Schlagwort: Roman (Seite 1 von 8)

Noah Gordon: Der Medicus (1986)

Genre-prägender Mittelalterschinken, aber ganz gut

Wie so viele Mittelalterschinken greift der Roman „Der Medicus“ in die Vollen und beschreibt das Mittelalter so, wie man es sich eben vorstellt, und weniger, wie es wirklich war. Es geht deftig zu, Religion und Unwissenheit spielen eine Rolle, und den Protagonisten bleibt kein Schicksal erspart, doch am Ende enden sie halbwegs glücklich und um viele Erfahrungen reicher.

Dennoch gehört „Der Medicus“ zu den besseren Werken dieser Gattung. Vielleicht wurde hier manches noch besser gemacht als bei späteren Werken, weil das Genre mit diesem Roman erst richtig geprägt wurde.

Das unangenehm Deftige ebbt nach einem furiosen Anfang ab, und macht einigen interessanten Beschreibungen von Judentum und persischem Heilwesen Platz. Das Thema Islam wird noch völlig unaufgeregt gehandhabt. Der ganze Roman erscheint ehrlicher, frischer, und weniger konstruiert, als jene Romane, die in seiner Nachfolge erschienen. Nicht zufällig liest sich dieses dicke Buch flott von der Leber weg.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. November 2013)

Charles Brokaw: The Atlantis Code (2009)

Flacher Indiana-Jones-Verschnitt mit unglaubwürdigem Bibel-Atlantis

Der „Atlantis Code“ von Charles Brokaw ist ein sehr flacher Thriller. Im Mittelpunkt steht nicht die archäologische Schnitzeljagd, sondern die Jagd zwischen „Guten“ und „Bösen“. Die Guten gewinnen natürlich immer, und die Bösen sind richtig böse.

Die Atlantishypothese, die sich Brokaw zurechtgelegt hat, überzeugt nicht nur nicht, sie ist völlig unglaubwürdig. Im Kern hat Brokaw das Paradies der Bibel nach Atlantis verlegt, das er bei Cadiz in Spanien um 10000 v.Chr. lokalisiert. Auch der Turmbau zu Babel fand in Atlantis statt. Die Atlanter hatten von einem vor Jesus auftretenden Sohn Gottes ein machtvolles Buch bekommen, das sie missbrauchten. Am Ende wird dieses Buch tatsächlich gefunden, und der „gute“ Papst schließt es für immer weg. Soweit so schlecht.

Einziger Lichtblick ist die Tatsache, dass Brokaw auch die Atlantisthese von Leo Frobenius einfließen ließ, derzufolge das Volk der Yoruba Nachfahren von Atlantis sind. Das reißt es aber nicht raus.

Nebenbei schläft die Hauptperson – offenbar ein Indiana-Jones-Verschnitt – mal mit dieser, mal mit jener Begleiterin, und ein Zickenkrieg bricht aus. Muss man nicht haben.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. August 2015, auf Englisch)

Roger Willemsen / Michael Sowa: Ein Schuss, ein Schrei – Das Meiste von Karl May (2005)

Launige Dichtung verlebendigt und würdigt das Werk Karl Mays

Mit „Ein Schuss, ein Schrei – Das Meiste von Karl May“ hat Roger Willemsen eine herausragende literarische Leistung vollbracht: Während weniger gebildete Menschen Karl May verpönen, aktualisiert diese Dichtung das Werk Karl Mays auf eindrückliche und intelligente Weise! Sowohl sprachlich als auch inhaltlich landet Willemsen Vers um Vers einen Volltreffer nach dem anderen.

Die Reime sind launig gehalten und enden immer wieder in einer ironischen Pointe, in der Sprache und Inhalt sich zu einer lyrischen Überraschung vereinen. Es erinnert an Wilhelm Busch, Heinz Erhardt oder Loriot (zu denen sich auch Anspielungen entdecken lassen). Es ist eine Freude zu sehen, was Roger Willemsen hier mit der deutschen Sprache vollbringt. Den Leser erwartet ein einzigartiges Erleben nur durch das bloße Wort, wie es keine Comedy-Show bieten könnte.

Einige Beispiele:

Bagdad ist die Märchenstadt,
die so viel Charakter hat,
weil sich hier mit größter Dichte
komprimiert die Weltgeschichte.
Metropole eines Staats,
Hauptstadt eines Kalifats,
gab sie Türken, Kurden, Scheichs,
Stützen des Osmanenreichs,
ihren eignen Lebensraum.
Doch inzwischen: aus der Traum! …
Wir sehn auf wüster Bergeskuppe
Kara Ben Nemsis Reisegruppe,
sie nähert sich von Osten her
und trifft dabei auf Stoßverkehr
.

