Schlagwort: Klassiker (Seite 2 von 7)

Mary Taylor Simeti: On Persephone’s Island – A Sicilian Journal (1986)

Ingenious description of life and customs on Sicily

As a young student from New York Mary Taylor Simeti came to Sicily, fell in love, married and lived her life on the island as an expatriate. This means she is in the double-role of an insider and an outsider and thus the perfect reporter on atmosphere, life and customs on Sicily, far better than any journalist traveling around for some months.

The book is organized following the seasons of the year thus showing the close relationship of life on Sicily to nature. Farming, plants, flowers, climate, public holidays and harvesting are important parts of her life. But the author also writes about her husband’s family and how she integrated step-by-step into the Sicilian society. Greek mythology does not play a central role but it is interesting to see how the author makes practical use of otherwise only academically treated myths. Life with the silent presence of the Mafia is a topic as well as customs like Easter processions and the widely unknown virgineddu. As an American the author wonders how Sicilians organize themselves, such as concerning her children’s school or how to get entrance to a historical building on a military site.

The book covers the time of the 1970s and 1980s and shows many features of the time: The author came to Sicily to support Danilo Dolci driven by a somewhat romantic social idealism, then we read again and again how she marched in demonstrations against American missiles on Sicily, or against the Mafia, or to protect a natural reserve. The author declares to be glad that anti-communism lost its strength. Old fotographs on the Web site of her winery „Bosco Falconeria“ show the typical beards and clothings of leftist students around 1968. From today’s point of view (2013) this does not seem so political any more but rather like folklore of these times in a certain social milieu. All in all Mary Taylor Simeti did not strive for communism but lived a good life as owner of several houses in Palermo and Alcamo and of course the farm Bosco Falconeria near Palermo, and she lets us readers take part in the sufferings and rewards of such a Sicilian life. Thank you!

PS 18.11.2024

Being grown up in a rural area in southwest Germany, I observed some striking similarities: There is e.g. the religious procession of the local saints. Then, the harvesting with the help of he entire family. And even the technicalities of the fruit press are similar, only, that in Sicily it is all about olives, while in Germany is is about apples and pears. And of course, there is more sun than in the rest of the country. It seems that „southern Catholic provinces“ are everywhere the same.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. Februar 2013)

Ricarda Huch: Urphänomene (1946)

Vergewisserung der klassischen christlichen und humanistischen Bildungsinhalte inmitten der Doppelkatastrophe von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus

Das Buch „Urphänomene“ von Ricarda Huch stellt die These in den Raum, dass es gewisse unverlierbare Grundtatbestände des Menschlichen gibt, eben die Urphänomene. Diese Urphänomene werden in einer Reihe von Kapiteln besprochen, deren Überschriften eine christliche Schlagseite deutlich werden lassen:

  • Familie.
  • Geburt und Tod.
  • Gott.
  • der gestirnte Himmel.
  • die Jungfrau mit dem Sohne.
  • Dreieinigkeit.
  • Satan.
  • der Gottmensch.
  • der Prophet.
  • Gewissen und Recht.
  • Freiheit.
  • Schönheit.
  • Musik.
  • Liebe.

Zu jedem Urphänomen wird eine lange Reihe von Mythen, Philosophien, Dichtungen und Überlieferungen aufgelistet, quer durch die Menschheitsgeschichte und quer über alle Kulturen hinweg. Der Schwerpunkt dieser Aufzählungen liegt aber eindeutig auf der westlichen Kultur, und hier wiederum deutlich mehr auf dem Christentum als auf der philosophischen Tradition.

Mehr als diese Aufzählungen wird praktisch nicht geboten. Die Autorin macht nichts aus diesen Aufzählungen und zieht keine neuen oder originellen Schlussfolgerungen. Es wird auch nicht versucht, abstrakte Gemeinsamkeiten hinter kulturellen Ähnlichkeiten zu suchen. Die Autorin bleibt recht oberflächlich bei der bloßen These der Urphänomene und bei bloßen Aufzählungen stehen. Das enttäuscht zunächst. Wer eine gute Allgemeinbildung hat, für den ist das meiste nichts neues. Welchen Sinn hat dieses Buch?

Der Sinn dieses Buches

Man muss Ricarda Huchs „Urphänomene“ von seinem Sitz im Leben her interpretieren. Die Autorin schrieb dieses Buch unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Jena in der Sowjetischen Besatzungszone. Es erschien 1946. Es geht in diesem Buch gar nicht darum, irgendetwas Neues oder Originelles auszusagen. Sondern es geht darum, sich der „alten“ Werte zu versichern, angesichts von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus. Und diese „alten“ Werte sind eben die Urphänomene: Sie bestehen im Wesentlichen in den Elementen einer klassischen Bildung, d.h. einer christlichen und humanistischen Bildung.

Deshalb wird auch wenig erklärt. Das Buch liest sich vielmehr wie eine Checkliste, die in kurzen Stichworten eine Inventur durchführt. Und ja, es ist eine Inventur von zutiefst menschlichen Themen, die den Wurzelgrund einer klassischen Bildung ausmachen, und die kulturelle Gemeinsamkeit und Vertrautheit in einer Gesellschaft stiften. Ein solches Buch benötigt kein „Ergebnis“, sondern die Vergewisserung an sich ist bereits das Ergebnis.

Der moderne Leser kennt solche Aufzählungen von esoterischen Werken: Auch dort werden die verschiedensten kulturellen Phänomene aufgezählt, um sie dann assoziativ zu einer esoterischen Ideologie zu verschwurbeln. Nicht zufällig fand sich das gelesene Exemplar in den Regalen des anthroposophisch angehauchten Antiquariats BuchKultur Opitz in Konstanz am Bodensee. Doch eine solche Verschwurbelung geschieht hier nicht. Es geht nicht um neue Ergebnisse, es geht um eine Vergewisserung der Grundlagen.

Dass es um Vergewisserung geht, wird auch im Nachwort deutlich. Ein ewiger Kampf um die Wahrheit wird beschworen. Und vor falschen Propheten gewarnt. Diese falschen Propheten sieht die Autorin erstaunlicherweise in allen, die über das Christentum hinauswachsen möchten. Auf den Nationalsozialismus trifft diese Beschreibung kaum zu, denn der Nationalsozialismus kann kaum als ein Hinauswachsen über das Christentum beschrieben werden. Diese Beschreibung trifft viel eher auf den Sozialismus der sich soeben herausbildenden DDR zu. Damit ist das Buch „Urphänomene“ weniger eine Vergewisserung im Gefolge der moralischen Niederlage des Nationalsozialismus, als vielmehr eine Vergewisserung gegen den aufstrebenden DDR-Sozialismus.

Und das nicht ohne Grund: Als das Manuskript dieses Buches 1946 von Jena an den Atlantis-Verlag im Westen geschickt wurde, kam auf ungeklärte Weise ausgerechnet das Kapitel „Freiheit“ abhanden; es wurde erst in der dritten Auflage 1966 abgedruckt. Im Jahr 1947 musste Ricarda Huch dann selbst in den Westen fliehen, nachdem sie noch als Alterspräsidentin des Thüringer Landtages fungiert hatte:

Es sei dem Lande Thüringen beschieden,
Dass niemals mehr im wechselnden Geschehen
Ihm diese Sterne untergehen:
Das Recht, die Freiheit und der Frieden
.

Leider hat Ricarda Huch mit ihrer Definition der falschen Propheten und ihrer Lehren als Versuchen, über das Christentum hinauszuwachsen, jede Form des Hinausdenkens über das Christentum verdammt. Das ist schon sehr konservativ. Damit würden dann auch Friedrich der Große und Goethe zu den falschen Propheten zählen. Ebenso Thomas Mann. Aufgrund der Knappheit des Büchleins bleibt unklar, ob dies wirklich ihre Meinung war, oder ob diese Schärfe nur der klaren Abgrenzung gegen den Sowjetsozialismus geschuldet war.

Einzelnes

Die Einteilung in Kapitel ist ein wenig willkürlich. Die Ehelosigkeit ist im Kapitel zur Familie mit enthalten, statt in einem eigenen Kapitel abgehandelt zu werden, was sie durchaus verdient hätte. Neben dem gestirnten Himmel hätte man z.B. auch das Meer, Gebirge und endlose Ebenen als menschliche Urphänomene nennen können. Es fehlen natürlich auch Krieg und Frieden. Ebenso Vernunft. Und der Unterschied zwischen einem Gottmenschen und einem Propheten wird nicht ganz klar. Der philosophischen Tradition gemäß hätte man außerdem ein Kapitel über den Weisen schreiben müssen, aber dazu ist dieses Buch zu christlich.

