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Douglas Adams: The Ultimate Hitchhiker’s Guide to the Galaxy (1979-92)

Witziges und geistreiches Kultbuch der 1980er Jahre, immer noch aktuell

Der „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“, der mit seinen Nachfolgebänden (bis „Mostly Harmless“) im Zeitraum von 1979 bis 1992 erschien, ist inzwischen zu einem Kultbuch geworden. Durch seine lebendigen Dialoge, seinen Witz und seine geistreichen Einfälle hat es sich diesen Platz mit Recht erobert, und viele seiner Motive sind mittlerweile zu Urbildern der Popkultur geworden. Allein deshalb schon lohnt die Lektüre.

Die Lebendigkeit des Buches verdankt sich offenbar dem Umstand, dass es zunächst als Radiohörspiel an den Start ging, bevor es zum Buch wurde, was man den Dialogen heute noch ansieht. Diese Lebendigkeit nimmt mit dem dritten Buch spürbar ab; man sollte dennoch weiterlesen. Der Witz des Hitchhiker’s Guide lässt sich teilweise als zeittypischer Witz im Stil von Monty Python beschreiben. Oft sind es aber verrückte Koinzidenzen und das unerwartete Zusammenlaufen von Handlungssträngen, die den Witz ausmachen. Teilweise arbeitet das Buch mit Wiedererkennungseffekten beim Leser, die entweder einen komischen Zusammenhang herstellen, oder aber den Leser geschickt an der Nase herumführen. Zahlreiche running gags sind das Salz in der Suppe, darunter vor allem Marvin, the paranoid Android. Nicht zuletzt wurden zahlreiche Anspielungen an unsere irdische Alltagswelt in den Text eingebaut: Ob US-Präsidenten, Getränkeautomaten, Restaurantrechnungen, Partyverhalten, Umweltschützer, Philosophen, Psychiater, Polizeigewalt, Bahnhofsrestaurants, Bürokratie, globale Firmen, Journalisten, die Russen, Verlagswesen, Demokratie, Religion oder Klimaanlagen – alle nur erdenklichen Klischees werden treffsicher durch den Kakao gezogen.

Ein Grund für die Beliebtheit des Buches dürften seine philosophischen Überlegungen sein. Diese führen alles komplexe oder gar religiöse Denken teilweise mit Recht ad absurdum und setzen auf die einfache Botschaft, dass man nett zueinander sein sollte. Letzte Fragen, der Sinn des Lebens – all das löst sich gewissermaßen in Wohlgefallen auf. Das Buch überrascht auch mit physikalischen Gedankenspielen, die halb ernst, halb verulkt sind, darunter Zufall, Relativität, Vieldimensionalität und Zeitreisen. Ebenso gekonnt werden Sprachspiele und originelle Wortschöpfungen eingebaut, und im Zusammenhang mit Zeitreisen sogar neue Zeitformen der Sprache entwickelt. Ebenfalls im Zusammenhang mit Zeitreisen wird die Überlieferung alter Texte thematisiert.

In vielen Punkten ist das Buch immer noch erstaunlich aktuell. Getränkeautomaten und Klimaanlagen scheinen sich seit den 1980er Jahren nicht mehr weiterentwickelt zu haben. Aber es gibt auch Anspielungen, die in Richtung von Entwicklungen deuten, die erst nach dem Erscheinen der Bücher Wirklichkeit wurden. Das Sub-Etha Netz erinnert stark an das Internet. Die Aufforderung des Getränkeautomaten, seine Erfahrungen mit seinen Freunden zu teilen, lässt an facebook denken. Das Flex-O-Panel im Handgelenk von Random könnte man fast als Smartphone durchgehen lassen.

Für manche ist dieses Buch gewissermaßen zur „Bibel“ geworden. Man kann es damit aber auch übertreiben. Das Buch ist natürlich einem eher linksliberalen politisch-weltanschaulichen Spektrum zuzuordnen. Ob es wirklich so einfach ist, die großen Fragen dadurch zu beantworten, dass wir die bisher gefundenen Antworten einfach wegwerfen und uns nicht mehr kümmern, sondern einfach nur „leben“ (wie denn?), ist doch sehr die Frage. Es gibt auch eine ernste Schicht im Leben und Konflikte, die durch Monty-Python-Humor nicht wegdiskutiert werden können. Schließlich kommt dem Leser die damals gegen den US-Präsidenten Ronald Reagan gerichtete Kritik ein wenig fade vor, wenn man bedenkt, dass man den immer selben Aufguss bei jedem neuen republikanischen US-Präsidenten zu hören bekommt, während demokratische US-Präsidenten, von denen nicht zu erkennen gewesen wäre, dass sie auch nur um einen Deut klüger gewesen wären, zum „besten Präsidenten aller Zeiten“, oder gleich zum „Messias“ erklärt werden (von Leuten, die im Sinne des Hitchhiker’s Guide von Religion angeblich nicht so viel halten). Das aber nur am Rande, denn es trübt die Witzigkeit und Spritzigkeit des Leseerlebnisses nicht wirklich.

Besonders im letzten Buch wird auch die Frage nach der Identität behandelt. Eine Tochter, die ohne Anteilnahme von Vater und Mutter aufwuchs, und die die Erde nie gesehen hat, weiß nicht, wohin sie gehört. Ein Drama. Außerirdische, die ihr Gedächtnis verloren haben, und die ihr kulturelles Vakuum mit unserer Fernsehsubkultur füllen. Und Arthur Dent sehnt sich nach einem Planeten, auf dem die Bewohner … so aussehen wie er. Natürlich ist das ein liebenswerter Gedanke, aber man fragt sich, ob das linksliberale Milieu von heute noch in der Lage wäre, das zu erkennen, und die Aussage nicht auf der Goldwaage des aktuellen Zeitgeistes als rassistisch zu verdammen.

Evtl. empfiehlt es sich, im Anschluss das Buch „Philosophy and the Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ von Nicholas Joll u.a. zu lesen, das den angerissenen Fragestellungen nachgeht und ihnen etwas mehr Tiefe verleiht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 28. Februar 2019)

Dirk Liesemer: Lexikon der Phantominseln (2016)

Gute Idee, interessantes Thema, schön gemacht – zu Atlantis aber etwas einseitig

„Insel-Bücher“ gibt es ja inzwischen eine ganze Reihe: Abgelegene Inseln, vergessene Inseln, literarische Inseln – und jetzt Phantom-Inseln: Inseln, die tatsächlich einmal auf Seekarten (und sogar bei Google Earth!) verzeichnet waren, obwohl es sie nie gab.

Dahinter steckt immer eine interessante Geschichte, die etwas über die Menschen, die Zeiten und das Schicksal lehren kann. Aber auch die menschliche Erkenntnis wird herausgefordert: Wie sicher können wir uns unserer Weltkenntnis eigentlich sein? Um wem verdanken wir sie eigentlich? Wir wähnen uns im modernen Zeitalter des Satelliten, und doch beruht noch vieles auf Wissen von alters her.

Zu Platons Atlantis gibt es allerdings noch ganz andere Meinungen, die hier etwas zu kurz kommen. Es ist keineswegs so, dass Atlantis in der Antike gemeinhin als Erfindung galt, und so war es von Platon wohl auch nicht gemeint. Während wir ganz genau wissen, dass Atlantis im wörtlichen Sinn niemals existiert haben kann, könnte es sich immer noch um eine verzerrte historische Überlieferung handeln, hinter der ein realer Ort steht. Richtig ist allerdings, dass im Laufe der Geschichte eine ganze Reihe von Inseln für Atlantis gehalten und mit dem Namen „Atlantis“ auf den Karten verzeichnet wurden. Mehr zu Atlantis in dem Buch: Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis: Von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2016)

Charles Dickens: A Tale Of Two Cities (1859)

Charakter ist alles, die Handlung ist nichts

Der Roman „A tale of two cities“ von Charles Dickens soll eines der am weitesten verbreiteten Bücher überhaupt sein. Vom Inhalt her ist das nicht gerechtfertigt. Der Inhalt ist nämlich ein wenig einfach gestrickt. Es geht um Franzosen, die noch vor der Revolution zunächst in London Zuflucht vor dem Ancien Regime finden, dann zurückkehren, und in die Mühlen der Revolution geraten. Dabei kommt es zu einem spektakulären Platztausch: Einer geht anstelle eines anderen unter die Guillotine. Der Titel ist eher irreführend, London und Paris sind nur die Schauplätze, werden aber nicht tiefergehend gegeneinander ausgespielt.

Der Roman zeichnet sowohl Ancien Regime als auch Revolution etwas simpel. Im Hintergrund steht unausgesprochen die Theorie, dass Adlige und Nichtadlige sich gegenseitig als rassisch verschieden ansehen. Die Adligen betrachten die Nichtadligen als „Hunde“, die Nichtadligen wollen hingegen auch die Kinder von Adligen töten, weil sie eben von deren Blut seien. Es gab diese rassische Theorie damals wirklich, aber angeblich soll sie eher am Rande eine Rolle gespielt haben. Vermutlich hat der Schrecken der Revolution in England dazu geführt, dass man die französische Revolution in der Wahrnehmung in diesem Sinne überzeichnete.

Der eigentliche Wert des Romans liegt wohl eher in seinen Charakterzeichnungen, und den Wertsetzungen, die damit verbunden sind. Der Roman ist gewissermaßen eine Schule des englischen Charakters und eine Erziehung zum Gentleman. Charakter und Moral scheinen überhaupt Themen von Charles Dickens zu sein, wie man auch an seinem „Christmas Carol“ sehen kann. Außerdem entfaltet sich der unverwechselbare Stil von Dickens, mit seinen Kaskaden von Attributen, die er immer wieder effektvoll anbringt, um eine dramatische Betonung auf etwas zu setzen, was ihm wichtig ist.

