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Ernst Tremp / Johannes Huber / Karl Schmuki: Stiftsbibliothek St. Gallen – Ein Rundgang durch Geschichte, Räumlichkeiten und Sammlungen (2007)

Gute Einführung in Bedeutung und Sammlung des Klosters St. Gallen

Dieses Buch ist mehr als nur ein Museumsführer, es ist eine gelungene Einführung in die Geschichte des Klosters St. Gallen und insbesondere seiner Bibliothek. Es wird erschöpfend informiert über die Epochen der Klostergeschichte, über die Ausstattung des barocken Bibliothekssaales, und über die Handschriften im Bestand der Klosterbibliothek. Alles ist reich bebildert.

Hier ist ein wahrer Schatz vorhanden: Viele der Handschriften sind die ältesten ihrer Art und deshalb für die Erforschung der Textgeschichte von großer Wichtigkeit. Die Bedeutung dieser Handschriftensammlung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden:

  • Älteste Zeugnisse antiker Schriftsteller, z.B. Vergil.
  • Älteste Zeugnisse von Evangelien und der Vulgata.
  • Älteste Zeugnisse der deutschen Sprache.
  • Nibelungenlied und Parzival.
  • Karolingische Gesetze und älteste Musik-Manuskripte.
  • usw.

Einige der ältesten Handschriften mit Werken antiker Schriftsteller wurden hingegen in der Renaissancezeit von italienischen Humanisten „entführt“, ganz so, wie man sich das vorstellt.

Hier in St. Gallen wird die kulturelle Leistung greifbar, die die Klöster in der Welt des Mittelalters durch ihre Bildungs- und Überlieferungsarbeit erbracht haben. Zwar hatte das Christentum seinen Anteil am Niedergang der klassischen Bildung und dem Heraufziehen des Mittelalters, ohne die Klöster jedoch wäre die Wiederentdeckung der Antike und damit die Moderne nicht möglich gewesen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. Januar 2020)

Jules Verne: Von der Erde zum Mond / Reise um den Mond (1865/70)

Liebenswürdig erzählte Mondreise: Ein echter Jules Verne

Der zweiteilige Roman „Von der Erde zum Mond“ bzw. „Reise um den Mond“ von Jules Verne handelt davon, wie ein amerikanischer Verein von Artilleristen nach dem Ende des Bürgerkrieges seine Kräfte darauf verwendet, eine Aluminiumkugel auf den Mond zu schießen. Ein lebenslustiger Franzose kommt hinzu, und die Kugel wird zu einem wohnlichen Geschoss umgebaut, in dem drei sehr eigenwillige Charaktere die Reise zum Mond antreten. Wegen eines Berechnungsfehlers der Anfangsgeschwindigkeit und wegen der Begegnung mit dem „zweiten Mond“, dessen Existenz damals vermutet wurde, fällt das Geschoss nach einer ausführlich geschilderten Umrundung des Mondes wieder auf die Erde zurück, und alle sind wohlbehalten.

Dieser Roman entfaltet erneut das erzählerische Talent von Jules Verne, und der Leser gibt sich dem Strom der Ereignisse, Gedanken und Informationen gerne hin. Wieder werden die Nationen durch ihre Vertreter liebenswürdig charakterisiert, und wieder wird aus Technik und Naturwissenschaft alles aufgefahren, was man damals über Kanonen, Ballistik, Astronomie und natürlich den Mond wusste. Und das ist nicht wenig. Jules Verne hat seine Hausaufgaben wieder einmal gründlich gemacht und lässt uns alle daran teilhaben. Es ist auch interessant zu sehen wie Jules Verne elegant das Problem umschifft, dass man damals noch nicht wusste, was sich auf der anderen Seite des Mondes verbirgt.

Der Leser staunt, wieviel Jules Verne von der ziemlich genau einhundert Jahre später tatsächlich stattfindenden Mondfahrt bereits vorweggenommen hat. Selbst der Ort des Abschusses ist mit Florida so gewählt, wie es später tatsächlich geschah. Aber auch andere Details kommen einem seltsam bekannt vor. Selbst der Pragmatismus und die Begeisterungsfähigkeit der Amerikaner werden treffend dargestellt.

