Schlagwort: Medien

Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie (1985)

Klassiker der Medienkritik über den Wert der Lesekultur des gedruckten Wortes

Medienkritik heute richtet sich vor allem auf die Frage, wer über die politische Ausrichtung in den Medien entscheidet. Neil Postman setzt eine Stufe tiefer an und wird noch grundlegender: Sind die neuen Medien vielleicht selbst ihrer Natur nach daran beteiligt, welche Inhalte sie transportieren? Und mehr noch: Welche geistige Haltung und welches Niveau von Intelligenz prägen sie beim Publikum ihrer Natur nach?

Diese Fragen diskutiert Neil Postman anhand des Übergangs von der Schriftkultur des gedruckten Wortes des 19. Jahrhunderts zur Fernsehkultur des 20. Jahrhunderts.

Einen der stärksten Eindrücke beim Leser hinterlässt dieses Buch durch die Beschreibung der Schrift- bzw. Lesekultur des 19. Jahrhunderts. Damals war das gedruckte Wort in Buch, Zeitung und Flugblatt das einzige und damit vorherrschende Medium, und es wurde tatsächlich viel gelesen, auch in unteren Schichten. Das Medium des gedruckten Wortes prägte den Geist: Vorherrschend war ein dem geschriebenen Wort entsprechendes lineares, strukturiertes und langatmiges Denken. Das gedruckte Wort ist gewissermaßen das ideale Medium für Rationalität. Die damaligen Reden von Politikern waren dementsprechend erstens länger und zweitens bedeutend argumentativer als heute. Neil Postman verweist darauf, dass in den USA damals selbst die Bauern Homer lasen (was etwas überspitzt, aber nicht falsch ist). Nicht zufällig wenden sich auch die Federalist Papers, mit denen in Zeitungen für die Annahme der US-Verfassung geworben wurde, an ein Publikum, das zum Lesen und Mitdenken bereit ist.

Das Fernsehen ist hingegen das Medium der Unterhaltung. Es wird von visuellen Eindrücken beherrscht, nicht von gesprochenen Texten. Der Zuschauer merkt sich Dinge nur schlecht. Alles wird in kurzen Sequenzen präsentiert, die nicht zusammenhängen. Seiner Natur nach zwingt das Fernsehen die Inhalte dazu, zur Show zu werden. Politiker halten nur kurze und inhaltslose Statements. Lächeln und gutes Aussehen ist wichtiger als ein Argument. Tiefgang verwirrt nur. Auch ernstgemeinte Sendungen verkommen unfreiwillig zur Schau, selbst ernstgemeinte religiöse Sendungen (Bischof Fulton J. Sheen) und Bildungsangebote (Sesamstraße).

Neil Postman demonstriert die Gefahren einer vom Fernsehen beherrschten Gesellschaft anhand der zwei klassischen Dystopien der neueren englischen Literatur: George Orwell und Aldous Huxley. Orwell sah den totalitäten Staat, eine Diktatur mithilfe von Propaganda. Huxley jedoch sah ein Technikparadies, in dem das Leben leicht und oberflächlich ist und deshalb bedeutungslos wird. Neil Postman glaubt, dass wir zu lange auf die Gefahr einer Orwellschen Dystopie geachtet und darüber die Gefahr der Dystopie von Huxley übersehen haben: Wir amüsieren uns zu Tode.

Als Gegenmittel schlägt er ein geschultes, kritisches Medienbewusstsein vor, das schon in der Schule und auch im Fernsehen vermittelt werden sollte.

Neil Postmans Buch ist immer noch lesenswert, auch wenn wir heute mit dem Internet schon die nächste Medienrevolution vollziehen, weil es die Aufmerksamkeit auf eine tiefere Dimension der Medienproblematik lenkt. Insbesondere ist aber die Schilderung der vergangenen Lesekultur des 19. Jahrhunderts so eindrücklich, dass der Vergleich von damals zu heute bei jedem Leser zu einem bleibenden Maßstab und zu einer bleibenden Mahnung wird.