Zum Thema Familie fällt auf, dass sich Ricarda Huch positiv zur patriarchal geführten Familie äußert. Diese würde funktionieren, weil der Mann als Oberhaupt der Familie Verantwortung übernimmt, während der Abbau der Vorrechte des Mannes zur Instabilität der Familie geführt hätte. Daran mag manches richtig sein, es erscheint aber sehr konservativ gedacht.

Das Kapitel zur Liebe ist sehr christlich gehalten. Auch hier wurde zu wenig Mühe darauf verwendet, Ähnlichkeiten in der philosophischen Tradition zu finden. So hätte man z.B. den guten Gott Platons nennen können, während das Christentum den Begriff Liebe teilweise überzieht und verkitscht. Generell gilt: Ordnung und Liebe gehören eng zusammen.

Das Kapitel zur Freiheit stellt allein auf die innere Freiheit im Sinne des Paulus ab. Um äußerliche, gar um politische Freiheit, geht es kaum. Man fragt sich, warum ein sozialistischer Zensor dieses Kapitel entfernt haben soll? Doch die Zensur achtet oft wenig auf intellektuelle Inhalte, sondern wendet sich gegen Plakatives und gegen Schlüsselworte. Und „Freiheit“ ist natürlich ein Schlüsselwort, das unerwünscht war. Deshalb wohl.

Absolut wertvoll und wider Erwarten doch noch etwas Eigenständiges findet sich im Vorwort: Hier philosophiert die Autorin darüber, dass das Weltbild des Einzelnen und das öffentliche Weltbild immer auseinanderfallen werden, und was das für Konsequenzen hat. Sehr interessant!

Zuletzt fällt auf, dass die wenigen lateinischen Sentenzen in diesem Buch nicht übersetzt werden. Daran sieht man, welchen Bildungsanspruch die Autorin gegenüber ihren Lesern hatte.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Thomas Paine: The Age of Reason (1794/95/1807)

Amazingly modern criticism of religion in the age of the Enlightenment

Thomas Paine presented with „Age of Reason“ a criticism of Christianity which is based upon inconsistencies and other problems within the Bible. Here, 200 years before the development of „historical criticism“, Thomas Paine puts forward amazingly modern arguments. Furthermore, Thomas Paine rises some philosophic arguments of greater depth: First, that reason and abstract thinking is the way to real truth (he compares the truth of Euclid’s elements to the truth of the Bible!), then, that morals is based in ourselves, and not in beliefs from books. Immanuel Kant is not far from this.

Thomas Paine does not only criticise Christianity but every other religion, too. And what is more, he presents an alternative: Deism, the belief in one god based on the true word of god which is for Thomas Paine the creation itself, and science to read in this „book“.

Unfortunately, Thomas Paine is too angry and disrespectful towards believers and priests. He fails to realize their psychology and thus, the book is valuable more for ex-believers than for for believers still to be convinced. Especially the realization, that historical criticism does not necessarily lead to a full devaluation of a religion but rather to its reform and renewal based on reason, is totally absent in his book.

The edition of Cosimo Classics is terrible: All the footnotes are incorporated into the fluent text, they are no footnotes any more! Every other page you have to think about, where your sentence stops, a footnote suddenly begins, and where your sentence continues! This is modern computerized book publishing as it should not be!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. August 2013)

Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie (1985)

Klassiker der Medienkritik über den Wert der Lesekultur des gedruckten Wortes

Medienkritik heute richtet sich vor allem auf die Frage, wer über die politische Ausrichtung in den Medien entscheidet. Neil Postman setzt eine Stufe tiefer an und wird noch grundlegender: Sind die neuen Medien vielleicht selbst ihrer Natur nach daran beteiligt, welche Inhalte sie transportieren? Und mehr noch: Welche geistige Haltung und welches Niveau von Intelligenz prägen sie beim Publikum ihrer Natur nach?

Diese Fragen diskutiert Neil Postman anhand des Übergangs von der Schriftkultur des gedruckten Wortes des 19. Jahrhunderts zur Fernsehkultur des 20. Jahrhunderts.

Einen der stärksten Eindrücke beim Leser hinterlässt dieses Buch durch die Beschreibung der Schrift- bzw. Lesekultur des 19. Jahrhunderts. Damals war das gedruckte Wort in Buch, Zeitung und Flugblatt das einzige und damit vorherrschende Medium, und es wurde tatsächlich viel gelesen, auch in unteren Schichten. Das Medium des gedruckten Wortes prägte den Geist: Vorherrschend war ein dem geschriebenen Wort entsprechendes lineares, strukturiertes und langatmiges Denken. Das gedruckte Wort ist gewissermaßen das ideale Medium für Rationalität. Die damaligen Reden von Politikern waren dementsprechend erstens länger und zweitens bedeutend argumentativer als heute. Neil Postman verweist darauf, dass in den USA damals selbst die Bauern Homer lasen (was etwas überspitzt, aber nicht falsch ist). Nicht zufällig wenden sich auch die Federalist Papers, mit denen in Zeitungen für die Annahme der US-Verfassung geworben wurde, an ein Publikum, das zum Lesen und Mitdenken bereit ist.

Das Fernsehen ist hingegen das Medium der Unterhaltung. Es wird von visuellen Eindrücken beherrscht, nicht von gesprochenen Texten. Der Zuschauer merkt sich Dinge nur schlecht. Alles wird in kurzen Sequenzen präsentiert, die nicht zusammenhängen. Seiner Natur nach zwingt das Fernsehen die Inhalte dazu, zur Show zu werden. Politiker halten nur kurze und inhaltslose Statements. Lächeln und gutes Aussehen ist wichtiger als ein Argument. Tiefgang verwirrt nur. Auch ernstgemeinte Sendungen verkommen unfreiwillig zur Schau, selbst ernstgemeinte religiöse Sendungen (Bischof Fulton J. Sheen) und Bildungsangebote (Sesamstraße).

Neil Postman demonstriert die Gefahren einer vom Fernsehen beherrschten Gesellschaft anhand der zwei klassischen Dystopien der neueren englischen Literatur: George Orwell und Aldous Huxley. Orwell sah den totalitäten Staat, eine Diktatur mithilfe von Propaganda. Huxley jedoch sah ein Technikparadies, in dem das Leben leicht und oberflächlich ist und deshalb bedeutungslos wird. Neil Postman glaubt, dass wir zu lange auf die Gefahr einer Orwellschen Dystopie geachtet und darüber die Gefahr der Dystopie von Huxley übersehen haben: Wir amüsieren uns zu Tode.

Als Gegenmittel schlägt er ein geschultes, kritisches Medienbewusstsein vor, das schon in der Schule und auch im Fernsehen vermittelt werden sollte.

Neil Postmans Buch ist immer noch lesenswert, auch wenn wir heute mit dem Internet schon die nächste Medienrevolution vollziehen, weil es die Aufmerksamkeit auf eine tiefere Dimension der Medienproblematik lenkt. Insbesondere ist aber die Schilderung der vergangenen Lesekultur des 19. Jahrhunderts so eindrücklich, dass der Vergleich von damals zu heute bei jedem Leser zu einem bleibenden Maßstab und zu einer bleibenden Mahnung wird.

Ergänzungen

Ein kritisches Medienbewusstsein ist sicher hilfreich, aber Rationalität allein wird nicht helfen. Vor allem müssen die Menschen bei einer Lesekultur des gedruckten Wortes bleiben, und nicht nur neue Medien konsumieren. Dazu brauchen die Menschen noch ganz andere Antriebe. Die Lesekultur ist insbesondere im Kindesalter massiv zu fördern, über Schule und Elternhaus. Eltern sind in dieser Sache direkt anzugehen. Darüber hinaus muss Propaganda in allen gesellschaftlichen Bereichen dafür gemacht werden, dass Lesekultur nach wie vor auf der Höhe der Zeit und intelligent ist (was sie ja tatsächlich ist), mithin also „angesagt“ und „erwünscht“, weil tatsächlich überlegen ist. Lesekultur muss ein Statussymbol sein, und es muss ein Statussymbol quer durch alle gesellschaftlichen Schichten sein. Belesenheit muss überall als Auszeichnung vor anderen verstanden werden, die keine Belesenheit aufweisen können. Auf diese Weise übernehmen die Menschen die Lesekultur so wie jede andere Mode des Zeitgeistes auch.

