Kategorie: Roman (Seite 7 von 10)

Patrick Tschan: Schmelzwasser (2022)

Ein fürchterlich verunglücktes Buch

Dieser Roman will anhand der Geschichte der Überlinger Buchhändlerin Eleonore Weber (1900-1992), die 1947 ihre überregional bekannte Buchhandlung eröffnete, einen Einblick geben, wie die deutsche Gesellschaft nach 1945 den nationalsozialistischen Ungeist zurückdrängte und in die Zeit von 1968 aufbrach. Doch leider ist dieses Vorhaben gründlich missglückt.

Es beginnt damit, dass der Roman völlig ahistorisch ist. Mit der Anlehnung an die Person von Eleonore Weber wird Historizität angedeutet, doch in Wahrheit ist der Roman fast vollständig frei erfunden. Die historische Person Eleonore Weber wird völlig verfehlt. Warum dann nicht gleich völlig frei erfinden? Nicht einmal als Lokalroman für die Stadt Überlingen taugt das Buch, denn auch die Stadt Überlingen bleibt mit einigen spärlichen Anspielungen seltsam blass. Es geht eher um irgendeine imaginierte deutsche Kleinstadt als um Überlingen. Hinzu kommt die Verfremdung durch Pseudonyme: Eleonore Weber heißt in diesem Roman „Emilie Reber“. Der Name der Stadt bleibt ungenannt. Warum dieses Versteckspiel? Und aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wird die „Sozialistische Partei Deutschlands“ (S. 283): Das ist fast schon eine Schändung der Tradition der SPD.

Auch die Handlung ist leider sehr unrealistisch. Man hat das Gefühl, es mit Stehaufmännchen zu tun zu haben. Den Protagonisten gelingt im Grunde immer alles, es sind Tausendsassas ohne Charakter. Und wenn sich die Buchhändlerin Emilie Reber in der Überlinger Stadtgesellschaft unbeliebt gemacht hat, dann ändert sie einfach die Strategie und schon ist sie wieder obenauf – in der Realität würde das nicht so funktionieren. Im Hintergrund steht dabei immer die französische Besatzungsmacht, die Emilie Reber eine besondere Macht über ihre schuldigen Mitmenschen verleiht. Das ist eine sehr unwirkliche Situation (und auch moralisch etwas fragwürdig.) Man könnte versuchen, diese unwirkliche Handlung symbolisch zu lesen. Aber dafür ist das Buch wieder nicht symbolisch genug.

Die Unglaubwürdigkeit setzt sich damit fort, dass die Realität der Nachkriegszeit völlig verfehlt wird. In diesem Buch gibt es auf der einen Seite eine durch und durch schuldig gewordene und eisern schweigende deutsche Gesellschaft, angeführt von einer Reihe alter Nazis, die so alt und so dumpfbackig sind, wie es nur eben geht. Dem gegenüber stehen junge, weibliche, dynamische „Aufklärer“, die die Gesellschaft aufmischen. Eine klare Polarität. So war es aber nicht. Die Schuld am Nationalsozialismus war in der deutschen Gesellschaft sehr ungleich verteilt, dazu gleich mehr. Und so mancher Nazi war jung, clever, elegant und unangenehm anpassungsfähig. Im Roman fehlt z.B. auch die katholische Kirche in Form eines Stadtpfarrers oder der katholischen Jugend völlig. Die Kirche spielte in Baden sowohl im als auch nach dem Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Auch das Handeln der Franzosen als Besatzungsmacht wird an keiner Stelle kritisch hinterfragt. Die Rollen von Gut und Böse sind in diesem Roman so klar verteilt, dass es weh tut. Wer sich für die Nachkriegszeit interessiert, sollte besser „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen. Koeppen hat diese Zeit selbst miterlebt und beschreibt sie sehr realistisch. Auch was die Stimmung anbelangt: Dort findet man viele kleine und große Sorgen der Menschen, serviert mit erstaunlich viel Humor, und von Schuldgefühlen eher keine Spur. „Aufklärer“ sind in der Nachkriegsgesellschaft eines Wolfgang Koeppen völlig überflüssig.

Neben die unrealistische Zeitdiagnose wird eine unrealistische Therapie gesetzt: Dieser Roman glaubt allen Ernstes, den Nationalsozialismus mit „Literatur, Musik, Mode, Frisuren, Aufklärung, Sex“ überwinden zu können, so heißt es wortwörtlich (S. 210). „Aufklärung“ meint dabei Sexualaufklärung, nicht philosophisch-politische Aufklärung. Hannah Arendt oder Thomas Mann werden zwar genannt, aber die Inhalte ihrer Werke bleiben in diesem Roman stumm: Dabei wäre hier viel Gutes zu finden gewesen. Statt dessen treten die „Aufklärer“ des Romans den Rechtsstaat, den sie angeblich aufbauen möchten, mit Füßen, indem sie das Briefgeheimnis wiederholt und systematisch brechen, um Nazis zu bekämpfen. Am Ende wird sogar ein Mord am Obernazi des Romans als finale Erlösungstat angedeutet, denn er wird in seinem Rollstuhl bei Nacht und Nebel hinaus aufs Eis des Bodensees geschoben (und ward danach wohl nie mehr gesehen; das bleibt aber ungesagt).

Es kommt hinzu, dass die „Aufklärung“ der kleinstädtischen Gesellschaft erstaunlich kommerziell verläuft. Die Protagonisten des Romans verkaufen ständig irgendetwas: Sie verkaufen Taschenbücher, Frisuren, Jeans, Beate-Uhse-Kataloge, Musik und Eintrittskarten in die Disko, wo dann wieder Getränke verkauft werden. Auch das große Konzert am Ende des Romans hat einen genau bezeichneten Eintrittspreis, nämlich 5 DM, und die örtlichen Vereine verkaufen Bratwurst und Getränke, wie sorglich vermerkt wird. Und die Protagonisten loben sich gegenseitig mehrfach für ihren Geschäftssinn. Natürlich, nicht selten gehen Fortschritt und Kommerz Hand in Hand. Aber diese Einseitigkeit hat doch ein Gschmäckle.

Was die Schuld der Deutschen anbelangt, wiederholt dieser Roman doch tatsächlich das ewig falsche Mantra, dass jeder von dem kommenden Unheil durch die Nationalsozialisten hätte wissen können und deshalb jeder voll schuldig sei: Jeder Deutsche also ein vollschuldiger Massenmörder (S. 301). Man denke aber nur, wie kurzsichtig und oberflächlich die große Masse der Wähler auch heutzutage politische Fragen beurteilt: Es ist unrealistisch, allzu hohe Forderungen an die Masse der Menschen zu stellen. Zwar gibt es eine gewisse Schuld auch bei den „kleinen“ Leuten, doch sie ist meist klein oder auch gar nicht vorhanden. Die Hauptschuld ist natürlich vor allem bei den „Vorbetern“ der Gesellschaft zu suchen. Abgesehen davon, dass die NSDAP in den letzten Wahlen vor der Machtergreifung nicht 100% sondern 33% erzielte, und selbst nach der Machtergreifung bei ungebremster Propaganda und Einflussnahme auf die öffentliche Meinung nur auf 43,9% kam. Die badischen Wahlergebnisse bewegten sich dabei ziemlich genau im Durchschnitt Gesamtdeutschlands. Der Überlinger Lokalhistoriker Oswald Burger, den Patrick Tschan als eine seiner Quellen anführt, urteilt: „Ein Nazinest war Überlingen vor 1933 allerdings eindeutig nicht.“