Nach beklemmenden Berichten
von Todeshatz und Standgerichten,
von Sklaventreibern, Sklavenjägern
wurde von Bedenkenträgern
darauf aufmerksam gemacht,
dass man Bürgerkrieg entfacht,
Menschenrechte schwer verletzt,
und sich selbst ins Unrecht setzt,
wenn man es nicht akzeptiert,
und entsprechend praktiziert:
Ob schwarz, ob gelb, ob rot, ob bleich,
vor Gott sind alle Menschen gleich
.

Und dieser Geist bringt Poesie
in Steppe selbst und in Prärie
denn die Karl-May’sche Ars Vivendi
passt auf Rothaut und Effendi
.

Aber auch inhaltlich überzeugt Roger Willemsen voll und ganz. Er deckt nicht nur die wesentlichen Werke von Karl May ab, sondern weiß zu allen Themen immer auch einen intelligenten Kommentar einzustreuen. Diese Kommentare haben oft Gegenwartsbezug, was die Aktualität Karl Mays unterstreicht.

Der ethische, humanistische Impuls, der Karl Mays Werk durchzieht, kommt keinesfalls zu kurz, und auch die Abstraktion in der symbolischen Chiffrenwelt des Spätwerkes wurde nicht vergessen. Auch die Kritik an Karl May wird thematisiert – und zurückgewiesen. Roger Willemsen singt das Lob Karl Mays, wie er es verdient hat.

Beispiele für den Gegenwartsbezug:

Es mehren sich in Windeseile
die Lügen und die Vorurteile,
und das dumpfe Meinen Vieler
war historisch oft stabiler
als die staatliche Verfassung
und der Wunsch nach Unterlassung.
Wer die Wahrheit so verpackt,
sucht die Meinung, nicht den Fakt
.

Doch will man einen Staat erneuern,
so muss man erst mal ein paar feuern:
die Chefs des Speichellecker-Chors,
und die der Ämter und Ressorts
.

Die Wirklichkeit wird nicht verneint,
nur ist sie selten, wie sie scheint:
Der Freund entpuppt sich als Verräter,
der Kamerad als Serientäter,
der gute Kerl kommt hinter Gitter,
ist aber eher Samariter.
Wo man Komplizenschaft erwartet,
ist längst schon alles abgekartet,
wo Wald sein soll, liegt eine Heide,
wo Wüste ist, wächst doch Getreide,
und statt dem Fluss liegt bloß ein Kiesbett.
Mach’s muslimisch, nenn es: Kismet!

Als ihm unerträglich schienen
seine schwedischen Gardinen,
lernte er: Das größte Glück
kehrt im Augenblick zurück,
da man sich aus seiner Zeit,
seinen Zwängen selbst befreit.
Ob Ehe, Haft, ob Tyrannei,
man geht und sagt: Ich bin so frei
.

Kurz: Jeder Freund der deutschen Literatur, jeder Karl-May-Fan kommt hier voll auf seine Kosten! Nur einige wenige Reime sind allzu geschüttelt: Es fällt nicht ins Gewicht.

Das Bändchen ist mit etlichen Bildern von Michael Sowa geschmückt, die in einem Quint-Buchholz-artigen Stil herrlich düster und geheimnisvoll sind. Manchmal einfach nur gut illustrierend, manchmal aber auch hintersinnig-comichaft karikierend.

Für Leser wie für Leserinnen
führt jede Reise stets nach innen,
Dampfrösser, Pferde und Kamele
erreisen auch die Menschheitsseele.
Von dieser kriegt man nie zu viel,
auch deshalb ist der Weg das Ziel.
Hier liegt des Werkes Quintessenz:
Erlösung krönt die Existenz
.

Der Verlag Kein & Aber hat sich allerdings einen dicken Faux-pas geleistet: Auf der Rückseite des Buches finden sich jene Verse abgedruckt, in denen die Kritik an Karl May wiedergegeben wird – ohne die direkt folgenden Verse zu zitieren, die diese Kritik wiederlegen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass dieses Büchlein sich diese Kritik zu eigen machen würde, was völlig falsch ist.

