnenstadt folgt ganz offensichtlich dem christlich-religiösen Ideal der idealen Gemeinschaft der Gläubigen unter einer perfekt funktionierenden Hierarchie! Wahrhaft aufklärerisches Denken sieht anders aus.

Selten hat sich die These, dass der Sozialismus eine säkularisierte Wendung des christlich-religiösen Glaubens ist, so bestätigt gefunden wie hier. Hier bei Campanella sind wir ganz dicht dran an der originalen Brutstätte der sozialistischen Ideen.

PS 29-SEP-2013: Die Rezension macht zu wenig deutlich, dass der sozialistische Charakter auch durch Übernahmen aus Platons Politeia zustande kommt. Damit hat Campanella die liberale Wende Platons in dessen späteren Werk Nomoi ignoriert, es liegt eine typische Fehlinterpretation Platons vor.

Einige bemerkenswerte Einzelaspekte

Völlig befremdlich ist die Ausgestaltung der Strafen in der Sonnenstadt; sie sehen alles andere als zivilisiert aus, sondern erinnern an archaische Stammestraditionen: Es gibt die kollektive Steinigung, Verbrennen, Todesstrafe ohne vorherige Diskussion, für die Wahrheitsfindung nutzlose Mindestanzahlen von Zeugen, und unbeweisbare Anklagen fallen auf den Ankläger zurück. Im Übrigen gilt das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Bei Campanella sieht man sehr eindrücklich, wie Astrologie und Astronomie noch eine gemeinsame Wissenschaft bilden. Neue Erkenntnisse über Himmelsmechanik und Zeichendeutung gehen hier noch Hand in Hand. Gegen Ende schweift der Text sogar vom Thema der Sonnenstadt ab und verliert sich in astrologischen Prophezeiungen über die Zukunft Europas.

Hat die Sonnenstadt etwas mit Platons Atlantis zu tun? Nein.

Der Stadtgrundriss der Sonnenstadt mit ihren sieben Mauerringen auf einem Hügel, die den sieben Planeten zugeordnet sind, gleicht verblüffend der Stadt Ekbatana, wie sie von Herodot beschrieben wird, nicht jedoch Platons Atlantis, das drei Ringe von Wasser und Land um einen Hügel herum aufweist. Der Tempel in der Mitte hat nichts mit Platons Atlantis zu tun, ebenso wenig der Kult der Sonnenstadt. Wasserringe tauchen auch keine auf, lediglich Burggräben, was etwas völlig anderes ist.

Auch sonst weist nichts auf Atlantis: Keine rechteckige Ebene, keine Lage am Rande einer Ebene, kein schwarz-weiß-rotes Gestein, keine zwei Quellen, keine Gründungslegende mit fünf Zwillingspaaren, und auch kein Sittenverfall gefolgt von einem Angriff auf den Rest der Welt. Campanella macht zwar zahlreiche Anleihen bei Platon, jedoch nur bei dessen Staatsutopie Politeia, nicht aber bei dessen Atlantisdialogen. Zumal Atlantis bei Platon ja auch nicht positiv sondern negativ gezeichnet wird.

Eindeutig erkennbar sind Anleihen bei der Utopie des Thomas Morus, vor allem was die Rahmenhandlung betrifft. Dabei ist die Utopie des Thomas Morus selbst wiederum eine Karikatur der britischen Insel, nicht aber der Insel Atlantis. Es wäre also schlicht falsch zu behaupten, Campanella hätte sich zu seiner Sonnenstadt von Platons Atlantis inspirieren lassen. Ein solcher Zusammenhang ist nirgends erkennbar.

Fazit

Für die Aufarbeitung und Präsentation des Textes mit Anmerkungen und Nachwort gibt es vier von fünf Punkten; ein Punkt Abzug für ein zu großes Verständnis für die gefährlichen Ideen Campanellas.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Juli 2010)

Julian Nida-Rümelin: Humanismus als Leitkultur – Ein Perspektivenwechsel (2006)

Humanismus als gute Gesprächsbasis – aber welcher Humanismus?