Zumal sich die Frage stellt, was es denn genau ist, was man vorher über die Verbrechen der Nationalsozialisten hätte im voraus wissen können, vorausgesetzt, man wäre intellektuell wach gewesen. Es sei an Hannah Arendt erinnert, die als verfolgte Jüdin und Intellektuelle am ehesten in der Lage hätte sein sollen, Dinge vorauszusehen. Doch als 1945 die Nachrichten aus den KZs in die Zeitungen kamen, brauchte sie eine gewisse Zeit, um zu begreifen, dass der Holocaust keine alliierte Propaganda sondern Realität war. Wenn Hannah Arendt Schwierigkeiten hatte, die Monstrosität des Nationalsozialismus im nachhinein zu begreifen, wie soll es dann der Otto-Normal-Deutsche im vorhinein hätte sehen können? Die Schuldfrage wird in diesem Roman ganz platt und falsch behandelt, wie wenn alle Deutschen bei einer freien und geheimen Volksabstimmung mit einem willentlichen und wissentlichen „Ja“ explizit für die massenhafte Ermordung von Menschen gestimmt hätten. Das ist grotesk. Die komplexe Realität der Schuldfrage wird von diesem Roman vollkommen verfehlt.

Weiter tischt dieser Roman die uralte Lüge auf, dass der Nationalsozialismus ganz dem jahrhundertealten deutschen Wesen entsprochen habe, das im Nationalsozialismus lediglich zu seiner reinsten Form kulminiert sei. Zitat: „Seit Generationen werden in diesem Land Menschen gedemütigt, gefügig gemacht, abgerichtet. Wie Sie. Weitergegeben von Vätern an Söhne, von Müttern an Töchter. Wie bei Ihnen. Das ist das Wesen dieses Landes, das Europa zweimal in den Abgrund geführt hat. Millionen und Abermillionen Tote wegen dieser Zucht: demütigen, gehorchen, die nächsten demütigen, zum Kadavergehorsam, zu Maschinen wie Sie erziehen, in den Krieg schicken und so weiter und so weiter.“ (S. 301 f.) „Und dass alle diese Eichmanns in diesem Land das Resultat einer Erziehung zum Kadavergehorsam durch Demütigung und Strafen sind, die seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben worden ist. Er sei genauso eine Ausgeburt deutscher Zucht, die stets gedankenlos den noch Schwächeren tritt.“ (S. 304)

Die Idee, dass das Wesen des Deutschen „seit Jahrhunderten“ in „deutscher Zucht“ zum „Kadavergehorsam“ bestünde, die „stets“ gedankenlos den noch Schwächeren tritt, ist einfach nur Quatsch. Man versuche mal Goethe und Schiller mit dieser Idee im Hinterkopf zu lesen. Oder Immanuel Kant und Friedrich den Großen. Kadavergehorsam gab es in der SS, in der Tat. Aber schon in der Wehrmacht sah es anders aus, und das mitten im Nationalsozialismus. Selbst Wikipedia weiß es besser: „In Wirklichkeit setzt gerade die vom preußischen und deutschen Militär (unter anderem in beiden Weltkriegen) sehr erfolgreich umgesetzte Auftragstaktik das Gegenteil von Kadavergehorsam voraus.“ Der Nationalsozialismus war nur eine Karikatur des wahren deutschen Wesens, wenn überhaupt. Den Nationalsozialismus als höchste Manifestation des deutschen Wesens zu beschreiben, ist ein sehr, sehr radikaler Standpunkt, dessen logische Konsequenz die Auslöschung von allem ist, was deutsch ist. Nur weniger gebildete Menschen vertreten solche Thesen. Gebildete Menschen hingegen hätten nicht nur Goethe und Schiller gelesen, sondern wüssten z.B. auch, dass die Frage nach der Kriegsschuld beim Ersten Weltkrieg, der von Patrick Tschan hier in einem Atemzug mit dem Zweiten Weltkrieg genannt wird, sehr differenziert betrachtet wird. Wer glaubt denn heute noch daran, dass der „verrückte Kaiser Wilhelm“ und die „kadavergehorsamen Deutschen“ die volle und alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg tragen?

Aber damit nicht genug. Dieser Roman schöpft den Brunnen der Peinlichkeit voll aus. Nicht nur das deutsche Wesen, auch Preußen wird klischeehaft in die Pfanne gehauen. Angeblich hätte Preußen nach der Niederschlagung der badischen Revolution von 1849 überall in Baden „Statthalter“ eingesetzt. So z.B. auch den Vorfahren des Roman-Obernazis, der ein Überlinger Landgut erhalten hätte, das zuvor einem Revolutionär gehört hätte. Diese Obernazi-Familie hätte von 1849 durchgehend bis in den Nationalsozialismus hinein Überlingen mit Kadavergehorsam beherrscht (S. 296). Und der alte Obernazi hätte noch in den 1920er Jahren seinen Sohn „nach alter preußischer Schule“ (S. 291) Spießruten laufen lassen. Die „Kaiserzeit“ wird wiederholt negativ genannt.

Auch das ist alles ganz falsch und unhistorisch. Preußen hat gewiss keine „Statthalter“ in Baden eingesetzt, sondern Preußen hatte Baden für ein gutes Jahr komplett militärisch besetzt. Später wurde Baden durch eine dynastische Beziehung des badischen Prinzregenten Friedrich mit der preußischen Prinzessin Luise (ab 1855) an Preußen gebunden. Es gab auch nie ein Spießrutenlaufen „nach alter preußischer Schule“. Das Spießrutenlaufen war im Zeitalter des Absolutismus überall in Europa verbreitet und kein preußisches Spezifikum. Im Gegenteil. Preußen schaffte das Spießrutenlaufen als eines der ersten Länder im Jahr 1806 ab. In süddeutschen Ländern geschah dies erst viel später, z.B. in Württemberg erst 1818, in Österreich sogar erst 1855. Und der reale Überlinger Obernazi, Kreisleiter Gustav Robert Oexle (1889-1945), war kein preußischer Gutsbesitzer, sondern stammte aus einer Tagelöhnerfamilie. Romanautor Patrick Tschan muss das gewusst haben, denn den Motorradunfall von Zänglers Sohn im Roman und dessen Bestrafung nach 1945 hat er sichtlich dem realen Motoradunfall von Oexles Nachfolger Ernst Bäckert nachempfunden. Zuguterletzt sei an die Autobiographie „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki erinnert: Darin kommt Reich-Ranicki immer wieder mit lobenden Worten auf das preußische humanistische Gymnasium zu sprechen. Wer aber nur Patrick Tschans Roman gelesen hat, wird gar nicht verstehen, wie man „Preußen“ und „Humanismus“ in einem Atemzug nennen kann.

Fazit

Für ein Buch des Jahres 2022 hätte man sich wahrlich mehr Gedankenreichtum über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gewünscht. Wir wissen inzwischen, dass die Aufarbeitung im Zuge von 1968 so ihre Probleme hatte. Johannes Gross prägte das Wort: „Je länger das Dritte Reich tot ist, umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“ Es ist viel Ungerechtigkeit der damaligen Generation gegenüber geschehen, und es wurde oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es musste immer gleich alles, was deutsch oder preußisch ist, dran glauben. Ein Unding! Abgesehen davon, dass es sachlich falsch ist, stellt sich zudem die Frage, wie man mit einer solchen Einstellung jemals wieder ein Land namens Deutschland aufbauen soll? Eine konstruktive Vision für Deutschland und die deutsche Kultur außer Sex und Jeans und Rock’n’Roll findet sich in diesem Roman nicht. Das hätte man von einem Roman aus dem Jahr 2022 aber erwarten können. Das Rad der Geschichte hat sich inzwischen doch deutlich weitergedreht.

