Schlagwort: 5 von 5 Sternen (Seite 1 von 11)

Veronica di Grigoli: Evil Eye (2013)

Great read to get a deep insight into life in Istanbul

Celeste came to Istanbul to teach English just for one year but makes experiences which will change her whole life: Only step by step she realizes that she has become victim of an evil plot against her life, involving magic and the furor of a woman fighting for a man. With good friends and a good sense of humour she overcomes all perils and is able not only to save her own life but also the life of a mysterious boy living in an orphanage.

By living in a household of a rich Turkish family, Celeste is compassionately involved in culture and society of the country. Be it richness and poorness, the Turkish ideas of the relationship of the sexes, magic and superstition as well as freemasonic enlightenment, the morbid beauty of Istanbul, or stories from Istanbul’s rich history as well as from Turkish tradition (such as Nasreddin Hoca or the sultan’s harem): Celeste experiences this all with critical openess and brings joy and love into the life of others, finding love herself, in the end.

Definitely a book which deserves a good publisher and many readers!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. März 2014)

Israel Finkelstein / Neil A. Silberman: Keine Posaunen vor Jericho – Die archäologische Wahrheit über die Bibel (2001)

Sehr, sehr grundlegendes Allgemeinwissen für jedermann

Ich zähle „Keine Posaunen vor Jericho“ (Englisch: „The Bible Unearthed“) von Finkelstein und Silberman zu den 20 wichtigsten Sachbüchern, die man gelesen haben sollte. Warum? Weil darin sehr grundlegendes Wissen über unsere Weltwirklichkeit mithilfe der historisch-kritischen Methode vermittelt wird.

Das Buch legt verständlich aber fundiert den derzeitigen Stand der Wissenschaft dar, was der reale Hintergrund für die Entstehung des grundlegenden Teiles der Bibel war: Es handelt sich weniger um Berichte von realen Ereignissen, als vielmehr um Texte, die in theopolitischer Absicht komponiert wurden, zusammengesetzt aus Historie, Mythen, Legenden, Wunschdenken und Zielvorstellungen, geschrieben zur Erreichung eines bestimmten Zwecks in einer konkreten Situation in der damaligen Gegenwart.

Was profitiert man davon?

Zunächst wird man von der Illusion befreit, die biblischen Geschichten seien wörtlich wahr. Dies ist für das persönliche Weltbild wichtig, da diese Geschichten immer noch in Kindergarten, Schule und Literatur erzählt werden, wie wenn sie historisch wahr seien.

Auch wenn man nie selbst an diese Geschichten glaubte, kann man mithilfe dieses Wissens die christlich-jüdisch-islamisch geprägten Kulturen besser verstehen. Und diese Kulturen prägen die gesamte Welt.

Man erwirbt sich die grundlegende Kompetenz, auch bei anderen Texten historisch-kritisch zu hinterfragen, ob sie denn wahr sein könnten und was die wahre Absicht ihrer Verfasser war. Das einmal kennengelernte Prinzip kann auf jeden anderen Text übertragen werden: Auf das Neue Testament, auf den Koran, auf antike Philosophen und Historiker, bis hin zu modernen Texten und Filmen und ihren Hintergründen.

Man bekommt auch ein Verständnis dafür, dass eine Entmythologisierung nicht unbedingt die Entwertung eines Mythos nach sich ziehen muss. Was nicht wörtlich wahr ist kann dennoch im übertragenen Sinn von Bedeutung sein. Und manchmal entpuppt sich ein Mythos auch als historische Wahrheit. Eine blindwütige Bilderstürmerei ist nicht angesagt.