Das vorliegende Buch ist eine Sammlung von Reden, Aufsätzen und einem Interview von und mit Nida-Rümelin, die im Zeitraum 1999-2006 gehalten bzw. geschrieben worden waren. Dabei kommt es teilweise zu mehrfachen Wiederholungen derselben Thematik, was andererseits auch verschiedene Aspekte derselben Sache eröffnen kann.

Klassischer Humanismus

Zunächst ist es wohltuend, von einem Politiker, der Nida-Rümelin ja als Kulturstaatsminister 2001-2002 war, einige tiefer gründende Worte zu Themen wie Kultur und Bildung zu hören. Für Nida-Rümelin ist Bildung gerade nicht zuerst Berufsausbildung, sondern Menschenbildung, die den Menschen als ganzes entfaltet, und zur Selbständigkeit und Urteilsfähigkeit erzieht. Damit wird der Mensch kommunikationsfähig, gesellschaftsfähig, und letztlich auch fähig, sich verschiedensten beruflichen Situationen zu stellen, gerade auch in unserer heutigen einen Welt. Nida-Rümelin rückt dafür – auch im Buchtitel – den Humanismus in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

An einigen Stellen lässt Nida-Rümelin durchblicken, dass der Humanismus geerdet ist in seiner Tradition von der Antike bis z.B. zu Wilhelm von Humboldt. Damit ist der Humanismus keine beliebige Leerformel. Nida-Rümelin sieht den Humanismus auch zurecht als Widerspruch gegen das allzu Nützliche, gegen ein ökonomisches Diktat, oder gegen die Vereinnahmung durch den zynischen Zeitgeist. Auch sieht sich Nida-Rümelin eher dem Klassischen als dem Romantischen verbunden.

Das ist in der Tat die Grundlage, auf der unsere Gesellschaft eine Zukunft haben kann. Das ist auch die Grundlage, auf der sich die Zukunft von Kultur und Bildung zwischen den verschiedenen politischen Lagern zu diskutieren lohnt. Nida-Rümelin ist natürlich ein Linker, ein SPD-Mitglied. Aber eines, mit dem sich offenbar reden lässt. Das muss man festhalten.

Kritikpunkte

Leider hält Nida-Rümelin die Linie von Rationalität und Tradition nicht konsequent durch. In manchen seiner Texte schwebt der Humanismus als abgehobener Begriff im Raume herum, und wird zu einer Leerformel, mit der sich die Irrtümer des Zeitgeistes verbinden. So plädierte Nida-Rümelin z.B. für die „Vielfalt-Gesellschaft“, in der Religion bzw. Weltanschauung und Nationalkultur eines Menschen nur als irgendwelche Aspekte unter mehreren angesehen werden, die sich beliebig kombinieren und austauschen ließen, so dass daraus eine bunte, vielfältige Gesellschaft entstünde. Bei Nida-Rümelin heißt das „humanistischer Individualismus“. In Wahrheit handelt es sich aber nur um das alte, dumme Multikulti, nur anders verpackt.

Ebenso denkt Nida-Rümelin über einen Mittelweg zwischen Hobbes und Rousseau nach: Zwischen einer Gesellschaft, die durch Zwang von oben zusammenhält, und einer Gesellschaft, die durch Homogenität zusammengehalten wird, glaubt er an ein Modell der Kooperation von Bürgergesellschaft und starken Institutionen des Staates, und einen ethischen Minimalkonsens, der stets neu auszuhandeln sei. Nida-Rümelin übersieht damit völlig, wie stark die Bindekräfte von Traditionen, des Gewachsenen schlechthin, sind, und wie schwer so etwas wieder herzustellen ist, wenn es erst einmal kaputt gemacht wurde. Vielleicht sind Hobbes und Rousseau auch einfach die falschen Gegenpole. Jedenfalls wird weder ein Minimalkonsens, der gerade einmal aus den Menschenrechten besteht, noch ein stets neues Aushandeln je zu einer stabilen Gesellschaft führen. Multikulti funktioniert nur dort, wo es in die klaren Regeln einer Mehrheitsgesellschaft eingebettet ist. Oder anders ausgedrückt: Es funktioniert eigentlich per se überhaupt nicht.