Dieser Roman verrät mehr über den Zeitgeist des Jahres 2022 in einem bestimmten linken „juste milieu“ als über die wahren Vorgänge der Nachkriegszeit. Denn dieser Roman tut nichts anderes, als die infantilen Phantasien linker Spätgeborener, die geistig irgendwo in den 1980er Jahren stehen geblieben sind, in die Vergangenheit zu projizieren. Dieser Roman ist schrecklich falsch: Literarisch falsch. Historisch falsch. Politisch falsch. Es ist kein Wunder, dass dieser Roman sich nicht an der historischen Realität orientieren konnte sondern fast alles frei erfinden musste: Denn dieser Roman ist die Ausgeburt einer fehlgeleiteten Phantasie, die mit der Realität nichts zu tun hat. Historizität wird nur vorgetäuscht. Der Roman hätte statt „Schmelzwasser“ auch den Titel „Li-La-Lustiges Nazi-Bashing mit Claudia Roth und Greta Thunberg“ tragen können. In die Tonne damit!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 07. Oktober 2022)

Anna Seghers: Das siebte Kreuz (1942)

Kommunistisches Zerrbild der NS-Verfolgung – dennoch lesenswert

In Anna Seghers Roman „Das Siebte Kreuz“ geht es um einen Kommunisten namens Georg Heisler, der mit sechs Mithäftlingen aus einem KZ bei Mainz ausbricht und quer durch die Rhein-Main-Region flieht, bis ihm schließlich die Flucht aus Deutschland mithilfe von ehemaligen Genossen gelingt, während die anderen sechs wieder gefangen genommen und an für diesen Zweck vorbereitete „Kreuze“ geschlagen werden: Das siebte Kreuz aber bleibt leer, die Diktatur ist nicht unbesiegbar. – Georg Heisler begegnet auf seiner Flucht den Deutschen in ihrem Alltag im Nationalsozialismus und erlebt, wie sie sich mit der Diktatur arrangieren und wie sie sich verhalten, wenn sie vor eine risikoreiche Gewissensentscheidung gestellt werden. Von der inneren Emigration über gedankenloses Mittun in der Diktatur bis hin zum überzeugten Nazi ist alles vertreten.

Kritik

Der Roman zeigt Kommunisten nur von ihrer Schokoladenseite, d.h. als idealistische Kämpfer mit einem ungebrochenen humanitären Anspruch. Doch das ist grober Unfug.

  • Seghers stellt Kritik an Stalins Sowjetunion (wo Millionen verfolgt wurden und sterben mussten) als dummes Nachgeplapper von antikommunistischer Propaganda hin (S. 239).
  • Seghers begann diesen Roman 1938 in Frankreich zu schreiben, also genau in der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, der u.a. zur Folge hatte, dass die Kommunisten in Frankreich den Einmarsch der Deutschen unterstützten. Aber kein Wort davon im Roman.
  • Viele sehen eine Quintessenz des Romans darin, dass Heisler im Gegensatz zu den anderen sechs Geflohenen die Flucht gelang, weil er Hilfe von seinen Genossen bekam. Da erhebt sich aber die Frage, warum die Genossen nur den Genossen halfen? Wäre es nicht human gewesen, wenn sie jedem geholfen hätten, ob Genosse oder nicht?
  • Mehrfach wird der Traum beschworen, nach Spanien zu fliehen, und dort im Spanischen Bürgerkrieg mitzukämpfen. Aber auch dort zeigte der Kommunismus seine hässliche Seite: Massenhaft Morde an Zivilisten, Morde z.B. an Priestern nur weil sie Priester waren, Morde an „Verrätern“, und überhaupt der Kampf nicht etwa für eine „Republik“, wie es oft heißt, sondern natürlich für die Diktatur, eben für eine kommunistische Diktatur. Auch Genosse Erich Mielke ging einst nach Spanien, nachdem er in Deutschland zwei Polizisten ermordet hatte, und begann dort seine Karriere als Stasi-Schnüffler, indem er „Verräter“ ans Messer lieferte.
  • Die überzeugte Kommunistin Anna Seghers floh 1941 nach Mexiko. In Mexiko wurde aber nur ein Jahr zuvor der kommunistische Dissident Leo Trotzki von den Häschern Stalins aufgespürt und brutal ermordet. Seghers schrieb da immer noch an diesem Buch. Hätte die Sensibilität einer Literatin nicht dazu führen müssen, dass sich diese Untaten im Namen des Kommunismus irgendwie in ihren Werken niederschlagen?

Kurz: Als Demokrat, der dem antitotalitären Grundkonsens verpflichtet ist, und ausnahmslos jede radikale Ideologie ablehnen muss, kann man diesen Roman nicht wirklich ernst nehmen. Da bekommt man also vorgeführt, wie die Genossen sich gegen eine inhumane Verfolgung wehren und sich als Idealisten rühmen, aber in Wahrheit sind sie selbst zu genau derselben Verfolgung von politisch missliebigen Personen fähig und bereit und haben sie auch aktiv begangen: Tausendfach, millionenfach, in der Sowjetunion, in Spanien, in Deutschland, weltweit.

Die Widmung des Buches an alle „toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands“ klingt da wie reiner Hohn. Denn Erich Mielke ist da mitgemeint. Nicht zufällig spielte Anna Seghers in der stalinistischen DDR-Diktatur später eine wichtige Rolle. Die Schwere ihrer Schuld gegenüber den Opfern der DDR-Diktatur vernichtet jeden Anspruch von Anna Seghers auf eine humane Gesinnung.

Die Judenverfolgung spielt in diesem Roman übrigens eine erstaunlich harmlose Rolle. Ganz am Rande der Handlung erfährt man, dass mit einem jüdischen Arzt rücksichtslos umgegangen wird. Mehr aber nicht: Keine Verhaftung, kein Berufsverbot. Und man liest von jüdischen Tuchhändlern, die ihren Laden ausverkaufen und auswandern. Tatsächlich gab es in den 1930er Jahren zunächst „nur“ eine Diskriminierung, aber noch keine Verfolgung der Juden in Deutschland. Die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden begann erst 1938. Also genau in dem Jahr, in dem Seghers ihren Roman zu schreiben begann! Hätte man da nicht erwarten können, dass Seghers das Schicksal der Juden etwas mehr bearbeitet? Im Roman sieht es so aus, als ob die Kommunisten die Hauptleidtragenden des Nationalsozialismus gewesen wären.

Es stimmt auch nicht, dass der Roman die ganze deutsche Gesellschaft in allen ihren Schichten abbildet, wie manche meinen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den kleinen Leuten, den Bauern, Schäfern, Handwerkern, Fabrikarbeitern, Umzugspackern und deren Ehefrauen, die fast immer Hausfrauen und sonst nichts sind. Die Mittelschicht wird höchstens gestreift. Die Oberschicht kommt nicht vor. Völlig abwesend sind auch Liberale und Konservative und deren Widerstand gegen die Diktatur. Man hört nichts von Christen, Monarchisten, Adligen, Gutsbesitzern, Beamten, Militärs und Unternehmern, die gegen den Nationalsozialismus sind. Man hört auch nichts von SPDlern, nichtkommunistischen Gewerkschaftern, Intellektuellen, Journalisten, Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern.