Ergänzungen

Ein kritisches Medienbewusstsein ist sicher hilfreich, aber Rationalität allein wird nicht helfen. Vor allem müssen die Menschen bei einer Lesekultur des gedruckten Wortes bleiben, und nicht nur neue Medien konsumieren. Dazu brauchen die Menschen noch ganz andere Antriebe. Die Lesekultur ist insbesondere im Kindesalter massiv zu fördern, über Schule und Elternhaus. Eltern sind in dieser Sache direkt anzugehen. Darüber hinaus muss Propaganda in allen gesellschaftlichen Bereichen dafür gemacht werden, dass Lesekultur nach wie vor auf der Höhe der Zeit und intelligent ist (was sie ja tatsächlich ist), mithin also „angesagt“ und „erwünscht“, weil tatsächlich überlegen ist. Lesekultur muss ein Statussymbol sein, und es muss ein Statussymbol quer durch alle gesellschaftlichen Schichten sein. Belesenheit muss überall als Auszeichnung vor anderen verstanden werden, die keine Belesenheit aufweisen können. Auf diese Weise übernehmen die Menschen die Lesekultur so wie jede andere Mode des Zeitgeistes auch.

Internet: Die Eigenschaften des Mediums Internet hat Neil Postman nicht mehr vorhersagen können, aber für das Internet gilt zunächst grundsätzlich dasselbe wie für das Fernsehen. Das Internet hat jedoch eine Eigenschaft, die das Fernsehen nicht hatte: Der Rezipient emanzipiert sich von den Inhalteerstellern. Wer zu wählen weiß, gewinnt, wer nicht, verliert gegenüber dem herkömmlichen Fernsehen. Auch für diese Problematik ist die Schaffung eines kritischen Medienbewusstseins erforderlich, und auch für diese Problematik ist eine gediegene Lesekultur die beste Lösung.

Eine gediegene Lesekultur wird dabei immer beides sein: Pure Lust am Lesen und die Vermittlung klassischer Bildung. Neben Romanen und Krimis also auch die Klassiker der Weltliteratur sowie Sachbücher über Philosophie, Geschichte, Politik u.v.a. Themen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon im November 2021; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden)

Heather De Lisle: Amiland – Streitschrift für die Weltmacht USA (2010)

Ein engagiertes Plädoyer für die konservative Seite der USA

Ein überfälliges und engagiert vorgetragenes Plädoyer für die konservative Seite der USA. Es ist schon ein Armutszeugnis für die deutsche Medienlandschaft, wie George W. Bush, die Republikaner und die USA insgesamt hierzulande nach Strich und Faden verleumdet wurden und werden. Und es ist ein intellektuelles Armutszeugnis, wie deutsche Politiker und Intellektuelle auf dieser Welle skrupellos mitschwimmen. Die Liebe zur Wahrheit regiert hierzulande nicht. Und jeder Deutsche, der da nicht mitmacht, sondern selber denkt, kämpft einen einsamen Kampf und hat bitter zu leiden.

Heather De Lisle klärt so manches festgefahrene Missverständnis auf, das sich in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit festgesetzt hat. Sie lässt auch kaum ein gutes Haar an Bill Clinton, der in seiner Amtszeit so manches Problem einfach liegen ließ. Obama ist bei ihr praktisch schon wieder abgewählt.

Köstlich, wie Heather De Lisle das Thema Folter abhandelt. Sie stellt hier Fragen, die in der deutschen Öffentlichkeit systematisch unter Tabu gestellt werden. Wir Deutschen sind vielleicht gar nicht so anders als die Amerikaner, wenn man uns nur ordentlich informieren und wirklich vor die Wahl stellen würde. Statt dessen bekommen wir Deutschen immer nur genau eine Meinung „alternativlos“ vorgesetzt. Der Unterschied zwischen den Parteien ist immer nur, dass die einen es schneller (SPD, Grüne), die anderen es langsamer (CDU, FDP) haben wollen. Aber links sind sie alle. Noch.