Der Roman ist halb als eine Satire auf den amerikanischen Charakter angelegt und vermittelt keine tiefere Botschaft. Auch die Handlung ist nicht sonderlich spannend: Denn im ersten Teil geht es um die planmäßige Errichtung der Abschusskanone, während im zweiten Teil die Mondreisenden weitgehend passiv den Ereignissen ausgeliefert sind. Dennoch lohnt die Lektüre. Zum einen wegen des liebenswürdigen Erzählstils. Zum anderen aber wegen der technischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die man damals schon hatte, und die den Leser mitdenken lassen, was und warum etwas passiert.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. April 2023)

Dino Buzzati: Die Tatarenwüste (1940)

Großartige Parabel auf ein leer vertanes Leben auf dem Abstellgleis

Der junge Oberleutnant Drogo wird auf die einsam gelegene Festung Bastiani am Rande der Tatarenwüste abkommandiert. Eigentlich will er dort nicht lange bleiben, aber dann verlängert er seinen Aufenthalt immer wieder …..

Dino Buzzati hat mit der „Tatarenwüste“ die Lebensgeschichte eines Menschen geschrieben, der vom Schicksal auf ein Abstellgleis geschoben wird und es sich dort allzu leicht gemütlich macht – und auf diese Weise am wahren Leben vorbei lebt.

Immer wieder macht er sich neue falsche Hoffnungen und erfindet Ausreden und irrige Vertröstungen, um ein Leben im Stillstand zu rechtfertigen. Es fehlt ihm vielleicht auch der Mut, und er ist zu bequem. Aber auch seine Mitmenschen helfen tatkräftig dabei mit, ihn aufs Abstellgleis zu schieben. Und er lässt es gutmütig mit sich machen. Wirkliche Freunde scheint er nicht zu haben, die ihn ins wirkliche Leben zurückholen könnten.

Es ist ein sehr trauriges Buch, in dem jeder Leser die ein oder andere Facette seines Lebens wiederfinden wird. Wir alle haben schon auf die ein oder andere Weise mehr oder weniger lange in eine „Tatarenwüste“ geblickt. Was für die meisten von uns nur eine Facette des Lebens war, wurde hier zum Inhalt eines ganzen Lebens. Ein Leben kann auch grässlich schiefgehen, und Dino Buzzati führt es uns exemplarisch vor Augen. Eine gute Warnung.

Dino Buzzati hatte dieses Buch schon 1940 herausgebracht, es feierte aber nach 1945 Erfolge. Nach den langen Jahren des Krieges und der Diktatur, in denen man vieles aufschob, konnte das Leben endlich wieder losgehen. Insofern könnte man das Buch als Aufbruchsignal werten.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Oktober 2019)

Philipp Melanchthon: Glaube und Bildung – Texte zum christlichen Humanismus (16. Jhdt.)

Absolut lesenswertes Zeugnis eines wahren Humanismus

Philipp Melanchthon war ein in der Wolle gefärbter Humanist, der von Martin Luther sofort als Denker entdeckt wurde. Während Luthers Reformation, die von dem führenden Humanisten Erasmus von Rotterdam mit Recht als zu radikal abgelehnt wurde, stand Melanchthon unter dem teils ungünstigen Einfluss von Martin Luther und lehnte z.B. die Philosophie als schädlich ab. Melanchthon war unbestritten der eigentliche Denker der Reformation, während Luther eher der Macher war. Nach Luthers Tod befreite sich Melanchthon innerlich von Luthers Radikalität und gelangte wieder zu moderateren Auffassungen in bezug auf Philosophie und Religion.

Melanchthon hat zweifelsohne viel für die Verbreitung der humanistischen Bildung getan, und seine Schriften über Bildung sind eine wahre Wohltat in unserer heutigen Zeit. Dort liest man noch, wie die Sprache den Geist bestimmt, wie Sprache gebildet werden muss, um den Menschen zu bilden, dass die Bildung „aus der Hand kommt“, dass der Mensch erst durch eigenes Schreiben so richtig gebildet wird.