Internet: Die Eigenschaften des Mediums Internet hat Neil Postman nicht mehr vorhersagen können, aber für das Internet gilt zunächst grundsätzlich dasselbe wie für das Fernsehen. Das Internet hat jedoch eine Eigenschaft, die das Fernsehen nicht hatte: Der Rezipient emanzipiert sich von den Inhalteerstellern. Wer zu wählen weiß, gewinnt, wer nicht, verliert gegenüber dem herkömmlichen Fernsehen. Auch für diese Problematik ist die Schaffung eines kritischen Medienbewusstseins erforderlich, und auch für diese Problematik ist eine gediegene Lesekultur die beste Lösung.

Eine gediegene Lesekultur wird dabei immer beides sein: Pure Lust am Lesen und die Vermittlung klassischer Bildung. Neben Romanen und Krimis also auch die Klassiker der Weltliteratur sowie Sachbücher über Philosophie, Geschichte, Politik u.v.a. Themen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon im November 2021; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden)

Nagib Machfus: Die Reise des Ibn Fattuma (1983)

Große Literatur für die Reform von Islam und islamischer Welt

Der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus spielt in seiner kurzen Parabel „Die Reise des Ibn Fattuma“ von 1983 verschiedenste Gesellschaftsmodelle, Religionen, Weltanschauungen und nicht zuletzt Lebensarten und Reformen des Islam durch.

Dies geschieht anhand einer Reise des Ibn Fattuma durch verschiedene Länder namens „Maschrik-Land“, „Haira-Land“, „Halba-Land“, „Aman-Land“, „Ghurub-Land“ und „Gabal-Land“. Diese Länder haben unterschiedliche Gesellschaftsformen, in denen Ibn Fattuma sich jeweils für eine Weile einlebt und anpasst – oder auch nicht. Es handelt sich natürlich um Phantasieländer, doch repräsentieren sie u.a. die orientalische Despotie, die westliche Welt und den Kommunismus. Der Reisende selbst kommt aus dem „Land des Islam“ und vergleicht ständig seine Heimat mit den Sitten und Gebräuchen der besuchten Länder.

In einer wunderschönen, erzählerischen Sprache weitet Nagib Machfus auf diese Weise den Horizont seiner Leser. Sie werden dabei kaum in ihren Urteilen bevormundet. Vielmehr bleibt viel Raum für eigenes Urteilen und Nachdenken.

Eine bemerkenswert reformierte Version des Islam zeichnet Nagib Machfus für das „Halba-Land“, das die westliche Welt repräsentiert: Die Muslime leben individuell, muslimische Frauen sind gleichberechtigt, und die Muslime fügen sich in freiheitlicher Überzeugung in die Gesellschaft ein. Ibn Fattuma kommt das sehr fremd vor, doch er lebt sich ein.

Perfekt ist hingegen keine der gezeichneten Gesellschaften. Am Ende der Reise steht das große Ziel, das ideale „Gabal-Land“, das Land meditativer Einsicht; von dort ist noch nie ein Reisender zurück gekommen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 2011)

Platon: Die Apologie des Sokrates (4. Jhdt. v. Chr.)

Der zentrale Grundlagentext der westlichen Zivilisation

Platons Apologie des Sokrates ist der zentrale Grundlagentext der westlichen Zivilisation. Viele werden jetzt fragen: Ist das nicht zuviel gesagt? Ist nicht die Bibel der Grundlagentext der westlichen Zivilisation? Und wieso überhaupt die Apologie? Die kennt doch so gut wie niemand? Und wie kann ein so kurzer Text so wichtig sein?

Nun, die Bibel ist natürlich ebenfalls ein unverzichtbarer Grundlagentext der westlichen Zivilisation. Aber die Bibel gab es schon lange bevor die spezifisch westliche Zivilisation mit Renaissance und Aufklärung ins Leben trat. Deshalb kann die Bibel nicht Zentrum und Ursache sein, sondern nur Wegbereiterin. Demgegenüber war die Apologie des Sokrates das ganze Mittelalter über verloren gewesen. Erst mit der Renaissance wurde der Text wieder verfügbar, und zwar präzise mit der ersten lateinischen Übersetzung von Platons Gesamtwerk durch Marsilio Ficino in den Jahren 1484/85. Erst von diesem Zeitpunkt an konnte die Apologie des Sokrates ihre Wirkung neu entfalten.

Der Geist der Apologie

Aber was war das für eine Wirkung? Um was geht es in der Apologie? Die Apologie des Sokrates ist die Verteidigungsrede des Sokrates in jenem Prozess, an dessen Ende er wegen Gottlosigkeit und der Verführung der Jugend zum Tode verurteilt wurde. Zu Rechtfertigung seiner „Missetaten“ erzählt Sokrates, wie er zur Philosophie kam und was es damit auf sich hat. Wir lernen dabei folgendes:

  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss sich zunächst einmal klar machen, wie wenig er weiß. Im streng philosophischen Sinne des Wortes „Wissen“ wissen wir Menschen so gut wie gar nichts. Viel zu viele Menschen jedoch bilden sich ein, dass sie etwas wüssten. Doch fast immer, wenn Sokrates damit anfängt, nachzufragen, stellt sich heraus: Die Leute wissen nicht, was sie zu wissen glauben, und ihre Meinungen sind haltlos.
  • Wer sich der Wahrheit nähern will, muss in einen Dialog verschiedener Meinungen eintreten. Genau das tut Sokrates immer wieder und wieder. Denn erst in dem Dialog verschiedener Meinungen lässt sich eine neue und bessere Meinung entwickeln, die näher und näher an die Wahrheit herankommt. An die Stelle von „Wissen“ im Vollsinn des Wortes treten Meinungen, die möglichst gut begründet sein sollten. Je nach dem Grad der Begründetheit haben diese Meinungen eine hohe oder niedrige Plausibilität bzw. Wahrscheinlichkeit und sind dann entweder Überzeugungen auf der Grundlage von guten Argumenten, oder doch nur „bloße“ Meinungen.
  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss seine Meinung zur Debatte stellen. Denn auch eine wohlbegründete Meinung ist kein sicheres Wissen. Immer ist es möglich, dass weitere Aspekte auftauchen, die noch nicht bedacht wurden. – Sokrates blieb nicht beim Nichtwissen stehen, sondern begann, im Dialog mit Freunden und Gegnern verschiedene Thesen zu entwickeln, die tragfähig waren. Um dieses Werk fortzusetzen gründete Platon später eine Philosophenschule vor den Toren Athens, im Hain des Akademos. Platons Schüler strickten an dem neuen Erkenntnisgebäude weiter, darunter auch Aristoteles. Daraus entstand die Wissenschaft.
  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss respektlos vor Autoritäten sein. Wir sehen, wie Sokrates auch vor angesehenen Politikern nicht haltmacht und auch diese befragt, was sie denn eigentlich wissen. Und es stellte sich heraus: Von allen Menschen wissen die Politiker am wenigsten, während die Handwerker, die praktischen Menschen, sich immerhin auf ihr praktisches Handwerk verstehen. Aber auch die Religion blieb von den Fragen des Sokrates nicht verschont.

Das ist das Zentrum unserer westlichen Welt: Sokrates und Platon haben eine Revolution der Erkenntnisgewinnung eingeläutet und auf diese Weise unser Denken für immer verändert. Es ist der Siegeszug der Rationalität. Und mit ihm auch der Siegeszug der Liberalität, denn nur freie Bürger können sich erlauben, respektlose Fragen zu stellen und gefährlich ins Offene und Unbekannte hinein zu denken. Dieser Geist begann ab 1484/85 wieder zu wirken.

Die Apologie heute

Es ist wahr, dass die Apologie des Sokrates heute kaum noch jemandem bekannt ist. Die Reduktion der humanistischen Bildung quer durch alle Schulfächer bis hin zur Abschaffung des Latein- und Griechischunterrichtes hat ganze Arbeit geleistet. Damals hieß es, man könne doch auch Übersetzungen lesen. Das ist wahr. Aber Lehrpläne, die die Lektüre dieser Übersetzungen vorsahen, wurden nie erstellt.