Fazit:

Alles in allem lesenswert bzw. hörenswert als ein wichtiges Werk englischer Literatur. Man achte dabei aber weniger auf die Handlung und die Historie, als vielmehr auf die Charakterstudien.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Geschrieben 21. August 2017)

Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können (2007)

Hört auf diese Frau! – Goldene Worte in Marmor gemeißelt

Die Probleme der Integration lösen sich leider nicht von selbst, wie viele noch vor Jahren gehofft haben. Die Probleme müssen also analysiert und angepackt werden. Aber der gelernte BRD-Bürger weiß: Das Thema Integration ist ein ideologisch hochgradig vermintes Gelände. Und im Stillen ahnt er, dass eine echte Problemlösung bereits an der äußerst mangelhaften öffentlichen Problemanalyse scheitert.

Und genau hier überrascht das Buch „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates: Sie kennt keine ideologischen Scheuklappen und wagt es, sich ihrer Vernunft ohne die Anleitung eines anderen zu bedienen, um die Dinge so zu beschreiben, wie sie nun einmal sind; darauf aufbauend kann sie intelligente Lösungsansätze entwerfen. Diese Natürlichkeit des Denkens und ihre herzerfrischende Menschlichkeit lassen Seyran Ates alle Sympathien des Lesers zufliegen. Ihre Glaubwürdigkeit baut auf ihrer Lebenserfahrung auf: Selbst eine transkulturelle „Deutschländerin“ – ein Begriff, den Ates positiv besetzt – arbeitet sie in Berlin als Rechtsanwältin für Migrantinnen, wofür sie mitunter mit dem Tod bedroht wird; einen Mordanschlag hat sie bereits mit Müh und Not überlebt. Als Teilnehmerin an der Islamkonferenz des Bundesinnenministers wird sie von den dort vertretenen Islam-Funktionären angefeindet, an deren Verfassungstreue – nach eigenen Angaben – nicht einmal der einladende Innenminister glauben will.

Das Buch ist umfassend und lässt keinen Aspekt aus: Die unumgängliche Notwendigkeit einer Reform und Aufklärung des Islam wird genauso angesprochen wie die „schwere Schuld“ (sic!) der „urdeutschen Multikulti-Fanatiker“ und ihre vollkommen gescheiterte Gesellschaftspolitik. Ohne mit der Wimper zu zucken entlarvt Seyran Ates die politisch korrekten „Lösungen“ als fatale Irrwege: Nicht ein islamischer Religionsunterricht unter der Kontrolle der oben angesprochenen Islam-Funktionäre führt zu Integration und freiheitlicher Gesinnung, sondern z.B. ein gemeinsamer, weltanschaulich orientierender und aufklärender Unterricht für alle Kinder unter demokratischer Kontrolle. Nicht die servile Anbiederung an Migranten in deren Herkunftssprache führt zu einem guten Miteinander und gegenseitigem Respekt, sondern die konsequente Etablierung der deutschen Sprache als der in Deutschland geltenden lingua franca. Nicht die als Toleranz getarnte Akzeptanz einer wie auch immer motivierten Diskriminierung von Frauen und Mädchen bricht die Abschottung von Parallelgesellschaften auf, sondern die kompromisslose Durchsetzung der Gleichberechtigung.

Sehr wertvoll und für den Leser von unschätzbarem Wert sind die Einblicke in das Denken und Fühlen der türkischen Migranten, die uns Seyran Ates als Insiderin vermittelt: Wie verstehen die Zuwanderer den Islam konkret und praktisch, jenseits aller Theorie? Wie definieren sie Ehre, Respekt und Sexualität? Und was denken türkische Migranten über deutsche Behutsamkeiten, wenn gleichzeitig im türkischen Fernsehen eine tabulose Kampagne gegen häusliche Gewalt läuft und hunderttausende Türken in ohnmächtiger Wut gegen die Islamisierung ihres Landes auf die Straße gehen?

Wer das und noch viel mehr erfahren will, der sollte ARD und ZDF abschalten, Frankfurter Rundschau und FAZ in die Tonne treten und statt dessen zum Buch greifen: Zum „Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates, einem Buch, dessen analytische Schärfe und programmatische Kraft von manchen inzwischen mit den Standardwerken der 68er-Bewegung verglichen wird. Es bewegt sich wieder etwas in Deutschland. Es wurde auch Zeit.

PS 11.03.2016

Ein Grundkonzept von Seyran Ates ist die Transkulturalität:

Die geniale Grundidee von Transkulti ist die Erkenntnis, dass ein Mensch sich nicht zwischen Kulturen aufteilen muss. Ein Mensch ist nicht 50:50 deutsch-türkisch, oder 30:70, oder 100:0 (was eine hundertprozentige Assimilation bedeuten würde). In Wahrheit ist es ganz anders: Es ist gar kein Nullsummenspiel, sondern ein Mensch kann zwei Kulturen gleichzeitig beherrschen, also 100:100! Man verlernt ja nicht mit jedem Wort der deutschen Sprache ein Wort der Herkunftssprache, sondern beherrscht am Ende beide Sprachen. So ist es auch mit der Kultur.

Dieses Konzept nimmt alle Spannungen und alle Ängste aus der Integrationsdebatte: Die Zuwanderer müssen nicht befürchten, dass sie ihre Herkunftskultur aufgeben und sich bedingungslos assimilieren müssen. Und die Aufnahmegesellschaft muss nicht befürchten, dass sich die Zuwanderer die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht zu eigen machen und sich nicht integrieren: Man darf das Erlernen und Akzeptieren von Sprache und Kultur der Aufnahmegesellschaft durchaus abverlangen, ohne dem Zuwanderer dadurch etwas wegzunehmen – denn er gewinnt es ja nur hinzu, ohne etwas zu verlieren!

Überdies hatte Seyran Ates klipp und klar gemacht, dass bei Konflikten zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur die Aufnahmekultur Priorität haben muss. Dort, wo die Herkunftskultur nicht parallel zur Aufnahmekultur gepflegt werden kann, weil sie mit ihr im Widerspruch steht, dort darf und soll die Aufnahmegesellschaft ein Stück Assimilation abverlangen. Das ist ihr gutes Recht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 4. August 2012)

Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797 / 99)

Hölderlins lesenswertes Genie-Drama mit fragwürdigem Ausgang

Hölderlins Briefroman „Hyperion“ will das Ganze des erhellten Menschen und seines Sinnes in der Welt fassen. Das Leben des Hyperion wird dazu in seinen verschiedenen Phasen nachgezeichnet, und die großen Themen des Werkes angeschlagen: Unerfahrene Jugend, die von einem Lebenslehrer (Adamas) zum Erwachsenenleben hinaufgezogen wird. Wahre Freundschaft, Zerstreitung, Wiederfindung und Versöhnung (Alabanda). Liebe zu einer Seele, die einen versteht (Diotima). Die Notwendigkeit der Hoffnung für das Leben. Der Wert der Begeisterung, der Harmonie mit dem Ganzen. Klage über das Fehlen eines solchen Geistes bei den Philistern von Smyrna oder den Deutschen. Skepsis gegen romantisches Schwärmen, harte Selbstkritik, Abwehr falscher Hoffnungen und allzu einfachen Glaubens. Abschied, Tod, Sinnlosigkeit. Das klassische Athen als Quelle der Erkenntnis für alle Weisheiten und Einsichten.

Hölderlin hat mit „Hyperion“ ein Werk voller Einsichten geschaffen, das den genialen Menschen in der Welt umfassend durchleuchtet und nicht zufällig in Griechenland angesiedelt ist. In einer schönen, klaren, oft schwärmerisch erscheinenden Sprache führt sich in Briefen ein keinesfalls willkürlich schwärmendes Leben vor Augen. Mehr als alles andere aber steht der begeisterungsfähige und intelligente Mensch, der natürlich-geniale Geist, in seiner Unverstandenheit bei seinen allzu praktischen oder allzu gläubigen Mitmenschen im Mittelpunkt. Nur wenige sind so, und nur wenige werden deshalb Hölderlins Hyperion begreifen können.

Gegen Ende des Romans entgleist Hölderlin die Situation und er scheitert daran, ein wirklich großes Werk geschrieben zu haben:

Was für Hyperion von Wert war in dieser Welt, zerrinnt ihm unter den Händen (Diotima, Alabanda), und er flüchtet sich aus Griechenland ins Land der geistlosen Deutschen in einen nun leider doch schwärmerisch zu nennenden Naturglauben: In der Natur sieht er alles aufgehoben, der Tod ist nichts vor der Natur. Mit diesem Naturglauben kehrt er dann als Eremit nach Griechenland zurück. Diese schwärmerische Wendung, diese Flucht ins Wünschenswerte, für dessen Realität er aber keinen Beleg und kein Argument bringt, außer der geahnten Geisterstimme von Diotima im Säuseln der Natur, nimmt dem Werk etwas von dem guten Eindruck, den es die meiste Zeit macht, denn die gesunde Skepsis wurde über Bord geworfen und Hoffnung ist hier nur für den Schwärmer zu sehen. Für intelligente Menschen, denen ihr Leben zerbricht, hat Hölderlin nur bedingt eine Antwort.

Goethes Faust II endet ebenfalls mit einer Aufgehobenheit nach dem Tode und einer Begrüßung durch das „Weibliche“, aber es ist eindeutig philosophischer und symbolischer, während Hölderlin zu konkret und zu oberflächlich bleibt. Zwischen philosophischer Metaphysik einerseits und schwärmerischer Esoterik andererseits ist eine feine aber wichtige Grenzlinie gezogen, die Hölderlin leider nicht beachtet. Es fragt sich, ob Hölderlin eher auf Athen oder eher auf die „Natur“ gesetzt hätte, hätte er wählen müssen, und wie weit Hölderlins Schwärmerei für die Natur die guten Einsichten, die er dem wirklichen Athen verdankt, überlagert haben.

