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Uwe Tellkamp: Der Turm (2008)

Doppeltes Denkmal: Die DDR der 80er Jahre und das Milieu des Bildungsbürgertums

Mit seinem Roman „Der Turm“ hat Uwe Tellkamp ein doppeltes Denkmal gesetzt: Zum einen für die Verhältnisse und die Atmosphäre in der späten DDR der 1980er Jahre, zum anderen für das deutsche Bildungsbürgertum in der DDR, das in seinen Nischen zu überleben versuchte. Beide Themen sind in diesem Roman glänzend gestaltet worden und sind auf diese Weise für die Nachwelt bewahrt worden: Die Verhältnisse in der DDR als Dokumentation der Wahrheit gegen alle spätere Verfälschung und als Warnung. Und die Verhältnisse des deutschen Bildungsbürgertums als Vorbild und Mahnung für eine Zeit, die noch nicht einmal mehr weiß, was ein Bildungsbürger überhaupt ist und die glaubt, Schreiben, Lesen und die Aneignung von Wissen hätten sich im Zeitalter der KI erledigt.

Literarische Form

Der Roman besteht aus einzelnen Szenen, die – jede für sich – liebevoll gestaltet wurden. Die Szenen verbinden sich anfangs noch nicht zu einer durchgängigen Geschichte, wachsen dann aber langsam zu einem Geflecht und einer Geschichte zusammen. Dennoch enthalten die Szenen bis zum Schluss lauter Eigenheiten, die die Geschichte nicht vorantreiben, wohl aber für Atmosphäre sorgen. Die Atmosphäre von damals literarisch einzufangen, das ist eines der großen Hauptanliegen dieses Romans.

Dabei kommt eine Vielfalt von literarischen Formen zum Einsatz: Dialoge, Briefe, Tagebucheinträge, Protokolle, Rückblicke. Teilweise verschwimmen die Texte zu psychedelischen Assoziationen. Viele Dinge werden nicht mit ihrer wahren Bezeichnung in der DDR angesprochen, sondern mit Chiffren wie z.B. „Turm“ oder „Kohleninsel“.

Wiederkehrende Themen

Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie Hoffmann. Richard Hoffmann ist Arzt, sein Sohn Christian will später Medizin studieren. Deshalb kommen immer wieder medizinische Themen vor. Man erhält tiefe Einblicke, wie Mediziner reden und denken, wenn kein Patient im Raum ist. Wer selbst Mediziner ist, wird sich gut getroffen fühlen, und vielgeplagte Patienten werden manche wertvolle Einsicht über die „Götter in Weiß“ mitnehmen.

Da der Roman hauptsächlich in Dresden spielt, ist auch viel Dresdner Geschichte und Lokalkolorit in den Roman eingeflochten worden („Dresden … in den Musennestern wohnt die süße Krankheit Gestern“). Ein ebenfalls immer wiederkehrendes Thema sind Uhren und Zeit: Wanduhren, Standuhren, Seemannsuhren, Turmuhren, Uhren aller Art, die die Zeit anzeigen und die Stunde schlagen.

Das Thema des Archipels und vieler einzelner Inseln durchzieht den Roman wie ein roter Faden. Die Anlehnung an „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn ist offensichtlich. Bei Tellkamp bezeichnen die einzelnen Inseln die Schattenwelt, die die DDR zur DDR machte: Die Kohleninsel ist die Bürokratie, die die Bürger unerbittlich knebelte. Die Kupferinsel ist das Regierungsviertel in Berlin. Die Gelehrteninsel ist der Verlag, der Zensur ausübte. Die Askanische Insel, wo die Rechtsanwälte ihre Büros hatten. Die Karbidinsel das Karbidwerk, wo Sträflinge und Soldaten arbeiten mussten. Usw. usf.

Diese zweite Wirklichkeit unter der Oberfläche wird auch „Atlantis“ genannt. Das Thema Atlantis wird immer wieder angedeutet, teils ohne Atlantis explizit zu nennen. So z.B. durch die Erwähnung des „Goldenen Topfes“ von E.T.A. Hoffmann, in dem Atlantis eine Chiffre für die Phantasiewelt des Dichters ist. Oder es wird beiläufig erwähnt, dass auf dem Schreibtisch von Meno die beiden Dialoge „Timaios“ und „Kritias“ von Platon lagen: Es sind die beiden Atlantisdialoge Platons. Die Absicht des Autors scheint einigermaßen klar: Atlantis ist jene Insel, die eines Tages plötzlich unterging, weil ihre Bewohner nicht richtig gelebt hatten: Es ist eine Chiffre für die DDR. Etwa so, wie Viktor Ullmann in seiner Oper „Der Kaiser von Atlantis“ Atlantis als Chiffre für das untergehende Habsburgerreich verwendete.