Ich selbst habe den wunderlichen Sokrates durch meinen Deutsch- und Geschichtslehrer Bruno Epple kennengelernt, der als Mundartdichter unseres Bodensee-alemannischen Dialektes bekannt war. Es war beeindruckend, wie er zwischen den Schulbänken auf und ab tigerte und ein ums andere mal ausrief: „Die waren doch verrrrrückt! Diese alten Griechen: Verrrrückt! Was die für komische Fragen gestellt haben! Das muss man sich mal vorstellen: Was die sich herausgenommen haben! Lauter Verrrrückte! usw.“ – Das war im siebten Schuljahr, um 1985, auf einem baden-württembergischen Gymnasium. Man muss dazu wissen: Bruno Epple hielt sich selten an die Vorgaben der Lehrpläne und setzte eigene, eher traditionelle Schwerpunkte. Womöglich sind andere Lehrer zur gleichen Zeit ohne viel Aufhebens über Sokrates hinweggegangen. Im Schulbuch waren Sokrates anderthalb Seiten gewidmet, seiner Befragung der Mitbürger aber nur ein Absatz. Den Originaltext der Apologie des Sokrates haben wir an der Schule nie gelesen. Auch in höheren Klassenstufen nicht. Und das, obwohl sich dieser Text aufgrund seiner Kürze als Schullektüre hervorragend eignen würde.

Heute kennt in der Tat kaum noch jemand die Apologie des Sokrates. Und das könnte ein wichtiger Teil der Probleme unserer Zeit sein. Denn heute geschehen schier unglaubliche Dinge, die niemand akzeptieren kann, der einmal vom Geist der Apologie ergriffen wurde:

  • Wir haben öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die nicht nur behaupten, kompetent zu sein (das wäre noch in Ordnung, wenn’s denn nur wahr wäre), sondern die doch tatsächlich auch noch behaupten, objektiv zu sein! Natürlich sollte jeder danach streben, so objektiv wie möglich zu sein, aber wir alle nähern uns der Wahrheit von verschiedenen Seiten her an. Es ist grundsätzlich nicht möglich, dass jemand auftritt und legitim sagen kann, er wäre der Verkünder objektiven Wissens. Das konnte einst die Kirche im Mittelalter tun. Aber in einer modernen Gesellschaft sollte das nicht mehr möglich sein.
  • Ständig werden wir dazu aufgefordert, irgendwelchen „Experten“ zu glauben. „Follow the Science“ ist ein beliebter Slogan. Aber es gibt doch gar nicht „den Experten“, der uns objektives Wissen verkünden könnte, denn verschiedene Experten vertreten verschiedene Meinungen. Und auch „die Wissenschaft“ gibt es so nicht, denn die Wissenschaft lebt davon, dass sich verschiedene Meinungen im freien Dialog miteinander befinden.
  • Sogenannte „Faktenfinder“ tragen „Fakten“ zu komplexen Fragen zusammen, und jubeln uns ihre Urteile als unumstößliche „Fakten“ unter. Nicht selten tragen solche Faktenfinder eine durchaus hilfreiche Sammlung von Informationen zusammen. Aber würde man sich sein Urteil nicht lieber selbst bilden?
  • In den sozialen Netzwerken des Internet werden aus den „Faktenfindern“ die berüchtigten „Faktenchecker“, die ihre Urteile als Verurteilungen auch gleich in die Tat umsetzen: Im Auftrag der sozialen Netzwerke bzw. der Regierungen unterdrücken sie unliebsame Meinungen, auch wenn diese gar nicht strafbar sind. Sie tun diese durch die Markierung von Beiträgen, durch die Drosselung der Reichweite, durch Shadow-Banning, durch die vollständige Sperrung einzelner Beiträge, durch Demonetarisierung oder durch die Sperrung von ganzen Kanälen und Accounts. Aber woher nehmen diese „Faktenchecker“ die übermenschliche Weisheit, zu wissen, was „wahr“ und was „falsch“ ist?
  • Carolin Ehmcke wurde 2016 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Im Jahr 2024 sprach sie sich auf der Konferenz „re:publica“ allen Ernstes und unter frenetischem Beifall des „progressiven“ Publikums gegen Pro- und Contra-Formate in den Medien aus. Ehmcke glaubt, dass die Experten in vielen Fragen schon wissen würden, was die „richtige“ Wahrheit ist. Deshalb würde ein Pro- und Contra-Format die Menschen nur verwirren, denn dort würde die „richtige“ Wahrheit einer „falschen“ Wahrheit gleichberechtigt gegenübergestellt. Das ist schön gedacht. Aber weiß Carolin Ehmcke wirklich, welche Experten die „richtige“ Wahrheit besitzen? Eine dermaßen „richtige“ Wahrheit, dass man keine Fragen mehr stellen darf? Und wie kann sie sich sicher sein, dass nicht doch eines Tages eine Frage auftaucht, an die keiner gedacht hatte? Sollte die „richtige“ Wahrheit nicht triumphal überzeugen, wenn sie einer „falschen“ Wahrheit tatsächlich völlig gleichberechtigt gegenübergestellt wird? Und bezieht die „richtige“ Meinung nicht gerade daraus ihre Legitimität als „richtige“ Meinung, dass sie gegen andere Meinungen bestehen kann? Wie steht es denn um die Legitimität einer „richtigen“ Meinung, wenn sie der Konfrontation mit anderen Meinungen systematisch aus dem Weg geht?
  • Unsere Universitäten folgten einst dem Ideal des preußischen Reformers Wilhelm von Humboldt, dass Forschung und Lehre so miteinander verwoben sein sollten, dass die Studenten das Fragen und Hinterfragen lernen. Doch mit den Bologna-Reformen ist davon nicht viel übrig geblieben. Ob Preußen oder die humanistische Bildung: Mit solchen „ewiggestrigen“ Dingen will man heute nichts mehr zu tun haben, denn man will „progressiv“ sein. Aber ist es denn wirklich progressiv?
  • Die einflussreiche Online-Enzyklopädie Wikipedia arbeitet nach dem Prinzip des „neutralen Standpunktes“. Gemeint ist in Wahrheit nicht Neutralität, sondern Objektivität, wie Wikipedia immer noch festlegt („möglichst objektiv“). Die Darstellung verschiedener Meinungen soll nach Möglichkeit vermieden werden. Auch wenn die heutige Version des Wikipedia-Artikels „Neutraler Standpunkt“ viel von der Darstellung verschiedener Meinungen spricht, ist das früher sehr viel schärfer formulierte Prinzip eines möglichst einheitlichen, objektiven Standpunktes immer noch das Ziel. Objektivität ist für Menschen aber nicht zu erreichen. In der Praxis führt das dazu, dass Wikipedia-Artikel vom Standpunkt eines allwissenden, autoritären, übermenschlichen Erzählers verfasst werden, der ganz und gar nicht neutral ist, sondern der genau eine einzige Meinung als die lexikographisch geoffenbarte Wahrheit darlegt, während alle anderen Meinungen folgerichtig entweder als Unsinn herabgewürdigt oder als unwürdig ausgeblendet werden. Diese Praxis entspricht zwar lexikographischer Tradition, aber sollte ein modernes Lexikon nicht besser den Standpunkt eines Beschreibers der Gesamtwirklichkeit einnehmen? Dieser würde es sich zur Aufgabe machen, überhaupt keine Meinung zu vertreten, also wirklich neutral zu sein, sondern alle existierenden Standpunkte wertfrei darzustellen. Eine legitime Unterscheidung verschiedener Standpunkte wäre der Grad ihrer Unterstützung in Wissenschaft und Öffentlichkeit: Erst stellt man Unstrittiges dar, dann die Mehrheitsmeinung, und zuletzt – etwas kleiner, aber wertfrei – Minderheitsmeinungen. Wer seinen Mitmenschen „Wissen“ vermitteln will, dabei aber immer nur eine einzige Meinung mitteilt, statt verschiedener Meinungen und ihrer Begründungen, begeht einen grundsätzlichen Fehler. Denn die Legitimität einer „richtigen“ Meinung beruht zentral darauf, dass sie die Konfrontation mit anderen Meinungen überlebt. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder und wieder.