Warum hat der Verlag das getan? Glaubte der Verlag etwa, dass es mehr kaufwillige Karl-May-Kritiker als Karl-May-Fans geben würde? Das ist nicht anzunehmen. Bleibt nur der Verdacht, dass der Verlag den falschen Eindruck erweckte, um nicht in den Verdacht zu geraten, selbst zu den Karl-May-Fans zu gehören. Weil das in der „Blase“, in der sich dieser Verlag bewegt, nicht gut ankommt. Die Welt von Verlagen und Buchhandel ist durchsetzt mit linkslastigen Karl-May-Verächtern. Es ist die einzige Erklärung.

Mag er uns auch manchmal fern sein,
Winnetou muss nicht modern sein,
denn wir konzedieren neidlos:
Winnetou ist einfach zeitlos
.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Frank Schätzing: Der Schwarm (2004)

Tolle Grundidee, aber dann einseitig; Empfehlung eines Kontrastbuches

Die Grundidee von Frank Schätzings Thriller „Der Schwarm“ ist grandios: Eine unbekannte Lebensform macht sich plötzlich in den Weltmeeren bemerkbar. Eine Lebensform, wie man sie eher auf einem anderen Planeten erwartet hätte. Eine intelligente Lebensform von ungeahnter Machtentfaltung. Die dazu gehörigen naturwissenschaftlichen Hintergründe sind einigermaßen plausibel und werden recht gut aufgearbeitet.

Doch die Probleme überwiegen.

Das Problem ist nicht, dass Schätzing einige Ideen von Stanislaw Lems „Solaris“ abgekupfert zu haben scheint – das ist völlig legitim. Ebenso gefallen hat die Zeichnung mancher Charaktere, deren Verhalten sich teilweise aus ihren gebrochenen Biographien heraus erklärt. Aber bereits bei den „Bösewichtern“ scheint mir dies nicht mehr gut gelungen zu sein, diese sind allzu eindimensional.

Da sind z.B. der US-Präsident und seine Generalin, die beide auf Fundamentalismus und Gewalt fixiert zu sein scheinen. Die unbekannte Lebensform bezeichnen sie als gottlos und deshalb nicht anerkennungswürdig, ihre Lösungsideen sind Gewalt und Vernichtung. Besonders klischeehaft ist der CIA-Vertreter Vanderbilt gezeichnet: Schweiß absondernd, fettwanstig, zynisch, vulgär, gewissenlos, brutal, unsensibel. Ein Ekelpaket, das zunächst nicht an eine andere Lebensform glauben will, sondern völlig auf Terroristen aus Nahost fixiert ist.

Es ist klar, dass Schätzing hier antiamerikanische Klischees ableiert und vermutlich den US-Präsidenten George W. Bush im Sinn hat bzw. ein Zerrbild desselben, wie es unter Linken gerne verbreitet wird. Da gute Literatur aber nicht propagandistisch sondern aufklärend wirken sollte, ist die Weiterverbreitung von Zerrbildern natürlich völlig unakzeptabel.

Die Story ist leider nicht spannend in dem Sinne, dass man mitraten kann, wer der Täter ist, oder dass man mitraten kann, was die nächsten Ereignisse sein könnten. Vielmehr reiht sich eine Gefahrensituation an die andere, die den Leser durch schockierende Vorgänge in Atem halten. Zudem wiederholen sich gewisse Handlungsmuster. Spätestens wenn das dritte Mal ein ahnungsloses Tauchteam in die Tiefe steigt und dort natürlich in tödliche Gefahr gerät, wird es langweilig.

Wer gegenüber der Treibhaus-Idee skeptisch geworden ist, wird ebenfalls etwas enttäuscht sein, denn diese Idee wird hier ohne Bedenken vorausgesetzt. Auch der Ladenhüter des Golfstromversiegens wird ausgepackt. Und ein durchgeknallter Öko-Indianer wird im Verlauf des Buches zu einer Person von höherer Weisheit aufgebaut.

Das Hörbuch ist übrigens eine einzige Katastrophe. Das Problem ist nicht, dass es als Hörspiel gestaltet wurde, das ist ganz erfrischend. Das Problem ist, dass die verschiedenen Sprecher in ihrer Lautstärke massiv variieren. Insbesondere Frauenstimmen sind manchmal extrem leise im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen. Selbst zuhause am PC ohne Kopfhörer bekam man nicht alles mit, und in der S-Bahn war es ganz unerträglich. Schade!