Das Verhältnis von Philosophie und Religion bestimmt Melanchthon – anders als zur Zeit Luthers – positiv: Philosophie und Glaube betreffen verschiedene Erkenntniswege, die sich nicht gegenseitig behindern, sondern ergänzen. Es gibt nichts, wovor die Philosophie Halt machen sollte. Nur wo die Philosophie glaubt, ohne die Religion auskommen zu können, setzt Melanchthon der Philosophie eine Grenze. Mehr kann man von einem religiösen Menschen eigentlich nicht verlangen.

Die Schule ist für Melanchthon das Abbild des Goldenen Zeitalters, der Ort des Lehrens und Lernens als heilige Tätigkeit unter philosophischen Geistern. Die griechische Sprache wird über alles gelobt. Alles in allem hat sich Philipp Melanchthon seinen Ehrentitel „Praeceptor Germaniae“, d.h. Lehrer Deutschlands, redlich verdient.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 31. Januar 2014)

Robert Silverberg: Gilgamesch The King (1984)

Gelungenes Sinuhe-Remake für die sumerische Kultur

Mit seinem Buch „Gilgamesch – The King“ hat Robert Silverberg eine Art Remake des Klassikers „Sinuhe der Ägypter“ von Mika Waltari vorgelegt. Wie dort auch läuft vor den Augen des Lesers eine Art psychedelischer Lebensfilm des Protagonisten ab, der gewissermaßen die Innensicht und die weltanschauliche Perspektive eines antiken Menschen nachzubilden versucht, von der Wiege bis zur Bahre. Auf diese Weise wird ein besonders intensiver Einblick in die jeweilige Zeit und Kultur gegeben. War es bei Waltari das alte Ägypten, ist es bei Silverberg die sumerische Kultur.

Das Remake ist gelungen: Wer nach der Lektüre nach Informationen über die alten Sumerer sucht, wird finden, dass Silverberg die wesentlichen Elemente dieser Kultur verarbeitet hat, und zwar gut verarbeitet. Historische Exaktheit darf man natürlich nicht erwarten, das ist nicht der Sinn der Sache, zumal die Forschung bei diesen frühen Kulturen immer noch sehr in Fluss ist. Es steht das Literarische und Menschliche im Vordergrund; in der alten Kultur spiegeln sich Einsichten, die sehr wohl auch für die Gegenwart gelten.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2012)

Can Dündar / Mohamed Anwar: Erdoğan (2021)

Die Irrtümer des Islamisten Erdogan und der Linksliberalen im Westen

Diese gut gemachte Graphic Novel beschreibt den Werdegang des türkischen Präsidenten Erdogan, der die Macht in der laizistischen Türkei als Islamist erobern konnte und heute fest im Sattel sitzt und die Demokratie unterdrückt. Man kann hier einiges lernen:

x) Zunächst lernt man verstehen, warum Erdogan so tickt wie er tickt. Erdogan hat „dank“ seiner laizistischen Gegner verschiedene Lebenserfahrungen gemacht, die ihn zu bestimmten Erkenntnissen geführt haben. Leider hat er nicht über den Tellerrand dieser Erfahrungen hinaus gedacht, sondern ist seinen Lebenserfahrungen reflexhaft verhaftet geblieben.

x) Ein Aspekt, der gerne übersehen aber in diesem Buch deutlich wird, ist der Umstand, dass die Türkei bereits vor der Zeit von Erdogans Machteroberung kein besonders demokratisches Land war. Der Islam war durch Atatürk keineswegs reformiert sondern schlicht unterdrückt worden. Es galt gewissermaßen auch bisher schon die Regel: Wer die Macht erobert, unterdrückt die anderen. Nur, dass die Macht bisher bei den Laizisten lag. Deshalb ist es kein Wunder, dass Erdogan keine Fairness eines echten demokratischen Systems kennengelernt hat, sondern sich einfach unterdrückt fühlte (denn er war es ja wirklich), und nun seinerseits die Macht nur durch Unterdrückung ausübt.