Man fragt sich auch, was aus Hyperions Plan geworden ist, ein Erzieher des Volkes der Griechen zu werden, den er in Athen gemeinsam mit Diotima fasste. Und der Tod der Diotima aus „Verwelken“ ist ebenfalls ziemlich fragwürdig, wie immer man ihn auch deuten mag; sie hätte mit Hyperion ins Ausland gehen können und dort seine Rolle als Volkserzieher unterstützen – statt dessen stirbt sie mutwillig dahin, weil sie sich „verwelkt“ fühlt; diese Selbstbezogenheit und Pflichtvergessenheit gegenüber der Welt ist nicht nachvollziehbar. Alles in allem ein großes Werk, doch der ganz große Wurf ist gescheitert.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Dezember 2012)

Saša Stanišić: Herkunft (2019)

Idealistischer Romantiker verstrickt sich tragisch-wunderbar in seiner Herkunft

In diesem Buch arbeitet sich Sasa Stanisic an der Herkunft seiner Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien, ihrer Flucht nach Deutschland und seiner Integration in Deutschland ab. Er „arbeitet sich ab“, denn er versucht ein Ding namens „Herkunft“ zu fassen zu bekommen, mit dem er eigentlich nicht viel anfangen kann. Für ihn ist Herkunft rein zufällig. Herkunft sei ein übergestülptes Kostüm und hätte nichts mit Eigenschaften und Talenten zu tun (S. 32, 284). Er wehrt sich gegen die Fetischisierung von Herkunft (S. 221). Herkunft wird in diesem Buch zum lächerlichen Nostalgiekitsch (S. 34), oder zum bösen Nationalismus, wo die Bilder von Kriegsverbrechern auf Häkeldeckchen in der Vitrine stehen (S. 49).

Und doch hat Sasa Stanisic ein ganzes Buch über Herkunft geschrieben. Wie das?

Zunächst: Gefunden hat Sasa Stanisic seine Herkunft vor allem in Menschen (Vgl. S. 64): Das ganze Buch zeichnet immer wieder größere und kleinere Portraits wunderbarer Menschen. Allen voran seine Großmutter, aber auch seine Eltern und andere Verwandte, seine Freunde von der Aral-Tankstelle, wo er über Rollenspiele zum Erzählen und zur Literatur fand, die gebildeten Eltern seines Freundes Rahim, diverse Lehrer, ein serbischer Kellner, oder auch sein Zahnarzt mit dem sprechenden Namen Dr. Heimat. In Menschen – und in den Sprachen – hat Sasa Stanisic seine Herkunft und seine Heimat gefunden. Diese literarischen Portraits von Menschen sind es, die dieses Buch lesenswert machen. Dass Sasa Stanisic unfreiwillig noch viel mehr gefunden hat, dazu gleich mehr.

Die Sprache von Sasa Stanisic ist sehr modern und sehr direkt. Teilweise experimentiert er mit Sprachformen der Zeit, wie WhatsApp oder Soziolekt. Das letzte Kapitel ist sogar wie ein FantasyAbenteuerSpielBuch gestaltet. Der Erzählstrang ist sehr sprunghaft und assoziativ. Dadurch bauen sich Pointen oft sehr überraschend und witzig auf. Viele Pointen enden allerdings in einem recht trockenen Sarkasmus. Sasa Stanisic ist ein großer Beobachter. Er beschreibt viel lieber, als darauf aufbauend theoretische Gedanken zu entwickeln.

Rührend und treffend ist die Einbeziehung von Flucht, Vertreibung und Spätaussiedlung aus dem deutschen Osten, namentlich Schlesien und Danzig (S. 162, 165 f., 177).

Kritik

Sasa Stanisic ist ein Idealist reinsten Wassers. Er ist definitiv ein guter Mensch, jemand, dem man jenseits aller Meinungsverschiedenheiten jederzeit seinen Geldbeutel oder auch sein Leben anvertrauen könnte, jemand, dem es nicht egal ist, wenn Böses geschieht. Stanisic geht es um die Menschheit. Sein verlorener Traum ist das Zusammenleben der verschiedenen Völker im ehemaligen Jugoslawien. Nichts davon ist falsch. Und dennoch ist so vieles daran so unglaublich falsch.

Das Grundproblem von Sasa Stanisic ist sein ungeläuterter Idealismus. Ideale sind schön und gut, aber die Realität sieht oft anders aus. Es bedarf einer Übersetzung in die Realität. Einer Abstufung der Ideale. Einer realistischen Sicht auf die Dinge. Und beim Blick in die Realität würde man vielleicht auch manches Ideal entdecken, das man bisher übersehen oder gar verachtet hatte.

Beginnen wir mit Jugoslawien. Die Verklärung von Jugoslawien als einem multiethnischen Paradies geht in diesem Buch – trotz einer kurz eingeschobenen Kritik (S. 93, 96) – entschieden zu weit (S. 14, 93 f., 102). Jeder weiß doch, wie das in solchen multiethnischen Ländern läuft: Eine Volksgruppe gibt den Ton an, die anderen leiden. In diesem Fall gaben die Serben den Ton an. Das Bestreben der Völker, sich von Serbien abzulösen, kam doch nicht aus dem Nichts! Diese Menschen hatten bittere Erfahrungen gemacht, die in diesem Buch leider nicht vorkommen. In rücksichtsloser Multikulti-Manier wischt Sasa Stanisic die Existenz von verschiedenen Nationen, Völkern und Kulturen in Jugoslawien beiseite: Auf dem Balkan seien doch alle Völker mal durchgekommen, nichts sei so multikulturell wie der Balkan, meint er flapsig (S. 99 f.). Dass er mit diesem historischen Relativismus auf der gegenwärtigen Identität von Menschen herumtrampelt, ist ihm offenbar nicht klar.

Dass Sasa Stanisic den Begriff „nationale Interessen“ verachtet (S. 64), spricht Bände. Denn auch in der besten Demokratie vertreten die Politiker natürlich die Interessen ihres Wahlkreises oder ihres Bundeslandes! So funktioniert die Welt nun einmal. Kommt denn in dem Eid der jugoslawischen Pioniere, den Sasa Stanisic wohlwollend zitiert (S. 93), nicht auch das Wörtlein „selbstverwaltet“ vor? Aha! An nationalen Interessen ist nichts falsches, solange sie nicht in Nationalismus überschlagen. Es ist völlig legitim, erst einmal Selbstbestimmung erlangen zu wollen, bevor man sich dann – auf Augenhöhe – vielleicht wieder zusammenschließt, z.B. in der EU. Sehr vorbildlich, nämlich völlig friedlich, haben sich z.B. Tschechien und die Slowakei voneinander getrennt, und beide sind heute in der EU.

Sasa Stanisic kann von jedem Spieler der jugoslawischen Nationalmannschaft die Volkszugehörigkeit nennen (S. 14). Ein „melting pot“, den er selbst hier sehen will, sähe anders aus. Es erinnert an den Witz, in dem der Generalsekretär der KPdSU den US-Präsidenten fragt: „Im Moskauer Staatsorchester gibt es drei jüdische Geiger, zwei jüdische Trompeter usw., also können wir keine Antisemiten sein! Und wieviele Juden gibt es im New York Philharmonic Orchestra?“, worauf der US-Präsident die geniale Antwort gibt: „I don’t know!“ – Auch bei seinen Freunden von der Aral-Tankstelle kennt Stanisic die Herkunft von jedem einzelnen sehr genau. Sie war wohl doch nicht egal.

Ganz unfreiwillig gibt Sasa Stanisic auch zu, dass Herkunft auch ein Ort sein kann, sogar ein kultureller Raum. Also ein Ort, der sich durch die dort vorherrschende Kultur definiert. Denn genau das war das ehemalige Jugoslawien bzw. das war sein Heimatort Visegrad. Diese Orte gibt es heute noch, aber die Kultur, die damals dort herrschte, ist verloren. Die Kultur des ehemaligen Jugoslawien war zwar – wie schon gesagt – eine fragile und unehrliche Kultur; der Punkt ist aber, dass Sasa Stanisic diesem verlorenen kulturellen Raum definitiv nachtrauert, und damit unfreiwillig zugibt, dass kulturelle Räume Herkunft und Heimat sein können. Man verletzt Menschen, wenn man ihnen ihren kulturellen Raum wegnimmt und zerstört. Da kann Stanisic seine Großmutter noch so lange sagen lassen „Es zählt nicht, wo was ist.“ (S. 337) Es zählt eben teilweise doch: Manche Dinge können nur an bestimmten Orten geschehen.

Das gilt nicht nur für den Kulturraum einer einzelnen Kultur, sondern auch für die friedliche Begegnung verschiedener Kulturen an einem Ort. Denn ohne die entsprechenden Rahmenbedingungen geht weder das eine noch das andere. Meistens ist es ja so, dass Orte, an denen sich verschiedene Kulturen friedlich begegnen, in Wahrheit durch eine Monokultur eingerahmt sind. Das trifft z.B. bei den multikulturellen Metropolen der Welt zu: Ob New York oder Frankfurt am Main, ohne die Einrahmung in die jeweilige Nationalkultur würden diese Orte sofort in unverbundene Parallelgesellschaften zerfallen, die sich im Extremfall auch bekriegen würden, Stadtviertel um Stadtviertel, Häuserzug um Häuserzug. Sasa Stanisics Idee, dass für das Zusammenleben der kleinste gemeinsame Nenner genüge (S. 222) ist grober, idealistischer Unfug. Das funktioniert nur für Touristen und Gastarbeiter auf Zeit ohne Familie. Auch seine Klage, dass man bei den Vilen (Wilen, weibliche Naturgeister) nur nach deren Sinn integriert ist, nämlich weder gleichberechtigt noch frei (S. 353), zeugt von utopischem Multikulti-Denken. Die Gesellschaft fordert von jedem Anpassung. Auch „Urdeutsche“ sind in der deutschen Gesellschaft nicht gleichberechtigt und frei, wenn sie vom Mainstream abweichen.