Fazit

Das Buch ist literarisch leider nur mittelmäßig und kann eigentlich nur einer ganz bestimmten Meinungsklientel gut gefallen. Als ideales Kontrastbuch sei der Roman „State of Fear“ („Welt in Angst“) von Michael Crichton empfohlen: Dies ist ebenfalls ein Öko-Thriller, aber alle Meinungsakzente sind hier genau gegenteilig gesetzt; das vergleichende Lesen beider Werke ist sehr reizvoll und erhellend, egal welche Meinung man präferiert.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Geschrieben Januar 2011)

Nagib Machfus: Die Reise des Ibn Fattuma (1983)

Große Literatur für die Reform von Islam und islamischer Welt

Der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus spielt in seiner kurzen Parabel „Die Reise des Ibn Fattuma“ von 1983 verschiedenste Gesellschaftsmodelle, Religionen, Weltanschauungen und nicht zuletzt Lebensarten und Reformen des Islam durch.

Dies geschieht anhand einer Reise des Ibn Fattuma durch verschiedene Länder namens „Maschrik-Land“, „Haira-Land“, „Halba-Land“, „Aman-Land“, „Ghurub-Land“ und „Gabal-Land“. Diese Länder haben unterschiedliche Gesellschaftsformen, in denen Ibn Fattuma sich jeweils für eine Weile einlebt und anpasst – oder auch nicht. Es handelt sich natürlich um Phantasieländer, doch repräsentieren sie u.a. die orientalische Despotie, die westliche Welt und den Kommunismus. Der Reisende selbst kommt aus dem „Land des Islam“ und vergleicht ständig seine Heimat mit den Sitten und Gebräuchen der besuchten Länder.

In einer wunderschönen, erzählerischen Sprache weitet Nagib Machfus auf diese Weise den Horizont seiner Leser. Sie werden dabei kaum in ihren Urteilen bevormundet. Vielmehr bleibt viel Raum für eigenes Urteilen und Nachdenken.

Eine bemerkenswert reformierte Version des Islam zeichnet Nagib Machfus für das „Halba-Land“, das die westliche Welt repräsentiert: Die Muslime leben individuell, muslimische Frauen sind gleichberechtigt, und die Muslime fügen sich in freiheitlicher Überzeugung in die Gesellschaft ein. Ibn Fattuma kommt das sehr fremd vor, doch er lebt sich ein.

Perfekt ist hingegen keine der gezeichneten Gesellschaften. Am Ende der Reise steht das große Ziel, das ideale „Gabal-Land“, das Land meditativer Einsicht; von dort ist noch nie ein Reisender zurück gekommen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 2011)

Andreas Eschbach: Freiheitsgeld (2022)

Roman über die Dystopie einer grün-linken Degrowth-, Vollversorgungs- und Kontroll-Zukunft

Der Roman „Freiheitsgeld“ von Andreas Eschbach beginnt als Krimi, steigert sich dann zum Polit-Thriller und endet als wahrgewordene Verschwörungstheorie. Doch der Reihe nach.

Die Handlung spielt im Jahr 2064 in einem Deutschland, das ganz nach grünen und linken Vorstellungen umgestaltet wurde: Degrowth, bedingungsloses Grundeinkommen und Corona-artiger Kontroll-Staat – natürlich alles zum Wohle der Bürger – sind die Stichworte. Die Menschen leben jetzt alle in Mega-Städten. Freie Natur und Wald kennt man nur noch vom Hörensagen. Um die Städte herum wurden riesige Naturschutzzonen angelegt, die kein Mensch mehr betreten darf. Alle ehemaligen Ortschaften in den Naturschutzzonen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Statt dessen wurden riesige Wälder gepflanzt, um CO2 zu binden. Das Klima ist aber immer noch recht heiß.

Die Menschen des Jahres 2064 leben in kleinen Wohnungen und besitzen keine eigenen Autos mehr. Der Verkehr wird über zahlreiche automatisch und kostenlos fahrende Kleinbusse abgewickelt. Jeder besitzt ein Smartphone, das zugleich sein Geldbeutel ist, denn Bargeld gibt es nicht mehr. Die Menschen werden überall durch Kameras und Transponder überwacht. Der Bürger ist in allen seinen Aktionen und Bewegungen vollkommen durchschaubar und er kann nur über zugelassene Datensysteme Verkehrsmittel benutzen und Waren bezahlen. Upload-Filter kontrollieren das Internet. Die Abhängigkeit vom System ist vollkommen. Aber alle vertrauen dem System.

Jeder Bürger bekommt das sogenannte „Freiheitsgeld“. Es ist ein Basisbetrag, von dem man sein Leben bequem bestreiten kann, ohne große Sprünge zu machen. Man kann sich Geld dazu verdienen, muss aber nicht. Viele Gestalten in diesem Roman liegen deshalb nur noch in der Hängematte des Freiheitsgeldes. Die Gesundheitsversorgung ist ebenfalls kostenlos, aber völlig automatisiert. Es gibt personalisierte Medikamente. Außerdem sind Drogen freigegeben.

