Schlagwort: Pageturner

Noah Gordon: Der Medicus (1986)

Genre-prägender Mittelalterschinken, aber ganz gut

Wie so viele Mittelalterschinken greift der Roman „Der Medicus“ in die Vollen und beschreibt das Mittelalter so, wie man es sich eben vorstellt, und weniger, wie es wirklich war. Es geht deftig zu, Religion und Unwissenheit spielen eine Rolle, und den Protagonisten bleibt kein Schicksal erspart, doch am Ende enden sie halbwegs glücklich und um viele Erfahrungen reicher.

Dennoch gehört „Der Medicus“ zu den besseren Werken dieser Gattung. Vielleicht wurde hier manches noch besser gemacht als bei späteren Werken, weil das Genre mit diesem Roman erst richtig geprägt wurde.

Das unangenehm Deftige ebbt nach einem furiosen Anfang ab, und macht einigen interessanten Beschreibungen von Judentum und persischem Heilwesen Platz. Das Thema Islam wird noch völlig unaufgeregt gehandhabt. Der ganze Roman erscheint ehrlicher, frischer, und weniger konstruiert, als jene Romane, die in seiner Nachfolge erschienen. Nicht zufällig liest sich dieses dicke Buch flott von der Leber weg.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. November 2013)

Dennis E. Taylor: Ich bin viele (2016)

Konsequente Auserzählung einer alten Idee

Der Roman „Ich bin viele“ („We are Legion“) von Dennis E. Taylor ist die erzählerische Ausführung einer alten Idee, nämlich der Besiedelung des Weltraums nicht durch Menschen, sondern durch selbstreplizierende Maschinen mit künstlicher Intelligenz. Um genau zu sein, wird die Künstliche Intelligenz in diesem Fall auf den Gehirnscan eines echten Menschen zurückgeführt, und diesen Menschen begleiten wir von seinen letzten Lebenstagen über seinen Tod, sein Erwachen als „Replikanten“ und dem Start seiner Sonde von der Erde bis zur Besiedelung des Weltraumes.

Der Roman entfaltet das Thema in Gänze:

  • Erforschung fremder Planetensysteme.
  • Abbau von Rohstoffen und Bau weiterer Sonden mit derselben Künstlichen Intelligenz, die zu weiteren Sternensystemen aufbrechen, um dort wieder Rohstoffe abzubauen und weitere Sonden zu bauen usw.
  • Kampf mit gegnerischen Sonden, die von anderen Staaten ins Weltall geschickt wurden.
  • Entdeckung von primitiven außerirdischen Völkern, die man in der Rolle eines Gottes zur Zivilisation führt.
  • Entdeckung von entwickelten außerirdischen Völkern, die unbekannte und bedrohliche Technologien entwickelt haben.
  • Rettung der Menschheit von der Erde nach einem Atomkrieg und deren Umsiedelung in ein anderes Planetensystem.

Der besondere Charme des Buches liegt in dem Charakter des Protagonisten, Bob, der als Künstliche Intelligenz weiterlebt. Es handelt sich um einen Weltraum-Nerd mit Unternehmergeist, der jede Situation mit Optimismus und einem besonderen Humor meistert. Da jede weitere Kopie von Bob wieder Bob ist, erzählt der Roman die Geschichte aus immer mehr Perspektiven nahtlos weiter, wie wenn jede Kopie immer dieselbe Person wäre.

Bob hat sich in seinem Computer eine virtuelle Welt erschaffen, in der er wieder wie ein Mensch mit Körper und Gefühlen leben kann. Interessant auch das Zusammenspiel der verschiedenen Bobs: Obwohl sie alle Kopien voneinander sind, entwickelt jede Kopie einen anderen Charakter durch Akzentuierung bestimmter Charakterzüge. Jeder neue Bob wählt sich zudem einen charakteristischen Namen. Auf diese Weise lernt sich Bob noch einmal besser selbst kennen.

Immer wieder geht es auch um politische Spielchen und wie lästig diese sind: Seien es die politischen Querelen der verbliebenen Menschen um die besten Plätze in den Aussiedlungssonden, oder seien es die politischen Friktionen unter den Ältesten einer primitiven Zivilisation, die darüber debattieren, ob sie den Weisungen des „großen Baab“, also von Bob, folgen sollen. Es wird dabei keinerlei Verständnis für den guten Sinn von politischen Aushandlungsprozessen geweckt, sondern im Gegenteil darauf abgezielt, die angebliche Unnötigkeit und Schlechtigkeit von Politik zu „entlarven“, angesichts der praktischen Intelligenz von Bob, der am Ende immer Recht hat.

Die zur Anwendung kommende Technologie wird nur recht oberflächlich beschrieben. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Handlung, nicht auf den Hintergründen. Manche beschriebene Technologie dürfte auch utopisch sein. Aber damit wird es nicht übertrieben, so dass es hinreichend glaubwürdig bleibt.

Der Schwerpunkt auf der praktischen Handlung lässt das Buch auch philosophisch recht schwach sein. Philosophische und moralische Probleme werden zwar kurz angerissen, aber dann beiseite geschoben. So denkt Bob z.B. kurz darüber nach, ob er darüber traurig sein sollte, dass der originale Mensch Bob tot ist und er selbst nur eine Maschine, deren Künstliche Intelligenz auf dem Gehirnscan von Bob beruht. Der „Replikant“ Bob ist also gar nicht Bob. Es würde sich auch die Frage stellen, ob Bob als Maschine wirklich genauso wie der Mensch Bob funktionieren kann, und ob die Maschine Bob überhaupt einen freien Willen und ein Bewusstsein haben kann (wie sollte das technisch realisiert sein?), und nicht nur eine Simulation davon. Aber so tief denkt dieses Buch nicht, denn Bob fühlt sich pudelwohl, ist voller Tatendrang und fängt einfach an zu handeln!

An einer Stelle heißt es: „Ich bin Humanist. Ich glaube nicht an das Jenseits.“ (S. 20) Damit folgt das Buch der begrifflichen Vereinnahmung des Humanismus durch Atheismus bzw. Materialismus. Auch das ist philosophisch schwach, um nicht zu sagen: Völlig falsch.

Fazit: Gut erzählter Pageturner, gute und konsequente Ausführung der Grundidee, aber politisch und philosophisch bedauerlich flach.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.