Ganz unfreiwillig gibt Sasa Stanisic auch zu, dass Herkunft eben doch Einfluss auf unsere Eigenschaften und Talente hat. Die Erzählkunst soll er von seinem Großvater haben (S. 87 f.). Die Angst vor Schlangen hat er von seinem Vater geerbt (S. 339). Am Ende dankt Sasa Stanisic seinen Eltern, Großeltern, Freunden: Wofür, wenn er von ihnen nichts bekommen hat? (S. 363) – Die Idee des „blank slate“, der Sasa Stanisic in diesem Buch frönt, ist genauso falsch wie die Idee, dass ein Mensch qua Geburt völlig festgelegt wäre. Den richtigen Weg zwischen den Extremen hat Sasa Stanisic noch nicht gefunden. Die Frage ist auch, warum Sasa Stanisic an der nichtdeutschen Schreibweise seines Namens festhält. Bedeutet sie ihm am Ende doch etwas?

Auch Religion sieht Sasa Stanisic extrem einseitig (S. 117, 120, 211 f.). Sie spielt im Grunde immer die Rolle des Bösen. Das kam auch in seiner Dankesrede zum Deutschen Buchpreis heraus, als er sarkastisch anmerkte, dass die katholische Kirche Peter Handke schon zum Literaturnobelpreis gratuliert habe. Aber könnte man das nicht auch als eine Geste der Versöhnung sehen? Immerhin sympathisierte die katholische Kirche mit den katholischen Kroaten, während Handke mit den orthodoxen Serben sympathisierte. Wie sieht Stanisic eigentlich die historische Rolle des katholischen Humanisten Erasmus von Rotterdam, oder des islamischen Humanisten Averroes? Und wie sieht Stanisic die Rolle des Katholiken de Gaulle und des Katholiken Adenauer, die sich in der Kathedrale von Reims trafen, um die deutsch-französische Freundschaft zu besiegeln, und damit den Grundstein für die EU zu legen? Diese radikale Ablehnung von Religion ist nicht nur historisch und philosophisch falsch, sondern auch extrem unrealistisch und politisch völlig unklug. Man kann Religion besser oder schlechter machen, man kann sie aber nicht einfach abschaffen. Dass Sasa Stanisic am Ende nicht selbst das Kreuz zur Beerdigung seiner Großmutter trug, ist hingegen sehr verstehbar: Das ist seine ganz persönliche Entscheidung (S. 331, 360).

Sasa Stanisic zeigt sich offen linksradikal: Er zitiert Karl Marx mehrfach und lässt die Zitate unkommentiert stehen, was ohne Zweifel Zustimmung zum Ausdruck bringt. So z.B., dass Religion der Geist geistloser Zustände sei, oder dass Arbeiter kein Vaterland hätten, oder dass Karl Marx gute Ideen gehabt hätte; alles ohne jede Einschränkung dem Leser präsentiert (S. 120, 176). Bei Wahlen stört ihn nur, dass die AfD gute Werte erzielt, aber dass die SED-Nachfolgepartei ebenfalls gute Werte erzielt, stört ihn offenbar nicht (S. 102). Schließlich kritisiert Stanisic den Satz von Czaja: „Antifaschisten sind auch Faschisten“ (S. 142). Zugegeben: Vor „Antifaschisten“ hätte das Wörtlein „sogenannte“ gehört, um den Satz wirklich korrekt zu machen. Aber Sasa Stanisic weiß natürlich auch so, wie Czaja es meinte. Wenn Sasa Stanisic wirklich glaubt, dass die Antifa antifaschistisch ist, dann glaubt er auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.

Unfreiwillig zeigt Stanisic das Scheitern der deutschen Integrationspolitik (z.B. S. 132, 151): Die in großer Zahl ins Land kommenden Ausländer werden erst einmal in ein Ausländerviertel abgeschoben. Sowas gibt es also auch im schönen Heidelberg. Nach einer Schule, auf der es überhaupt nur Ausländer gab, ging er dann auf die „Internationale Gesamtschule Heidelberg“. Die Unehrlichkeit des Systems zeigt sich in dem euphemistischischen Namen der Schule: Bei „international“ denkt man an eine Privatschule, wo die Kinder von Gastprofessoren, ausländischen Managern und den oberen Zehntausend von Heidelberg unterrichtet werden. Es ist aber nur die Schule vom Viertel. In manchen Klassen seien die Deutschen in der Minderheit gewesen. Stanisic meint, das sei sicher eine gute Erfahrung, auch mal in der Minderheit zu sein. Was es bedeutet, im eigenen Land ungefragt in die Minderheit zu geraten, reflektiert er nicht.

Grenzen hält Sasa Stanisic offenbar für überflüssig. Jedenfalls meint er, dass er Grenzen nichts verdanke (S. 217). Was für ein Unsinn! Denn warum flüchtet ein Flüchtling über eine Grenze, wenn sie keine Bedeutung hätte? Die Grenze bietet Schutz, denn die Verfolgung endet an der Grenze. Irgendwie hat Stanisic nicht verstanden, dass Grenzen einen geschützten Raum konstituieren. Er meint auch, dass seine Flucht aus Jugoslawien heute an einem ungarischen Grenzzaun enden würde (S. 123). Auch das ist falsch. Damals kamen in 2-3 Jahren rund 350000 zumeist echte Bürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland. Das ist gar kein Vergleich zu den 1,5 Millionen Migranten von 2015, unter denen mehr Trittbrettfahrer als echte Flüchtlinge waren. Wieso hätte Ungarn damals die Grenzen schließen sollen? Die Situation war eine völlig andere! Wie man Horden junger Männer mit Smartphone und Designerklamotten in einen Topf werfen kann mit echten (Bürger-)kriegsflüchtlingen, nämlich eher Frauen und Kinder ohne Männer (wie meine schlesische Großmutter z.B.!), werde ich nie verstehen. Wieviel Energie zum Selbstbetrug muss jemand haben, um so zu denken? Stanisic übernimmt ja auch vorgegebene Sprachregelungen und redet konsequent von „Geflüchteten“, nicht von „Flüchtlingen“ (S. 125, 129, 152, 185, usw.). Man muss ja froh sein, dass Stanisic nicht mit Binnen-I schreibt.

Ganz im Stil der maßlos übersteigerten EU-Ideologie, mit der sich die EU tragischerweise gerade selbst zerstört, wettert Stanisic auch gegen die „Kleinstaaterei“ (S. 64). Haben kleinere Staaten nicht ihren eigenen Charme? Etwa die Schweiz? Oder Norwegen? Sind große Staaten nicht eher unpersönliche Machtblöcke ohne Individualität, denen jeder Charme fehlt?

Fazit

Sasa Stanisic ist literarisch und menschlich auf einem guten Weg. Er hat ein lesenswertes Denkmal für seine Herkunft aus Jugoslawien und seine Ankunft in Deutschland gesetzt. Auf tragisch-wunderbare Weise, denn manches an diesem Denkmal konterkariert, was er an anderer Stelle sagt. Leider ist Sasa Stanisic ein unaufgeklärter Idealist und politisch völlig auf dem Holzweg. Er steckt beim Thema Herkunft in einigen Selbstwidersprüchen fest, und er hat nicht verstanden, dass er die Dämonen selbst heraufbeschwört, die er so gerne bannen möchte. Er ist ein guter Beobachter, aber ein schlechter Denker.

Der Deutsche Buchpreis ging an dieses Buch, weil es den Zeitgeist der Eliten in Politik, Medien und Kultur traf, aber nicht, weil es ein Stachel im Fleisch wäre. Zu einem Stachel im Fleisch zu werden, dorthin muss Stanisic erst noch kommen. Man möchte ihm eine Midlife Crisis wünschen, in der er gegen das dumme öffentliche Geschwätz eine bessere Vereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit findet, in der er seine radikalen Einseitigkeiten zugunsten eines großen Sowohl-als-Auch fallen lässt.

Sasa Stanisic ist seit 2013 deutscher Staatsbürger, und mit Heidelberg-Romantik, Multikulti-Romantik und dem Romantiker Eichendorff steckt er mitten drin im deutschen Wald und Sumpf. Deutsch sein hieß aber schon immer auch, Wälder zu roden und Sümpfe trocken zu legen, um gutes Ackerland zu gewinnen, auf dem dann tausendfältige Frucht wachsen kann. Dazu muss man aber die Romantik fallen lassen, und sich für die Aufklärung öffnen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. November 2019)

Ralf Schuler: Generation Gleichschritt – Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde (2023)

Stark in der Beschreibung der Probleme, schwach in der Analyse

Ralf Schuler befasst sich in seinem Buch „Generation Gleichschritt“ mit der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass sich die Gesellschaft in unseren Tagen immer mehr „gleichschaltet“, obwohl wir doch mitten in einer Demokratie leben. Denn eigentlich ist es ja gar keine „Gleichschaltung“ im klassischen Sinn, sondern vielmehr eine Art Selbstgleichschaltung, ein Hineinsozialisieren der ganzen Gesellschaft oder doch wenigstens ihrer Eliten in kollektive Irrtümer. Der Autor nennt es „Gleichschritt“. Leider ist dabei am Ende doch nur ein typisches Journalisten-Buch ohne größeren Tiefgang herausgekommen und die Frage, wie es dazu kommen konnte, bleibt weitgehend unbeleuchtet.

Das Buch ist auf jeden Fall ein höchst taugliches Zeitdokument: Denn es werden nicht nur sämtliche wichtigen Anekdoten der letzten Jahre durchgesprochen, die als Symptome des Gleichschritts wahrgenommen werden konnten, sondern der Autor ist als Journalist in der Nähe von Angela Merkel auch selbst Zeitzeuge. Es werden auch durchaus Ansätze einer tieferen Analyse versucht. Aber sie bleiben in Ansätzen stecken. Im folgenden wollen wir eine tiefere Analyse versuchen, die in diesem Buch leider fehlt.