Wer einmal mit Sokrates durch Athen gegangen ist und gesehen hat, wie Sokrates Handwerker, Händler und Politiker in Dialoge verwickelte, um herauszufinden, was sie wirklich wissen und was wirklich die Wahrheit ist, sofern sich dies überhaupt herausfinden lässt, der erkennt den Unsinn unserer Tage mit einem Blick. Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn wir die Texte, die einst Renaissance und Aufklärung entfachten, nicht mehr lesen, dann versteht es sich von selbst, dass uns die Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung langsam wieder abhanden kommen. Wenn der Westen sich wieder auf sich selbst besinnen will, dann muss er zurück zu den Quellen: Ad fontes!

Anderes

Die Apologie hat noch mehr zu bieten: Sie zeigt Sokrates als einen Weisen, der nicht nur in Worten philosophiert, sondern seiner Philosophie auch mit großer Konsequenz Taten folgen lässt. Sokrates gibt seinen Anklägern nicht nach und geht auch keine faulen Kompromisse ein. Das Todesurteil am Endes des Prozesses nimmt er gelassen auf sich und nutzt auch diese Gelegenheit noch einmal, um seine Philosophie zu bekräftigen: Andersdenkende aus dem Weg zu räumen, ist weder schön, noch wird es Erfolg haben.

Die Rede ist außerdem voller Ironie und deshalb sehr vergnüglich zu lesen. Ein weiteres Thema ist die Schwierigkeit, Menschen zum Umdenken zu bewegen, nachdem sie über lange Zeit mit einer bestimmten Meinung indoktriniert wurden. Das Verhältnis von Bürger und Staat wird beleuchtet. Nicht zuletzt handelt es sich um eine Rede vor Gericht, weshalb sich auch manche Weisheit und Einsicht rund um die Juristerei finden lässt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch (1668)

Lebenserfahrung und Wissensordnung des 17. Jahrhunderts

Der Simplicissimus von Grimmelshausen ist kein Schelmenroman und kein Entwicklungsroman, in dem ein Dorfdepp durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges stolpern würde – das ist nur der Anfang, der zum falschen Inbegriff des ganzen Buches wurde, weil der Verdacht offenbar mit Recht besteht, dass viele Leser das wegen seiner altertümlichen Sprache nur mühsam zu lesende Buch schon bald wieder aus der Hand legten und deshalb nur dessen Anfang bekannt war. Es ist ein wahres Glück, dass nun diese gelungene Übersetzung von Reinhard Kaiser in einem modernen, lesbaren Deutsch vorliegt, die diesen verkannten Schatz der deutschen Literatur wieder ans Licht des Tages befördert hat!

Beim Simplicissimus handelt es sich in Wahrheit um einen autobiographisch gehaltenen Roman, dessen drei Hauptthemen die folgenden sind:

a) Lebenserfahrung – wie es so zugeht in der Welt; wie vieles nicht so ist, wie es zu sein scheint. Man spürt, dass der Autor aus eigener und echter Lebenserfahrung schöpft, die einiges zeitloses Gewicht bis in unsere modernen Tage hinein hat.

b) Lebensweisheit – worin das wahre Glück besteht. Hier wird viel in christlicher Sprache formuliert, aber es lässt sich auch alles nichtchristlich denken und deuten.

c) Wissensordnung – was man als Mensch des 17. Jahrhunderts alles wissen konnte über Religion und Gläubigkeit, antike Literatur, Geographie, Geologie, Medizin, Alchemie, zeitgenössische Literatur, Sitten der Völker, Torheiten und Laster und vieles andere.

Die bereisten Länder und Städte sind u.a.: In Deutschland: Spessart und Hanau, Magdeburg, Soest in Westfalen, Lippstadt, Köln, Wien und ein Kurort mit „Sauerbrunnen“ im Schwarzwald. Außerdem geht die Reise nach der Schweiz: Einsiedeln, Schaffhausen, Bern. Nach Paris in Frankreich. Nach Moskau, die Tartarei, Korea, Macao, Indien, Konstantinopel, Venedig, Rom. Nach Ägypten: Alexandrien. Schließlich nach einer südlichen Insel irgendwo bei Madagaskar. Die Rollen, in die Simplicius im Verlauf seines Lebens schlüpft, sind u.a.: Dorfdepp, Schüler, Narr, Soldat, Draufgänger und Jäger, Frauenheld, Ehemann, begehrter Schauspieler und Beau, Alchemist, Freund, Landwirt, Eremit, Pilger, Paradiesinselbewohner.

Einige der Abenteuer sind übertrieben phantastisch: Dreimal hat Simplicius es mit Geistern zu tun, jedesmal übrigens im Zusammenhang mit einem verborgenen Schatz. Einmal fährt er auf einer verhexten Bank zu einem Hexensabbat. Der Autor zwinkert mit den Augen dazu. In der Nachschrift schaut Simplicius die Hölle mit Lucifer. In der Mummelsee-Passage taucht Simplicius bis zum Mittelpunkt der Erde; das dabei geschilderte System von Wasserverbindungen von der Erdoberfläche zum Mittelpunkt der Erde könnte durch den Platonischen Mythos über das Schicksal der Seele nach ihrem Tode inspiriert worden sein (Dialog Phaidon 107d – 115a). Schließlich macht Simplicius zwei Fernreisen, einmal über Moskau bis Korea, dann nach Ägypten.

Der Leser wird zahlreiche Redewendungen wieder erkennen, die bis heute in der deutschen Sprache vorhanden sind und unsere Sprache lebendig machen. Man entdeckt auch ein entwickeltes deutsches Nationalbewusstsein; dieses ist also nicht erst im Gefolge der französischen Revolution entstanden. Für Grimmelshausen sind die Nationalstaaten klar abgesteckt, die typischen Eigenarten anderer Völker werden treffsicher beschrieben. Die Vision des Jupiter von einem Europa unter deutscher Führung kommt hinzu.

Das Buch ist auch sehr sozialkritisch. Man meint, ein Buch aus der Zeit der französischen Revolution in der Hand zu haben, wenn man die gesellschaftliche Hierarchie am Bild eines Baumes gezeigt bekommt, auf dem die Adligen hocken und um Karriere kungeln. Sehr modern wirkt auch die bereits angesprochene Vision des Jupiter über die Idealzukunft Europas, hier unter deutscher Führung. Ebenfalls verblüffend modern ist der Schluss des Buches: Simplicius flieht vor der Welt auf eine einsame Insel, wo er in Genügsamkeit paradiesisch lebt. Wer dächte da nicht an gewisse moderne westliche Menschen, die die Einfachheit weniger entwickelter Völker für das wahre Glück halten? Auch der Stil ist teils extrem modern. Das Buch scheint wie ein Verschnitt aus den Sonetten des Andreas Gryphius und den geistig weiten Überlegungen eines Montaigne.

Alles in allem macht das Buch einen wunderlich aufgeklärten Eindruck, der Autor zeigt eine sehr gesunde Skepsis und viel gesunden Menschenverstand, den er ohne Anleitung eines anderen benutzt. Er denkt auch nicht nur oberflächlich dahin, sondern macht sich tiefer seine Gedanken, jedoch immer aus der „Froschperspektive“ des Einzelnen; ein alternativer Gesellschaftsentwurf entsteht nicht. Zahllose Anspielungen auf antike Autoren sind eingeflochten, ebenso einige Verweise auf zeitgenössische Autoren. Der Autor muss extrem belesen und gut bekannt mit der antiken Geisteswelt gewesen sein, was seine Aufgeklärtheit besser verstehen lässt. Nett auch, wie er den Raimundus Lullus beurteilt, das muss man selbst gelesen haben und versteht es nur, wenn man sich selbst schon mit Lullus beschäftigt hat.

Dennoch bricht der Autor noch nicht aus dem Korsett des christlichen Weltbildes aus, sondern benutzt es, um in ihm seine Gedanken zu entfalten. Man muss hinter der Frage nach der christlichen Moral und der christlichen Glückseligkeit auf Erden dieselben Fragen in säkularisierter Form erkennen, sonst würde das Buch für moderne Leser unerträglich sein.