Über manche Argumentation muss man schmunzeln … da hat wohl weniger eine Rolle gespielt, dass Heather De Lisle eine Amerikanerin ist, sondern dass sie … nun, tja … also … eine Frau ist!

Bei der Erklärung des amerikanischen Wahlsystems hätte man auch auf die verrückten Missstände des deutschen Wahlsystems eingehen können, wo man ja manchmal den politischen Gegner (!) wählen muss, um die eigene Partei zu unterstützen. Und wie war das noch gleich mit jenen ominösen Wahlzetteln in Hamburg, als Ronald Schill (quasi ein deutscher Republikaner) final abgesägt wurde, bei denen die CDU schon „vorangekreuzt“ war? Lacht da noch jemand über das Wahldebakel von Florida?

Zum Irakkrieg hätte man noch sagen können, dass die Waffeninspekteure bis zuletzt behindert wurden und George W. Bush also keinesfalls so schlecht beraten war, wie Heather De Lisle meint. Auch hätte Saddam Hussein den Bau von Massenvernichtungswaffen angestrebt, hätte er gewusst, dass ihm nichts mehr droht. Deutschland hatte sich auf Seiten von Frankreich und Russland gestellt, die die Konzessionen für die Ölquellen im Irak hielten und die meisten Waffenverkäufe an den Irak getätigt hatten. Außerdem gab es im Irak keinen Guerillakrieg gegen die Amerikaner, sondern einen Bürgerkrieg der Volksgruppen untereinander, der nur deshalb auch gegen die Amerikaner ging, weil jede Volksgruppe meinte, die Amerikaner stünde auf Seiten der jeweils anderen Volksgruppe. Der Sieg kam, als es den Amerikanern unter Petraeus (und George W. Bush) gelang, den Volksgruppen klar zu machen, dass sie keine Seite bevorzugen, sondern Garant für einen fairen Ausgleich sind. Es ist übrigens auch nicht richtig, dass der Irak keine demokratische Vorbildung hatte. Der Irak war bereits einmal eine Demokratie, und nicht wenige der heutigen irakischen Politiker sind die Nachfahren der damaligen demokratischen Politiker. Inzwischen sind die Ölquellen im Irak versteigert worden – an den Meistbietenden. Zum ersten Mal könnten die Gewinne aus dem Öl dem irakischen Volk zugute kommen. Soviel noch zum Irakkrieg.

Man sieht: Als denkender Deutscher hat man eine Menge unterdrückter Gedanken auf dem Herzen, und dieses Buch gibt eine gute Gelegenheit, all das, was sich über viele Jahre in Verschwiegenheit aufgestaut hat, einmal auszusprechen. Danke Heather De Lisle! Danke für diese Labsal der Seele. Und zum Teufel mit unserer Journaille, die jeden Andersdenkenden in die gesellschaftliche Isolation treibt! Der Zorn der Gerechten möge über Euch kommen, Ihr %#?$*§!

PS 15.06.2024

Zum Abfassungszeitpunkt dieser Rezension war der Irak erfolgreich befriedet. Zwei Jahre später zog Obama die Truppen ab und entfesselte ein Inferno. Die Lizenzen für die Ölquellen gingen übrigens an Chinesen und Norweger, nicht an US Firmen. Inzwischen weiß man auch, dass die Regierung von George W. Bush zum Thema Massenvernichtungswaffen im Irak tatsächlich schlecht beraten wurde.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Februar 2012)

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland (2014)

Zeitgeist gut aufgespießt – aber kein Tiefgang und keine Lösungen

Thilo Sarrazin beschreibt in seinem dritten Buch „Tugendterror“, welche Irrtümer unseren Zeitgeist beherrschen, und dass ihr Kern ein Gleichheitswahn ist. Zudem beschreibt er die sozialen und psychologischen Mechanismen, wie es dazu kommen kann, dass sich eine Meinung in einer an sich freien Gesellschaft so etabliert, dass Widerspruch nicht mehr geduldet wird.