Der Gleichschritt ist schon lange mit uns

Ganz grundsätzlich muss bemerkt werden, dass der zu beobachtende Gleichschritt nicht neu ist. Im Gegenteil. Dieser Gleichschritt ist schon länger mit uns, als viele meinen. Diese klare Erkenntnis fehlt in diesem Buch.

Schon vor 1989 war z.B. der Gedanke an die deutsche Wiedervereinigung in Westdeutschland in ganz ähnlicher Weise verpönt. Viele hielten eine Wiedervereinigung für obsolet. Ein bekannter öffentlich-rechtlicher Moderator sagte: „Deutschland? Wir wollen doch Europa!“ Die Diktatur der DDR wurde verharmlost, es gab sogar ein gemeinsames Papier von SPD und SED, in dem die DDR als Demokratie bezeichnet wurde. Der Politologe Konrad Löw hat diesen Verrat der Freiheit allüberall in der westdeutschen Gesellschaft minutiös protokolliert. Später publizierten Hubertus Knabe u.a. die Stasi-Unterwanderung Westdeutschlands, soweit sie noch rekonstruiert werden konnte. Auch der spätere russische Präsident Vladimir Putin war damals Agentenführer für Agenten in Westdeutschland.

Wie heute ging es damals weit über das Politische hinaus. Es ging so weit, dass sogar westdeutsche Kalendermacher den gesetzlich gültigen Feiertag zum Gedenken an den Aufstand vom 17. Juni 1953 nicht mehr als „Tag der deutschen Einheit“, sondern nur noch als namenlosen Feiertag in ihren Kalendern abdruckten, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem Zeitgeist. Das kommt uns heute sehr bekannt vor. Schon damals wurde also eine wahnwitzige Idee gegen den Geist und den Buchstaben von Verfassung und Gesetzen gesellschaftlich penetrant.

Als dann mit dem Zusammenbruch des Ostblock-Kommunismus die Realität unerwartet hereinbrach, durfte die deutsche Einheit keinesfalls eine nationale Angelegenheit sein: Sie wurde nur als Vorstufe zur Vereinigung Europas akzeptiert, im Grunde nur lieblos geduldet und nie wirklich gutgeheißen. Geistig setzte man einfach die alte BRD fort. Seitdem hängt Deutschland im Geist der 80er der alten BRD fest. Noch immer dominieren Jürgen Habermas, Claudia Roth und Heiner Geißler (letzterer starb erst kürlich, 2017). Erst das erneute Hereinbrechen der Realität am Ende der Ära Merkel (pointiert durch den Ukrainekrieg) markiert wohl den Anfang vom Ende dieses Ungeistes.

Ein anderes Beispiel für frühen Wahnwitz war der Umstand, dass es in den 1990ern völlig angesagt war, den Wehrdienst zu verweigern. Wer den Wehrdienst bejahte, weil es gesetzlich vorgeschrieben war und aus Gründen der Wehrfähigkeit und Wehrgerechtigkeit Sinn machte, wurde als Depp betrachtet. Wer sich auf der Höhe der Zeit wähnte, verweigerte. Ganz klar. Wer doch zum Militär ging, rechtfertigte dies bei Strafe der sozialen Ächtung nicht mit dem guten Sinn der Wehrpflicht, sondern mit Ausreden: Dass z.B. der etwas längere Ersatzdienst nicht mit dem Termin des Studienbeginns zusammengepasst hätte. Oder dass der Verdienstausfall hier am geringsten war. Es wurden damals auch grundsätzlich alle Verweigerungen durchgewunken. Sogar per Postkarte konnte man verweigern. Der Staat selbst war es, der die Wehrpflicht gegen den Geist und den Buchstaben der Gesetze in eine Wahlfreiheit zwischen Wehr- und Ersatzdienst umwandelte. Bis heute glauben viele, dass sie tatsächlich diese Wahlfreiheit gehabt hätten. Das Bewusstsein von Gesetz und Pflicht sowie der Sinn für die Realitäten der Wehrnotwendigkeit und der Wehrgerechtigkeit im Ernstfall wurde für ganze Generationen korrumpiert. Unser Staat handelte also schon damals zeitgeistgeleitet und nicht gemäß den Gesetzen. Es ist nichts neues.

Als dann in den Jugoslawien-Kriegen Flüchtlinge kamen (oder waren es gar keine Flüchtlinge?) war ihre dauerhafte Aufnahme als Zuwanderer eine ausgemachte Sache. Hinterfragen war verboten. Nur böse Rechtsradikale taten das, hieß es. Damals spielten die rechtsradikalen „Republikaner“ die Rolle des Buhmanns, geführt von dem bräunlichen Schönhuber. Migranten wurden und werden grundsätzlich als potentiell diskriminierte Minderheit wahrgenommen, die vor jeder (!) Kritik zu schützen ist, so berechtigt sie auch sei. Dass Zuwanderung dazu führen könnte, dass die Gesellschaft kippt, liegt außerhalb des Vorstellungsvermögens dieses Zeitgeistes. So schrieb der Urgrüne Winfried Kretschmann noch 2018, dass es sich an der Veränderungsbereitschaft des Islam entscheide, ob dieser in unserer Gesellschaft mitspielen dürfe. Dass der Islam mitzuspielen anfängt, auch ohne dass man ihm dies „erlaubt“, kam ihm offenbar nicht in den Sinn.

Schon in den 1990ern begann man in gewissen Kreisen Gendersprache mit Binnen-I zu schreiben. Es wurde nicht weiter ernst genommen und durchgewunken: „Wir sind ja liberal!“, so hieß es. – Ebenfalls schon länger geistert in linken Kreisen die Vorstellung umher, dass Menschen sich allein aufgrund ihrer Umwelt zu dem entwickeln, was sie sind. Jeder könne Abitur machen! Im Jahr 2010 wurde Thilo Sarrazin für das simple Aussprechen der Tatsache, dass Intelligenz teilweise auch erblich ist, als Rassist verfemt. Der heutige Transgender-Hype ist qualitativ also nichts neues, es ist nur eine quantitative Steigerung desselben Wahnwitzes. Wenn sich die Intelligenz allein den Umwelteinflüssen verdankt, wieso dann nicht auch das Geschlecht?

Und dann der Antiamerikanismus. Die ganze deutsche Gesellschaft lachte über den „dummen Cowboy“ George W. Bush und seinen Irakkrieg. Die unglaublichsten Lügen wurden über den Irakkrieg und George W. Bush verbreitet und geglaubt, bis heute. Die Deutschen bemerkten gar nicht, dass sie sich mit Franzosen und Russen ausgerechnet mit den Hauptwaffenlieferanten von Saddam Hussein gegen die USA verbündeten, der seine Waffenlieferanten mit Ölizenzen bezahlt hatte. Es wird auch nicht zwischen der Politik verschiedener Präsidenten differenziert. Immer sind es „die“ Amerikaner. Die Irrtumsverstrickung der Deutschen ist in Sachen USA besonders groß.

Und dann der Antikapitalismus. Diese völlige ökonomische Unbedarftheit und Naivität vieler. Dieses ewig unsägliche Nichtbegreifen, dass unperfekte Zustände nicht das System an sich infrage stellen. Antikapitalisten fragen nie nach der Verbesserung des Systems und dem Schließen von Schlupflöchern, sondern immer nur nach der Überwindung des Systems. Ohne dass sie eine bessere Alternative benennen könnten. Sie sind Schwurbler und Realitätsleugner allesamt.

Und dann die katholische Kirche: Dass sie trotz Zweitem Vatikanischen Konzil immer noch rückständig wäre und sich gefälligst nach liberalistischen Gesichtspunkten radikal zu reformieren hätte, galt überall als gesetzt. Als die Nachricht, dass mit dem konservativen Reformtheologen Ratzinger ein Deutscher zum Papst gewählt worden war, in eine deutsche Talkshow platzte, gab es betretene Gesichter. Nur ein anwesender Ostdeutscher freute sich spontan, wie man es von vernünftigen Menschen hätte erwarten können. Ein sehr bezeichnender Moment.

Es gab auch eine Liberalisierung für Homosexuelle in der Gesellschaft, was im Grundsatz eine gute Sache war, aber auch eine Abwertung der Normalfamilie und liberale Tendenzen in Sachen Pädophilie, Stichworte: Grüne Vergangenheit, Odenwaldschule und Entkriminalisierung im Strafrecht. Die damalige Liberalität, an die sich heute keiner mehr erinnern will, fällt heute der katholischen Kirche auf die Füße. Paradoxerweise stehen heute die „Erzkonservativen“ im Fokus der linksgrünen Kritik am Pädophilie-Skandal der katholischen Kirche (während man gleichzeitig zum Nationalismus und Traditionalismus mancher islamischer Gemeinden dröhnend schweigt, es ist eine einzige Heuchelei).

Überhaupt sind wir ja angeblich ein reiches Land, und wir können uns angeblich alles leisten. Wir können auch Griechenland und ganz Südeuropa gegen die Naturgesetze der Ökonomie „retten“ und auch sonst alle Probleme mit Geld zuschütten. Wunschdenken und Träumerei beherrschten das Feld. Es ist der Ungeist der Schmuddelkinder von 1968, der sich gesellschaftlich durchgesetzt hat. Nicht zuletzt auch in den Medien. Frühe Seismographen des Gleichschritts waren z.B. Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, Henryk M. Broder oder Seyran Ates.

Was ist heute anders?