Was hingegen streng verboten ist, ist Schwarzarbeit und das Bezahlen in anderen Währungen. Damit wird verhindert, dass das System des Freiheitsgeldes ausgenutzt wird. Eine kleine Elite von Reichen und Prominenten wohnt in sogenannten „Oasen“, wo alles luxuriös eingerichtet ist und keine Kameras installiert sind. Auch die Polizei darf dort nicht ermitteln.

Andreas Eschbach ist es gelungen, diese seltsame Welt mit zahlreichen liebevoll ausgedachten Details zu beschreiben, die einen immer wieder zum Schmunzeln bringen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil uns manches nur allzu bekannt vorkommt.

– – – – Achtung: Spoiler! – – – –

Im Zentrum des Romans steht Kommissar Ahmad Müller. Sein heiles Weltbild bekommt Risse, als der Altpräsident Havelock und der ehemalige Journalist Leventheim zur selben Zeit ermordet werden: Havelock hatte einst das Freiheitsgeld eingeführt, Leventheim hatte ihn dafür heftig kritisiert. Im Laufe der Recherchen erkennt Ahmad Müller gravierende Nachteile des Freiheitsgeldes, die Havelock und Leventheim der Öffentlichkeit bekannt machen wollten und deshalb sterben mussten:

  • Es ist nicht nur so, dass sich ein allzu großer Teil der Bürger in die Hängematte des Freiheitsgeldes legt.
  • Es ist auch so, dass die Bürger, die sich Geld dazu verdienen, horrende Steuern auf ihren Zuverdienst bezahlen müssen, um das Freiheitsgeld der anderen zu finanzieren. Das demotiviert zusätzlich, oder führt zu massiver Schwarzarbeit.
  • Durch die Automatisierung mit Robotern und KIs gibt es immer weniger Arbeitsplätze. Nicht alle, die arbeiten wollen, können dies auch. Und da die Arbeitswilligen um diese wenigen Arbeitsplätze konkurrieren, sinken die Löhne.
  • Die eigentlichen Profiteure sind die Besitzer der Roboter und KIs, die im Jahr 2064 den Löwenanteil der zu erledigenden Arbeit ausführen. Die Bezieher des Freiheitsgeldes werden praktisch mit einem Almosen abgespeist und haben keinen Anteil am Produktivvermögen.

Doch alle diese Nachteile reichen nicht aus, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Alle haben sich an die „sichere“ Welt des Freiheitsgeldes und der Überwachung zu ihrer eigenen „Sicherheit“ gewöhnt und können es sich jetzt nicht mehr anders vorstellen.

Es ist aber alles noch schlimmer.

Ahmad Müller entdeckt, dass es hinter den Reichen eine noch kleinere Gruppe von Superreichen gibt. Diese wohnen nicht in den „Oasen“, sondern in gigantischen Residenzen in den Naturschutzzonen. Und sie haben große Pläne: Die Menschheit soll von 10 Milliarden auf 500 Millionen Menschen geschrumpft werden, denn in einer vollautomatisierten Welt braucht man einfach nicht mehr so viele Menschen, und es schont die Umwelt. Das geschieht mithilfe der personalisierten Medikamente, in die insgeheim Empfängnis-verhütende Mittel gepanscht werden. Die Auswahl wird nach dem Verhalten getroffen: Wer sich in die Hängematte des Freiheitsgeldes legt, darf sich nicht fortpflanzen. Den Leuten erzählt man das Märchen, die Fruchtbarkeit wäre deshalb stark reduziert, weil man in der alten Zeit so viele Hormone in die Umwelt gelangen ließ. Natürlich haben die Superreichen alles direkt oder indirekt in der Hand: Die Medien, die Politik, das Internet, und sämtliche Daten über die Bewegung von Personen oder Geld.

Hinzu kommt, dass die Superreichen beschlossen haben, dass die Welt modern genug ist: Deshalb gibt es schon seit Jahrzehnten keine neuen Erfindungen mehr. Neue Erfindungen bergen nämlich immer Risiken in sich, und Risiken will man auf jeden Fall vermeiden. Schließlich zapfen die Superreichen einigen besonders gesunden Normalbürgern – immerhin gegen Geld – einen speziellen Stoff aus dem Blut ab, mithilfe dessen sie praktisch unsterblich werden, während die Spender unwissentlich mit einem Verlust an Lebenszeit bezahlen. Gegenüber der Normalbevölkerung wird das hohe Alter der Superreichen verborgen gehalten.