x) Man erfährt auch, dass Erdogan die Macht auf dieselbe Weise eroberte wie Salvador Allende in Chile: Nämlich nicht wirklich durch eine echte Mehrheit, sondern allein aufgrund einer relativen Mehrheit. Demokratische Systeme, die keine Stichwahlen kennen, wenn kein Kandidat die absolute Mehrheit erlangt, sind im Grunde nicht demokratisch.

x) Es ist erstaunlich, wie beharrlich Erdogan ist. Immer wieder wird er gestürzt, muss wiederholt ins Gefängnis, und muss auch seine Strategie immer wieder überdenken, bis er es am Ende gegen alle Widrigkeiten schafft. Das nötigt Respekt ab. Erdogan ist nicht die Marionette von irgendjemandem, sondern hat diesen Erfolg maßgeblich aus eigenem Antrieb erreicht. Das bedeutet aller Wahrscheinlichkeit nach auch, dass sein Regime mit ihm zu Ende gehen und ihn nicht überdauern wird.

x) Erdogan gibt sich gerne intellektuell, z.B. durch Rezitationen von Gedichten und religiösen Texten, doch in Wahrheit ist Erdogan ein allzu praktisch denkender Mensch, der seine Gegner einfach spiegelt, statt über die Gegensätze hinaus zu denken.

x) Interessant ist die Parallelgeschichte von Fetullah Gülen, der sich wie Erdogan auf den Weg machte, den Islamismus durch Unterwanderung der Gesellschaft zu etablieren. In dem gescheiterten (oder inszenierten?) Putsch von 2016 räumte Erdogan mit dieser Konkurrenzbewegung auf.

x) Es ist interessant zu sehen, wie sich westliche Linksliberale gerne täuschen lassen, wenn ihnen ein Islamist erzählt, er sei gar kein Islamist. Die meisten westlichen Linksliberalen haben vom Islam, von validen religiösen Reformen und überhaupt von Religion und weltanschaulicher Philosophie genauso wenig Ahnung wie irgendwelche rechtsradikalen Islamhasser. Peinlich vermeiden die Linksliberalen das Wort „Traditionalismus“, wenn es um den Islam geht, während sie bei der katholischen Kirche ständig Traditionalismus bemängeln, selbst dort, wo das gar nicht angebracht ist. Die Intellektualität der westlichen Linksliberalen ist einfach nicht entwickelt genug, um die Probleme rund um den Islam adäquat lösen zu können.

Ein Fehler ist im Buch enthalten: Es ist falsch, dass die Taliban in Afghanistan durch die USA unterstützt worden wären. Die Taliban entstanden überhaupt erst so richtig nach dem Abzug der Sowjets, und sind eine vom pakistanischen Geheimdienst aufgebaute und gesteuerte Gruppe. Der Fehler der USA war nicht die Unterstützung von Widerständlern gegen die Sowjets in Afghanistan, sondern dass die USA Afghanistan nach dem Abzug der Sowjets sich selbst (und damit den pakistanisch gesteuerten Taliban) überließen, statt weiter Einfluss und Macht über die von ihnen bis dahin geförderten Gruppen auszuüben, um so die ganz Radikalen von der Macht fernzuhalten.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. April 2022)

Mary Taylor Simeti: On Persephone’s Island – A Sicilian Journal (1986)

Ingenious description of life and customs on Sicily

As a young student from New York Mary Taylor Simeti came to Sicily, fell in love, married and lived her life on the island as an expatriate. This means she is in the double-role of an insider and an outsider and thus the perfect reporter on atmosphere, life and customs on Sicily, far better than any journalist traveling around for some months.

The book is organized following the seasons of the year thus showing the close relationship of life on Sicily to nature. Farming, plants, flowers, climate, public holidays and harvesting are important parts of her life. But the author also writes about her husband’s family and how she integrated step-by-step into the Sicilian society. Greek mythology does not play a central role but it is interesting to see how the author makes practical use of otherwise only academically treated myths. Life with the silent presence of the Mafia is a topic as well as customs like Easter processions and the widely unknown virgineddu. As an American the author wonders how Sicilians organize themselves, such as concerning her children’s school or how to get entrance to a historical building on a military site.