Einladung an gläubige Leser

Gläubige Leser sollten dieses Buch nicht zuerst als Angriff auf ihren Glauben lesen. Die Erkenntnis, dass ein heiliger Text nicht wörtlich wahr ist, entwertet diesen noch lange nicht als Grundlage für eine Religion. Natürlich bringt dieses Buch Erschütterungen für den Glauben mit sich, aber Erschütterungen können auch heilsam sein! Jedenfalls lehren alle Religionen das Vertrauen in die Vernunft, und dieses Vertrauen sollte man aufbringen. Gläubige Leser sollten sich insbesondere auch nicht gezwungen fühlen, gleich für alles eine Erklärung zu haben, sei es pro oder contra. Vernunft braucht Zeit. Man kann die Erkenntnisse dieses Buches auch erst einmal distanziert zur Kenntnis nehmen und mit ihnen gedanklich spielen. Nach einer Weile wird sich dann ganz zwanglos herauskristallisieren, was sich bewährt, und wo umgedacht werden muss, und wie dieses Umdenken zu einem neuen Ganzen führt. Ganz falsch wäre es sicher, die Ideen dieses Buches bewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dann hätte man gegen die Religion gehandelt, weil man nicht auf die Vernunft vertraute.

Vierteilige TV Doku

Zum Buch gibt es eine sehr gut gemachte vierteilige TV-Doku von 4 x 50 Minuten, die die Inhalte des Buches gut und umfassend präsentiert und mit Bildern von Ausgrabungen, Papyri, Keilschrifttexten usw. unterlegt, sowie Interviews mit an der Forschung beteiligten Wissenschaftlern zeigt. Sie wird unter verschiedenen Titeln auf DVD vertrieben, z.B. „Die Enthüllung der Bibel“ oder „Was die Bibel verschweigt“. Empfehlung!

Auf Englisch aktuell auf Youtube z.B. unter „The Bible Unearthed (Full Version)“ zu finden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. März 2011)

Aischylos: Die Perser (472 v.Chr.)

Ein Grundstein der Weltliteratur und des Griechentums

Durs Grünbein hat mit den „Persern“ von Aischylos eine Übersetzung vorgelegt, deren Worte die Kraft haben, die Vergangenheit für die Gegenwart erinnerlich zu machen, bei der, anders als bei modernistischen Übersetzungen, jede Zeile sitzt und bewusst macht, dass dem Leser hier aus alter Zeit das unverändert Menschliche entgegenweht.

Diese älteste aller griechischen Tragödien, eine einzige handlungsarme Wehklage der Perser über den Verlust des Krieges mit den Griechen bei Salamis und Plataiai, wartet mit einer großen Überraschung auf und versetzt dadurch in Staunen: Die Sieger bringen die Besiegten in ihrem menschlichen Jammer auf die Bühne, ohne Spott, ohne Häme und mit großem Ernst. Es ist den griechischen Zuschauern klar: So hätten um ein Haar auch wir wehklagen müssen, wären wir nicht Sieger geblieben. Damit sprengt diese Tragödie durch das Mitleiden der Zuschauer jede nationale Engstirnigkeit und lenkt den Blick auf die Menschlichkeit aller Menschen, und sei es der Feind – gleichzeitig demonstriert der Plot aber auch die Überlegenheit des griechischen Weges: Wo sonst wäre solches zu zeigen möglich als in Athen?

Sehr anregend auch die kenntnisreichen Nachworte von Durs Grünbein. Widersprochen werden muss seiner zuletzt geäußerten Auffassung, dass die Verbindung zu den Gefallenen vergangener Kriege abreiße, sobald sich die Ideologie ändere oder die Nation auflöse. Dies ist nicht der Fall. Denn die Nachfahren werden immer das Bewusstsein in sich tragen, dass es Menschen waren wie sie selbst, die in ihrer Zeit mit sich und dem Schicksal gerungen haben, wie dies jeder Mensch tun muss. Und es fragt sich jeder: Hätte ich es anders getan als die Vorfahren? Die Vorfahren stecken in uns, ohne dass ein Abreißen der Tradition möglich wäre.