Und natürlich ist Bildung ein wiederkehrendes Thema.

Bildungsbürgertum und Bildung

Dem Milieu des Dresdner Bildungsbürgertums hat Uwe Tellkamp mit diesem Roman ein wahres Denkmal gesetzt. Auch hier ist der Roman stark autobiographisch, denn Uwe Tellkamp wuchs selbst als Sohn eines Arztes im Dresdner Villenviertel „Weißer Hirsch“ auf. Dieses Thema setzt diesen Roman von allen anderen Werken der (Ex-)DDR-Literatur deutlich ab.

Im Roman wird das Villenviertel am Hang über Dresden mit der Chiffre „Der Turm“ angesprochen. Die weitere Familie sowie Verwandte und Bekannte wohnen in verschiedenen benachbarten Villen, die jede einen eigenen Namen, eine eigene Chiffre hat: Tausendaugenhaus, Karavelle, Haus Abendstern, usw. Dabei ist jede dieser Villen für sich mit ihrer Geschichte und ihrer Ausstattung ein Stück Bildung, sei es durch ihre Jugendstil-Ornamente oder durch die in das Glas der Türen geschliffenen Schiffe. Die Bewohner sind Mediziner, Literaten, Naturforscher, Künstler, Historiker und sonstige Gelehrte im weitesten Sinn.

Das ganze Buch hindurch werden immer wieder Bildungsinhalte reflektiert. Der junge Christian wird immer wieder angespornt: Was siehst Du hier? Beschreibe es genauer! Schau genau hin! Die „Türmer“ treffen sich, tauschen ihr Wissen aus, veranstalten Vorträge.

Bildung heißt konkret vor allem literarische Bildung. Goethe steht ganz oben, auch der Zauberlehrling wird erwähnt, und mit „Walpurgisnacht“ wurde Goethe ein ganzes Kapitel gewidmet. Den Anfang des Hildebrandsliedes kann man auswendig, sunufatarungo, Jakob Böhme und Empedokles sind nicht unbekannt, aber auch westdeutsche Autoren kommen vor: Hermann Hesse, Ludwig Uhland und sogar Walahfried Strabo, als Vertreter einer seltenen Traditionslinie, in der Dichtung und Wissen eine Einheit bilden: Das ist es, darum geht es. Christian liest als Schüler wie verrückt. Der Verlagsmitarbeiter Meno weiß viel von der Leipziger Buchmesse und den Begegnungen mit Westverlagen zu berichten. Von Ossip Mandelstam kann ein Gedicht über Homer auswendig gesagt werden. – Dann ist Bildung auch naturwissenschaftliche Bildung: Käfer, Zoologie, überhaupt Biologie. Haeckel als nützlicher Narr. Museen als Orte der Bildung. Und natürlich Medizin. Aber auch technisches und physikalisches Wissen. – Nicht zuletzt Musik. Schallplatten waren wahre Schätze in der DDR und wurden mit Ehrfurcht gehört. – Grundsätzlich ist ein „Türmer“ an allem (!) interessiert. Bildung ist universal und lässt sich keine Schranken auferlegen. Und seien es Ausgrabungen in Babylon.

Dieses Bildungsverständnis ist dem Rezensenten als Sohn eines Libellenforschers und einer Buchhändlerin nur allzu gut bekannt. Die Familie väterlicherseits kam einst aus dem Osten in den Westen: Ob sich mit diesem Bildungsverständnis auch hier unvermutet ein östliches Erbe entfaltet hat? Es scheint so. Hermann Hesse und Walahfried Strabo grüßen vom schönen Bodensee.

Elend und Niedergang

Doch die „Türmer“ bewohnen die Villen nicht allein. Die Villen sind von der Wohnbehörde säuberlich in Zimmer, Flure, Balkone und Kellerräume aufgeteilt worden, und jede Villa wird von mehreren Parteien bewohnt, die jede nach einem säuberlichen Schlüssel dieses oder jene Zimmer zugeschlagen bekommen hat. Manchmal wird auch ein Zimmer durch eine künstliche Wand geteilt, um den Schlüssel zu erfüllen. Die Bäder und Gärten werden gemeinsam benutzt. Durch diese erzwungene Hausgemeinschaft werden sonst fremde Menschen zum intimen Zusammenleben gezwungen.

Renovationen finden praktisch nicht statt. Die „Türmer“ müssen selbst reparieren oder mit kaputten Heizungen und Fenstern leben lernen. Generell finden den ganzen Roman hindurch immer wieder irre Tauschgeschäfte um seltene Waren statt, um Dachpappe, Bleistifte, Autoersatzteile, Weihnachtsbäume, Dresdner Christstollen, medizinische Produkte.