Das ganze Buch ist bei näherem Hinsehen ein viel zu simples Schwarz-Weiß: Auf der einen Seite die kleinen, „proletarischen“ Leute und die edelmütigen Kommunisten, auf der anderen Seite der Rest …. und der Rest zählt offenbar nicht, oder wird kurzerhand gleich ganz den Nazis zugerechnet. Dieses Zerrbild der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus ist völlig unakzeptabel!

Anna Seghers lebte von 1933 an im Exil. Das bedeutet, dass ihre Darstellung der Zustände im nationalsozialistischen Deutschland nicht auf ihre eigene, unmittelbare Erfahrung zurückgeht. Bei literarisch „aus der Ferne“ geschriebenen Werken besteht immer die Gefahr, dass Dinge verzerrt und über- oder auch unterzeichnet werden. Und wie wir sahen, ist bei Anna Seghers in der Tat eine ganze Menge verzerrt und über- bzw. unterzeichnet.

Es gibt wahrlich genügend Autoren, die ihre realen Erlebnisse schildern. Es wäre besser, sich an diese Autoren zu halten. Ein gutes Beispiel ist hier Françoise Frenkel mit ihrem bewegenden Buch „Nichts, um sein Haupt zu betten“: Eine jüdische Polin, die eine französische Buchhandlung in Berlin betrieb, vor den Nazis nach Frankreich floh, dort mit der Hilfe guter Menschen (nein, keine Kommunisten) der Verfolgung durch die französischen Behörden entkam und schließlich in die Schweiz fliehen konnte. Mit der Realität kann keine Fiktion mithalten.

Dennoch lesenswert

Es gibt dennoch gewisse Gründe, warum man dieses Buch lesen sollte:

  • Zunächst ganz einfach deshalb, weil das Buch heute vielgelesen und vielgerühmt ist. Man sollte wissen, was da gelesen und gerühmt wird. Das ist natürlich kein rühmlicher Grund, dieses Buch zu lesen.
  • Die Zeichnung des gehetzten Denkens eines Fliehenden und des vorsichtige Ratens und Ertastens, ob ein Gegenüber ebenso denkt wie man selbst und auch in Gefahr verlässlich ist, ist literarisch gut gelungen.
  • Die Zeichnung der kleinen Leute und ihres häufig sehr irrationalen Denkens und ihres oft eigenwilligen Arrangements mit der Obrigkeit ist literarisch gut gelungen und sehr lehrreich, allerdings unabhängig von der speziellen Situation der NS-Diktatur. Denn die kleinen Leute sind immer so, unabhängig von dem System, in dem sie leben. Sie machen auch Witze über andere Herrscher, und ducken sich gleichermaßen vor ihnen. Sie arrangieren sich auch mit der Demokratie nicht etwa deshalb, weil sie überzeugte Demokraten wären. Kleine Leute haben keine Überzeugungen von dieser Art. Dieses Denken der kleinen Leute wird von Anna Seghers recht gut eingefangen. Zum Vergleich könnte man etwa „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen, das dieselben kleinen Leute unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zeigt. Sie machen immer noch ihre Witze, sie arrangieren sich immer noch, sie haben immer noch keine echte Überzeugung.

Aperçu: „Neger“-Debatte

Auch in Anna Seghers Buch „Das Siebte Kreuz“ taucht das Wort „Neger“ auf. Es dient zur Beschreibung der rußgeschwärzten Gesichter von Schweißern in einer Werkstatt, Zitat: „… Blicke, aus schrägen Augen, in denen sich die weißen Augäpfel drohend zu rollen schienen, wie die Augen von Negern, …“ (S. 331)

Interessanterweise ist aber noch niemand auf die Idee gekommen, dieses unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Political Correctness äußerst delikate Zitat aus diesem Buch tilgen zu wollen. Man vergleiche mit dem harmlosen „Negerkönig“ aus Pippi Langstrumpf. Ob es wohl daran liegt, dass Anna Seghers eine Säulenheilige der Linken ist?

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Juli 2018)

Bram Stoker: Dracula (1897)

Ein unverdienter Klassiker – Emanzipation als unerwartetes Hauptthema

Für gewöhnlich verbindet man mit dem Wort „Klassiker“ ein Werk, das die Leser durch seine literarische Qualität und durch die darin transportierte Weisheit über mehr als ein Jahrhundert zu überzeugen vermag. Nicht so bei Bram Stokers „Dracula“. Dieses Buch ist allein deshalb von Bedeutung, weil es für die Ausbildung des Vampir-Genres von großer Bedeutung war und auf diese Weise zu einem Klassiker wurde. Der Leser verfolgt also mit Interesse, welche Unterschiede es zwischen diesem Urbild aller Vampirgeschichten und den ihm bekannten Vampirgeschichten gibt.

Der größte Unterschied ist sicher, dass Dracula nicht in Transsylvanien bleibt, sondern nach London kommt, und dort mitten in der modernen Stadt sein Unwesen treibt. Der Roman betont auch sonst die Moderne: Tagebücher werden z.B. auf Phonographen aufgenommen oder auf Reiseschreibmaschinen geschrieben. Bluttransfusionen werden vorgenommen. Man fährt sogar schon Untergrundbahn in London. Am Ende flieht Dracula zurück nach Transsylvanien und wird kurz vor Erreichen seines Schlosses zur Strecke gebracht. Verfolgt wird er mit der Eisenbahn und mit einem Dampfschiff, bewaffnet mit geweihten Hostien und modernen Winchester-Gewehren. Die „Bluttaufe“ von Mina Harker, d.h. das erzwungene Trinken von Blut aus den Adern des Vampirs, erinnert an Harry Potter, der in sich ein Element seines großen Gegenspielers Voldemort trägt. In der Trance der Hypnose kann Mina Harker deshalb in das Denken des Vampirs eindringen, ganz wie bei Harry Potter. Heutige Vampirgeschichten haben nichts mehr davon.

Literarisch ist das Buch nur von mäßiger Qualität. Insbesondere die erste Hälfte des Romans zeichnet sich dadurch aus, dass Doktor van Helsing unglaublich lange braucht, um den anderen Protagonisten zu verkünden, dass die seltsamen Phänomene, denen sie gegenüberstehen, auf Vampirismus zurückzuführen sind. Mindestens fünfmal wird Lucy Westenraa durch Bluttransfusion oder Abschirmung gerettet und dann doch wieder ausgesaugt, bis sie endlich tot ist, aber die Ursache für ihre seltsame Krankheit bleibt die ganze Zeit über ungenannt. Der Leser wird allzu sehr auf die Folter gespannt. Erst in der zweiten Hälfte des Buches nimmt die Erzählung angenehm Fahrt auf. Sehr befremdlich auch, dass alle Frauen und Männer in diesem Roman die besten und die edelsten Frauen und die tapfersten und die verlässlichsten Männer sind. Das versichert insbesondere Doktor van Helsing jedem, dem er begegnet, und bietet ihm auch sogleich seine unverbrüchliche Freundschaft an. Dieser Stil kann nur teilweise mit den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts entschuldigt werden. Dementsprechend sind die Charaktere allzu flach.