Das Erscheinen des Dareios im Stück signalisiert auch nicht das Abreißen einer Tradition, sondern im Gegenteil die Wiederaufnahme und Rückbesinnung auf eine Tradition, nämlich die Beschwörung des Besten, was Persien bislang hervorgebracht hatte, nämlich die Weisheit des Dareios gegen Hybris und Unvernunft.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Oktober 2010)

Andreas Wilhelm: Die Projekt-Trilogie (2006/2007/2009)

Projekt Babylon (2006): Spannend – Interessant – Geistreich

Ein wirklich gelungener Roman. Andreas Wilhelm ist viel mehr als der „deutsche Dan Brown“. Sein Forschertrio ist viel besser geeignet, eine gemeinsame Suche nach der Wahrheit im Dickicht der Mythen und Überlieferungen darzustellen, weil Skepsis, Pragmatik und Herz viel besser repräsentiert werden. Hier wird nicht einfach an Übersinnliches geglaubt – es wird aber auch nicht zu trocken – und die weibliche Komponente wird nicht so seltsam ignoriert, wie bei Dan Brown. Auch erfindet Andreas Wilhelm nicht ganz so wilde Zusammenhänge, wie Dan Brown. Das Spannungsniveau ist in etwa dasselbe, man bekommt wirklich etwas geboten. Dieser erste Band einer Trilogie, der eine in sich abgeschlossene Handlung hat, enthält auch bereits deutliche Hinweise, wo alles enden wird im dritten Band – für den, der sich auskennt : – )
Alles in allem: Große Leseempfehlung!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Projekt Sakkara (2007): Der Autor weiß wovon er schreibt und präsentiert es meisterlich

Dieser zweite Teil der Projekt-Trilogie ist erneut eine gelungene Überraschung: Denn anders als bei anderen Autoren flacht Andreas Wilhelm in seinem zweiten Band keineswegs ab. Im Gegenteil: Er dreht so richtig auf und liefert eine Komplettverarbeitung der ägyptischen Kultur und all ihrer Geheimnisse, sowie ihrer Entdeckungsgeschichte, die das Herz jeden Kenners höher schlagen lassen muss. Erneut beweist Andreas Wilhelm auch, dass er die Gratwanderung zwischen Wissenschaft, Pseudowissenschaft und Esoterik meisterlich beherrscht. Plumpe Geschmacklosigkeiten unterbleiben konsequent, statt dessen souveräne Raffinesse und Ironie ohne Ende – da kommt man auch als Skeptiker voll auf seine Kosten. Überhaupt bemerkt man, dass der Autor ein Themengebiet nicht nur „verarbeitet“, sondern sich selbst bestens darin auskennt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Projekt Atlantis (2009): Phantastisches Ende einer spannenden Suche – pro und contra

Das Forscherduo Peter und Patrick, wie immer ergänzt um eine Frau, macht sich in diesem dritten und letzten Band der Projekt-Trilogie dazu auf, das letzte und größte Geheimnis zu ergründen: Atlantis.

Da das Thema Atlantis im Gegensatz zu Templern oder Ägyptern z.Z. noch wenig real vorzuzeigende Substanz aufzuweisen hat, weitet sich die Story dieses Mal zu einer phantastischen Geschichte aus, die eines Jules Verne würdig gewesen wäre (man denkt unwillkürlich an „20000 Meilen unter dem Meer“ oder die „Reise zum Mittelpunkt der Erde“). Leider geht dabei ein wenig der Zauber verloren, der in den beiden ersten Bänden davon ausging, dass das Mystische sich sehr eng in das Bekannte und Erforschte einbettete. Die Gratwanderung zwischen Wissenschaft, Pseudo-Wissenschaft und Esoterik wurde in diesem dritten Band leider deutlich verfehlt.

Es ist aber dennoch eine grandiose Abenteuergeschichte. Gut gefallen hat auch die realistische Darstellung eines Meeresforschungsprojektes: Das Schiff, die Technik, die Mannschaft, die Organisation. Auch das Verhalten der Medien wurde gut getroffen. Ganz amüsant war die Darstellung typischer Phänomene, wie es sie in der real existierenden Atlantisforschung tatsächlich gibt: Die Skeptiker, die Spinner, die Hochstapler, die verkannten Seriösen, die Selbstzweifel, die Euphorie, und noch einmal: die Medien und ihr ganz spezieller Blinkwinkel.