Telefone sind Mangelware, wer eines hat, lässt die anderen am eigenen Apparat telefonieren. In der Klinik kommt es zu einem dramatischen Stromausfall. Später dann zu einem Stromausfall in der ganzen südlichen DDR. Überall wird mit alten Geräten gearbeitet, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammen, bis sie nicht mehr repariert werden können. In der Produktion werden Sträflinge und Soldaten eingesetzt, um dem Personalmangel zu begegnen.

Über die sogenannte „Dunkelsteuerung“ der Karbid-Schmelzöfen heißt es: „In den Hauptlastzeiten, tagsüber, war oft wenig Energie vorhanden, die Öfen wurden zurückgefahren, dienten, ähnlich wie Pumpspeicherwerke, als Puffer für das öffentliche Netz – fuhren jedoch in den energiegünstigen Nacht- und Sonntagsstunden mit der vollen Last, um die Produktionsausfälle wieder aufzuholen.“ (S. 839)

Der Alltag

Der Roman ist reich an Alltagsszenen. Es wird geheiratet und Geburtstag gefeiert. Es werden beliebte Sendungen des DDR-Fernsehens genannt („Willi Schwabes Rumpelkammer“). Weihnachtsbräuche werden beschrieben. Weihnachtsbäume gestohlen. In einer der Villen ist im Keller eine Badeanstalt eingerichtet, wo den „Türmern“ Duschen und Badewannen mit heißem Wasser zur Verfügung stehen: Hier begegnet man sich, und es kommt zu Smalltalk und spontanen Tanzeinlagen.

In den Urlaub fährt man auf Hiddensee, in ein Wohnheim, dessen Plätze selten zugeteilt werden. Im Wohnheim geht es bräsig zu wie überall in der DDR, aber man ist am Meer. Als Arzt kann man einen Platz ergattern, indem man Arztdienste am Strand leistet.

Christian wird im Laufe des Romans erwachsen. Er ist vor allem an Bildung interessiert und versteht das dumme Getue der Mädels und anderer Jungs nicht. Sehr gut die Frage: Ist das jetzt Liebe? Weil ihm die Motivation fehlt, die Spielchen mitzuspielen, wird Christian zum Außenseiter. Die Mädels nennen ihn arrogant. Das wird sich wohl nie ändern.

Richard hat eine Affäre mit einer Krankenhausmitarbeiterin. Und mit einer Studentin. All das unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus. Schon Biermann klagte einst, dass er hinterher gar nicht mehr wisse, wie er das mit der Liebe in der Diktatur eigentlich geschafft hatte. Die Stasi nutzte solche menschlichen Schwächen natürlich aus.

Schließlich muss Christian zum Militär. Dort geht es recht derb zu. Die Vorgesetzten sind zynisch. Es kommt zu sexueller Gewalt. Bei einer Übung zur Flussdurchquerung ertrinkt der Panzerfahrer von Christians Panzer, weil das Gerät schlecht ist und Wasser eindrang.

Hier lohnt sich ein kleiner Vergleich zum Wehrdienst in der Bundeswehr 1991/92: Derb ging es auch dort zu, die Sprache war für den literarisch gebildeten Rekruten gewöhnungsbedürftig. Aber Gewalt gab es keine. Erst recht keine sexuelle Gewalt. Auch eine „Taufe“ gab es nicht. Und Vorgesetzte waren halbwegs vernünftig und von ihrem Tun überzeugt, ohne Zynismus. Es ging ziemlich fair zu, muss man sagen. Allerdings hörte man, dass es früher einmal auch in der Bundeswehr Gewalt gab. Vermutlich vor 1991/92, und nicht in diesen Einheiten. Ach ja, die ABC-Schutzmaske eines Kameraden hatte einen undichten Kohlefilter, so dass er Kohlestaub einatmete und auf die Intensivstation musste: Schlechtes Gerät auch hier, so scheint es. Zudem gab es einen verrückten Anti-Nazi-Fimmel. Wir durften z.B. nicht „Gasmaske“ sagen, „wegen der Geschichte“. Einmal gab es in der wöchentlichen Truppeninformation einen lächerlich lobhudelnden Film über die USA, der an Dämlichkeit nicht zu überbieten war. Es regte sich lebhafter antiamerikanischer Protest, der die Dummheit des Films spiegelte. Sowas hätte es in der DDR-Armee mit Bezug auf die „Freunde“, die Sowjetunion, natürlich nicht gegeben. In den kleinen Dingen gab es viele Ähnlichkeiten, bis hin zu den unvermeidlichen Hängolin-Gerüchten.