Was ist der Unterschied zu damals? Warum hatten viele bislang nicht das Gefühl der „Gleichschaltung“, heute aber doch? Die Antwort ist einfach: Bislang spitzten sich die Probleme noch nicht zu, heute tun sie es, und es sind viele Probleme:

  • Gescheiterte Euro-Politik mit Inflation und unerschwinglichen Immobilien und Mieten. (Nein, es ist nicht der „Kapitalismus“, es ist die Politik.)
  • Gescheiterte Europapolitik (Brexit, der Rest der EU über D verärgert).
  • Gescheiterte Zuwanderungspolitik mit unkontrollierter Massenzuwanderung spätestens ab 2015, im Verbund mit gescheiterter Integration von Migranten mit hohen sozialen Folgekosten in Form von Geld, Kultur und Menschenleben.
  • Gescheiterte Klimapolitik. Energiepolitik. Wirtschaftspolitik.
  • Gescheiterte Außenpolitik (Russland, China).
  • Gescheiterte innere Integration Deutschlands (Der „Osten“, neuerdings auch: der „Süden“).
  • Gender-Gaga und Trans-Hype in heilloser Übertreibung. Weniger wäre mehr, gerade auch für die Betroffenen.
  • Ein Krieg vor unserer Haustüre, während die Bundeswehr kaum wehrfähig ist.
  • Das teilweise fragwürdige politische Handeln in der Corona-Pandemie nicht zu vergessen.

Immer mehr Bürger bemerken, was denkende Menschen beginnend (spätestens) in den 1980er Jahren voraussehen konnten, je mehr linksliberaler Unsinn hinzukam: Es passt nicht zusammen, es kann nicht gutgehen. Die Konflikte, denen man viele Jahre lang aus dem Weg gegangen war, sie verlangen nun nach Entscheidungen. Und indem sie dies langsam bemerken, bemerken die Menschen auch den Gleichschritt, der eigentlich schon länger da war.

Und in Reaktion auf dieses langsame Erwachen von Vernunft und Widerstand gebärden sich die Vertreter des alten linksgrünen Denkens, die überall dick drinsitzen, nur umso unerbittlicher und radikaler, denn sie sehen ihre Macht und Meinungshoheit in Gefahr. Die Grenzen des Sagbaren werden aus Angst immer enger gezogen. Die Politisierung wird in immer mehr Bereiche hineingetragen, die bislang tabu waren. So gibt es heute z.B. eine politische Indoktrinierung der Belegschaften von Unternehmen durch die Unternehmensleitungen, die wiederum auf die ESG-Anforderungen der Finanzindustrie reagieren. Die Cancel Culture wiederum geht heute nicht mehr nur an das politische Ansehen, sondern immer gleich an die ökonomische Existenz eines Menschen. Immer mehr staatliche Institutionen, Medien und Unternehmen unterwerfen sich politisch immer einseitigeren Ansichten, obwohl sie in einer Demokratie Neutralität wahren sollten (bzw. es wenigstens versuchen sollten).

Es ist ein politischer Kampf um sachliche Konflikte, der eng verwoben ist mit einem gesellschaftlichen Kulturkampf, der dieselben Sachkonflikte auf einer symbolischen Ebene verhandelt. Heute stehen wieder viele Gesslerhüte auf der Stange, die gegrüßt werden wollen. Von Verfechtern der Gendersprache hört man nicht selten, dass ihre Hauptmotivation darin besteht, dass sie damit „Konservative“ ärgern können. Ein Reformdenken aus gesellschaftlicher Verantwortung ist also oft gar nicht mehr die Motivation, sondern nur noch Mitmachen, sich klug und modern fühlen, und das Bashen der „anderen“ Seite. Wie jämmerlich.

Übrigens erwacht die Kritik an der politischen Marschrichtung derzeit immer noch nur punktuell. Während der ökonomische und gesellschaftliche Wahnsinn von Klima, Transgender und Migration vielen langsam dämmert, verstehen viele immer noch nicht, dass Militär mitsamt Wehrpflicht notwendig ist, dass die katholische Kirche sich treu bleiben muss, oder dass nicht immer die USA schuld sind, wenn in der Welt etwas schief läuft. Auch der Zusammenhang von Inflation und Eurokrise ist vielen nicht transparent.

Ein ganz anderer Grund für den Gleichschritt ist natürlich der Umstand, dass es immer weniger „Gründer“ gibt und immer mehr „Erben“. Die Generation, die Deutschland nach dem Krieg aufbaute, war sehr realitätsbezogen und voll von Erfahrung, wohin Flausen im Kopf führen können. Spätere Generationen kannten keine Not mehr und hatten Flausen im Kopf. Auch das ist ein Grund für den zunehmenden Gleichschritt. Es gibt zu wenig bittere Realitätserfahrung und damit zu wenig Nachdenken über die Realität bei den weniger gebildeten Menschen. Man nennt es Dekadenz.

Eine solche Analyse, oder etwas Vergleichbares, hätte man sich gewünscht, doch sie fehlt in diesem Buch.

Merkels Motive

Eine Besonderheit dieses Buches ist der Umstand, dass der Autor als Chefjournalist eine besondere Nähe zu Kanzlerin Angela Merkel hatte und sie z.B. auf Auslandsreisen im Regierungsflieger begleiten durfte. Dort gab es Hintergrundgespräche, in denen man dem wahren Denken von Angela Merkel näher kam als anderswo. Der Autor spricht also als unmittelbarer Zeitzeuge.

Der Autor berichtet, dass Angela Merkel sich immer vollauf bewusst war, dass ihre Maßnahmen teils rein symbolisch aber sachlich sinnlos waren, teils schwierige Konsequenzen nach sich ziehen würden. Völlig richtig hat der Autor erkannt, dass Merkels Politik oft schlicht darin bestand, einfach den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Dabei kam es allerdings weniger auf den Widerstand der Menschen an, sondern auf den Widerstand der Journalisten und Linksintellektuellen. Angela Merkel war in diesem Sinne eine begnadete Populistin, allerdings nicht dem Staatsvolk gegenüber, sondern dem Völkchen der Journalisten und linken Intellektuellen gegenüber. Probleme wurden auf diese Weise nie wirklich gelöst, sondern immer nur vorläufig ruhiggestellt und vertagt.

In einigen Punkten hätte Merkel allerdings auch unpopuläre Maßnahmen durchgeboxt, meint der Autor. Der Autor vermutet, dass Angela Merkel Europa retten wollte: Das Projekt Europa war ihr wichtiger als Deutschland. Um einen Rückstau auf der Balkanroute zu vermeiden, ließ sie die Migranten 2015 einfach nach Deutschland hinein, um den osteuropäischen Staaten Belastungen zu ersparen. Und um Griechenland im Euro zu halten, wurde Griechenland kurzerhand „gerettet“.

Doch diese Erklärung verfängt nicht. Denn es waren die osteuropäischen Staaten, die am Ende selbst die Grenze schlossen, gegen den erklärten Willen von Merkel. Auch der Brexit kam als Reaktion auf Merkels Politik zustande und war ein Schlag gegen die europäische Idee. Und die Griechenland-„Rettung“ hat die Stabilität des Euro zerstört. Am Ende hat Angela Merkel Europa also gar nicht zusammengehalten, sondern vielmehr unfassliche Spreng- und Fliehkräfte entfesselt, also das genaue Gegenteil dessen, was Schuler vermutet. Nur unglaubliche Kurzsichtigkeit, die man dann ohne Umschweife als Inkompetenz bezeichnen müsste, würden noch zu der Erklärung passen, dass Merkel Europa retten wollte.

Entweder war Angela Merkel also hochgradig inkompetent und tatsächlich so knödelig dumm wie sie manchmal erscheint, im Amt gehalten durch eine kurzsichtige Bauernschläue und eine linksgewickelte Presse, die sie hochschrieb – das würde auch mit der schlichten Erklärung zusammenpassen, dass Merkel auch in Sachen Europa immer nur den Weg des geringsten Widerstandes ging, und nicht etwa unpopuläre Maßnahmen durchboxte, wie der Autor meint, denn unpopulär waren diese Maßnahmen nur beim Volk, nicht bei den Eliten in Politik und Medien. – Oder Angela Merkel tat das alles aus kluger Berechnung und mit voller Absicht, um Europa zu sprengen und Deutschlands Kraft zu schwächen und eine geheime Agenda von wem-auch-immer durchzusetzen (Putin? Davos? China? …?). Wie man es auch dreht und wendet: Der Autor hat bei dieser Frage nicht genau genug hingeschaut.

Exkurs: Bis heute hat die deutsche Öffentlichkeit den wahren Grund für die Balkanroute 2015 nicht erfahren dürfen: Es war nicht der Syrienkrieg. Denn der tobte 2015 schon mehrere Jahre. Es waren auch nicht Rationskürzungen der UN in den Flüchtlingslagern. Denn die Rationen waren schon immer knapp, und die meisten syrischen Flüchtlinge sind auch nach 2015 in ihren Lagern geblieben und nicht nach Deutschland gekommen. Sie hätten auch gar nicht kommen können, egal wie stark die UN die Rationen gekürzt hätte, denn die griechische Grenze war fest geschlossen. Sondern es war natürlich der Amtsantritt der linksradikalen Regierung von Ministerpräsident Tsipras in Griechenland Anfang 2015. Wir erinnern uns: Der linksradikale Tsipras wurde von den Griechen gewählt, weil diese unter dem Euro-Diktat von Merkel verzweifelten. Vor Tsipras (und nach Tsipras, wie wir heute wissen) bewachten die griechischen Grenzschützer die europäische Außengrenze scharf. Der Linksradikale Tsipras öffnete die Außengrenze der EU 2015 mit Absicht. Und zuvor war er noch in Moskau, um sich mit Putin abzusprechen. Und Merkel spielte das Spiel ganz wunderbar mit, wie wir gesehen haben. Gekommen sind dann nur zu einem kleineren Teil Syrer, die Mehrheit der Migranten auf der Balkanroute kam anderswoher.