In einem Punkt stiftet der Autor unnötig Verwirrung (Nachwort): Das Atlantis des Romans entspricht zwar durchaus einem Teil des Mythengeflechts, das sich im Laufe der Jahrhunderte um das Thema Atlantis gesponnen hat – aber es wäre erwähnenswert gewesen, dass dieses Atlantis natürlich nicht dem originalen, von Platon beschriebenen Atlantis entspricht. Im Roman wurde vielmehr auf Vorstellungen von Atlantis zurückgegriffen, wie sie Ignatius Donnelly, mehr noch, wie sie Esoteriker und Theosophen im Laufe der Zeit sich frei zusammengedichtet haben. Wer sich hingegen auf eine realistische Weise mit dem originalen Atlantis des Platon beschäftigen möchte, dem sei z.B. folgendes Buch empfohlen: Thorwald C. Franke: Mit Herodot auf den Spuren von Atlantis – Könnte Atlantis doch ein realer Ort gewesen sein?

Weitere Schwächen sind

Das Verhalten des Kommandanten des Marine-Stützpunktes ist unrealistisch: Es ist kaum anzunehmen, dass ein professioneller Soldat nicht misstrauisch wird, wenn ein Außenstehender plötzlich über militärische Interna Bescheid weiß – und als Familienvater praktisch seine ganze Karriere aufs Spiel setzt, vielleicht sogar Gefängnis riskiert. – Etwas unlogisch war, dass die dunkle Trennschicht diesmal für die Elektronik durchlässig war. Diese für den Fortgang der Handlung wichtige Frage hätte man anders umschiffen müssen. – Ebenfalls etwas schwach motiviert war die Auffindung nicht von einer, sondern gleich von zwei Textquellen zu Atlantis. Wie es aussieht, hätte die aus Alexandria vollkommen genügt. Wozu dann die andere? – In Projekt Atlantis führen plötzlich vier Brücken zum Zentrum von Atlantis, während in den ersten beiden Bänden der Grundriss der Anlage nur einen solchen Zugang zum Zentrum aufweist, wie es ja auch der Beschreibung Platons entspräche. – Etwas enttäuschend war, dass keine näheren Inhalte aus dem vollständigen Manuskript des Platon-Dialoges Kritias präsentiert wurden. Man kann nicht die Auffindung einer so heißen Textquelle postulieren, aber dann kaum daraus zitieren.

Schließlich kann man noch den philosophischen Gehalt der Trilogie beleuchten: Alles in allem gut gemeint, aber doch etwas seicht. Liebe, Mitmenschlichkeit und Verantwortung als Werte sind ja nicht ganz neu. Problematisch wird es mit dem Motto „Wage zu wissen“: Denn Wissen erschließt sich dem Menschen in der realen Welt nicht aus telepathischen Archiven, sondern aus langwierigen Lern- und Denkanstrengungen, die teils harte Desillusionierungen und Enttäuschungen erfordern. Von einer solchen realistischen Erkenntnisphilosophie war aber kaum etwas zu sehen. Am beeindruckendsten war vielleicht die Verwandlung von Patrick im zweiten Band, die im dritten Band dann leider etwas unterging.

Alles in allem

Die Projekt-Trilogie von Andreas Wilhelm ist ungeachtet gewisser Schwächen längst dabei, ein Kult zu werden wie die Bücher von Dan Brown. Es ist die Spannung der bildungsschwangeren Schnitzeljagd in mysteriösen Gefilden, die es wohl ausmacht. Formal ist da außerdem nicht nur die Prägung von wiederkehrenden Motiven in den drei Romanen, sondern es ist auch die Homepage mit Trailer und eigens komponierter Musik: Man kann es kaum erwarten, bis man im Kinosessel sitzt, die Werbung vorbei ist, der Saal noch ein wenig dunkler wird, der Vorhang noch ein Stück weiter zur Seite rückt, und dann in völliger Dunkelheit diese Musik zu erklingen beginnt … – was ein Feeling!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Februar und 25./26. März 2009)

J.D. Vance: Hillbilly-Elegie – Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise (2016)

Soziale Selbstblockaden und sozialer Aufstieg – ein großes Lehrstück für jedermann und jede Zeit

Der Hintergrund der Hillbilly-Elegie von J.D. Vance ist die soziale Situation der sogenannten „Hillbillies“, d.h. der Nachfahren von iro-schottischen Einwanderern, die aus den Apalachen in die Industriestädte gezogen waren, um dort als Arbeiter ihr Geld zu verdienen – und welches Schicksal sie ereilte, als die Industrie abzusterben begann. Das zentrale Thema des Buches sind aber nicht die äußeren Umstände der Verarmung und sozialen Verelendung der Hillbillies, sondern die Denk- und Verhaltensweisen der Hillbillies, mit denen sie sich selbst in ihrer misslichen Lage gefangen halten.