Für einen Wessi oder auch einen Spätgeborenen wird es nicht immer leicht sein, alle Andeutungen und Chiffren aus den Alltag der DDR richtig zu entschlüsseln oder auch nur zu erkennen. Hier haben Literaturhistoriker ein reiches Arbeitsfeld vor sich. Bekannt ist immerhin, dass die „unvermeidliche Tschaikowski-Melodie“ die Erkennungsmelodie der „Stimme der DDR“ war. Auch der Minol-Pirol und das Sandmännchen sind bekannt.

Die Repression

Auch die Repression in der Diktatur, die die DDR war, kommt in epischer Breite zur Sprache. Wichtig ist, dass es fast nie zur Konfrontation mit der Staatsmacht kommt. Denn alle wissen, dass sie dabei nur den Kürzeren ziehen würden. Deshalb versuchen alle, die Konfrontation von vornherein zu vermeiden. Sie haben eine Schere im Kopf. Auch die Staatsmacht schlägt keinesfalls sofort zu, sondern redet scheinbar fürsorglich mit ihren Bürgern: Sie wollen doch nicht, dass wir Ernst machen müssen? Alle lügen und verbiegen sich dann, aber es ist unendlich demütigend, und in dieser Demütigung liegt der Kern der Repression. Es ist der Gesslerhut auf der Stange. Und es gibt kein Entkommen. All das geschieht durch Vorgesetzte, Offiziere oder Schuldirektoren. Die Stasi bleibt unsichtbar.

Die Eltern von Christian sorgen sich darum, dass ihr Sohn etwas Falsches sagen könnte, und unterweisen ihn, was er nicht sagen darf. Meno befragt Christian über seine Lehrer, welche davon wohl politisch gefährlich sind, und wie man sich verhalten muss, um nicht anzuecken. Eine Schülerin tut einmal etwas Verbotenes: Sofort wird eine Konferenz von Lehrern und FDJ-Jugendleitern einberufen, und auch hier das Schema: Du meintest das doch gar nicht so, oder? Die Schülerin gibt klein bei.

Auch am Arbeitsplatz immer dasselbe Spiel: Andeutungen, dass man auch anders könne, und schon spurt man. Ebenso im Verlag: Ständig arbeitet man darauf hin, mit Texten gar nicht erst anzuecken, um die Texte auf diese Weise durch den Zensor bringen zu können. Die DDR-Presse empfängt ihre Weisungen ohnehin vom Politbüro und pfeift auf Werte wie Vernunft oder Wahrhaftigkeit. Statt dessen lautet die Maxime: „Wichtigstes Kriterium der Objektivität ist die Parteilichkeit, Genosse! Objektiv sein heißt Partei ergreifen für die historische Gesetzmäßigkeit, für die Revolution, für den Sozialismus!“ (S. 965) – Aber als Judith Schevola einmal ein Buch bei einem Westverlag herausbringt, wird sie aus dem Kulturverband ausgeschlossen und zum Arbeiten geschickt, wo sie als Säuferin versackt. Erstaunlich dabei, dass es auf der Sitzung des Kulturverbandes zu einer ziemlich offenen Aussprache kam und einige sich für ihren Verbleib aussprachen. Judith Schevola verzeiht ihren Richtern: Sie wisse, dass sie so abstimmen mussten, um ihre eigene Haut zu retten. Das Opfer hat Verständnis für die Täter.

Ausreisen werden willkürlich gewährt oder verweigert. Wer ausreisen darf, muss das Land blitzartig innerhalb von 24 Stunden verlassen. Verrückt. Als ein Kollege von Richard mit Fluchtplänen auffliegt, wird auch der liebevoll von Richard gepflegte Oldtimer, ein Hispano-Suiza, der in derselben Werkstatt stand, von der Staatsmacht zertrümmert. Daran ein Zettel: Mit sozialistischen Grüßen. Selbstmorde geschehen recht häufig und sind auf das willkürliche Handeln der Staatsmacht zurückzuführen. Ein Arzt nimmt sich das Leben, als man ihm mit Renteneintritt seine gute Wohnung wegnehmen will.

Christian erhebt eine Axt gegen seinen Vorgesetzten beim Militär, nachdem sein Panzerfahrer ertrunken war. Doch im Zentrum der Anklage steht, was er dabei sagte: So etwas könne es nur in diesem Scheißstaat geben! Die Verunglimpfung des Staates wurde nach Paragraph 220 schwer bestraft. Es ist gewissermaßen der Gesslerhut-Paragraph der DDR gewesen.