The book covers the time of the 1970s and 1980s and shows many features of the time: The author came to Sicily to support Danilo Dolci driven by a somewhat romantic social idealism, then we read again and again how she marched in demonstrations against American missiles on Sicily, or against the Mafia, or to protect a natural reserve. The author declares to be glad that anti-communism lost its strength. Old fotographs on the Web site of her winery „Bosco Falconeria“ show the typical beards and clothings of leftist students around 1968. From today’s point of view (2013) this does not seem so political any more but rather like folklore of these times in a certain social milieu. All in all Mary Taylor Simeti did not strive for communism but lived a good life as owner of several houses in Palermo and Alcamo and of course the farm Bosco Falconeria near Palermo, and she lets us readers take part in the sufferings and rewards of such a Sicilian life. Thank you!

PS 18.11.2024

Being grown up in a rural area in southwest Germany, I observed some striking similarities: There is e.g. the religious procession of the local saints. Then, the harvesting with the help of he entire family. And even the technicalities of the fruit press are similar, only, that in Sicily it is all about olives, while in Germany is is about apples and pears. And of course, there is more sun than in the rest of the country. It seems that „southern Catholic provinces“ are everywhere the same.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. Februar 2013)

Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie (1985)

Klassiker der Medienkritik über den Wert der Lesekultur des gedruckten Wortes

Medienkritik heute richtet sich vor allem auf die Frage, wer über die politische Ausrichtung in den Medien entscheidet. Neil Postman setzt eine Stufe tiefer an und wird noch grundlegender: Sind die neuen Medien vielleicht selbst ihrer Natur nach daran beteiligt, welche Inhalte sie transportieren? Und mehr noch: Welche geistige Haltung und welches Niveau von Intelligenz prägen sie beim Publikum ihrer Natur nach?

Diese Fragen diskutiert Neil Postman anhand des Übergangs von der Schriftkultur des gedruckten Wortes des 19. Jahrhunderts zur Fernsehkultur des 20. Jahrhunderts.

Einen der stärksten Eindrücke beim Leser hinterlässt dieses Buch durch die Beschreibung der Schrift- bzw. Lesekultur des 19. Jahrhunderts. Damals war das gedruckte Wort in Buch, Zeitung und Flugblatt das einzige und damit vorherrschende Medium, und es wurde tatsächlich viel gelesen, auch in unteren Schichten. Das Medium des gedruckten Wortes prägte den Geist: Vorherrschend war ein dem geschriebenen Wort entsprechendes lineares, strukturiertes und langatmiges Denken. Das gedruckte Wort ist gewissermaßen das ideale Medium für Rationalität. Die damaligen Reden von Politikern waren dementsprechend erstens länger und zweitens bedeutend argumentativer als heute. Neil Postman verweist darauf, dass in den USA damals selbst die Bauern Homer lasen (was etwas überspitzt, aber nicht falsch ist). Nicht zufällig wenden sich auch die Federalist Papers, mit denen in Zeitungen für die Annahme der US-Verfassung geworben wurde, an ein Publikum, das zum Lesen und Mitdenken bereit ist.

Das Fernsehen ist hingegen das Medium der Unterhaltung. Es wird von visuellen Eindrücken beherrscht, nicht von gesprochenen Texten. Der Zuschauer merkt sich Dinge nur schlecht. Alles wird in kurzen Sequenzen präsentiert, die nicht zusammenhängen. Seiner Natur nach zwingt das Fernsehen die Inhalte dazu, zur Show zu werden. Politiker halten nur kurze und inhaltslose Statements. Lächeln und gutes Aussehen ist wichtiger als ein Argument. Tiefgang verwirrt nur. Auch ernstgemeinte Sendungen verkommen unfreiwillig zur Schau, selbst ernstgemeinte religiöse Sendungen (Bischof Fulton J. Sheen) und Bildungsangebote (Sesamstraße).