Immerhin: Obwohl die Männer das ganze Buch über ständig dabei sind, verletzliche Frauen vor Gefahren zu schützen und zu retten, stellt sich regelmäßig heraus, dass die Frauen den Männern in nichts nachstehen. Insbesondere mit typischen Sekretärstätigkeiten (Schreibmaschine schreiben, Fahrpläne studieren, usw.), die Ende des 19. Jahrhunderts vielen Frauen den Weg ins Berufsleben bahnten, unterstützt Mina Harker die Vampirjagd ganz maßgeblich, und während die Männer ohne Mina Harker auf Vampirjagd gehen und sie zuhause zurück lassen, um sie zu schonen, wird sie genau dort zum Opfer des Vampirs.

Weisheiten hat das Buch kaum zu bieten, außer ein paar Lebensweisheiten am Rande, wie sie in jedem Groschenroman zu finden sind. Es stellt sich überhaupt die Frage, was die Geschichte sagen will. Für welche menschliche Realität sind Vampire eine Chiffre? Es lässt sich nichts vorstellen. Der Kontrast zwischen Moderne und realisiertem Aberglauben fällt auf. Ob das ein Hinweis darauf sein soll, dass die Moderne die Vergangenheit nicht völlig abräumen kann? Es wäre ein allzu grobschlächtiger, geradezu kindischer Hinweis. Nein.

Vielleicht muss man für eine Deutung in die Niederungen der menschlichen Begierde hinabsteigen. Die Begehrlichkeit der Vampire wird regelmäßig erotisch konnotiert, ebenso die Schönheit der weiblichen Vampire. Und Graf Dracula hat es offenbar immer nur auf junge Frauen abgesehen. Die jungen Frauen verfallen dem Vampir in einer Art Hypnose und lassen sich willig aussaugen. Hinterher können sie sich an nichts mehr erinnern und sind verwirrt. Eine unbekannte Krankheit hat sie befallen, die sie schrittweise in einen von wollüstiger Blutbegierde getriebenen Vampir verwandelt. Im Kontrast dazu werden Beziehungen zwischen edlen Männern und Frauen von höchst niveauvoller Art vor Augen geführt, in auffällig übertriebener Weise. Nicht zuletzt erweist sich Mina Harker als eine moderne Frau, die den Männern in nichts nachsteht.

Soll das Buch eine Mahnung und Warnung vor allem an die Adresse junger Frauen sein, die Ende des 19. Jahrhunderts immer selbstbewusster und selbständiger werden, damit sie „edle“ Beziehungen schätzen lernen und sich nicht von bloßer Erotik leiten lassen, die sie „krank“ macht und ihr Leben „aussaugt“? Möglich. Gut möglich. Das wird es sein. Aber auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Roman nur flach und grotesk. Immerhin ist eine gute Absicht erkennbar.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. März 2023)

Hugo von Hofmannsthal: Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes (1911)

Große Enttäuschung: Offenbar Lieblingsstück primitiver Antikapitalisten

Wer hat nicht schon vom „Jedermann“ gehört? Dieses legendäre Stück, dass immer in Salzburg aufgeführt wird, das nur von den besten Schauspielern gespielt werden darf, dieser Eckstein der weltweiten Theaterkultur: Man muss es gelesen haben! Also ran.

Das Stück „Jedermann: Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ ist in Stil und Inhalt ganz in der Art eines Jesuiten-Theaters zur christlichen Belehrung der gläubigen Massen gehalten. Es ist in der Tat eine Adaption frühneuzeitlicher Vorlagen.

Der Inhalt ist überraschend stupide: Ein reicher Mann, um die 40, erfährt, dass er sterben muss, und sucht nun Begleiter in den Tod, die ihn vor Gott rechtfertigen sollen. Doch alle winken ab: Sein Freund ebenso wie seine Verwandten und Knechte. Auch sein eigener Mammon verweigert ihm die Gefolgschaft. Nur die Personifikationen von guten Werken und Glaube retten ihn am Ende, nachdem er sich reumütig zum christlichen Glauben bekehrt hat.

Drei Probleme

Das Stück leidet zunächst an zwei Problemen: Zum einen ist es strikt im Rahmen eines altbackenen christlichen Glaubens gehalten, den es an keiner Stelle symbolisch überhöht oder modern deutet. Noch größer ist jedoch das Problem, dass die zu Beginn des Stückes vorgeführten Sünden des Herrn Jedermann überhaupt keine Sünden sind!

  • „Sünde“ Nr. 1: Ein Bettler kommt zu Jedermann, Jedermann gibt ihm spontan etwas Geld. Doch der Bettler will gleich den ganzen Geldbeutel. Dies weist Jedermann zurück. Wo soll hier eine Sünde sein? Es ist nur vernünftig.
  • „Sünde“ Nr. 2: Ein Schuldner wird in den Schuldturm geworfen. Jedermann findet das richtig, denn der Schuldner hat den Gläubiger schließlich um sein Geld betrogen. Eine Sünde kann man das nicht nennen, denn es ist gerecht. Aber dabei bleibt Jedermann nicht stehen: Jedermann übernimmt für die mittellose Familie des Schuldners Kost und Logis! Das ist keine Sünde, das ist eine soziale Tat!
  • „Sünde“ Nr. 3: Jedermann hat eine Freundin und scheut es, sich in der Ehe zu binden. Er lebt gerne und gut in Geselligkeit mit Freunden. Hier könnte man vielleicht den Unwillen, sich zu binden, kritisieren, aber von einer schweren Sünde ist hier weit und breit nichts zu sehen. Die Toskana-Fraktion der Antikapitalisten lebt nicht anders.
  • „Sünde“ Nr. 4: Jedermann hat Gott und die Erlösertat Christi vergessen. Das ist natürlich eine Todsünde – aber nur im Rahmen eines altbacken christgläubigen Weltbildes! Moderne Menschen können damit nichts anfangen, zumal sich Jedermann durchaus sozial verhält, wie wir sahen.

Fast schon sympathisch ist Jedermanns unfreiwillig herausgerutschter Satz, gemünzt nicht auf seine engeren Freunde, sondern auf andere Gäste seines Hauses:

„Wie Ihr da seid hereingelaufen,
So könnte ich Euch alle kaufen,
Und wiederum verkaufen auch,
Dass es mir nit so nahe ging
Als eines Fingernagels Bruch.“

Sympathisch deshalb, weil Jedermann mit diesen Worten die aus dem Kontext dieser Stelle ersichtlichen wahren Motive jener Gäste entlarvt, die nicht seine Freunde sind, sondern nur von seinem Reichtum an seiner Tafel profitieren wollen.

Das dritte Problem sind diverse Lächerlichkeiten:

Lächerlich wird das Stück, wo Jedermann eines Lebens bezichtigt wird, das dem Klischee des dekadenten, egoistischen Reichen entspricht: Lächerlich deshalb, weil wir doch zuvor sahen, dass es so nicht ist. Jedermann ist nicht Ebenezer Scrooge, sondern zu Almosen und sozialer Unterstützung bereit. Das Stück enthält hier einen eklatanten Selbstwiderspruch.