Einmal stehlen russische Soldaten ein Baby aus dem Kinderwagen. Eine Strafverfolgung scheitert, denn die Russen sind in der DDR tabu. Der Höhepunkt der Repression ist jedoch dies: Das ganze Buch hindurch sorgt sich Richard, dass seine Frau von seinen Affären erfährt bzw. er überlegt, wie er es ihr beichten kann. Doch am Ende hat die Ehefrau es selbst herausbekommen und nimmt es ganz gelassen ….. und prostituiert sich bei einem DDR-Anwalt, damit ihr Sohn seinen Studienplatz wieder bekommt. Es erinnert an Voltaires „L’ingénu“: Erst macht man die Leute zu Affen, dann lässt man sie tanzen.

Die Kommunisten

Die überzeugten Kommunisten und Funktionäre werden bei Uwe Tellkamp differenziert dargestellt. Vor allem wird ihre Motivation für ihre Überzeugung vom Sozialismus herausgearbeitet: Da ist der hochgebildete Jochen Londoner, dessen ganze Familie von den Nazis ermordet wurde, während er im Exil in London überlebte. Oder der „Alte vom Berge“, der sich ständig traumatisch an seine Erlebnisse an der Ostfront erinnert. Der Oberfunktionär Barsano zeigt sich am Ende überraschend offen gegenüber den Reformen von Gorbatschow.

Die Funktionäre und Privilegierten wohnen übrigens in einem eigenen Stadtviertel direkt neben dem „Turm“, das man nur über eine Brücke und Wachtposten erreichen kann. Die Chiffre des Romans für dieses Viertel lautet „Ostrom“. Man denkt als Leser sofort an Byzanz und byzantinische Verhältnisse.

Als die Wende naht, entlarven sich die Kommunisten als ratlos resignierende Zyniker: Der sonst hochgebildete Jochen Londoner meint allen Ernstes, die Flüchtlinge über Prag und Ungarn wären wie eine Abszessentlastung. Eschloraque und Barsano meinen, ihr Irrtum hätte darin bestanden, zu glauben, dass die Menschen von Natur aus gut seien. Damit ist implizit gemeint, dass sich in dem Freiheitswillen der Menschen ihre Schlechtigkeit zeige, denn „gut“ ist nur der, der willig am Sozialismus mit aufbaut, auch wenn es schwierig wird. Eschloraque meint zudem, dass die Zeit des Teufels sei, weil sie Veränderung bringe. Der völlige Stillstand der Gesellschaft ist also sein sozialistisches Ideal, also die Erstarrung. Von Erich Mielke wird der berühmte Satz zitiert, den er am Abend der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR über den Umgang mit Demonstranten gesagt haben soll, nachdem Gorbatschow die Feierlichkeiten verlassen hatte: „Jetzt ist Schluss mit dem Humanismus!“ Damit wird einmal mehr klar, dass es den Funktionären nicht wirklich um Humanismus ging.

Schließlich meint einer, dass die Deutschen ein Volk von Faschisten sind. Das deutsche Volk also als intrinsisch schlecht, ein böser Lümmel, der ständig erzogen werden muss und niemals in die Freiheit entlassen werden darf. Hier schließt sich der Kreis zum Ungeist der westdeutschen Shitbürger, die nach der Analyse von Ulf Poschardt alle Deutschen als Nazis ansahen, obwohl – oder gerade weil – sie doch selbst beim Nationalsozialismus munter mitgemacht hatten.

Die Wende

Naturgemäß kann ein Roman, der sich hauptsächlich auf die Zeit vor der Wende bezieht, die Wende nur knapp bearbeiten. Man liest, wie die Vorgänge in Moskau von den „Türmern“ zur Kenntnis genommen werden, aber noch ohne Anteilnahme oder Begreifen, dass dies Konsequenzen haben wird. Die „Türmer“ verschließen sich sogar noch mehr als zuvor.

Doch dann schlagen die Uhren, und die „Türmer“ treten aus ihren Rollen heraus: Sie sagen offen ihre Meinung, weichen nicht mehr in vorauseilendem Gehorsam vor der Staatsmacht zurück. Man organisiert sich, verteilt Druckschriften, der Pfarrer macht einen Aushang, den er auch auf Druck hin nicht mehr abhängen will, und die Dinge nehmen ihren Lauf. – Von einigen heißt es jedoch, dass sie bei all dem hinter ihren Gardinen blieben.