Richtig ist allerdings, dass eine Toleranz aus Indifferenz nicht funktioniert. Toleranz ist nur dort echt, wo sie ganz bewusst Toleranz ausübt gegenüber einer Meinung, die man klar für falsch hält. Toleranz aus Respekt in diesem Sinne ist eine Tautologie. Toleranz ist Respekt vor dem Andersdenkenden, ist Empathie mit den Irrenden.

Auch andere linke Projekte werden von Nida-Rümelin ideologisch gestützt. So z.B. die Ganztagsschule, die angeblich zur Persönlichkeitsbildung beitrage. Oder planwirtschaftliche Elemente wie die Buchpreisbindung. Oder linke Theorien von Gerechtigkeit (John Rawls), denen zufolge Ungleichheit dann gerecht sei, wenn sie den Schwächeren nützt. Da kann man sehr geteilter Meinung sein, ob das den Schwächeren wirklich nützt! Jedenfalls kann man alles übertreiben, und gerade diese positive Diskriminierung scheint heute doch sehr übertrieben zu werden.

Erfrischend unideologisch

Andererseits ist Nida-Rümelin wiederum erfrischend unideologisch. Er wendet sich gegen die anti-humanistischen Impulse im marxistischen und freudianischen Denken: Wer immer nur cui bono? frage, oder immer nur nach psychologisch tieferen Absichten forsche, der verpasse es, den Menschen als Menschen ernst zu nehmen. Nida-Rümelin hatte auch ein richtiges Urteil über den Ostblock, womit er sich keine Freunde machte. Auch möchte Nida-Rümelin Karl Popper rehabilitieren, worin sich Nida-Rümelin mit Thilo Sarrazin trifft, der einstmals zusammen mit Helmut Schmidt Propaganda für Karl Popper in der SPD machte.

Kurz: Man muss nicht alles mögen, was Nida-Rümelin sagt und schreibt, aber man muss Nida-Rümelin als ein faires Gesprächsangebot verstehen, weil tiefere gemeinsame Grundlagen da sind: Der Humanismus. Mit der Idee des Humanismus gibt es eine gemeinsame Basis, auf deren Grundlage man die Zukunft gestalten kann. Linksliberale und Liberalkonservative gemeinsam.

Humanismus ist gewiss ein wichtiger Aspekt der gemeinsamen deutschen Leitkultur. Hier ist nun wiederum allerdings schade, dass Nida-Rümelin diesen Gedanken nicht auch historisch so durchbuchstabiert hat, dass sich humanistisches Denken in allen Kulturen der Welt vorfinden lässt, vom Christentum über den Islam bis hin zum Konfuzianismus.

Einige Randthemen

Sehr wohltuend sind Passagen, in denen Nida-Rümelin den real existierenden Wissenschaftsbetrieb auf die Schippe nimmt. Seiner Meinung nach hätten viele kreative Forscher vergangener Zeiten im heutigen System keine Chance mehr. Wie wahr. – Er wendet sich auch sehr richtig gegen ein Ausspielen der „exakten“ Naturwissenschaften gegen die „Geschwätzwissenschaften“ der Geisteswissenschaften. – Gut beobachtet auch, dass Platon in den Nomoi gegenüber der Politeia umdenkt. – Sloterdijk war wohl anders, als Nida-Rümelin denkt, kein Anti-Humanist. Sarrazin übrigens auch nicht, aber den erwähnt Nida-Rümelin nicht. – Schließlich noch eine Kuriosität: In einem Vortrag von 2001 bezeichnet Nida-Rümelin den historischen deutschen Sonderweg seit 1990 für beendet. Wenn er sich da mal nicht getäuscht hat!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. Oktober 2016)

Ludwig Lehnen: Hesperische Gedichte (2024)

Meist gelungene dichterische Aufrufung antiker Themen mit einem bedauerlichen Drall in Richtung Wokismus von Rechtsaußen

Die Gedichtsammlung „Hesperische Gedichte“ von Ludwig Lehnen versammelt eine Reihe von Gedichten zu vorwiegend antiken Themen. Ludwig Lehnen sieht sich offenbar in der Tradition von Stefan George. So sehen die Gedichte dann auch aus, im Guten wie im Schlechten.