Nebenbei erfahren wir auch, dass sich die Führer der deutschen Wirtschaft in lächerlicher Weise unterwürfig gegenüber Kanzlerin, Zeitgeist und China aufgeführt haben. Freies, selbständiges Unternehmertum in einer freien Marktwirtschaft auf der Grundlage von demokratischen Überzeugungen kann man von unserer derzeitigen Wirtschaftselite wohl kaum erwarten. Demokratisch und marktwirtschaftlich gesinnte Politiker und Journalisten würden eine solche Wirtschaftselite in Grund und Boden kritisieren. Leider geschieht es nicht, was Rückschlüsse auf den Grad der demokratischen Gesinnung in Politik und Medien ermöglicht.

Rezepte gegen den Gleichschritt

In einem kurzen Kapitel versucht der Autor herauszufinden, was Menschen dazu bringt, sich dem Gleichschritt zu versagen. Leider sind seine Befunde recht entmutigend. Am Ende ist es der individuelle Charakter des Einzelnen. Dieser formt sich aber individuell. Der Autor vermutet zwar richtig, dass man auch über die Erziehung etwas erreichen kann, aber wenn sich der Gleichschritt erst einmal eingeschlichen hat, ist es für Erziehung zu spät, denn Erziehung erfolgt dann längst im Sinne des Gleichschritts.

Man hätte sich gewünscht, dass der Autor Ratschläge gibt, wie z.B., dass der kleine Mut oft wichtiger ist als der große Mut: Eine nüchterne Differenzierung freundlich ausgesprochen hilft oft viel, während es illusorisch ist, mit großem Mut vor Fürstenthronen etwas zu erreichen: Das können nur wenige, die in der richtigen Position sind. – Oder der Ratschlag, dass Humor oft weiterhilft. Das Kuriose spöttisch auf die Schippe zu nehmen, hilft oft mehr als tausend Argumente. Immerhin, der Autor empfiehlt „fröhlichen Ernst“.

Leider haben sich die Vertreter des träumerischen, linksliberalen „Denkens“ vor allem in Milieus etabliert (und ziehen dort auch ständig grässlichen Nachwuchs heran), die uns in Politik, Journalismus, Wirtschaft und Kultur beherrschen. So möchte die übergroße Mehrheit z.B. keine Gendersprache, doch die Eliten drücken sie mit eiskaltem Lächeln durch.

Es wäre eine eigene Diskussion wert, wie dieses Problem zu lösen ist, wenn die Elite eines Staatsvolkes auf breiter Front anders denkt als das Volk selbst. In einer reibungslos funktionierenden Demokratie würde es zu einem teilweisen Austausch der Elite kommen, entsprechend der Mehrheitsverhältnisse. Aber die alten Eliten sind so beherrschend, dass der demokratische Prozess schwer behindert wird. Es kommt zu Verklemmungen und Polarisierungen.

Der Bürger hat oft das Gefühl, dass er nur die Wahl zwischen Pest und Cholera hat, zwischen Links- und Rechtsradikalen. Die Linken freuen sich insgeheim über die Rechtsradikalen und schreiben sie hoch, weil sie die besten Buhmänner zur Rechtfertigung der Alternativlosigkeit der linken Politik darstellen. Die Rechtsradikalen von der rechtsradikal gewordenen AfD, sie sind „Merkels beste Jungs“! Vernünftige Bürgerliche hingegen werden heruntergeschrieben oder als Rechtsradikale verleumdet (was aber nicht so gut funktioniert, denn die Wähler bemerken den Unterschied, ob einer tatsächlich rechtsradikal ist oder nur als solcher verschrieen wird). Es ist möglich, dass an diesem Konflikt die Demokratie zerbricht.

Es gilt, bürgerliche, liberalkonservative Kräfte zu stärken, die einerseits konsequent sind, aber gleichzeitig Radikalismus vermeiden. Nur so kann das Umdenken und Umsteuern demokratisch gestaltet werden. Auch wenn es schwierig ist.

Fazit

Am Ende ist es leider doch nur das typische, tagesaktuelle, politjournalistische Buch geworden, ohne den nötigen Tiefgang. Der Autor ist überzeugend in seinen Ausführungen, ein guter Beobachter und Seismograph der Gesellschaft, mithin also ein guter Journalist, aber er ist offenbar kein Denker. Oder er wollte mit Absicht nicht zu tief in eine Analyse einsteigen. Vielleicht würde das seinem Selbstverständnis als Journalist widersprechen? Wie auch immer: Denken muss der Leser dann schon selbst. Das sollte er allerdings sowieso tun. Diese Rezension will dabei behilflich sein.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Denis Diderot: Rameaus Neffe – Ein Dialog. Übersetzt von Johann Wolfgang von Goethe (1805)

Viel Lärm um Nichts: Eine Groteske

Weil Goethe dieses Werk von Diderot übersetzte, denkt man, daran müsse doch etwas besonderes sein. Doch es ist nichts besonderes. Es ist im Wesentlichen die Rede eines durchaus talentierten Dummschwätzers, Einschmeichlers und Taugenichts, der seine eigene Unmoralität als Cleverness verkauft, und in geradezu kindlicher Einfalt gar nicht verstehen will, wie jemand Gewissensbisse haben kann. Das ist nichts neues. Der moralische Standpunkt hatte es gegenüber allzu „praktischen“ Menschen schon immer schwer, die Literatur dazu ist umfangreich. Dazu erfährt man eine Menge über die damalige Pariser Gesellschaft, über Musik, und es sind auch einige interessante Passagen dabei, wie der Dummschwätzer sich pantomimisch betätigt.

Die Rezeption (Hegel, Foucault u.a.) hat dieses Werk offenbar so verstanden, dass hier ein genialer Irrer die Vernunft aus den Angeln hebt. So jedenfalls das Nachwort. Dass also der Irre der wahrhaftige Mensch ist, weil er ehrlich sei, während die Vernunft (so muss man dann wohl schließen) sich selbst betrüge. Was für ein Blödsinn. Es ist dasselbe Spielchen wie zwischen Feierabend und Popper: Natürlich muss die Vernunft sich schärfen und genauer und gewitzter sein als eine mittelalterliche Scholastik. Aber es ist am Ende doch die Vernunft, die einzig bleibt und hilft. Wer sich hingegen gegen die Vernunft setzt, sitzt in der Tinte. Und so ist es auch hier.

Goethe wird dieses Werk wohl übersetzt haben, weil das Geschwätz des Dummschwätzers sprachlich eine Herausforderung ist, und weil man darin viel über die damalige Pariser Gesellschaft erfährt. Aber wohl kaum, um die Anti-Rationalität eines Irren zu verherrlichen. Wie Goethe in den Nachbemerkungen selbst schreibt, ging es ihm vor allem auch um den Vorfall um das Stück „Die Philosophen“ von Palissot, das von Diderot in diesem Buch nebenbei verrissen wird. Goethe stellt zudem die Meinung Voltaires dazu bei. Das ist dann auch für den modernen Leser noch interessant. Am Rande erfährt man, und man sieht es selbst in dieser zweisprachigen Ausgabe, dass Goethe immer genau übersetzte. Das gefällt.

Was diesem Buch fehlt, ist ein Vorwort. Der Leser wird unvorbereitet in den endlosen und verwirrenden Redeschwall des Dummschwätzers gestürzt, und stolpert von einer Assoziation zur nächsten, ohne bis zum Ende des Buches so recht zu wissen, was er von dem Ganzen eigentlich halten soll. Goethe skizziert in seinen Nachkommentaren die damalige Pariser Gesellschaft, und den Vorfall um „Die Philosophen“. Aber dazu das ganze Buch? Nun ja.

Es ist eher eine Groteske. Ja, Groteske trifft es ganz gut. Eine Groteske, anhand derer man diverse Themen durchspielen kann, die jedes für sich interessant ist. So war es wohl auch von Diderot gedacht. Da man die vielen Anspielungen heute als Normalsterblicher nicht mehr entschlüsseln kann, funktioniert es nicht mehr. Es ist, wie wenn man ein Kabarettstück über aktuelle Tagespolitik von heute in hundert Jahren ansehen würde. Und eine große Botschaft, die dem Werk als Ganzem einen Sinn verleihen würde, kann man auch nicht erkennen. Es ist eine Groteske, es ist als Gesamtwerk grotesk, und es heute als Normalsterblicher zu lesen ist ebenfalls nur grotesk. Es ist kein Buch, das man gelesen haben müsste, wahrlich nicht.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 15. April 2017)

Paolo Cognetti: Acht Berge (2016)

Gelebtes Leben, aber ohne Sinn und Ziel

Im Roman „Acht Berge“ von Paolo Cognetti geht es um Pietro, der als Kind von seinen Eltern immer wieder mit in die Berge genommen wird, wo sie ganze Sommer lang in einem halb verfallenen Bergbauerndorf in den italienischen Alpen leben und hohe Berge besteigen. Pietro freundet sich dabei mit dem Bergbauernsohn Bruno an. Die erste Hälfte des Romans dreht sich um diese Kindheitserinnerungen und die Eltern, um das Erwachsenwerden und den Tod des Vaters. Auf einem Grundstück hoch oben im Tal, das der Vater Pietro hinterlässt, bauen Bruno und Pietro eine einfache Berghütte. Bis hierhin ist es ein typischer Familienroman, der dem Leser vielerlei Möglichkeiten zur Identifikation bietet. Auch die Beschreibung des Lebens in den Alpen ist gut gelungen.

Doch dann entwickeln sich die Dinge zum Schlechten. Pietro studiert nicht, wie es sein Vater gewollt hatte, sondern lebt ein armes Leben als Filmemacher. Sinn- und ziellos irrt er durch die Welt und kommt dabei auch nach Nepal, wo er wiederum Berge besteigt. Frauen lässt er nur kurzzeitig in sein Leben. Eine davon wird später zur Gefährtin von Bruno. Bruno baut hoffnungsfroh eine Käserei auf und handelt damit erfrischend konstruktiv. Zusammen mit der ehemaligen Freundin von Pietro hat er ein Kind. Doch die Käserei geht pleite, ein konstruktiver Umgang mit dem Versagen unterbleibt, und die Partnerschaft zerbricht. Pietro spielt Seelentröster, ändern tut das aber nichts. Später wird Bruno in den Bergen vermisst. Vermutlich Suizid.