Fazit

Der Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp ist ein wichtiges Werk der neueren deutschen Literatur, das ein bleibendes Denkmal für die Zeit der späten DDR und für das Milieu der Bildungsbürger in der DDR und deren Bildungsverständnis geschaffen hat. Die Schilderung der Verhältnisse ist eine bleibende Warnung: Die Diktatur zeigt sich nicht erst in Verhaftungen, sondern viel früher, mit der Schere im Kopf. Zugleich wurde ein bleibendes Beispiel dafür gesetzt, was echte Bildung ist und wie sie den Geist des Widerstandes erweckt. Denn echte Bildung ist universal und zeitlos und lässt sich keine Schranken auferlegen. Sie ist auch nicht zynisch und verbohrt, sondern wird von der Liebe zu den Menschen getragen. Nur so ist echter Humanismus denkbar. In diesem Sinne kann dieser Roman als ein wahrer Klassiker Hoffnung auf eine neue Zeit machen, die sich diese Lehren zu Herzen nimmt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Ledio Albani: Haltungen (2021)

Wokismus von Rechtsaußen in 430 Aphorismen

Das Buch „Haltungen“ folgt dem üblichen Schema von aphoristischen Werken: In verschiedenen Kapiteln werden Aphorismen zu verschiedenen Themen präsentiert, darunter Tod, Niederlage, Scheitern, Skepsis, Literatur, Tradition, Krieg, Blut, Kunst, Ritual, Götter, Glaube, Wissenschaft, Musik, Gleichheit, Revolution, Untergang. Das Buch ist stilistisch anspruchsvoll gestaltet: Auf einem schwarzen Einband prangt eine einzelne griechische Säule in Weiß. Das Buch liegt gut in der Hand, das Papier ist schwer, die Drucktype gediegen, der Satz edel.

Die Aphorismen sind sprachlich gut gelungen. Doch leider nur das. Inhaltlich sind sie das Zeugnis einer wenig vernünftigen philosophischen und politischen Grundhaltung. Vernunft und Wahrheit werden mit Skepsis betrachtet und abgelehnt, das Irrationale wird gefeiert. Ebenso wird die Niederlage und das Besiegtsein als der eigentliche Sieg bezeichnet – aber warum für einen Sieg kämpfen, wenn doch angeblich die Niederlage der Sieg ist? Ordnung sei Chaos, und Chaos Ordnung. Es finden sich tausend Selbstwidersprüche. Obwohl ständig gegen Ratio und Logik gewettert wird, werden die Gesetze der Mathematik für unerschütterlich gehalten. Manche Aphorismen zu Suizid oder dem Blut als Quelle von kulturellen Leistungen gehen an die Schmerzgrenze des Erträglichen.

Vielleicht 5% der Aphorismen sind zustimmungsfähig, weitere 10% regen noch ein wertvolles Nachdenken an. Doch der große Rest der Aphorismen ist einfach nur sachlich falsch und moralisch schlecht. Die Falschheit des Geistes, die den Leser aus dieser Aphorismensammlung anweht, zeigt sich u.a. auch in der Meinung über die Antike:

Nr. 352: „Dass die Antiken uns noch etwas zu sagen hätten, behaupten nur die Ahnungslosen und die Untalentierten. Jene, um fremdes Unwissen zu verschleiern, diese, um eigenes Unvermögen aufzudecken.“

Wie kann ein halbwegs gebildeter und vernünftiger Mensch so einen Unsinn verzapfen?! Das ist ein Anschlag auf unsere Kultur, nichts anderes. Das ist nicht Humanismus und nicht Aufklärung, sondern die Verherrlichung der Barbarei. Man fragt sich, was die griechische Säule auf dem Umschlag soll, wenn uns die Antike angeblich nicht zu sagen hätte?! Der Autor führt den Leser konsequent an der Nase herum:

Nr. 127: „Sich in Widersprüchlichkeiten ergehen und nicht mehr zu dem halten, was man noch gestern für wesentlich erachtete, täglich seine Ansichten ändern, seine Vorliebe, seinen Geschmack, seinen Glauben … keinen Charakter haben, das ist es!“

Nr. 429: „Wenn sich meine Merksätze mit einem Mal in ihr Gegenteil verkehrten, so würde sich an ihnen und an dem vorliegenden Band nur Unwesentliches geändert haben.“

Was wir in diesem Buch vor Augen geführt bekommen, ist nichts anderes als Wokismus von Rechtsaußen. Aus derselben Quelle, aus der die linken Woken ihren antihumanistischen Postmodernismus geschöpft haben, aus Nietzsche und Heidegger, schöpft auch der Ungeist dieses Buches. Es ist dieselbe Ablehnung von Vernunft, Realismus und Kultur wie bei den linken Woken. Ein Hang zur Nekrophilie ist nicht übersehbar. Würde man dieses Büchlein, versehen mit einem Regenbogen-Einband, Claudia Roth in die Hand drücken, sie fände vieles darin entzückend.