Neil Postman demonstriert die Gefahren einer vom Fernsehen beherrschten Gesellschaft anhand der zwei klassischen Dystopien der neueren englischen Literatur: George Orwell und Aldous Huxley. Orwell sah den totalitäten Staat, eine Diktatur mithilfe von Propaganda. Huxley jedoch sah ein Technikparadies, in dem das Leben leicht und oberflächlich ist und deshalb bedeutungslos wird. Neil Postman glaubt, dass wir zu lange auf die Gefahr einer Orwellschen Dystopie geachtet und darüber die Gefahr der Dystopie von Huxley übersehen haben: Wir amüsieren uns zu Tode.

Als Gegenmittel schlägt er ein geschultes, kritisches Medienbewusstsein vor, das schon in der Schule und auch im Fernsehen vermittelt werden sollte.

Neil Postmans Buch ist immer noch lesenswert, auch wenn wir heute mit dem Internet schon die nächste Medienrevolution vollziehen, weil es die Aufmerksamkeit auf eine tiefere Dimension der Medienproblematik lenkt. Insbesondere ist aber die Schilderung der vergangenen Lesekultur des 19. Jahrhunderts so eindrücklich, dass der Vergleich von damals zu heute bei jedem Leser zu einem bleibenden Maßstab und zu einer bleibenden Mahnung wird.

Ergänzungen

Ein kritisches Medienbewusstsein ist sicher hilfreich, aber Rationalität allein wird nicht helfen. Vor allem müssen die Menschen bei einer Lesekultur des gedruckten Wortes bleiben, und nicht nur neue Medien konsumieren. Dazu brauchen die Menschen noch ganz andere Antriebe. Die Lesekultur ist insbesondere im Kindesalter massiv zu fördern, über Schule und Elternhaus. Eltern sind in dieser Sache direkt anzugehen. Darüber hinaus muss Propaganda in allen gesellschaftlichen Bereichen dafür gemacht werden, dass Lesekultur nach wie vor auf der Höhe der Zeit und intelligent ist (was sie ja tatsächlich ist), mithin also „angesagt“ und „erwünscht“, weil tatsächlich überlegen ist. Lesekultur muss ein Statussymbol sein, und es muss ein Statussymbol quer durch alle gesellschaftlichen Schichten sein. Belesenheit muss überall als Auszeichnung vor anderen verstanden werden, die keine Belesenheit aufweisen können. Auf diese Weise übernehmen die Menschen die Lesekultur so wie jede andere Mode des Zeitgeistes auch.

Internet: Die Eigenschaften des Mediums Internet hat Neil Postman nicht mehr vorhersagen können, aber für das Internet gilt zunächst grundsätzlich dasselbe wie für das Fernsehen. Das Internet hat jedoch eine Eigenschaft, die das Fernsehen nicht hatte: Der Rezipient emanzipiert sich von den Inhalteerstellern. Wer zu wählen weiß, gewinnt, wer nicht, verliert gegenüber dem herkömmlichen Fernsehen. Auch für diese Problematik ist die Schaffung eines kritischen Medienbewusstseins erforderlich, und auch für diese Problematik ist eine gediegene Lesekultur die beste Lösung.

Eine gediegene Lesekultur wird dabei immer beides sein: Pure Lust am Lesen und die Vermittlung klassischer Bildung. Neben Romanen und Krimis also auch die Klassiker der Weltliteratur sowie Sachbücher über Philosophie, Geschichte, Politik u.v.a. Themen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon im November 2021; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden)

Roger Willemsen / Michael Sowa: Ein Schuss, ein Schrei – Das Meiste von Karl May (2005)

Launige Dichtung verlebendigt und würdigt das Werk Karl Mays

Mit „Ein Schuss, ein Schrei – Das Meiste von Karl May“ hat Roger Willemsen eine herausragende literarische Leistung vollbracht: Während weniger gebildete Menschen Karl May verpönen, aktualisiert diese Dichtung das Werk Karl Mays auf eindrückliche und intelligente Weise! Sowohl sprachlich als auch inhaltlich landet Willemsen Vers um Vers einen Volltreffer nach dem anderen.