Hillbillies sind bildungsferne Menschen. Sie erkennen den Wert einer guten Schulbildung nicht und können sich außer einem Industriearbeitsplatz nichts anderes vorstellen. Hillbillies sind außerdem sehr auf die Familienehre bedacht, und sie werden leicht gewalttätig. Damit verbauen sie sich aber oft genug selbst jede Chance auf Aufstieg. Ehen zerbrechen und Kinder wachsen in instabilen Verhältnissen auf. Hillbillies verlassen ihren Wohnort auch nicht, wenn es dort keine Arbeit mehr gibt, sondern bleiben. Soziale Wohltaten des Staates töten zudem jede Motivation, sich anzustrengen. Die Schuld für alle Probleme wird immer bei anderen gesucht. Religion spielt ebenfalls eine Rolle, aber eher im Sinne von Aberglauben. Ein konsequenter religiöser Glaube wirkt in diesem Milieu stabilisierend.

J.D. Vance hatte das Glück, zwei Großeltern gehabt zu haben, die ihm die nötige Stabilität und die nötigen Impulse geben konnten, um sich aus dem Milieu zu befreien. Wir können J.D. Vance dabei zusehen, wie er sich Schritt für Schritt aus dem Sumpf befreit, dabei immer wieder Hilfe von anderen – und durch Zufälle – erfährt, und auch immer wieder umdenken und sich selbst hinterfragen muss. So praktisch und realistisch hat man das noch nicht gelesen. Es ist sehr überzeugend.

Sehr interessant auch zu lesen, wie J.D. Vance bei den Marines die nötige Charakterstärke erlernte. Spätestens hier wird sich auch ein Mittelschicht-Leser fragen: Warum habe ich solche Dinge nicht gelernt? Warum werden solche nützlichen Dinge nicht in der Schule gelehrt? Interessant auch der Werdegang von J.D. Vance an der Universität: Kommunikation und Beziehungen zu Menschen sind das A und O beim Fortkommen, nicht nur an der Uni. Besonders stark sind die Passagen, in denen J.D. Vance auch später noch erkennen muss, dass er immer noch schädliche Charakterzüge der Hillbillies in sich trägt, die je nach Gelegenheit emotional aus ihm hervorbrechen, obwohl er glaubte, bereits alles durchschaut zu haben.

J.D. Vance hat die Probleme seines Milieus in der Wissenschaft analysiert gefunden: Allerdings nicht für die Hillbillies, sondern für gewisse Milieus von Schwarzen in den USA. Es ist verblüffend, wie sich die Probleme gleichen. Als deutscher Leser kann man hinzufügen, dass es vergleichbare Probleme auch mit gewissen Milieus von Zuwanderern in Deutschland gibt. Vielleicht auch mit gewissen Milieus in Ostdeutschland oder generell in ökonomisch abgehängten Regionen in Deutschland, von denen es ja immer mehr gibt.

Welche politischen Lehren und Ratschläge zieht J.D. Vance aus seinen Erfahrungen? Erstens, dass es keine Patentlösungen gibt. Am Ende muss der Wille von den Betroffenen selbst kommen. Was man machen kann, ist, den Betroffenen immer wieder „kleine“ Anstöße und Hilfen zu geben, sich langsam, Schritt für Schritt, aus dem Sumpf herauszuarbeiten. Es gibt aber keine Garantie dafür, dass die Betroffenen die Anstöße und Hilfen auch aufgreifen. Man muss dennoch immer weitermachen mit den Anstößen und Hilfen. – Allzu großzügige soziale Wohltaten des Staates sind natürlich schädlich für die nötige Motivation, sein Leben zu ändern. – Schließlich plädiert J.D. Vance für die soziale Durchmischung von Stadtvierteln: Die Abgehängten dieser Welt brauchen Vorbilder für ein gelingendes Leben, an denen sie sich orientieren können. Leider geht J.D. Vance nicht darauf ein, dass die Mittelschicht kein Interesse an einer sozialen Durchmischung mit der Unterschicht hat, weil sie dabei nur Nachteile erfährt.