Zuletzt stimmt auch die Form nicht: Es finden sich überraschend viele Kommafehler, die so manchen Aphorismus zur ungewollten Stilblüte werden lässt. Schwer wiegt auch, dass die Aphorismen leider nicht in Kapitel mit jenen Überschriften eingeteilt sind, die oben genannt wurden: Tod, Niederlage, Scheitern, Skepsis, usw. usf. – Nein, dieses Büchlein teilt die Aphorismen lediglich in fünf Kapitel mit höchst nichtssagenden Überschriften ein. Und schließlich hat dieses sich edel gebende Büchlein leider kein Lesebändchen. An sich eine Bagatelle, aber angesichts der Fallhöhe, die das Büchlein ausstrahlen will, ein echtes Versäumnis.

Fazit: Weg damit. Nur ansehen, um auch so etwas einmal gesehen zu haben. Und dann einfach nur weg damit. Möge der Autor, der diesen Text in jungen Jahren verfasst hat, mit zunehmendem Alter zu besseren Gedanken kommen.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben (1999)

Ein sehr lehrreiches Buch und allein schon deshalb ein gutes Buch!

Dieses Buch ist für den aufmerksamen Leser in vielerlei Hinsicht lehrreich: Man erfährt etwas über deutsche Geschichte, über den linksliberalen Zeitgeist der BRD, und nicht zuletzt erhält man auch zahlreiche Anregungen für die eigene Lektüre.

Was die deutsche Geschichte anbetrifft, fallen zwei Dinge auf: MRR lobt immer wieder das „preußische Gymnasium“ und dessen humanistischen Geist. Negative Assoziationen werden hingegen mit dem Wort „deutsch“ verknüpft. Das ist schon bemerkenswert. – Was den Holocaust anbetrifft, so liest man hier (wie oft auch anderswo), dass sich quasi bis zu allerletzt niemand vorstellen konnte, auch unter Juden nicht, dass Hitler die Juden nicht nur schikanieren und vertreiben, sondern einfach massenhaft töten würde. Das wird von MRR mehrfach betont.

Was den linksliberalen Zeitgeist anbelangt, so war MRR natürlich ein Teil davon. Aus den Ausführungen von MRR kann man Dinge entnehmen, die die negativen Seiten dieser Szene betreffen, also die Charakterschwächen, die Seilschaften und die Machtspiele um die Meinungshoheit. Man erkennt, dass die Generation von MRR durch den Nationalsozialismus so verschreckt war, dass sie in ihrem Trauma offenbar zu pauschal alles abwehrte, was nicht links war. Es war also keinesfalls böse Absicht, sondern ein verständliches Trauma, das sie leitete und ihre Sensibilität störte.

Natürlich war es gut, dass es MRR gab. Ganz so simpel linksliberal wie manch anderer war er nämlich auch gar nicht. Für MRR stand es außer Frage, dass es eine erhaltenswerte deutsche Kultur gibt. Schließlich hatte er sein Leben der Aufgabe gewidmet, Werbung für die deutsche Literatur zu machen, wie er selbst sagt. Das eigentliche Problem war eher, dass es keinen liberalkonservativen Gegenspieler zu MRR gab, sondern nur MRR allein auf weiter Flur. Dann hätte die Balance gestimmt, und MRR wäre erst dann richtig zu Höchstleistungen herausgefordert gewesen. Für dieses Fehlen eines Gegenspielers kann man aber nicht MRR verantwortlich machen. MRR hat seinen Part gut gespielt, und er hat viel Gutes bewirkt.

Was schließlich die zahllosen Lektüre-Anregungen in diesem Buch anbetrifft: Hier findet wirklich jeder was. Nur zu! Übrigens gibt es bei Wikipedia eine Liste aller Sendungen des literarischen Quartetts, mit allen Teilnehmern und den dort besprochenen Büchern, und alle diese Sendungen findet man bei youtube: Auf geht’s!

Fazit: Ein Top-Buch. Kaufen. Lesen. In Kultur und Intellektualität eintauchen. Aber nicht nur mit MRR, bitte *schmunzel*

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2018)

Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte (2015)

Sensibler, geistreicher Psycho-Thriller mit (Selbst-)Reflexionen über Autoren und Literatur

Die Schriftstellerin Delphine hat Kinder, eine Beziehung und Freundinnen, doch alles eher fern: Die Kinder sind aus dem Haus, der Partner ständig auf Reisen, die Freundinnen wohnen in anderen Städten. Als Delphine in eine Schaffenskrise gerät, begegnet sie L. (im Französischen gesprochen wie „elle“, also ein unkonkretes „sie“). Diese L. kennt Delphine erstaunlich gut, taucht immer im entscheidenden Moment wie zufällig aus dem Nichts auf, und drängt sich immer mehr als vermeintlich beste Freundin in ihr Leben. Schließlich installiert sich L. in Delphines Wohnung, beantwortet ihre e-mails und unterbindet jeden anderen Kontakt soweit wie möglich. Die Atmosphäre ist gedämpft, und L. sorgt dafür, dass Delphine samtweich verpackt vor ihren Mitmenschen und vor ihrem eigenen Denken abgeschirmt wird. Dann beginnt L., sich herrisch zu benehmen.