Hauptkritikpunkt 1: Thilo Sarrazin bleibt zu sehr an der Oberfläche

Thilo Sarrazin beschreibt zwar die Mechanismen, wie sich Irrtümer und Ideologien in einer an sich freien Gesellschaft zu herrschenden Meinungen entwickeln können, aber Thilo Sarrazin sagt fast nichts dazu, dass diese Meinungsausbreitung auch von diversen Akteuren gewollt und gesteuert sein könnte. Natürlich nicht im Sinne einer Verschwörungstheorie, dass es „eine geheime Zentrale“ gäbe, sondern im Sinne eines kritischen Realismus, dass es eben eine ganze Reihe von gar nicht so geheimen „Zentralen“ gibt, die an einer bestimmen Meinungsbildung interessiert sind.

Das fängt mit den Medien und deren Struktur an. Zur Organisation der öffentlich-rechtlichen Medien und den Besitzverhältnissen bei privaten Medien (Springer, Bertelsmann, DuMont, SPD, Linke, Kirchen, früher auch Leo Kirch) sagt Thilo Sarrazin nichts. Ebenso sagt er wenig zur Durchdringung der Gesellschaft mit Parteifunktionären auch in unpolitischen Bereichen. Die Sozialindustrie von Gewerkschaften bis Kirchen wäre auch zu nennen, ebenso die Industrie. Wir wissen z.B. auch durch offengelegte Dokumente der DDR-Stasi, dass die Geheimdienste dieser Welt durchaus auf die öffentliche Meinung in offenen Gesellschaften Einfluss nehmen.

Schließlich spielen geschichtliche Entwicklungen wie z.B. der verlorene zweite Weltkrieg, die Neuordnung durch die Besatzungsmächte, der Kalte Krieg, und noch tiefer reichende Entwicklungen eine Rolle, z.B. waren schon die Nationalsozialisten recht „grün“, hier gibt es also Kontinuitäten.

Hauptkritikpunkt 2: Thilo Sarrazin nennt keine Lösungsvorschläge

Man vermisst Lösungsvorschläge, wie die Medien (öffentlich-rechtlich und privat) gesetzlich organisiert sein sollten, damit die Manipulateure dieser Welt es schwerer haben. – Und man vermisst ein Kapitel mit Ratschlägen, wie man sich angesichts der allgemeinen Manipulation als normaler Bürger eine tragfähige Meinung bilden kann. Dazu gehört sicher eine gute Allgemeinbildung, die Erarbeitung von Themen anhand von Büchern statt nur aus Zeitungen und Fernsehen, und das regelmäßige Querlesen von politisch gegensätzlich orientierte Medien bzw. Autoren. Aber dazu sagt Sarrazin nichts. Bei Lösungsvorschlägen war Sarrazin schon immer etwas schwächer als bei der Analyse, aber in diesem Buch fehlen Lösungsvorschläge praktisch ganz.

Sonstiges

Thilo Sarrazin hat in diesem Buch etwas mehr Ironie gezeigt als in den vorangegangenen Büchern, wo er sich nur wenige trockene Kommentare erlaubte. Das ist teilweise sehr vergnüglich! Dafür erfährt man in diesem Buch im Gegensatz zu seinen früheren Büchern leider wenig neues, wenn man sich mit dem Thema schon länger auseinandersetzt.

Im Abschnitt zum Islam fiel auf, dass Sarrazin Reformbemühungen von Muslimen mit keinem Wort erwähnt. In seinem ersten Buch hatte er das noch getan, was sehr fair war (S. 268). Natürlich hat Sarrazin Recht, dass der islamische Mainstream auf dem falschen Weg ist, aber um Pauschalurteile zu vermeiden und das Spektrum von Lösungsansätzen möglichst breit aufzufächern, hätten Reformbemühungen eine erneute Erwähnung verdient gehabt.