Geist und Geschmack

Die Gedichte sind sprachlich anspruchsvoll, ebenso die gewählten metrischen Schemata. Aber auch inhaltlich können die Gedichte oft überzeugen. Teilweise sind die Gedichte sehr voraussetzungsreich. Vorkenntnisse in antiker Geschichte und Geisteswelt sind für das Verständnis häufig unerlässlich. Der Dichter weiß jedenfalls, wovon er spricht: Wer von den Bleitäfelchen von Dodona zu dichten weiß, ist tief in die Materie eingedrungen.

Verwirklicht wird immer wieder eine dichterische Aufrufung antiker Sachverhalte und Charaktere und ihrer speziellen Eigenschaften, die teilweise nur implizit, teilweise aber auch explizit auf moderne Zeiten bezogen werden. Am gelungensten sind wohl jene Gedichte, die eine solche Aufrufung ohne allzu viele Anspielungen auf die Gegenwart durchführen. Hier wird ein antikes Thema verlebendigt, ohne es durch eine moderne Perspektive allzu sehr einzuschränken. Die Frage stellt sich dann ganz automatisch und in offener Weise, wo dieses Thema eigentlich in unserer Gegenwart geblieben ist. Solche Gedichte sind geschmack- und geistvoll. Ein Beispiel ist das Gedicht „Dodona“ über das Orakel von Dodona:

Wenn die schwarzen tauben der aphrodite
Nochmals auf den zweigen sich niederlassen
Bei verstreuten tafeln aus blei · die treue
          Hände beschrieben:

Dann gebiert die Nacht wieder Tag: die eiche
Rauscht noch voller fruchtender ströme · urkraft
Dringt hervor und Zeus-Achelóos glänzt und
          Weibliches beugt sich.

Thematisch widmen sich die Gedichte oft der Metaphysik jenseits der materiellen Welt, d.h. dem Göttlichen und Numinosen hinter den Dingen, das die Welt in einem großen Sinnzusammenhang vereinigt. Das gelingt meistens gut. Speziell die unberührte Natur wird als Ort dieses Zaubers gesehen. Angerufen werden immer wieder Ge und Apoll. Ein zweites Thema ist die (angebliche) nordische Herkunft unserer europäischen Kultur und von Apoll, der deshalb auch Baldur-Apoll genannt wird. Ein weiteres Thema ist der Untergang Europas und seiner Kultur.

Ambivalentes

Manche dieser Themen könnten radikal gedeutet werden, doch die Verfremdung im Dichterischen verbietet oft eine solche Überziehung, und das tut diesen Themen gut. Eine Warnung vor und Klage über Überfremdung durch maßlose Einwanderung ist durchaus im Rahmen des Akzeptablen. Auch ein Lobeshymnus auf die Musik von Guillaume de Machaut, ohne zu erwähnen, dass er das antisemitische Klischee der brunnenvergiftenden Juden verbreitete, mag hingehen: Das eine hat mit dem anderen nicht unbedingt etwas zu tun. Eine tolerable Kritik an der vermuteten Oberflächlichkeit der amerikanischen Kultur könnte z.B. aus diesen Zeilen sprechen:

Unter der last den blick auf goldne äpfel
Von Hesperien die aus dumpfer einfalt
Der titan hervorzeigt: entwertet liegen
          Mythische gaben.

Kritik könnte hier vor allem daran geübt werden, dass die Gedichte zuwenig Hoffnung machen, zu wenig konstruktiv sind, zu sehr auf Trotz und Vergangenheit ausgerichtet sind. Das Leichte und Spielerische der Antike fehlt: Die Lust zu leben.

Entgleisungen

An einigen Stellen wird allerdings ein allzu rechter Ungeist unabweisbar deutlich. Dort, wo es um Norden und Blut geht, und gegen die Vernunft. Hier muss dann deutliche Kritik einsetzen. Denn dieses Verständnis unserer europäischen Kultur ist sachlich falsch.