Die Bedeutsamkeit des Buches und sein Einfluss müssen als sehr hoch eingeschätzt werden. Es stellt sich z.B. die Frage, inwieweit Goethes Faust davon beeinflusst war: Auch dieses Werk ist eine Summe von Lebenserfahrung und Lebensweisheit, auch dies eine Wissensordnung, und auch hier wird vieles in christlichen Bildern ausgedrückt. Es gibt überhaupt zahlreiche Parallelen zwischen Goethes Faust und dem Simplicissimus des Grimmelshausen. Ein wahrhaft unergründliches und unerschöpfliches Werk!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz (1973)

Ein weises Buch von geradezu mythischer Kraft

Dieses Buch ist ganz anders als andere Bücher von Astrid Lindgren. Weniger lustig. Ernster. Trauriger. Aber auch tröstend. Und unsagbar weise. Zudem Hoffnung und ein gewisses Urvertrauen gebend.

Das Buch erzählt die Geschichte von Krümel, dem kleinen Bruder von Jonathan, der an einer Krankheit jung sterben muss. Zuvor erzählt ihm Jonathan davon, dass man nach dem Tod nach Nangijala gelangt, dem Land der Abenteuer, Sagen und Lagerfeuer. Durch ein Unglück stirbt Jonathan noch vor seinem kleinen Bruder, und beide treffen sich bald im Kirschtal in Nangijala wieder. Doch das Paradies, das sie dort erwartet, entpuppt sich als eine Welt mit Problemen, und ein Abenteuer auf Leben und Tod beginnt. Am Ende stehen beide Brüder wieder vor dem Tod, und Jonathan erzählt von Nangilima, dem Land, in das sie als nächstes kommen werden.

Diese Geschichte erscheint märchenhaft, sie wird aber in einer so einfachen, elementaren und bildkräftigen Weise erzählt, und spricht so elementare Themen an, dass dieses Buch bei aufnahmefähigen Naturen eine geradezu mythische Kraft entfalten kann: Ein Gewinnen von Erkenntnissen über die Welt und sich selbst, was Realismus und den „kleinen“ Mut fördert, und eine Hoffnung und ein Urvertrauen, dass es Unglück, Versagen, Verlust, Scheitern und Tod geben kann, dass dies aber dennoch nicht das Ende sein muss – durch mythischen Mitvollzug und Aufgehen in der Geschichte.

Auch ich habe es nach Jahrzehnten noch einmal als Erwachsener gelesen, wie so viele hier, und war gerührt und überrascht, wieviel darin steckt, wieviel man daraus mitgenommen hatte. Ein erstaunliches Phänomen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Juli 2018)

Knut Hamsun: Pan – Aus Leutnant Glahns Papieren (1894)

Hymne auf den faschistischen Charakter – ein schreckliches Buch

Die Erzählung „Pan“ von Knut Hamsun ist keine Liebesgeschichte, wie vielfach behauptet wird, sondern die Geschichte eines äußerst merkwürdigen jungen Mannes. Es geht um Leutnant Thomas Glahn, Ende 20, der im größten Teil des Buches im Norden Norwegens gezeigt wird: Bei einem offenbar monatelang ausgedehnten Aufenthalt auf einer Hütte am Waldrand, nahe einer kleinen Ansammlung von Häusern „in the middle of nowhere“.

Am Anfang finden wir Thomas Glahn in einsamer Harmonie mit der Natur. Doch fragt sich der Leser, wie denn ein junger Mann Ende 20 ein solches Leben führen kann?! Monatelanges Nichtstun! Diese Form des Lebens eignet sich für Kinder, die geistig noch nicht erwacht sind, oder für Rentner, die in ihrem Leben schon genug geleistet haben, um gelassen darauf zurückblicken zu können. Aber so lebt und denkt doch kein lediger junger Mann Ende 20! Ein solcher sollte tunlichst einen inneren Drang danach verspüren, etwas zu werden und zu bewegen und zu erreichen in der Welt. Man fühlt sich spontan an den „Aufstand der Massen“ von Ortega y Gasset erinnert, der als eines der Symptome des Heraufdämmerns des Faschismus in Europa den „zufriedenen jungen Herrn“ nennt. Einen solchen sollte es nämlich eigentlich gar nicht geben, und wo es ihn doch gibt, da ist er ein Symptom für eine Krankheit der Gesellschaft.

Dann finden wir Glahn verliebt in Edvarda, die Tochter des örtlichen Kleinkrämers. Diese Liebesgeschichte nimmt sich jedoch sehr merkwürdig aus. Sie ist etwa 16, er kurz vor 30, also ungefähr doppelt so alt. Dieser Altersunterschied ist in jungen Jahren von einigem Gewicht. Im Grunde „vernarrt“ sich Glahn in die junge Frau, „Liebe“ ist das falsche Wort. Es entwickelt sich eine Art von Liebelei, aber er kommt nicht richtig aus sich heraus, und sie ignoriert ihn immer wieder systematisch, und man weiß nicht, warum. Das ganze macht schon einen sehr verklemmten Eindruck. Von beiden Seiten.

Nach dem ersten Drittel des Buches erfährt man, dass Edvarda in Wahrheit 20 Jahre alt sein soll. Sie sei ein ungezogener Charakter und liebt es angeblich, sich die Wirklichkeit irrational zurechtzubiegen, und ihre Umgebung zu manipulieren und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Doch gegen Ende des Buches erfährt man, dass Edvarda während des Sommers gewachsen war: Sie kann also nicht 20 gewesen sein, sondern wohl doch eher 16. Da der Erzähler in diesem Teil Glahn selbst ist, hat er uns wohl angelogen.

Glahn nimmt die Frauen wie im Flug für sich ein, und es sind jeweils die Frauen, die den ersten Schritt auf ihn zu machen. Neben Edvarda entwickelt sich auch eine Liebelei mit Eva, der Tochter des Schmieds, die sich als die Ehefrau des Schmieds entpuppen wird, und ganz am Rande auch noch eine Henriette, von der wir nicht viel erfahren. Es ist mit diesen Liebeleien ein ewiges Hin-und-her, auch Eifersucht spielt natürlich hinein, doch teilweise vergisst Glahn seine Freundinnen auch erstaunlich schnell wieder. Frauen tauchen in diesem Buch durchweg als dienstbare Geister ihrer Väter und Ehemänner auf; selbständiges Denken ist hingegen nicht gefragt, aber das ist bei diesem Buch auch kein Wunder, wie wir gleich sehen werden.

Eine weitere Merkwürdigkeit ist Glahns Unfähigkeit, sich in Gesellschaft geschickt zu benehmen. Doch dabei bleibt es nicht: Glahn begeht wiederholt völlig aus dem Ruder laufende Unvernünftigkeiten:

  • Glahn wirft unvermittelt den Schuh von Edvarda vor aller Augen ins Wasser, und im nächsten Moment weiß er selbst nicht mehr, was das sollte.
  • Glahn schießt sich buchstäblich selbst in den Fuß, mutwillig und sinnlos.
  • Glahn spuckt einem Baron vor aller Augen unvermittelt ins Ohr.
  • Glahn nimmt eine sinnlose Sprengung vor, durch die Eva zu Tode kommt.
  • Glahn erschießt seinen treuen Hund (So ein A…loch!), um ihn dann wie versprochen (allein das schon unsinnig) an seine inzwischen zu Eis erkaltete Liebe Edvarda zu verschenken.

Und in seiner Rückschau, als die die Erzählung angelegt ist, schreibt uns Glahn, dass er über alle diese Dinge schreibe, weil es ihm „Vergnügen“ (!) mache, als Zeitvertreib, weil er angeblich – schon wieder – nichts besseres zu tun habe.

Hier geht es nicht um sinnreiche Themen wie z.B. Schüchternheit und Ungeschick im gesellschaftlichen Umgang, die durch Ermunterung, Humor und eine geänderte Einstellung überwunden werden. Oder gar um das Thema des eigenwilligen, klugen Menschen, der mit der Gesellschaft naturgemäß im Clinch liegt, und sich einen Platz in der Gesellschaft als geduldeter Exzentriker, gefragter Querdenker oder bewunderter Erfolgsmensch erobern muss. Das alles ist es nicht.

Es ist vielmehr eine Art Krankheit, eine pathologische Charakterschwäche, eine psychische Gestörtheit. Glahn ist ein kindischer Tiermensch mit „Tierblick“, ein irrationales Wesen, dessen Willkür und Emotionalität nicht durch Rationalität und Pflichtbewusstsein gezähmt und gezügelt worden sind. Glahn ist irre und wild, letztlich barbarisch. Die glatte Gegenthese zu Humanität und Aufklärung. Im Schlussteil des Buches erfahren wir, dass Leutnant Thomas Glahn auch andernorts in dieser Art fortfährt, in irrer Willkür zu handeln, bis er schließlich einen Kameraden provoziert, ihn zu erschießen.