Lächerlich ist auch der Versuch des Stückes, in der Absage von Freunden, Verwandten und Knechten, Jedermann in den Tod zu begleiten, eine moralische Aussage sehen zu wollen. So ein Unsinn! Man kann selbst vom besten Freund zwar viel verlangen, aber den Tod wohl kaum. Damit wendet sich die Dramatik der Absagen an Jedermann ins Lächerliche. Selbst für einen gläubigen Christen ist der Gedankengang fragwürdig, einen Freund in den Tod zu begleiten. Solches hat man zuletzt von den Sumerern gehört, wo die Könige sich mitsamt ihrem extra zu diesem Zweck getöteten Hofstaat bestatten ließen, und das gilt als barbarisch.

Und übrigens: Wieso sollte ein Freund, der ebenso „sündig“ gelebt hat wie Jedermann, ihm im Jenseits irgendwie helfen können?! Hier ist das Stück auch logisch brüchig.

Woher der Erfolg?

Wie kommt es nun, dass ein so völlig aus unserer Zeit gefallenes und im Grunde lächerliches Stück einen solchen Erfolg feiern konnte? Die Antwort ist einfach: Der einzig mögliche moderne Anknüpfungspunkt ist ein primitiver Antikapitalismus. Jedermann, der – wie wir sahen – eigentlich ganz vernünftig ist, wird gerade deshalb angefeindet, weil er reich ist und Geld hat. Der Reichtum an sich (!) wird bereits verteufelt, und nicht so sehr, wie er verwendet wird.

Während Jedermann sagt:
„Geld ist wie eine andere War‘
Das sind Verträge und Rechte klar“

sagt der Schuldner:
„Geld ist nicht so wie andre War‘
Ist ein verflucht und zaubrisch Wesen, …
Des Satans Fangnetz in der Welt
Hat keinen anderen Nam als Geld.“

Reichtum, Geld, Zinsen: Einfach alles Teufelszeug. Schuldig ist – natürlich! – nicht der, der geliehenes Geld nicht zurückzahlen kann, sondern der, der es verliehen hatte. Das ist nichts anderes als ein primitiver Antikapitalismus, der auf einem fundamentalen Nichtverstehen von ökonomischen Zusammenhängen beruht. Nur das kann den Erfolg dieses Stückes erklären. Hier ist übrigens das üble Klischeebild vom jüdischen Wucherer nicht fern, der die braven Nichtjuden in die „Zinsknechtschaft“ führt. So manche mittelalterliche Judenhatz beruhte auf diesem falschen Denken, und als das Stück zum ersten Mal in Salzburg aufgeführt wurde (1920), meinten nicht wenige mit Karl Marx („Zur Judenfrage“, 1843) eine enge Verbindung von jüdischer Kultur und dem „bösen“ Kapitalismus erkennen zu können. Wir sehen, in welchen Sphären des Geistes wir uns bewegen.

Hier geht das schiefe Bild des Christentums von Reich und Arm eine üble Synthese ein mit modernem sozialistischen Gedankengut. Der Autor Hugo von Hofmannsthal war übrigens kein Sozialist, sondern ein Monarchist und Konservativer. Aber in der Kritik am Kapitalismus treffen sich Christentum und Sozialismus offenbar.

Indem man sich um dieses Stück versammelt, macht man ein politisches Statement. Alle, die sich um es scharen, und es von Jahr zu Jahr als Eckstein der Kultur hochleben lassen, erklären dadurch gleichzeitig jeden, der sich dem Stück verweigert, jeden Befürworter einer sozialen Marktwirtschaft, zu einem kulturellen Banausen. Zu einem unsensiblen Dummkopf, der eben mangels Sensibilität nicht verstanden habe, worauf es in der Welt ankomme.

In diesem Stück wird der Vernünftige zum Bösewicht gemacht, und das Unvernünftige des antikapitalistischen Denkens zur Weihe der höchsten Moral erhoben. Und in der Tat: Wenn man die positiven Amazon-Rezensionen durchliest, findet man immer wieder Aussagen wie die, dass Jedermann selbst Almosen für Bettler verweigern würde. An dieser Falschaussage sieht man, mit welchen Augen das Stück gelesen wird, und welchen falschen Eindruck es bei weniger gebildeten Lesern und Zuschauern hinterlässt.

Schluss

Der einzige Trost für aufgeklärte Menschen ist, dass dieses Stück das Kindische dieser antikapitalistischen Sichtweise durch die bezeichnenderweise gut passende Einbettung in die kindliche Gläubigkeit des Mittelalters unfreiwillig als kindisch entlarvt und mit sich ins Lächerliche zieht.

All diese vernunftwidrigen Pharisäer, die sich den teuren Theaterurlaub in Salzburg gönnen, und sich im Mainstream einer Schickeria von Gleichgesinnten sonnen, während der selbstbestätigende Beifall am Ende dieses antiaufklärerischen Stückes aufbrandet: Ihnen ruft die Stimme der Vernunft hinterher: „Jedermann! Jedermann!“ – Ihnen legt Athene die Frage vor, welche Vernunftleistung sie für ihren Nachruhm sprechen lassen wollen! – Ihnen wird beim Symposion von Sokrates eine Abfuhr erteilt!

Sie sind die wahren Jedermänner!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon ca. April 2014; 31.08.2023 festgestellt, dass die Rezension auf Amazon nirgends mehr zu finden ist.)

Jostein Gaarder: Das Kartengeheimnis (1990)

Genial verschränktes Werk voller Esprit – hier wird Philosophie lebendig erfahrbar

Das „Kartengeheimnis“ von Jostein Gaarder ist eine geniale Verschränkung verschiedener Handlungsstränge ineinander: Eine Reise nach Griechenland, ins Mutterland der Philosophie. Eine Reise in die Vergangenheit einer Familie und ihrer Brüche. Und eine Reise auf eine magische Insel, auf der die Phantasieprodukte eines Schiffbrüchigen plötzlich reale Gestalt annehmen und Teil der wirklichen Welt werden. Wenn die 53 Karten eines Kartenspiels lebendig werden und gemäß ihrer Funktion agieren, entsteht eine ganz eigene Welt, die uns auch über unsere wirkliche Welt einiges lehren kann. Denn wie wirklich ist eigentlich die Wirklichkeit? Und dann ist da noch der Joker im Spiel …

Diese mit viel Esprit geschriebene Geschichte ist ganz nebenbei auch eine wunderbare Vater-Sohn-Geschichte. Ebenso nebenbei leistet Jostein Gaarder dankenswerterweise auch die Aufarbeitung eines Teils der norwegischen (und europäischen) Unheilsgeschichte, nämlich die Thematisierung der Hassverbrechen der im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzten Völker an jungen Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten.

Prädikat: Sehr wertvoll. Besser als „Sofies Welt“.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Oktober 2019)

Friedrich Christian Delius: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (1995)

Ein „Ausflug“ aus der DDR in den dekadenten, linksliberalen Westen

Friedrich Christian Delius ist wie immer ein Meister der Introspektion: Man sieht bei ihm, wie „es“ im Menschen denkt. Das macht die Lektüre allerdings auch anspruchsvoll. Diesmal geht es um einen DDR-Bürger, der ohne politische Absichten einfach nur auf den Spuren Seumes nach Italien reisen und dann wieder zurückkehren möchte.

Die erste Hälfte des Buches über erlebt man mit, wie die Flucht geplant wird, wie dabei ein Gedanke den nächsten jagt, wie das Denken vorwärts auf das eine Ziel hin drängt. In der zweiten Hälfte des Buches erlebt man die Begegnung mit dem Westen. Das völlige Unvermögen der dekadenten, linksliberalen Wessis, den unpolitischen Ossi zu verstehen, ist sehr gut getroffen. Erst in Italien fühlt sich der DDR-Bürger als Deutscher und Diktaturopfer ernst genommen.