Germanisches kriegerblut lebt in mir fort.
Ich will für meine götter kämpfen bis zum schluss.
So wie einst die dorer aus dem norden kamen
… … Die letzten europäer sammeln sich zur schlacht.

Es beginnt schon damit, dass die nordische Herkunft von Apoll uns nur durch die Antikenbegeisterung von Humanismus und Aufklärung bekannt wurde. Mit der Antike wurde auch die Majestät der Vernunft wie auch die antike Mythologie wiederentdeckt, und nur so konnte – über eine historisch-kritische Rekonstruktion – der Bogen von Apoll zurück zu Baldur gespannt werden. Ohne Vernunft, Antike und historische Kritik wüssten wir gar nicht, dass Baldur und Apoll verwandt sind, und wir würden über diese Mythen nur lachen, während wir gleichzeitig an ganz anderen Mythen als der geglaubten Wahrheit festhalten würden, in dumpfer Einfalt.

Es bleibt auch unverständlich, wie jemand, der sich auf Antike und Apoll beruft, Zeilen wie diese schreiben kann:

Damals kam die Zeit der Redegewandten · der eulen-
Klugen · die zeit der vernunft… zwang und gesellschaftsgewalt…
… … Wir mehr kind und tier · wir im fanatischen Ich:
Unsere zeit · die zeit der Assassinen · kehrt wieder:
Ungebundener rausch · selbst sich vergötternd und blind!

Wir stehen hier vor einem Widerspruch in sich. Es ist die Aufrufung des ewigen Irrtums von allzu rechten Denkern, dass die Vernunft eine falsche Schlange sei, die zu linker Unterjochung führen würde. Doch in Wahrheit ist die Vernunft eine urmenschliche Naturkraft, die in uns allen angelegt ist. Sie beschützt uns vor linken Dummheiten und führt uns auf den rechten Weg. Ein moderner Konservativismus kann nur vernünftig gedacht werden. Der ungebundene Rausch der Assassinen gehört nicht zu unserer Kultur.

Auch eine Reminiszenz an Julius Evola über das „Reiten auf dem Tiger“ bleibt unverständlich, denn Julius Evola war zwar nicht der schlimmste unter den rechtsradikalen Denkern, doch zweifelsohne sehr verwirrt. Kritik an einer Moderne, die alles Alte abräumt, könnte man auch intelligenter üben. Eine Moderne, die alles Alte abräumt, ist nämlich – sieh an! – gar nicht wirklich „modern“, da sie schlicht unvernünftig handelt. Kein vernünftiger Mensch würde alles Alte einfach abräumen wollen. Eine solche „Moderne“ ist in Wahrheit eine völlig unmoderne Romantik des Gegenwärtigen und eine abergläubische Vergötterung des Irrationalen, Todestrieb inclusive.

Die Gedichtsammlung nennt sich „hesperische Gedichte“, doch Hesperien kommt nur ein einziges Mal vor, als Inbegriff dumpfer Einfalt, siehe oben. Ansonsten ist einige Male von Europa die Rede, vor allem aber von dessen Untergang. Offenbar wird „Hesperien“ in diesen Gedichten als negativer Begriff verwendet. Also nicht als positiver Zielbegriff wie im „Hesperialismus“ von David Engels. Hesperien, der Westen, das Westliche, wird als eine dumpfe Einfalt gezeichnet, die in den Untergang führt. Wieder sehen wir einen allzu rechten Kulturpessimismus, der nicht versteht, dass eine Kultur der Vernunft Kraft und Leben und Wahrheit bedeutet, und nicht Untergang.