Fazit

Mit Hillbilly-Elegie hat J.D. Vance ein großes Lehrstück über das wahre Wesen von sozialen Unterschichten geschrieben, das praktisch überall auf der Welt anwendbar sein dürfte. Dabei zertrümmert J.D. Vance die typischen Mythen von Sozialpolitikern, deren Lösungsvorschläge im wesentlichen darauf hinauslaufen, Geld in die Unterschichten zu pumpen. Es fehlt aber nicht zuerst an Geld, sondern vor allem am richtigen Bewusstsein. Soziale Durchmischung und gute Schulen helfen mehr als jede Sozialhilfe. Ebenso ein enger Zusammenhang von Fördern und Fordern, bei der das Fordern nicht zu klein geschrieben wird.

Speziell für die Probleme der Zuwanderung – über die J.D. Vance sich in diesem Buch nicht äußert – kann man aus den Ausführungen von J.D. Vance schließen, dass man nur so viele Zuwanderer gut integrieren kann, solange eine gute soziale Mischung gewährleistet werden kann. Es gibt also eine Obergrenze für Zuwanderung, und sie wird nicht durch Geld bestimmt, sondern durch das schiere Zahlenverhältnis von Einheimischen und Zuwanderern.

Man würde wünschen, dass jeder Sozialpolitiker und überhaupt jeder Linke dieses Buch liest. Vor allem aber möglichst viele junge Menschen aus der Unterschicht. Doch auch der Mittelschicht-Leser wird im Laufe der Lektüre dazu angeregt, über seinen eigenen Werdegang nachzudenken. Denn wir alle leiden unter falschen Denkmustern, die unser Herkunftsmilieu mit sich brachte, wenn auch nicht so stark wie im Hillbilly-Milieu.

Eine Frage, die J.D. Vance nicht aufwirft, ist die Problematik einer allzu großen Anpassung an ein Aufsteigermilieu. Es ist sicher richtig, dass man mit Kommuikation und Beziehungen nach oben kommt, aber allzu große Anpassung und Aalglattheit bergen natürlich die Gefahr, die eigene Seele zu verkaufen und zu einem Anzug ohne Inhalt zu werden. Über diese Balance hätte J.D. Vance mehr sagen sollen.

Die Hillbilly-Elegie von J.D. Vance ist alles andere als ein typisches Politiker-Buch voller Worthülsen und leerer Euphorie, sondern wahrhaft lesenswert und bereichernd. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass J.D. Vance dieses Buch schrieb, bevor er in die Politik einstieg.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Edith Wharton: The House of Mirth (1905)

Drama eines erwachenden Menschen in einer kalten, langweiligen Gesellschaft

Oberflächlich betrachtet ist dieser Roman ein feministisches Buch, in dem eine Frau daran zugrunde geht, dass Frauen in der Welt von 1900 nur durch Männer an Geld kommen. Doch diese Betrachtungsweise greift entschieden zu kurz. In diesem Roman sind auch Frauen Täter und Männer Opfer, wie explizit gesagt wird. Und die besondere Konstellation der Protagonistin ist ein zeitloses Problem: Ein Mensch wird durch seine Eltern auf ein bestimmtes Gleis gesetzt, doch nach und nach bemerkt dieser Mensch, dass der für ihn vorgesehene Weg falsch und für ihn nicht gangbar ist.

Der Roman spielt im New York um 1900, und es geht um die Gesellschaft des Geldadels von New York. Die High Society trifft sich mal auf diesem, mal auf jenem Landsitz, oder fährt mit der eigenen Jacht nach Monte Carlo. Wer eingeladen ist, ist dabei, und die schöne und intelligente Lily Bart ist ständig eingeladen. Ohne eigenes Vermögen wurde sie von ihrer Mutter auf das Lebensziel hin erzogen, einen Millionär zu heiraten. Doch Lily schreckt immer im letzten Moment zurück. Sie kann es nicht. Sie liebt diese Männer nicht. In Lawrence Selden hat sie einen Komplizen, der die Gesellschaft durchschaut hat. Sie hat Gefühle für ihn. Doch er ist kein Millionär. Und er respektiert ihre Ziele.