Der zentrale Satz des Buches lautet: „Ach, es war kein klarer Gedanke in meinem Kopf.“ (S. 120), und ein häufig verwendetes Adjektiv ist „berauscht“. Glahn „fühlt“ in der Natur auch Gott in allen Dingen. Dies ist kein philosophisches Weltbild, kein Pantheismus des Gedankens, sondern eher ein Schamanismus des religiösen Gefühls, eine abergläubische Ideologie.

Und hier sind wir am Kern der Sache:

Knut Hamsun feiert in „Pan“ das barbarische „Denken“, den „freien“ Geist als Gegenthese zu Humanismus und Rationalität. Der knorrige Pan ist der Tiermensch aus den Wäldern, der Inbegriff des von jeder Zivilisation „verschonten“ Barbaren schlechthin, dem rauschhaften Gotte Dionysos zugehörig. Dionysos ist traditionell der Gegenspieler zu Apollon, dem Gott der Vernunft und der Ordnung, des Wahren und des Schönen, dem die Musen zugehörig sind.

Offenbar wird Knut Hamsun mit Recht als ein faschistischer Autor eingeordnet. Hamsun begrüßte den Aufstieg von Hitler, dessen Weltanschauung und Charakter genau denselben Gesetzen gehorchte, die wir bei Thomas Glahn finden. Und wir finden dieses „Denken“ auch bei Richard Wagner, dem Vorbild Hitlers. Es stimmt alles überein, bis hin zum nekrophilen Charakter und der Selbsttötung. Wir sehen hier nicht den Triumph eines rationalen Willens, sondern den Triumph einer barbarischen Willkür, die letztlich ins Verderben führen muss, und eigentlich nur lächerlich ist. Offenbar nicht für Knut Hamsun.

Ein weiterer Fingerzeig auf Hamsuns Einstellung ist sein Vorsprechen bei Hitler, um die Greueltaten der Nationalsozialisten in Norwegen, deren Anwesenheit Hamsun grundsätzlich begrüßte, zu mildern. Was eine Heldentat hätte sein können, denn Hamsun war einer der ganz wenigen, die Hitler ins Angesicht widerstanden, war natürlich einfach nur der naive Schildbürgerstreich eines politischen Kleingeistes. Was dabei aber auffällt, ist die Wortwahl Hamsuns. Hamsun zu Hitler: „Die Methoden des Reichskommissars eignen sich nicht für uns, seine ‚Preußerei‘ ist bei uns unannehmbar, und dann die Hinrichtungen – wir wollen nicht mehr!“

Die Methoden der Nazis als „Preußerei“ zu bezeichnen ist wahrlich der Gipfel. Wenn es denn nur „preußisch“ zugegangen wäre in Norwegen! Denn Preußen steht (auch) für Immanuel Kant, den Eckstein des Rationalismus, oder für Friedrich den Großen, der die Aufklärung in Deutschland populär machte, oder für Karl Friedrich Schinkel, der Berlin in ein „Spree-Athen“ verwandelte, oder für Wilhelm von Humboldt, der mit Gymnasium und Universität die Institutionen für die humanistische Bildung schuf und zudem den politischen Liberalismus begründete, oder für Alexander von Humboldt, der für Menschenrechte und Wissenschaft steht. Preußen steht für eine Rezeption der Antike im Hinblick auf Humanismus und Aufklärung, sowie für Selbstdisziplin und Rechtsstaatlichkeit. Selbst ein verunglückter Charakter wie Kaiser Wilhelm II. widerstand noch den Nationalsozialisten und ihren Umwerbungsversuchen in seinem Exil. Und noch Marcel Reich-Ranicki fand wiederholt lobende Worte für das „preußische Gymnasium“ mitten im Nationalsozialismus, während er negative Geschehnisse lieber mit dem Wort „deutsch“ charakterisierte. Wer Preußen in einen Topf mit den Nationalsozialisten und ihren Untaten wirft, hat intellektuell schon verloren. Der derbe Pöbelgeist des Faschismus und ein moderner, liberaler Konservativismus sind eben nicht dasselbe, sondern grundverschieden. Doch Knut Hamsuns Irrtum ist noch verrückter: Denn für ihn ist Preußen das Böse, und der Nationalsozialismus das Gute. Verkehrte Welt …

Literarisch gelungen sind an diesem Buch lediglich die Passagen, die Leutnant Glahn in seiner einsamen Verbundenheit mit der Natur zeigen. Die Harmonie, Zeitverlorenheit und die Geborgenheit, die Glahn inmitten der Natur erlebt, wird gut geschildert, und ist auch schön zu lesen. Ebenfalls noch literarisch gekonnt ist die Schilderung, wie diese Harmonie verloren geht, als Glahn Edvarda kennenlernt, noch bevor er sich bewusst wird, dass er sie liebt. Danach kommt nichts mehr. Die Erzählung ist als Gedankenschau Glahns angelegt. Teils erzählt er für sich selbst, teils gibt er unvermittelt Dialoge wieder. Das eine geht fließend ins andere über. Es ist oft schwerfällig zu lesen, hölzern und unlebendig. Hamsun benutzt außerdem Mythen, Märchen, Metaphern und dunkle Andeutungen. Rational fassbare Dinge kann man von diesem Autor wohl eher nicht erwarten.

Fazit

Ein schreckliches Buch! Wie dtv mit dem Spruch „eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur“ Werbung dafür machen kann, erschließt sich nicht.

Empfehlung einer besseren Alternative

Wer über Harmonie mit der Natur lesen möchte, wer ein strebendes Leben ohne Müßiggang erleben möchte, wer eine schöne, schwungvolle, geistig niveauvolle Liebesgeschichte vorgeführt bekommen möchte, und wer ein tragisches Ende sehen will, aber tragisch im Vollsinn des Wortes, d.h. unter bejahender Annahme des Schicksals, dem sei unbedingt „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ von Friedrich Hölderlin empfohlen! Das ist wirksames Gegengift.

Nicht zufällig schrieb einer der großen Hölderlin-Kenner, Pierre Bertaux, auch eine Rede zum 200. Todestag von Friedrich dem Großen für eine Feier auf Schloss Hohenzollern. Er charakterisierte diesen Preußenkönig als „Philosophen im französischen Sinn“, denn er habe „Vernunft als gesunden Menschenverstand kultiviert.“ – Der knorrige Pan jedoch, und diese verkrüppelte Geschichte des finsteren Herrn Hamsun, sie sollen uns gestohlen bleiben! Weg damit!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. Dezember 2018)

Alexander Hamilton – James Madison – John Jay: The Federalist Papers (1787/88)

Klassiker des demokratischen Denkens – moderner als die Gegenwart!

Jeder weiß, dass die Verfassung der USA ein Musterbild für einen demokratischen Staat ist, und ein Musterbild für einen Bundesstaat noch dazu. Aber warum eigentlich? Was sind die Ideen hinter den teilweise seltsam anmutenden Regelungen dieser Verfassung? Diese Frage wird nicht von der Verfassung selbst beantwortet, sondern von den sogenannten „Federalist Papers“, einer Reihe von Zeitungsartikeln von 1787/88, die das Volk des Staates New York davon überzeugen sollten, der vorgeschlagenen Verfassung zuzustimmen. Dieser Klassiker der politischen Philosophie ist auch heute noch lesenswert, weil er Weisheit und Einsicht des Lesers fördert, und weil er zu kritischem Nachdenken über die eigene, heutige Staatsverfassung herausfordert.

Wenn man die eigene Verfassung oder die derzeitige Verfassung der Europäischen Union mit den Ideen der US-Verfassung vergleicht, überkommt einen nicht selten der Zorn über so viel Unsinn und interessegeleiteten Polit-Traditionalismus in Europa, und der Neid auf so viel Klugheit und 200jährige Modernität in Amerika. Fast möchte man zum Revolutionär werden …

Zum Inhalt

Die „Federalist Papers“ sprechen die US-Verfassung thematisch Punkt für Punkt durch: Sinn des Bundesstaates, Zuständigkeiten von Bund und Einzelstaaten, Gewaltenteilung (Armee, Steuern, etc.), Zusammensetzung und Befugnisse von: Repräsentantenhaus, Senat, Präsident, Justiz. Da es sich um Zeitungsartikel handelt, gibt es manche Wiederholung und kein ganz allzu systematisches Inhaltsschema, aber für ein über 200 Jahre altes Buch liest es sich immer noch recht modern.