Fazit

Gute, brauchbare, nützliche Lektüre, aber zu oberflächlich, und praktisch keine Lösungsvorschläge. Im Vergleich zur Qualität der beiden vorangegangenen Bücher ein spürbarer Abfall.

PS 12.05.2024

In diesem Buch klärt Thilo Sarrazin auch eine üble Nachrede auf, die heute weit verbreitet ist. Es kursiert ein Video, in dem es so aussieht, als ob Sarrazin einen abstoßenden und eindeutig rassistischen Vergleich zwischen der Pferdezucht und der Vermischung von Deutschen mit Migranten zieht (Kreuzung von edlen Lipizzanern mit belgischen Ackergäulen). Doch das Video ist ein unzulässiger Zusammenschnitt zweier getrennter Passagen, die zusammen eine Aussage ergeben, die Sarrazin nie getätigt hat.

Diese angebliche Aussage passt auch gar nicht zu den tatsächlichen Aussagen in Sarrazins erstem Buch Deutschland schafft sich ab: Dort schreibt Sarrazin z.B., dass Mischehen von Deutschen und Zuwanderern Zeichen einer gelungenen Integration sind. Und Sarrazin schreibt dort auch klipp und klar, dass die Probleme mit Muslimen nicht auf genetische Ursachen zurückgeführt werden können, sondern auf kulturelle Gründe. Dieses Video (es soll aus einer WDR-Sendung stammen) kommentiert Thilo Sarrazin nun wie folgt:

„Aber die Autoren filmten eine zweistündige öffentliche Lesung in Döbeln in Sachsen ab, offenbar in der Hoffnung, ‚kompromittierendes‘ Material zu bekommen. Sie fanden nichts und entschieden sich zu einer Fälschung: Zwei Redeabschnitte, die 45 Minuten auseinander lagen, wurden zusammengeschnitten: Im ersten sprach ich über die Erblichkeit von Eigenschaften und benutzte ein Beispiel aus der Pferdezucht. Im zweiten Abschnitt referierte ich Daten über die Bildungsleistung muslimischer Migranten. Der Zusammenschnitt ergab den zwingenden Eindruck: Sarrazin führt die geringe Bildungsleistung muslimischer Migranten auf genetische Einflüsse zurück.“

Bewertung: 4 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. April 2014)

Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen (1837-43)

Großartiger Bilderbogen der Gesellschaft und Desillusionierungen von bleibendem Wert

Dieses großartige Zeit- und Sittengemälde von Anfang des 19. Jahrhunderts handelt von einem jungen Dichter, der aus der Provinz nach Paris geht, dort aufsteigt und scheitert, und zurück in die Provinz kommt. Dabei muss er mehr und mehr erkennen, nach welchen Mechanismen und Motivationen die Gesellschaft funktioniert. Der Roman ist stark autobiographisch geprägt.

Am Rand dieser Erzählung wird eine Fülle von Themen angeschlagen: Die Spießigkeit der Gesellschaft in der Provinz und in Paris, die Scheidung der Gesellschaft in Adlige und Bürgerliche, in Royalisten und Liberale. Die kalte Ökonomie des Verlagswesen, an der der idealistische Schriftsteller scheitert. Die Willkür und Machtausübung der Journalisten und Zeitungsmacher, und ihr wachsender Einfluss – diese Diskussion erinnert an moderne Diskussionen über die wachsende Macht des Internet. Der damalige Theaterbetrieb, die gekauften Claqueure, und die Situation von Schauspielerinnen, ihren Gönnern und ihren Liebhabern. Das Pariser Leben in vielen Situationen: Die Wohnsituation, das Flanieren im Bois de Bologne, Studentenkneipen und gehobene Restaurants, beim Schneider, Verkaufshallen, Spielhallen, Prostitution, Pfandleiher. Themen sind auch der Zusammenhalt einer Familie und ihrer Dienerschaft, oder die marktfeindlichen Geschäftspraktiken von Konkurrenten. Ein Kreis junger Idealisten wird portraitiert. Schließlich erfährt man auch eine Menge über Papierherstellung, das damalige Druckerhandwerk, das Wechselwesen, das Kreditwesen und das Patentrecht.