Alles in allem ein Roman, der eine überraschend deprimierende Wendung nimmt, und das ohne jeden Sinn und Zweck. Was will dieser Roman sagen? Wir bekommen Charaktere vor Augen geführt, die aus eigener Schuld versagen. Und irgendwie hat man das Gefühl, dass der Romanautor möchte, dass man darin doch noch einen Sinn erblickt – dass wir diese Versager und ihr gelebtes Leben irgendwie doch noch anerkennen. Dem muss sich der aufgeklärte Leser jedoch konsequent verweigern. Überzeugend ist einzig die Nebenfigur der Freundin, die einen der beiden nach dem anderen – aus guten Gründen – verlässt, und mit Kind ihr eigenes Leben vernunftgeleitet lebt.

Auch dramaturgisch ist das Buch misslungen. Die Verknüpfung der nepalesischen Legende von den Acht Bergen mit der Handlung bleibt höchst unklar. Die Legende stellt die Frage, ob die Besteigung des Heimatberges oder die Besteigung von acht fernen Bergen die größere Tat ist. Doch hier hat keiner der beiden „seinen“ Berg wirklich bestiegen. Nach dem Tod von Bruno wird eine dünne Verbindungslinie zu Pietros Vater gezogen, der ebenfalls nicht zu den Bergen seiner Jugend zurückkehren wollte, wegen dunkler Erinnerungen. Mehr als ein einziger Satz wird dazu aber nicht gesagt. Ganz am Ende ist dann noch von einem Geheimnis die Rede, dass es zwischen Bruno und Pietro gegeben hätte. Der Leser ist ratlos.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. März 2022)

Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit – Grundzüge einer modernen Religion (2012)

Echter Reformer – aber teilweise noch zu kurz gesprungen

Ja, anders als manche andere Muslime, die nur deshalb von Reform reden, weil sie damit ihren traditionalistischen Islam verschleiern wollen, ist Mouhanad Khorchide in der Tat ein echter Reformer. Und was ebenso wichtig ist: Seine Reformideen sind kein Wunschdenken sondern funktionieren theologisch tatsächlich. Im Prinzip macht Khorchide mit dem Islam das, was christliche Theologen mit dem Christentum in den letzten Jahrhunderten getan haben: Er bringt die Vernunft in den Glauben und dessen Interpretation zurück, und drängt traditionalistische Elemente zurück.

Es ist in der Tat möglich, im Koran zwischen ewig gültigen und kontextbedingten Aussagen zu unterscheiden, und man kommt damit in der Tat zu einem Islamverständnis, das Allbarmherzigkeit (bzw. Liebe) und Gnadenbarmherzigkeit ins Zentrum rückt. Ja, die problematischen Koranverse werden durch ihre historische Kontextualisierung entschärft. Ja, man kann bei Mohammed unterscheiden zwischen verschiedenen Rollen als Gesandter bzw. Staatsoberhaupt. „Islam“ im Kontext des Koran bedeutet auch noch nicht „den“ Islam als eigene Religion, sondern Religion im Allgemeinen. Diese Unterscheidungen lassen sich sogar sprachlich im Koran festmachen. Es funktioniert wirklich. Khorchide „verbiegt“ den Islam also nicht, sondern man kann mit Fug und Recht sagen, dass Khorchide den Islam wieder auf seinen eigentlichen Sinn zurückführt.

Und dieser Sinn ist mit westlichen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten hinreichend kompatibel. Die Auffassungen von Khorchide sind zudem nicht brandneu, sondern haben in der islamischen Theologie schon immer eine gewisse Tradition gehabt. Soweit so gut.

Kritikpunkte

Die historische Kontextualisierung bei Khorchide beschränkt sich auf eine Kontextualisierung im Rahmen der überlieferten Mohammed-Legenden (Propheten-Biographie und Hadithe). Das ist theologisch nicht illegitim, aber dann hätte Khorchide mehr dazu sagen müssen, wie er denn unterscheidet, welche Überlieferungen glaubwürdig sind und welche nicht. (Die Frage nach menschlichen Einflüssen im Korantext lässt Khorchide gleich ganz aus, sie ist aber durch die Idee eines Gottes, der in einen historischen Kontext hinein spricht, praktisch mit abgedeckt.)

Khorchide wird, wenn er konsequent bleibt, nicht darum herum kommen, so manche liebgewordene Mohammed-Überlieferung als Legende zu entlarven. Insbesondere zu zwei dieser Legenden hat Khorchide nichts gesagt, obwohl er beide Ereignisse in seinem Buch berührt: (1) Das Massaker an den Juden von Banu Quraiza. Dieses Massaker ist nach historisch-kritischer Auffassung zum Glück nur eine böse Legende. Wer den Islam reformieren will, muss die Überlieferung dieses Massakers entschärfen. (2) Die Zerstörung der Götterbilder in der Kaaba durch Mohammed. Wenn Mohammed es ernst gemeint hätte, Toleranz im Glauben zu üben, dann hätte er diese Götterbilder von Andersgläubigen wohl kaum zerstört, sondern er hätte sie z.B. an einem anderen Ort wieder aufstellen lassen, damit sie dort weiter angebetet werden können. Auch diese Überlieferung muss entschärft werden.

Khorchide spricht über den zur Unbarmherzigkeit verfälschten Islam an vielen Stellen des Buches so, wie wenn dies nur eine Minderheit von „Fundamentalisten“ wäre. Erst am Ende des Buches kommt er darauf zu sprechen, dass nicht nur einige „Fundamentalisten“ das Problem sind, sondern der ganz normale traditionalistische Mainstream des Islam. Leider hat der verfälschte, unbarmherzige Islam die Mehrheit und die Haupttradition des Islam seit über 1000 Jahren auf seiner Seite. Die humanistische Interpretation des Islam hat hingegen fast immer nur als Nebenlinie der Haupttradition existiert. Das ist ein nicht unwesentlicher Gesichtspunkt, den Khorchide hätte mehr berücksichtigen und besprechen müssen.

Wenn wir das Spektrum der Glaubensrichtungen grob in die vier Kategorien traditionalistisch – konservativ – liberal – modernistisch unterteilen, gehört Khorchide zu den Liberalen. Er verbiegt und bricht den Glauben durch seine Reformen also nicht, wie es anpasserische Modernisten tun würden, und sein Fundament ist für einen vernünftigen Glauben von Konservativen und Liberalen gleichermaßen geeignet, gegen die Irrationalitäten von Traditionalisten und Modernisten.

Allerdings ist die Liberalität von Khorchide auch ein pädagogischer Schwachpunkt. Für traditionalistische Muslime ist der Schritt vom Traditionalismus zu einem aufgeklärten Konservatismus vielleicht gangbar. Aber der Schritt zu einem liberalen Verständnis von Religion könnte für viele zu weit sein, weshalb das Buch von Khorchide hier kontraproduktiv wirken könnte.

Das Ideal eines Glaubens, bei dem alles aus Gefühl und Neigung heraus geschieht, ist schön, aber oft ist es einfach nur rationale Pflichterfüllung. Bei Khorchide gibt es keinen aufgeklärten Begriff von Pflicht, Gehorsam und Autorität, er verwendet dieses Worte so gut wie nicht. Das Vollziehen von Ritualen, auch wenn es schwer fällt, kann zudem auch etwas Heilsames haben. Der Vorwurf von „Fundamentalisten“ (so nennt sie Khorchide), dass ein Muslim, der nicht betet, kein echter Muslim ist, ist im Prinzip durchaus berechtigt, was Khorchide verkennt. Schließlich ist Khorchides Auffassung zu hinterfragen, dass der Glaube allein zum Seelenheil nicht genügen würde. Dazu hat Luther bereits das Nötige gesagt. Khorchide hätte besser so formuliert, dass der Glaube zwar genügt, aber nur dann echt sein kann, wenn er auch zu Taten führt. Khorchide pflegt auch eine sehr modische Sprache: Es ist etwas zu viel von Liebe und Dialog, von Dynamik, Kritik und Dialektik die Rede, zu wenig von Pflicht, Vertrauen, Autorität und Glaubensgehorsam in einem aufgeklärten Sinn.

Schließlich taucht die Toleranz gegenüber Agnostikern und Atheisten bei Khorchide mit keinem Wort auf. Er spricht immer nur von Religionen, die alle der Weg zu Gott seien, und dass alle diese Religionen auf ihre Weise im Prinzip „Islam“ = „Hingabe an Gott“ seien. Nichtmonotheistische Weltanschauungen wie z.B. polytheistische Neuheiden, Agnostiker oder Atheisten hat Khorchide leider nicht in sein System der Toleranz eingebaut. Auch das ist ein deutlicher Schwachpunkt. – Zu Khorchides Verwendung von Koranvers 2:256 („Kein Zwang im Glauben“): Khorchide bezieht diesen Vers auch auf andere Religionen. Das ist problematisch, denn der Satz bezieht sich nach allgemeiner Auffassung nur auf den islamischen Glauben und die Art seiner Praktizierung, nicht aber auf Religionen im Allgemeinen. Das zerstört aber seine Argumentation nicht grundsätzlich.

Grundsätzlich gilt, dass Khorchide ein echter Reformer ist, dessen Weg vernünftig und tragfähig ist und in die richtige Richtung geht. Er ist deshalb zu unterstützen, er muss aber noch in einigen Punkten nachliefern.

Als gut lesbare Einführung in die historische Kritik der Ursprünge des Islam für jedermann sei folgendes Buch empfohlen, dessen martialischer Titel völlig in die Irre führt: Tom Holland, Im Schatten des Schwertes.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. April 2014)

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