Am Ende des Romans dringt Ahmad Müller in die Residenz einer Superreichen in der nahegelegenen Naturschutzzone ein. Es kommt zum Showdown zwischen Ahmad Müller und der Superreichen: Wird Ahmad Müller die Welt retten? Oder sitzen die Superreichen am längeren Hebel?

Fazit

Andreas Eschbach ist es gelungen, dem Leser eine grün-linke Dystopie lebendig vor Augen zu führen und hat dabei – nicht ohne Augenzwinkern – auch manche allzu steile Verschwörungstheorie mit verarbeitet. Die Lektüre dieses Romans stellt eine gute Impfung gegen die Gutgläubigkeit grün-linker Gutmenschen dar: Was manche naiv als naheliegende und innovative Lösungen für unsere Probleme ansehen, läuft in Wahrheit auf ein einziges Horrorszenario hinaus.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Robert Harris: Konklave (2016)

Ein wirklich ordentlich gemachter Vatikan-Thriller

Der Papst ist überraschend gestorben. Das Konklave wird vorbereitet und beginnt. Die Kardinäle sind unter sich. Ein Favorit nach dem anderen erweist sich als unwürdig. Bis am Ende eine überraschende Wahl erfolgt. Der Leser verfolgt das Geschehen durch die Augen von Kardinal Lomelli mit, dem Dekan des Kardinalkollegiums.

Es ist keine hochliterarische Offenbarung, aber es ist ein wirklich ordentlich gemachter, runder Vatikan-Thriller.

PS 23.09.2024

Der Roman bearbeitet u.a. das LGBT-Thema, und da er zu einer Zeit geschrieben wurde, als dieses Thema noch nicht zum Hype geworden war, wird dieses Thema auf eine glaubwürdige Weise bearbeitet, die man sich gefallen lassen kann. Ob der Film von 2024 diesen Anspruch ebenfalls einlösen kann, wird abzuwarten sein.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. Juli 2018)

Jostein Gaarder: Genau richtig – Die kurze Geschichte einer langen Nacht (2018)

Genau richtige Gedanken zu Sterben und Abschiednehmen

Englischlehrer Albert hat eine tödliche Diagnose bekommen, und da Frau und Kinder weggefahren und außer Haus sind, hat er sich in die typisch norwegische Einsamkeit der Familienhütte an einem kleinen, abgelegenen See zurückgezogen. Dort beginnt er seine Gedanken zu ordnen, und vielleicht wird er gleich noch in derselben Nacht seinem Leiden ein Ende setzen, noch ehe er Frau und Kinder damit belasten muss. Das Buch stellt die Wiedergabe der Gedanken Alberts dar, wie er sie in das Hüttenbuch schreibt. Ein Hüttenbuch ist eine weitere typisch norwegische Eigenheit, es handelt sich um eine Art Logbuch für alle Geschehnisse während des Hüttenaufenthaltes.

Drei Themen werden bearbeitet: Im Rückblick auf sein Leben erkennt Albert, wie so vieles in seinem Leben „genau richtig“ war. – Auch im Universum ist vieles „genau richtig“ eingerichtet, und vielleicht verbindet sich ja damit auch eine Hoffnung auf einen Sinn des Lebens.

Das dritte „genau richtige“ Thema hat Albert aber ganz vergessen, und wie Jostein Gaarder es zur Überraschung von Albert und zur Überraschung des Lesers in die Geschichte einführt, ist genial (und wird hier nicht verraten): Es geht um die Einbindung des Menschen in das Gefüge von Familie, Gesellschaft und Menschheit. Man kann sich eben nicht einfach in eine Hütte zurückziehen und alle Verbindungen zu den Mitmenschen ignorieren und die Sache ausschließlich mit sich allein abmachen. Der Mensch hat eine Rolle zu spielen, auch im Sterben und gewissermaßen auch über den Tod hinaus, und diese Rolle ist sinnvoll und verpflichtend.

Ein sehr schönes, geistreiches, kleines, wertvolles Büchlein. Eben genau richtig.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2020)

Tim Willocks: The Religion (2006)

Gelungenes Epos über die Belagerung von Malta durch die Türken 1565

Der Roman „The Religion“ / „Das Sakrament“ von Tim Willocks ist ein Werk von epischer Dimension: Völlig zurecht wird von einer maltesischen Iliade gesprochen. Weltgeschichte und Religionsgeschichte greifen hier eng ineinander mit den Biographien der handelnden Personen. Die großen Themen sind Liebe, Glaube und menschliches Schicksal unter den wechselnden Bedingungen der Zeitläufte, die virtuos präsentiert werden.