Alles in allem ein sehr lesenswerter und belohnender Teil aus dem großen Projekt der „Comédie humaine“ Balzacs, den man lesen kann, ohne die anderen Teile zu kennen, und der einen unterhält und über Zeiten und Menschen und Medien viel zu sagen hat.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 27. April 2015)

Martin Walser: Ehen in Philippsburg (1957)

Die Verlogenheit der „besseren“ Gesellschaft und wie man ihr verfällt

Philippsburg ist eine Chiffre für Stuttgart, und der Roman spiegelt die Erlebnisse von Martin Walser als junger Rundfunkschaffender in Stuttgart. Später sprach Martin Walser von der demütigenden Erfahrung, wie ihm deutlich wurde, dass er niemals in der Stuttgarter „besseren“ Gesellschaft akzeptiert werden würde. (Er wollte dann vermutlich auch gar nicht mehr akzeptiert werden.)

Der Roman handelt von Hans Beumann, der frisch nach der Vollendung seines Studiums nach Philippsburg kommt und dort als Kommunikationschef für den Industriellen Volkmann zu arbeiten beginnt, der Rundfunk- und Fernsehgeräte produziert. Dazu muss er gegen seine Überzeugung auf eine möglichst populäre – sprich: niveaulose – Programmgestaltung der Rundfunksender hinarbeiten, damit möglichst viele Menschen solche Geräte kaufen. Auch muss er die Firma Volkmann bei denen sympathisch machen, die aufsteigen, und darf nicht zu denen loyal sein, die verlieren. Beumann ist sich bewusst, dass er damit seine Ideale verrät, stimmt aber nach kurzen Bedenken zu.

Auf einer Party (am Anfang des Buches), auf der alle Größen der Philippsburger Gesellschaft anwesend sind, wird mit oberflächlichem Lob und geheuchelten Komplimenten nicht gespart. Hans Beumann lässt sich zum Sex mit Anne, der Tochter seines neuen Chefs, verführen. Daraufhin entwickelt sich ein Abtreibungsdrama mit allem drum und dran, wie man es sich für die damalige Zeit eben so vorstellt, und Beumann macht dabei eine sehr dumme Figur. Das alles wird konterkariert durch Rückblenden zu Beumanns Mutter, die ihren Sohn als uneheliches Kind auf die Welt brachte. Als alles vorbei ist, verlobt sich Beumann mit Anne (Verlobungsparty gegen Ende des Buches).

An der Figur des Dr. Benrath wird das Drama des Liebhabers durchgespielt, der ständig heimlich tun muss, der sich nicht von seiner Geliebten lösen kann, der die Geliebte aber auch nie wird heiraten können. Es folgt der Selbstmord der betrogenen Ehefrau und die gefühlskalte Reaktion des Dr. Benrath, der damit auch den Draht zu seiner Geliebten verliert und die Stadt verlassen muss.

An der Figur des Rechtsanwaltes Dr. Alwin und seiner Ehefrau Ilse wird ein Ehepaar gezeigt, das völlig auf Ehrgeiz und die Beförderung der Karriere des Ehemannes getrimmt ist. Die Beziehung zur Ehefrau ist geschäftsmäßig kühl, nebenbei hat Dr. Alwin eine Geliebte. Dr. Alwin ist ein narzisstischer Egomane, der glaubt, sich alles erlauben zu können, und fühlt sich dabei noch großmütig. Er hält sich für einen fürsorglichen Ehemann, weil er nicht vor anderen prahlt, eine Geliebte zu haben. Als er fahrlässig einen Motorradfahrer totfährt, wälzt er die Schuld auf andere ab und sucht Trost bei seiner Geliebten. Manchmal fragt sich Dr. Alwin, wozu er das alles tut: Für ihn besteht der wahre Sinn des Lebens in Faulenzen und Ficken.