Das Buch wäre in besagtem dekadenten Westen vor 1989 wohl ein Skandalbuch geworden; da es aber erst in den 90er Jahren geschrieben wurde, winken viele heute nur ab: Stasi und Mauer gelten als ferne Vergangenheit. Sie begreifen nicht, dass das dekadente, linksliberale Denken, das vor 1989 im Angesicht der DDR-Diktatur versagte, auch heute noch herrscht, und immer wieder aufs neue an immer wieder neuen Themen versagt; oder sie begreifen es, und wollen nicht mit Kritik belästigt werden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. August 2012)

Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels (2006)

Ein Plädoyer für eigenwillige Intellektualität und das unvergänglich Schöne im Leben

Im Zentrum des Romans „Die Eleganz des Igels“ steht eine 54jährige verwitwete Concierge eines Pariser Nobelwohnblocks. Nach außen hin verbirgt sie, dass sie sich im Laufe der Zeit eine hohe Bildung angelesen hat und sich in Literatur, Philosophie, Musik und Kunst bestens auskennt, indem sie die Rolle der mürrischen Concierge spielt und darin bis zur Perfektion gelangt ist. Paloma, die aufgeweckte Dreizehnjährige die ihren Selbstmord plant, und Monsieur Ozu, ein neu zugezogener japanischer Millionär von hoher Bildung, sind die einzigen Bewohner des Blocks, denen die Intellektualität der Concierge nicht entgeht; sie decken ihr Geheimnis auf, befreien sie aus ihrer intellektuellen Einsamkeit und schließen Freundschaft. Doch so glatt geht die Sache am Ende nicht auf, denn das Schicksal ist launenhaft und ungerecht.

Mehr noch als die Handlung stehen philosophische Überlegungen, die sich an Alltagssituationen anknüpfen, im Mittelpunkt des Romans: Aus Banalitäten werden hochintelligente Betrachtungen über das Leben abgeleitet, und hohe Philosophie und Kunst wird direkt mit dem Alltag konfrontiert und auf praktische Tauglichkeit hin überprüft. In diesem Feuerwerk der Assoziationen von Bildung und Alltag liegt ein wesentlicher Teil des Reizes an diesem Buch.

Dieser Roman setzt nicht nur der Pariser Concierge und nicht nur dem ewigen Kleinkrieg zwischen Spießertum und Intellektualität ein literarisches Denkmal, sondern vor allem auch dem Typus des Autodidakten, der durch eigene Lektüre zu einer hohen Bildung gelangt ist. Ohne auf seinem Bildungsweg durch Rücksicht auf Schulen, Moden und Konventionen geformt worden zu sein, kann er seine Bildung und Vernunft frei in eigenwilliger Originalität entfalten und auf alles anwenden, wie es ihm beliebt. Andererseits kann diese Freiheit den Preis der Einsamkeit kosten, der zu Melancholie bis hin zur Verzweiflung an der Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins führen kann.

Am Ende des Buches behält diese Grundstimmung die Oberhand: Das Schicksal erlaubt es nicht, das die Concierge nach 54 Jahren der Einsamkeit zu einer optimistischen Weltsicht vordringt und mit spät entdeckten Gleichgesinnten zu leben beginnt. Gewiss, dieses Ende ist keineswegs unrealistisch, aber musste das sein? Vielleicht war der Autorin ein einfaches Happy End schlicht zu simpel. Dem Leser zum Trost sei festhalten: Auch ein Happy End wäre selbstverständlich möglich gewesen, das traurige Ende des Romans ergibt sich keinesfalls zwingend; es handelt sich hier also nicht um ein Plädoyer gegen das Streben und für die Ergebenheit in einen schicksalhaften Fatalismus, dem niemand entrinnen könne – ganz im Gegenteil! Paloma sagt es im Schlusskapitel: Es gibt die Möglichkeit, Momente unvergänglicher Schönheit zu erleben und das Schicksal durch Entscheidungen zu beeinflussen – und sie entschließt sich, zu leben!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 04. August 2012)

Stefan Zweig: Schachnovelle (1942)

Ein zum Klassiker gewordenes Meisterwerk: Charakterstudien, Nationalsozialismus und Schach

Dieses längst klassisch gewordene schmale Bändchen von Stefan Zweig ist viel mehr als die meisten meinen. Es ist eine Charakterstudie nicht nur von einer Person, sondern gleich von vier Personen, und behandelt werden mindestens zwei Themen, wenn nicht mehr.

Die erste Charakterstudie widmet sich einem Schachweltmeister, Mirko Czentovic: Aus welchen Verhältnissen er stammt, und wie er so geworden ist, wie er ist. Um an diese sehr verschlossene Person heranzukommen, verbündet sich der Ich-Erzähler mit McConnor, einem schottischen Ölbohrungsingenieur, einem Ausbund an Pragmatismus und Ehrgeiz. Schließlich die Hauptperson: Der Vermögensverwalter Dr. B., der sich in Gefangenschaft der Gestapo in einen wahren Schachwahn hineingesteigert hatte, der Suchtcharakter annahm und die Gefahr des Rückfalls in sich birgt. Aber es gibt noch eine vierte Person von Interesse: Es ist der Ich-Erzähler – natürlich Stefan Zweig, wer sonst? – der einmal mehr in seiner Rolle als neugieriger Erkunder der menschlichen Seele auftritt. Dabei zeigt er sich nicht als Alleskönner und Superheld, sondern als fragender, zweifelnder, ausprobierender, listenreicher aber auch manchmal unbeholfener Erkunder der Seele, was sehr menschlich ist.

Die zwei großen Themen der Novelle sind bekannt: Da ist zum einen die subtile Folter von Dr. B. durch die Gestapo. Völlig isoliert in einem Hotelzimmer, ohne Zeitung und ohne Gesprächspartner, wird Dr. B. geistig und nervlich zermürbt, ohne dass er körperlich gefoltert würde oder überhaupt eine schlechte Behandlung nach den üblichen Kategorien erfährt. (Auch eine Frau spielt keine Rolle, wie manche Verfilmung offenbar meint – von jeder Verfilmung sei abgeraten, man kann diese Erzählung nicht verfilmen.) Das andere große Thema ist natürlich das Schachspiel und seine Faszination in vielen Facetten.

Es gibt aber auch interessante Nebenthemen: Dazu gehört die Plünderung von nichtjüdischem Privatvermögen durch die Nationalsozialisten, hier die Vermögen von Adel und Kirche, die vom Vermögensverwalter Dr. B. betreut wurden. Oder die Wichtigkeit der geistigen Nahrung und des Austauschs mit anderen für den menschlichen Seelenhaushalt. Die Herkunft von Mirko Czentovic setzt dem Provinzleben der kuk Monarchie einmal mehr ein Denkmal. Man erfährt aber auch, wie es auf einem Ozeandampfer zuging, hier auf einer Überfahrt von New York nach Buenos Aires. Da heute alle das Flugzeug nehmen, ist diese Form des Reisens praktisch ausgestorben.