Gerüst der Handlung ist die Belagerung von Malta durch die Türken 1565, die von einer ähnlich entscheidenden Bedeutung für die Geschichte Europas war wie die Belagerung von Wien. Mitten im Getümmel steht die Person von Tannhauser, der als Kind von den Türken gekidnappt und zum Janitscharen ausgebildet wurde. Er machte dort Karriere und kehrte später nach Europa zurück. Weil er die Türken kennt, wird er kurz vor der Ankunft der türkischen Invasionsflotte als kriegswichtig auf die Insel gelockt – mithilfe einer Frau.

Islam und Christentum werden von Willocks als gleichermaßen fanatisch dargestellt, womit der Autor zumindest nichts falsch macht. Für die Probleme der Gegenwart kann man daraus kaum hilfreiche Schlüsse ziehen, weil dafür die Frage der weiteren Entwicklung nach 1565 zu stellen wäre – das ist jedoch nicht Thema dieses Buches. Die Schilderungen des Mordens sind in der Tat sehr realistisch gehalten, doch so muss es wohl sein. Der Ton der damaligen Zeit wird gut getroffen, der historische Anspruch wird erfüllt.

Das englische Hörbuch wird von Simon Vance in bestem Englisch und mit viel Pathos gelesen. Der Schwierigkeitsgrad ist Mittel, die Zahl der Vokabeln recht hoch, doch trägt die epische Breite der Geschichte den Leser wie auf einer breiten Woge über jede Verständnisklippe hinweg und viele Worte verstehen sich mit der Zeit von selbst. Bei den Grausamkeiten der Schlachtbeschreibungen will man es ohnehin nicht so genau wissen …

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Geschrieben August 2011)

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch (1668)

Lebenserfahrung und Wissensordnung des 17. Jahrhunderts

Der Simplicissimus von Grimmelshausen ist kein Schelmenroman und kein Entwicklungsroman, in dem ein Dorfdepp durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges stolpern würde – das ist nur der Anfang, der zum falschen Inbegriff des ganzen Buches wurde, weil der Verdacht offenbar mit Recht besteht, dass viele Leser das wegen seiner altertümlichen Sprache nur mühsam zu lesende Buch schon bald wieder aus der Hand legten und deshalb nur dessen Anfang bekannt war. Es ist ein wahres Glück, dass nun diese gelungene Übersetzung von Reinhard Kaiser in einem modernen, lesbaren Deutsch vorliegt, die diesen verkannten Schatz der deutschen Literatur wieder ans Licht des Tages befördert hat!

Beim Simplicissimus handelt es sich in Wahrheit um einen autobiographisch gehaltenen Roman, dessen drei Hauptthemen die folgenden sind:

a) Lebenserfahrung – wie es so zugeht in der Welt; wie vieles nicht so ist, wie es zu sein scheint. Man spürt, dass der Autor aus eigener und echter Lebenserfahrung schöpft, die einiges zeitloses Gewicht bis in unsere modernen Tage hinein hat.

b) Lebensweisheit – worin das wahre Glück besteht. Hier wird viel in christlicher Sprache formuliert, aber es lässt sich auch alles nichtchristlich denken und deuten.

c) Wissensordnung – was man als Mensch des 17. Jahrhunderts alles wissen konnte über Religion und Gläubigkeit, antike Literatur, Geographie, Geologie, Medizin, Alchemie, zeitgenössische Literatur, Sitten der Völker, Torheiten und Laster und vieles andere.

Die bereisten Länder und Städte sind u.a.: In Deutschland: Spessart und Hanau, Magdeburg, Soest in Westfalen, Lippstadt, Köln, Wien und ein Kurort mit „Sauerbrunnen“ im Schwarzwald. Außerdem geht die Reise nach der Schweiz: Einsiedeln, Schaffhausen, Bern. Nach Paris in Frankreich. Nach Moskau, die Tartarei, Korea, Macao, Indien, Konstantinopel, Venedig, Rom. Nach Ägypten: Alexandrien. Schließlich nach einer südlichen Insel irgendwo bei Madagaskar. Die Rollen, in die Simplicius im Verlauf seines Lebens schlüpft, sind u.a.: Dorfdepp, Schüler, Narr, Soldat, Draufgänger und Jäger, Frauenheld, Ehemann, begehrter Schauspieler und Beau, Alchemist, Freund, Landwirt, Eremit, Pilger, Paradiesinselbewohner.