Am Ende des Romans wird Hans Beumann in den Nachtclub Sebastian eingeführt und feierlich aufgenommen, zu dem nur die „bessere“ Gesellschaft Zutritt hat: Hier trifft man alle Männer, die man zuvor im Roman kennengelernt hat, in ausgelassener Runde wieder. Zu jedem Gast gesellt sich sofort ein Mädchen. – Hans Beumann stellt sich einem ungebetenen Gast aus der niederen Gesellschaft entgegen, in dessen Charakter er den Charakter der Spielkameraden seiner Kindheit wiedererkennt. Er schlägt ihn nieder und wird als Held bejubelt. Im Nachtclub Sebastian trifft Hans Beumann auch Marga wieder, seine wahre Liebe. Anfängliche Bedenken, die Dienste von Marga in Anspruch zu nehmen, wischt der frisch mit Anne verlobte Hans Beumann bald beiseite, und so lässt er sich von Marga – als Kunde – ins Bett ziehen. Dass er sie liebt, bringt er nicht mehr über die Lippen, doch ist Hans Beumann wild entschlossen, noch oft bei Marga vorbeizuschauen, parallel zu seiner Ehe mit Anne. Am Ende des Romans ist Beumann überrascht davon, wie leicht ihm die Lügen vor Anne von den Lippen gehen.

Während des Romans wirft Beumann nach und nach seine moralischen Bedenken ab und verrät auch wiederholt seine Herkunft aus einem Provinznest. Der Kontrast zu Beumann ist Herr Klaff, der nicht einmal als Pförtner akzeptiert wird, Suizid begeht, und Beumann seine Aufzeichnungen hinterlässt („Spielzeit auf Probe“). Diese irritieren Beumann ein wenig, können ihn aber nicht auf seinem Weg stoppen, ein Arschloch unter Arschlöchern zu werden.

Die „bessere“ Gesellschaft beschwört immer wieder Familie und Christlichkeit, lebt selbst aber völlig anders: Ein klarer Fall von „rechts reden, links leben“. Der mächtige Chef der Philippsburger Zeitung Büsgen ist sogar schwul und bringt zu Parties wie selbstverständlich „einen seiner Jünglinge“ mit (der Roman erschien 1957). Die Eliten haben auch eine positive Einstellung zum Militär und pflegen Kriegsrhetorik. – Man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Rückkehr zum Christentum nach dem verlorenen Krieg in der „besseren“ Gesellschaft nur geheuchelt und der vorherrschende Konservatismus dumpf und dunkel war. Wie Walser später deutlich machte, geht es aber nicht gegen diese oder gegen jene politische Richtung, sondern vielmehr ist die „bessere“ Gesellschaft immer verlogen, egal ob sie konservativ ist oder nicht. Man kann auch dumpf und dunkel links sein, und „links reden, rechts leben“ ist heute der Hit. Walser: Es kommt für diese Leute nicht darauf an, ob sie links oder rechts sind, sondern darauf, dass sie in der ersten Klasse fahren! (aus dem Gedächtnis zitiert)

In etlichen Passagen findet sich bereits jener Topos, der später beherrschend für Walsers Bücher werden wird: Der tatenlose innere geistige Kampf des Ohnmächtigen angesichts eines Mächtigeren.

Es sind etwas zuviele Metaphern im Text.

Eingestreut in den Roman finden sich viele kleine Miniaturen:

  • Die aufdringlich modern sein wollende Mutter Annes.
  • Die grundsätzliche Unmöglichkeit der Annäherung an andere Menschen.
  • Die Hure Johanna in der Straße der armen Leute.
  • Kleinheitserfahrungen des Neulings angesichts der angeblich „besseren“ Gesellschaft.
  • Die Erfahrung der ersten selbstgekauften guten Klamotten.
  • Eine Karikatur auf damalige Rundfunkstudios.
  • Die Erfahrung, dass Komplimente einen auch dann beeinflussen, wenn man weiß, dass sie geheuchelt sind.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 10. Januar 2022, mit zensierten Kraftworten)