* * * Spoiler-Warnung * * *

Was hat es mit L. auf sich?

Eine erste Fährte, auf die der Leser gelockt wird, ist der Verdacht eines Identitätsklaus oder vielleicht auch Identitätstauschs. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Delphine und wegen ihrer erstaunlichen Kenntnisse über Delphine und ihr Werk fährt L. anstelle von Delphine auf eine Autorenlesung. Doch das ist es nicht. – Eine weitere Fährte ist, dass L. als Ghostwriterin für berühmte Persönlichkeiten Autobiographien schreibt, und sich bei diesen jeweils vorübergehend „einnistet“, um alle Informationen für das Werk zu bekommen. Genau das tut L. bei Delphine. Und auch Delphine beginnt, heimlich eine Biograhie von L. zu schreiben. Dazu passt, dass L. von Delphine ständig fordert, ein „wahres“ Buch über sich selbst zu schreiben. Doch auch das ist nicht die richtige Spur. – Am Ende laufen die Biographien beider ineinander, und L. versucht, Delphine zu vergiften, scheitert aber damit.

Danach ist L. aus dem Leben Delphines verschwunden, aber L. hat unter dem Namen von Delphine ein Manuskript bei ihrem Verlag eingereicht, das hervorragend ist: Eine Biographie von Delphine und ihrem Leben mit L. Es ist im Grunde das Buch, das der Leser in Händen hält. Es stellt sich heraus, dass L. eine depressive Fiktion von Delphine war, die das im nachhinein alles gar nicht glauben kann. Deshalb stellt sie Nachforschungen an, die ergeben, dass nicht die geringste Spur von L. zu finden ist. Wir erfahren im Verlauf des Buches schrittweise, dass Delphine eine unmöglich gemachte Jugend hatte (die meisten berichteten Traumata entpuppen sich jedoch als Fiktion in der Fiktion, inspiriert durch Delphines Lieblingsbücher).

Die Stärken des Buches sind:

  • Die Sensibilität und Präzision, mit der die Verletzungen von Delphine und L. entfaltet werden. Der „samtweiche“ Schreibstil.
  • Die augenscheinliche Realität von L. und das ungläubige Staunen auch des Lesers, dass es L. gar nicht gibt (gespiegelt im ungläubigen Staunen von Delphines Partner François).
  • Die Genialität der Konstruktion der Beziehung von Delphine und L., die sich dem Leser erst ex post in allen Raffinessen enthüllt. Man blättert wiederholt zurück, und versteht manche Stelle erst dann richtig.
  • Die mehrfache Selbstreflexivität: Das Buch, das der Leser in der Hand hat, ist das Buch, das im Buch geschrieben wird. Die meisten Horrorgeschichten entpuppen sich als Fiktion in der Fiktion. Und die im Buch angestellten Überlegungen über Literatur werden praktisch an diesem selben Buch durchexerziert.

Weitere Themen sind:

  • Das Leben und Leiden eines Schriftstellers, sein Kontakt zu Verlagen und Lesern, ganz unabhängig von Depressionen.
  • Die Frage nach Wahrheit und Fiktion in der Literatur. Dieses Thema wird in vielen Facetten durchgespielt. Von den „Realitätseffekten“ des Roland Barthes, über den Satz von Jules Renard, dass eine Wahrheit, die über fünf Zeilen hinausgeht, bereits ein Roman ist, bis hin zu der sinnlosen Frage nach der „reinen“ Wahrheit (während die ebenso sinnlose Frage nach der „reinen“ Fiktion so gut wie nie gestellt wird). Vorgeführt wird dies an dem Verwirrspiel um Delphine und L. und deren Biographien, gespeist aus ihrer realen Biographie, aus den fiktionalen Gehalten von Delphines letztem Buch, und aus Schlüsselstellen von Delphines Lieblingsbüchern (fast alle traumatischen Erlebnisse entpuppen sich am Ende als Fiktion in der Fiktion, S. 346; die tote Mutter von Delphine soll sogar quicklebendig sein, S. 324).

Im Grunde ist „Nach einer wahren Geschichte“ von Delphine de Vigan eine Art Psycho-Thriller, aber er ist nicht auf Action, Horror und Effekt getrimmt, sondern sensibel, intelligent und geistreich.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. März 2019)