Aber auch die Aufrufung der schwarzen Tauben von Dodona erzeugen einen inneren Widerspruch in dieser Gedichtsammlung. Denn wie wir von Herodot wissen, symbolisieren die schwarzen Tauben von Dodona eine Einwanderung aus Nahost nach Europa, genauer: Die Einwanderung eines Kultes. Diese sehr mythisch anmutende Geschichte wurde von Professor Heinz-Günter Nesselrath sehr überzeugend historisch-kritisch rekonstruiert (Heinz-Günther Nesselrath, Dodona, Siwa und Herodot – ein Testfall für den Vater der Geschichte, in: Museum Helveticum Vol. 56 (1999) Heft 1; S. 1-14). Es ist ein Triumph der Philologie und der Geschichtswissenschaft, und damit von Humanismus und Aufklärung, mithin der Vernunft, die Verhältnisse in Zeiten zu rekonstruieren, als der Nahe Osten weiter entwickelt war als Europa, und Europa sich gerne von der Kultur des Nahen Ostens befruchten ließ. Soviel Weite des historischen Horizontes fehlt in dieser Gedichtsammlung leider.

Wokismus von Rechtsaußen

Mit „dem Schwarzwälder“ wird Heidegger beschworen, diese dünkle Figur, dieser Vordenker der schrecklichen Postmoderne und des grässlichen Wokismus. In einer Klage über den Raubbau an der Natur kommen wir zum Tiefpunkt der Gedichtsammlung. Das Schlimmste ist nicht, dass hier über einen Raubbau an der Natur geklagt wird, wie es vielleicht in den 1980er Jahren berechtigt war, heute aber nicht mehr. Nein. Es ist nicht diese frappierende Ähnlichkeit zum linksgrün versifften Zeitgeist. Das Schlimmste ist dieses:

Heiliger als der mensch ohne natur ist natur
          Ohne dies mördergeschlecht

Es handelt sich um lupenreinen Extinktionalismus! Also der Gipfelpunkt allen postmodernen und woken Denkens: Der Mensch selbst wird zum Problem erklärt („Mördergeschlecht“), und die Beseitigung des Menschen wird im Zweifelsfall für erstrebenswert erachtet. Das ist nun wahrlich Antihumanismus in Reinform. Das Böse selbst. Man kann es nicht anders sagen.

Philosophisch ist die Aufgabe der menschlichen Perspektive völliger Unsinn und gefährlich. Der Mensch kann sich nicht aus seiner eigenen Perspektive lösen. Eine Landschaft wird immer nur durch das Auge des Betrachters schön. Ohne das Auge des Betrachters ist niemand da, der eine Landschaft schön finden könnte. Der Mensch kann sich nicht selbst aus dieser Rechnung herausnehmen. Diese Welt hat entweder einen Sinn mit und für den Menschen, oder sie hat eben keinen Sinn für den Menschen. Wozu sollte ein Mensch Rücksicht auf die Natur nehmen, wenn er selbst aus dem Spiel herausgenommen wird? Ohne den Menschen ist die Natur eine öde Gegebenheit ohne Sinn und Schönheit.

Man fragt sich auch, wie man einen metaphysischen Sinnzusammenhang der Welt in der Gestalt Apolls beschwören, doch gleichzeitig den Menschen, einen nicht unwesentlichen Teil der sinnhaften Weltwirklichkeit, als „Mördergeschlecht“ abqualifizieren kann? Und wie man eine sinnhafte Natur ohne den Menschen denken kann? Bei Platon und Aristoteles geht es noch darum, dass der Mensch Gott ähnlich werden möge, weil das seine Bestimmung ist, hier jedoch ist der Mensch plötzlich der letzte Dreck. Man kann nicht beides haben. Der Sachverhalt führt zu einem deutlichen Punktabzug für dieses Buch.

Formales

Es stört, dass manche Gedichte eine Überschrift haben, manche jedoch nicht. Teilweise weiß man deshalb nicht, ob ein überschriftloses Gedicht als Fortsetzung des vorangegangenen Gedichtes gemeint ist, oder als eigenständiges Gedicht gelten soll. Besser wäre es gewesen, jedem Gedicht einen Titel zu geben. Teilweise hätte man sich eine größere Schrifttype gewünscht. Ein Lesebändchen wäre dem Niveau des Buches angemessen gewesen.