Es ist sehr interessant zu sehen, wie die Verfassungswirklichkeit hinter der geschriebenen Verfassung diskutiert wird. Häufig entwickeln sich Dinge nämlich ganz anders, als sie beabsichtigt waren. Eine Regelung wird vielleicht nie genutzt, weil sie Nachteile mit sich bringt, eine andere Regelung wird anders genutzt, als gedacht. Die Balance zwischen den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative kommt in Schieflage und eine Gewalt dominiert die beiden anderen Gewalten: Was mit guter Absicht in einer Verfassung geregelt wurde, kann trotzdem schiefgehen, weil es an der Wirklichkeit vorbeigeht.

Um dies zu erkennen, benötigt man Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Geschichtswissen und eine gesunde Skepsis. Das ist hier reichlich zu finden und man kann viel davon lernen. So heißt es z.B. in Nr. 71: „It is a just observation, that the people commonly intend the public good. This often applies to their very errors. But their good sense would despise the adulator who should pretend that they always reason right about the means of promoting it.“

Manchmal ist es besser, die Verfassungsorgane blockieren sich gegenseitig: Besser, ein gutes Gesetz wird abgelehnt, als dass ein schlechtes Gesetz angenommen wird. Andererseits wenden sich die Federalist Papers auch gegen eine zu große Skepsis und rät zur Akzeptanz von kleineren Übeln, um die Verfassung funktionsfähig zu halten. Besser, die Exekutive ist in einer starken Hand, als in der Hand eines Kollektivs, das vielleicht informell von einer Person beherrscht wird, und man nicht mehr weiß, welches Mitglied des Kollektivs man verantwortlich machen soll.

Die Gewaltenteilung wird hier ebenfalls anders diskutiert, als man es gemeinhin kennt. Die Gewalten sollen zwar getrennt voneinander sein, aber es werden ganz gezielt und mit voller Absicht diverse Überschneidungen der Gewalten in die Verfassung eingebaut. Der Sinn dahinter ist, dass sich die Gewalten gegenseitig in Schach halten können, um auf diese Weise ihre Trennung auch machttechnisch abzusichern. Denn nur weil es auf dem Papier steht, ist die Trennung der Gewalten noch lange nicht gesichert.

Die bundesstaatliche Ebene darf sich nicht auf den guten Willen der Einzelstaaten verlassen, dass diese einmal gemachte Zusagen schon einhalten werden – sie werden es nicht, und dann ist der Streit zwischen den Einzelstaaten da: „There is, perhaps, nothing more likely to disturb the tranquillity of nations than their being bound to mutual contributions for any common object that does not yield an equal and coincident benefit. For it is an observation, as true as it is trite, that there is nothing men differ so readily about as the payment of money.“ (Nr. 7). – Der Bundesstaat muss vielmehr unabhängig von der Zustimmung der Einzelstaaten handlungsfähig sein, indem er z.B. eigene Beamte hat und eigene Steuern direkt beim Bürger eintreibt. Die Einzelstaaten und der Bundesstaat wirtschaften völlig unabhängig voneinander. Dann können Gerechtigkeits- und Verteilungsprobleme gar nicht erst entstehen.

Antike

Es ist hochinteressant zu sehen, wie die „Federalist Papers“ das antike Erbe aufgreifen! Anders als man meinen könnte, wird nicht – praktisch überhaupt nicht! – auf die politische Philosophie der Antike zurückgegriffen. Was Platon, Aristoteles und Cicero über Demokratie und gemischte Verfassung, den Kreislauf der Staatsformen und die Vorzüge der römischen Republik geschrieben haben, wird nirgendwo als Argument herangezogen.

Den Grund erfährt man in Nr. 14 im Rahmen einer Lobrede auf das amerikanische politische Denken: „But why is the experiment of an extended republic to be rejected, merely because it may comprise what is new? Is it not the glory of the people of America, that, whilst they have paid a decent regard to the opinions of former times and other nations, they have not suffered a blind veneration for antiquity, for custom, or for names, to overrule the suggestions of their own good sense, the knowledge of their own situation, and the lessons of their own experience?“ – Nicht weil irgendeine Autorität einst irgend etwas sagte, sondern nur wenn es vernünftige Argumente gibt, soll etwas gelten. Obwohl dies auf den ersten Blick nach einer Ablehnung der Antike aussieht, ist es in Wahrheit die genaue Nachahmung des antiken Denkens. Denn wie Platon argumentieren sie ohne Gehorsam gegenüber Autoritäten und nur nach ihrer Vernunft.

In einem weiteren Punkt kommt eine Ähnlichkeit zu Platon zum Ausdruck: Die „Federalist Papers“ argumentieren ständig gegen die Argumente der Verfassungsgegner. Diese kommen zwar nicht zu Wort, aber dennoch gewinnen die „Federalist Papers“ dadurch einen deutlich dialogischen Charakter. Man hat an manchen Stellen das Gefühl, wie wenn Sokrates mit einem Sophisten spräche und dessen Ansichten zerlege, bis nichts mehr davon übrig ist.

Dass die Autoren der „Federalist Papers“ die antike politische Philosophie sehr wohl kannten, kommt an einigen wenigen Stellen zum Ausdruck. So heißt es in Nr. 49: „But a nation of philosophers is as little to be expected as the philosophical race of kings whished for by Plato.“ – In Nr. 51 heißt es: „But what is government itself, but the greatest of all reflections on human nature?“ und: „Justice is the end of government.“ („end“=Ziel) – Damit ist eine teils zustimmende Kenntnis von Platons politischer Philosophie klar belegt.

In expliziter Form kommt die Antike auf eine ganz andere Weise massiv zum Tragen: Nicht die Philosophen und ihre politischen Theorien, sondern die antiken Geschichtsschreiber und ihre Berichte über Zustände und Ereignisse in den antiken Staaten werden exzessiv als Beispiele in den „Federalist Papers“ herangezogen! Schon immer haben die Staatsphilosophen auf der Grundlage realer historischer Ereignisse argumentiert, und das geschieht natürlich auch hier. Einige wenige Beispiele mögen sein: Die Frage, ob ein Flächenstaat eine Demokratie sein kann; die Macht eines Einzelnen über eine Volksversammlung; das Amt des Dikators in der römischen Republik. Folgende Zitate aus Nr. 63 seien noch angeführt: „… that the position concerning the ignorance of the ancient governments on the subject of representation, is by no means precisely true in the latitude commonly given to it.“ und: „What bitter anguish would not the people of Athens have often escaped if their government had contained so provident a safeguard against the tyranny of their own passions?“ und: „… that history informs us of no long-lived republic which had not a senate. Sparta, Rome, and Carthage are, in fact, the only states to whom that character can be applied.“

Man darf auch nicht vergessen, dass hinter praktisch allen Ideen der US-Verfassung antike Ideen wie z.B. die Gewaltenteilung stehen, die über verschiedene Autoren wie z.B. Montesquieu weiterentwickelt wurden, so dass der antike Hintergrund nur indirekt erschließbar ist.

Nicht zuletzt ist die Wahl des Autoren-Pseudonyms „Publius“ in Anlehnung an den römischen Konsul Publius Valerius Publicola ein unabweisbarer Bezug zur Antike. Die Anti-Föderalisten nannten sich hingegen „Cato“ oder „Brutus“: Der geistige Streit fand ganz auf antiker Bühne statt.

Sonstiges

Das Thema „Parteien“ wird überhaupt nicht angesprochen. Diese spielen heute eine große Rolle, kommen aber nicht vor, was schade ist. – Die Frage, ob die Bürger denn überhaupt demokratisch gesinnt sind, wird ebenfalls nicht gestellt. Davon wird einfach ausgegangen. Immer wieder werden Sätze eingestreut wie dieser: „the people of this country, enlightened as they are with regard to the nature, and interested, as the great body of them are, in the effects of good government“ (Nr. 37). Wir nehmen die Botschaft mit: Die Qualität einer Demokratie entscheidet sich auch an der Aufgeklärtheit und demokratischen Gesinnung und Anteilnahme ihrer Bürger.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. November 2013)

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