Alles in allem ist diese kurze Erzählung ein kleines Meisterwerk, das zurecht zu einem Klassiker geworden ist, den man gerne und leicht mehr als nur einmal in seinem Leben lesen kann.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Joseph Roth: Radetzkymarsch (1932)

Epochen-Roman über Milieu und Verlust der kuk Monarchie

Der Roman „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth ist vor allem eine Milieustudie der Zeit der untergehenden kuk Monarchie. Die Morbidität der wie für die Ewigkeit zementierten Verhältnisse, und das in ihnen aufbrechende Neue, sowie der Verlust des Alten sind die Themen. Für diese Epoche und diese Zeit und den folgenden Umbruch sicher ein großartiger Roman in einer sehr schönen Sprache.

Der Handlungsfaden ist eigentlich nebensächlich, jede Szene für sich ist ein Ereignis: Wie der Held von Solferino zum Helden wurde, wie er sich über eine falsche Darstellung in einem Schulbuch beklagt. Die Examinierung durch den Herrn Vater, den Bezirkshauptmann und Repräsentanten des Kaisers, das Mittagessen mit der Haushälterin und dem Diener, danach das Aufspielen der Musikkapelle, danach die Unterhaltung des Bezirkshauptmannes mit dem Kapellmeister. Der Besuch beim Witwer Slama, das Offizierskasino, das Bordell, der jüdische Doktor Demandt, dessen orthodoxer Großvater und Schankwirt, das Duell, die Verhältnisse an der Grenze, der Spielsalon, Kapturak, die verkrachte Existenz Maler Moser, die sozialdemokratische Demonstration und ihre Niederschießung, der Tod des Dieners Jacques, die Eisenbahn, immer wieder Kaffeehausszenen, Wiener Bürokraten, der milde und der greise Kaiser, das Auseinanderfallen der Armee beim Eintreffen der Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers, der Schachpartner des Bezirkshauptmannes Dr. Skowronnek, und viele, viele andere mehr.

Leider wird die Handlung heute häufig unter dem Aspekt der Affären des Leutnants Trotta gesehen, vielleicht wegen Verfilmungen? Es ist ganz die Sprache, die den Roman ausmacht, und deshalb ist eine Verfilmung ohnehin nicht denkbar. Jedenfalls stehen die Affären nicht im Mittelpunkt und sind nur ein Mosaikstein wie viele andere auch. Der Autor hätte ruhig auch eine Affäre weglassen können, ohne dem Roman etwas zu nehmen.

Der Roman ist ein Meisterwerk der Menschlichkeit, ein literarisches Kunstwerk der Beobachtung, ein Denkmal für eine vergangene Zeit, aber auch ein Mahnmal für Zeitenwenden, die immer wieder auf die Menschen zukommen. Als Hörbuch besonders geeignet, wegen der ruhigen Sprache und vor allem, weil durch einen guten Vorleser mit österreichischem Akzent alles noch viel echter und eindrücklicher wirkt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. September 2012)

Hans Erich Nossack: Das Testament des Lucius Eurinus (1964)

Problemanalyse einer aufkommenden Religion – ohne angemessene Lösung

Das Testament des Lucius Eurinus von Hans Erich Nossack ist eine genaue Selbstanalyse der eigenen, persönlichen Situation des spätrömischen Politikers Lucius Eurinus. Zentrales Problem seiner Zeit ist das Aufkommen des Christentums. Dieses wird unter allen Gesichtspunkten beleuchtet: Die tieferen und durchaus verschiedenen Motivationen von gebildeten und ungebildeten Menschen, von Männern und Frauen, sich dem neuen Glauben anzuschließen; die Schwäche der eigenen Kultur; die Einfalt der meisten Christen; die Unmöglichkeit, mit Christen rational zu diskutieren; die Hilflosigkeit ihrer Borniertheit gegenüber; deren Heroisierung des Leidens und Opferseins, der Hang zum Beleidigtsein, und deren Habitus des Unterdrückten; deren Kollektivismus („wir“). Schließlich die Möglichkeiten, politisch darauf zu reagieren.

In einem Gespräch mit einem gebildeten Christen wird die Widersprüchlichkeit der neuen Bewegung deutlich: Wie der gebildete Christ selbst immer wieder die Irrtümer und Dummheiten der meisten seiner Glaubensbrüder verurteilen und tadeln muss. Wie er also einem Ideal von Christentum anhängt, das in der Realität schlicht nicht stattfindet. Es wird die Perspektive eröffnet, was es für das Christentum bedeuten wird, wenn es sich gesellschaftlich durchsetzt: Die Anpassung an die Notwendigkeiten, die Gestaltung des Glaubens nach dem Politischen. Am Ende wird das Christentum vielleicht dieselbe Funktion erfüllen wie seine Vorgängerkulte. Der gebildete Christ hat nicht mehr zu bieten als ein Erschrecken über dieser Perspektive.

Die Reflexion des Lucius Eurinus geht aber noch tiefer ins Persönliche hinein: Seine eigene Frau ist – fast beiläufig – Christin geworden, und für den römischen Beamten bricht damit eine Welt zusammen. Wie sich diese scheinbar kleine Veränderung gewaltig auf dessen Konzeption von Leben auswirkt, bis ins Privateste hinein, ist ebenfalls Thema. Die Ehe und das Verhältnis von Ehemann und Ehefrau werden unter einer seltenen Perspektive in den Blick genommen, was wertvoll ist. Am Ende seiner Überlegungen zieht Lucius Eurinus den Schluss aus seinen Überlegungen: In Stille aus einem Leben zu verschwinden, das nicht mehr das Seine ist.

Als Nossack diesen Text 1963 schrieb, dachte er wohl kaum an das Aufkommen des Islam in Deutschland, doch genau diese Perspektive gibt dem Büchlein heute (2012) eine Aktualität, die aufhorchen lässt. Schritt für Schritt begegnen dem heutigen Leser Gedanken und Probleme, die er aus seiner Gegenwart kennt.

Sehr problematisch ist die vorschnelle Resignation und Lebensverneinung, die in Nossacks Werk zum Ausdruck kommt. Auch wenn eine Lage schwierig ist, zum Davonlaufen ist sie deshalb nicht unbedingt. Man hätte gerne erfahren, welcher Philosophie und Weltanschauung Lucius Eurinus selbst anhängt, aus der er seine eigene Kraft schöpft; eine solche muss es doch offensichtlich geben, denn auf welcher Grundlage würde Lucius Eurinus die neue Religion sonst kritisieren? – Wenn Lucius Eurinus wirklich von seiner eigenen Weltanschauung überzeugt ist, dann würde er der neuen Religion gegenüber geistig standgehalten haben, und daran geglaubt haben, dass sich das Wahre und Gute langfristig durchsetzen wird – oder aber: dass sich das Wahre noch nie durchgesetzt hat und niemals durchsetzen wird, sondern immer eine Sache von Wenigen war. Also in jedem Fall kein Grund für Weltuntergangsstimmung. Lucius Eurinus denkt teilweise wie ein heutiger ungebildeter Islamkritiker, der vor lauter Jammern über den Untergang seiner Kultur und das Aufkommen einer „unbehauenen“ Kultur nicht zu einer konstruktiven Bewältigung der Situation kommt.

Wir finden hier also eine gute Aufbereitung eines Problems, aber keine befriedigende Antwort darauf. Das ist für gute Literatur zu wenig. – Richtig störend ist, dass Lucius Eurinus die Christen ständig als „religionslos“ und „Atheisten“ anredet, weil sie seine römische Religion ablehnen. Für den modernen Leser ist das kaum verständlich, dass hätte Nossack anders machen müssen.

Fazit: Sehr interessant und lesenswert, aber nicht gut genug.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. November 2012)

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