Fazit

Meist gelungene dichterische Aufrufung antiker Themen mit einem bedauerlichen Drall in Richtung Wokismus von Rechtsaußen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Ernst Tremp / Johannes Huber / Karl Schmuki: Stiftsbibliothek St. Gallen – Ein Rundgang durch Geschichte, Räumlichkeiten und Sammlungen (2007)

Gute Einführung in Bedeutung und Sammlung des Klosters St. Gallen

Dieses Buch ist mehr als nur ein Museumsführer, es ist eine gelungene Einführung in die Geschichte des Klosters St. Gallen und insbesondere seiner Bibliothek. Es wird erschöpfend informiert über die Epochen der Klostergeschichte, über die Ausstattung des barocken Bibliothekssaales, und über die Handschriften im Bestand der Klosterbibliothek. Alles ist reich bebildert.

Hier ist ein wahrer Schatz vorhanden: Viele der Handschriften sind die ältesten ihrer Art und deshalb für die Erforschung der Textgeschichte von großer Wichtigkeit. Die Bedeutung dieser Handschriftensammlung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden:

  • Älteste Zeugnisse antiker Schriftsteller, z.B. Vergil.
  • Älteste Zeugnisse von Evangelien und der Vulgata.
  • Älteste Zeugnisse der deutschen Sprache.
  • Nibelungenlied und Parzival.
  • Karolingische Gesetze und älteste Musik-Manuskripte.
  • usw.

Einige der ältesten Handschriften mit Werken antiker Schriftsteller wurden hingegen in der Renaissancezeit von italienischen Humanisten „entführt“, ganz so, wie man sich das vorstellt.

Hier in St. Gallen wird die kulturelle Leistung greifbar, die die Klöster in der Welt des Mittelalters durch ihre Bildungs- und Überlieferungsarbeit erbracht haben. Zwar hatte das Christentum seinen Anteil am Niedergang der klassischen Bildung und dem Heraufziehen des Mittelalters, ohne die Klöster jedoch wäre die Wiederentdeckung der Antike und damit die Moderne nicht möglich gewesen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. Januar 2020)

Philipp Melanchthon: Glaube und Bildung – Texte zum christlichen Humanismus (16. Jhdt.)

Absolut lesenswertes Zeugnis eines wahren Humanismus

Philipp Melanchthon war ein in der Wolle gefärbter Humanist, der von Martin Luther sofort als Denker entdeckt wurde. Während Luthers Reformation, die von dem führenden Humanisten Erasmus von Rotterdam mit Recht als zu radikal abgelehnt wurde, stand Melanchthon unter dem teils ungünstigen Einfluss von Martin Luther und lehnte z.B. die Philosophie als schädlich ab. Melanchthon war unbestritten der eigentliche Denker der Reformation, während Luther eher der Macher war. Nach Luthers Tod befreite sich Melanchthon innerlich von Luthers Radikalität und gelangte wieder zu moderateren Auffassungen in bezug auf Philosophie und Religion.

Melanchthon hat zweifelsohne viel für die Verbreitung der humanistischen Bildung getan, und seine Schriften über Bildung sind eine wahre Wohltat in unserer heutigen Zeit. Dort liest man noch, wie die Sprache den Geist bestimmt, wie Sprache gebildet werden muss, um den Menschen zu bilden, dass die Bildung „aus der Hand kommt“, dass der Mensch erst durch eigenes Schreiben so richtig gebildet wird.

Das Verhältnis von Philosophie und Religion bestimmt Melanchthon – anders als zur Zeit Luthers – positiv: Philosophie und Glaube betreffen verschiedene Erkenntniswege, die sich nicht gegenseitig behindern, sondern ergänzen. Es gibt nichts, wovor die Philosophie Halt machen sollte. Nur wo die Philosophie glaubt, ohne die Religion auskommen zu können, setzt Melanchthon der Philosophie eine Grenze. Mehr kann man von einem religiösen Menschen eigentlich nicht verlangen.

Die Schule ist für Melanchthon das Abbild des Goldenen Zeitalters, der Ort des Lehrens und Lernens als heilige Tätigkeit unter philosophischen Geistern. Die griechische Sprache wird über alles gelobt. Alles in allem hat sich Philipp Melanchthon seinen Ehrentitel „Praeceptor Germaniae“, d.h. Lehrer Deutschlands, redlich verdient.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 31. Januar 2014)

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