Einige der Abenteuer sind übertrieben phantastisch: Dreimal hat Simplicius es mit Geistern zu tun, jedesmal übrigens im Zusammenhang mit einem verborgenen Schatz. Einmal fährt er auf einer verhexten Bank zu einem Hexensabbat. Der Autor zwinkert mit den Augen dazu. In der Nachschrift schaut Simplicius die Hölle mit Lucifer. In der Mummelsee-Passage taucht Simplicius bis zum Mittelpunkt der Erde; das dabei geschilderte System von Wasserverbindungen von der Erdoberfläche zum Mittelpunkt der Erde könnte durch den Platonischen Mythos über das Schicksal der Seele nach ihrem Tode inspiriert worden sein (Dialog Phaidon 107d – 115a). Schließlich macht Simplicius zwei Fernreisen, einmal über Moskau bis Korea, dann nach Ägypten.

Der Leser wird zahlreiche Redewendungen wieder erkennen, die bis heute in der deutschen Sprache vorhanden sind und unsere Sprache lebendig machen. Man entdeckt auch ein entwickeltes deutsches Nationalbewusstsein; dieses ist also nicht erst im Gefolge der französischen Revolution entstanden. Für Grimmelshausen sind die Nationalstaaten klar abgesteckt, die typischen Eigenarten anderer Völker werden treffsicher beschrieben. Die Vision des Jupiter von einem Europa unter deutscher Führung kommt hinzu.

Das Buch ist auch sehr sozialkritisch. Man meint, ein Buch aus der Zeit der französischen Revolution in der Hand zu haben, wenn man die gesellschaftliche Hierarchie am Bild eines Baumes gezeigt bekommt, auf dem die Adligen hocken und um Karriere kungeln. Sehr modern wirkt auch die bereits angesprochene Vision des Jupiter über die Idealzukunft Europas, hier unter deutscher Führung. Ebenfalls verblüffend modern ist der Schluss des Buches: Simplicius flieht vor der Welt auf eine einsame Insel, wo er in Genügsamkeit paradiesisch lebt. Wer dächte da nicht an gewisse moderne westliche Menschen, die die Einfachheit weniger entwickelter Völker für das wahre Glück halten? Auch der Stil ist teils extrem modern. Das Buch scheint wie ein Verschnitt aus den Sonetten des Andreas Gryphius und den geistig weiten Überlegungen eines Montaigne.

Alles in allem macht das Buch einen wunderlich aufgeklärten Eindruck, der Autor zeigt eine sehr gesunde Skepsis und viel gesunden Menschenverstand, den er ohne Anleitung eines anderen benutzt. Er denkt auch nicht nur oberflächlich dahin, sondern macht sich tiefer seine Gedanken, jedoch immer aus der „Froschperspektive“ des Einzelnen; ein alternativer Gesellschaftsentwurf entsteht nicht. Zahllose Anspielungen auf antike Autoren sind eingeflochten, ebenso einige Verweise auf zeitgenössische Autoren. Der Autor muss extrem belesen und gut bekannt mit der antiken Geisteswelt gewesen sein, was seine Aufgeklärtheit besser verstehen lässt. Nett auch, wie er den Raimundus Lullus beurteilt, das muss man selbst gelesen haben und versteht es nur, wenn man sich selbst schon mit Lullus beschäftigt hat.

Dennoch bricht der Autor noch nicht aus dem Korsett des christlichen Weltbildes aus, sondern benutzt es, um in ihm seine Gedanken zu entfalten. Man muss hinter der Frage nach der christlichen Moral und der christlichen Glückseligkeit auf Erden dieselben Fragen in säkularisierter Form erkennen, sonst würde das Buch für moderne Leser unerträglich sein.

Die Bedeutsamkeit des Buches und sein Einfluss müssen als sehr hoch eingeschätzt werden. Es stellt sich z.B. die Frage, inwieweit Goethes Faust davon beeinflusst war: Auch dieses Werk ist eine Summe von Lebenserfahrung und Lebensweisheit, auch dies eine Wissensordnung, und auch hier wird vieles in christlichen Bildern ausgedrückt. Es gibt überhaupt zahlreiche Parallelen zwischen Goethes Faust und dem Simplicissimus des Grimmelshausen. Ein wahrhaft unergründliches und unerschöpfliches Werk!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

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