Die Reime sind launig gehalten und enden immer wieder in einer ironischen Pointe, in der Sprache und Inhalt sich zu einer lyrischen Überraschung vereinen. Es erinnert an Wilhelm Busch, Heinz Erhardt oder Loriot (zu denen sich auch Anspielungen entdecken lassen). Es ist eine Freude zu sehen, was Roger Willemsen hier mit der deutschen Sprache vollbringt. Den Leser erwartet ein einzigartiges Erleben nur durch das bloße Wort, wie es keine Comedy-Show bieten könnte.

Einige Beispiele:

Bagdad ist die Märchenstadt,
die so viel Charakter hat,
weil sich hier mit größter Dichte
komprimiert die Weltgeschichte.
Metropole eines Staats,
Hauptstadt eines Kalifats,
gab sie Türken, Kurden, Scheichs,
Stützen des Osmanenreichs,
ihren eignen Lebensraum.
Doch inzwischen: aus der Traum! …
Wir sehn auf wüster Bergeskuppe
Kara Ben Nemsis Reisegruppe,
sie nähert sich von Osten her
und trifft dabei auf Stoßverkehr
.

Nach beklemmenden Berichten
von Todeshatz und Standgerichten,
von Sklaventreibern, Sklavenjägern
wurde von Bedenkenträgern
darauf aufmerksam gemacht,
dass man Bürgerkrieg entfacht,
Menschenrechte schwer verletzt,
und sich selbst ins Unrecht setzt,
wenn man es nicht akzeptiert,
und entsprechend praktiziert:
Ob schwarz, ob gelb, ob rot, ob bleich,
vor Gott sind alle Menschen gleich
.

Und dieser Geist bringt Poesie
in Steppe selbst und in Prärie
denn die Karl-May’sche Ars Vivendi
passt auf Rothaut und Effendi
.

Aber auch inhaltlich überzeugt Roger Willemsen voll und ganz. Er deckt nicht nur die wesentlichen Werke von Karl May ab, sondern weiß zu allen Themen immer auch einen intelligenten Kommentar einzustreuen. Diese Kommentare haben oft Gegenwartsbezug, was die Aktualität Karl Mays unterstreicht.

Der ethische, humanistische Impuls, der Karl Mays Werk durchzieht, kommt keinesfalls zu kurz, und auch die Abstraktion in der symbolischen Chiffrenwelt des Spätwerkes wurde nicht vergessen. Auch die Kritik an Karl May wird thematisiert – und zurückgewiesen. Roger Willemsen singt das Lob Karl Mays, wie er es verdient hat.

Beispiele für den Gegenwartsbezug:

Es mehren sich in Windeseile
die Lügen und die Vorurteile,
und das dumpfe Meinen Vieler
war historisch oft stabiler
als die staatliche Verfassung
und der Wunsch nach Unterlassung.
Wer die Wahrheit so verpackt,
sucht die Meinung, nicht den Fakt
.

Doch will man einen Staat erneuern,
so muss man erst mal ein paar feuern:
die Chefs des Speichellecker-Chors,
und die der Ämter und Ressorts
.

Die Wirklichkeit wird nicht verneint,
nur ist sie selten, wie sie scheint:
Der Freund entpuppt sich als Verräter,
der Kamerad als Serientäter,
der gute Kerl kommt hinter Gitter,
ist aber eher Samariter.
Wo man Komplizenschaft erwartet,
ist längst schon alles abgekartet,
wo Wald sein soll, liegt eine Heide,
wo Wüste ist, wächst doch Getreide,
und statt dem Fluss liegt bloß ein Kiesbett.
Mach’s muslimisch, nenn es: Kismet!

Als ihm unerträglich schienen
seine schwedischen Gardinen,
lernte er: Das größte Glück
kehrt im Augenblick zurück,
da man sich aus seiner Zeit,
seinen Zwängen selbst befreit.
Ob Ehe, Haft, ob Tyrannei,
man geht und sagt: Ich bin so frei
.

Kurz: Jeder Freund der deutschen Literatur, jeder Karl-May-Fan kommt hier voll auf seine Kosten! Nur einige wenige Reime sind allzu geschüttelt: Es fällt nicht ins Gewicht.

Das Bändchen ist mit etlichen Bildern von Michael Sowa geschmückt, die in einem Quint-Buchholz-artigen Stil herrlich düster und geheimnisvoll sind. Manchmal einfach nur gut illustrierend, manchmal aber auch hintersinnig-comichaft karikierend.

Für Leser wie für Leserinnen
führt jede Reise stets nach innen,
Dampfrösser, Pferde und Kamele
erreisen auch die Menschheitsseele.
Von dieser kriegt man nie zu viel,
auch deshalb ist der Weg das Ziel.
Hier liegt des Werkes Quintessenz:
Erlösung krönt die Existenz
.

Der Verlag Kein & Aber hat sich allerdings einen dicken Faux-pas geleistet: Auf der Rückseite des Buches finden sich jene Verse abgedruckt, in denen die Kritik an Karl May wiedergegeben wird – ohne die direkt folgenden Verse zu zitieren, die diese Kritik wiederlegen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass dieses Büchlein sich diese Kritik zu eigen machen würde, was völlig falsch ist.

Warum hat der Verlag das getan? Glaubte der Verlag etwa, dass es mehr kaufwillige Karl-May-Kritiker als Karl-May-Fans geben würde? Das ist nicht anzunehmen. Bleibt nur der Verdacht, dass der Verlag den falschen Eindruck erweckte, um nicht in den Verdacht zu geraten, selbst zu den Karl-May-Fans zu gehören. Weil das in der „Blase“, in der sich dieser Verlag bewegt, nicht gut ankommt. Die Welt von Verlagen und Buchhandel ist durchsetzt mit linkslastigen Karl-May-Verächtern. Es ist die einzige Erklärung.

Mag er uns auch manchmal fern sein,
Winnetou muss nicht modern sein,
denn wir konzedieren neidlos:
Winnetou ist einfach zeitlos
.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Nagib Machfus: Die Reise des Ibn Fattuma (1983)

Große Literatur für die Reform von Islam und islamischer Welt

Der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus spielt in seiner kurzen Parabel „Die Reise des Ibn Fattuma“ von 1983 verschiedenste Gesellschaftsmodelle, Religionen, Weltanschauungen und nicht zuletzt Lebensarten und Reformen des Islam durch.

Dies geschieht anhand einer Reise des Ibn Fattuma durch verschiedene Länder namens „Maschrik-Land“, „Haira-Land“, „Halba-Land“, „Aman-Land“, „Ghurub-Land“ und „Gabal-Land“. Diese Länder haben unterschiedliche Gesellschaftsformen, in denen Ibn Fattuma sich jeweils für eine Weile einlebt und anpasst – oder auch nicht. Es handelt sich natürlich um Phantasieländer, doch repräsentieren sie u.a. die orientalische Despotie, die westliche Welt und den Kommunismus. Der Reisende selbst kommt aus dem „Land des Islam“ und vergleicht ständig seine Heimat mit den Sitten und Gebräuchen der besuchten Länder.

In einer wunderschönen, erzählerischen Sprache weitet Nagib Machfus auf diese Weise den Horizont seiner Leser. Sie werden dabei kaum in ihren Urteilen bevormundet. Vielmehr bleibt viel Raum für eigenes Urteilen und Nachdenken.

Eine bemerkenswert reformierte Version des Islam zeichnet Nagib Machfus für das „Halba-Land“, das die westliche Welt repräsentiert: Die Muslime leben individuell, muslimische Frauen sind gleichberechtigt, und die Muslime fügen sich in freiheitlicher Überzeugung in die Gesellschaft ein. Ibn Fattuma kommt das sehr fremd vor, doch er lebt sich ein.

Perfekt ist hingegen keine der gezeichneten Gesellschaften. Am Ende der Reise steht das große Ziel, das ideale „Gabal-Land“, das Land meditativer Einsicht; von dort ist noch nie ein Reisender zurück gekommen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 2011)

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