Weil sie dauerhaft keinen Mann findet, beginnt Lily Bart „Fehler“ zu machen und sich in dem Haifischbecken dieser „feinen“ Gesellschaft aus Intrigen, Ansprüchen, Neid, Begehrlichkeiten und übler Nachrede zu verlieren. Männer, die ihr finanziell aushelfen, erwarten Gegenleistungen, die sie nicht erbringen will, was sie in Schulden stürzt. Frauen, die sie zur Ablenkung ihrer Männer benutzen, machen sie hinterher zum Sündenbock, was zu ihrer Ausladung aus der Gesellschaft führt. Lily beginnt, die soziale Leiter herabzusteigen, bis zu Armut und Elend. Dabei erkennt sie immer mehr, welchen gedankenlosen Irrtümern sie als Mitglied der High Society unterlegen war.

Lily erhält zwar Hilfe von Freunden, doch es fällt ihr schwer zu erkennen, dass das für sie vorgesehene Lebensziel falsch war. Die Liebe zwischen Lily und Selden kommt bis zuletzt nicht zum Durchbruch, bis es zu spät ist.

Das Buch ist in einer sehr schönen Sprache geschrieben und enthält zahlreiche Dialoge und Situationen, die grundlegende Einsichten mit Esprit gestalten, und zum Merken und Wiederlesen einladen. Es gibt zwar einige Zufälle in diesem Buch, die allzu zufällig sind, aber um der Parabel willen, die das Buch ja sein soll, kann man sich das gefallen lassen. Teilweise werden die Ursachen dafür, dass jemand gesellschaftlich in Ungnade fällt, nur angedeutet, was das Verständnis manchmal etwas erschwert; es ist wirklich eine „hochfeine“ Gesellschaft. Aber allein um einen Einblick in diese Gesellschaft zu erhalten, ist der Roman absolut lesenswert, der sie in allen Details und allen ihren Funktionen und Fehlern beschreibt. Überhaupt handelt es sich um ein wohlkonstruiertes Stück Literatur, ein Drama von antiker Qualität, ein Meisterwerk eigener Art.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. September 2019)

Frank Kolb: Tatort „Troia“ – Geschichte, Mythen, Politik (2010)

Troja als Trojanisches Pferd der Türkei zum EU-Beitritt

Dieses Buch ist ein absolutes must-read für jeden historisch Interessierten. Frank Kolb entlarvt einen hochexplosiven Cocktail aus politischen und wirtschaftlichen Interessen, Verbiegungen und Fälschungen von Grabungsergebnissen und deren Deutung, bis hin zur Bedienung von Zeitgeist und Wunschdenkens des Publikums.

Grundlage

Wer verstehen will, was bei der Troja-Grabung schiefgelaufen ist, muss sich zunächst etwas mit der türkischen Staatsideologie vertraut machen: Atatürk schuf gewissermaßen eine Neugründung des osmanischen Vielvölkerstaates im Kleinformat, nämlich beschränkt auf die anatolische Halbinsel. Gemäß der neuen Ideologie des „Anatolismus“ gäbe es von Urzeiten an eine gemeinsame „anatolische“ Identität aller Völker auf türkischem Staatsgebiet. Auf diese Weise vereinnahmt die Türkei kulturell alles für sich, was auf ihrem Staatsgebiet jemals geschah: Die neolithische Agrarrevolution in der Jungsteinzeit, das Hethiterreich, aber auch die ionischen Naturphilosophen, Herodot von Halikarnassos oder Homer und eben Troja. Indem man Homer nicht zuerst als griechisch sondern als „anatolisch“ definiert, kommt man zu der (selbst dann noch ziemlich kurzschlüssigen) Behauptung, dass die griechische Kultur ihre Blüte allein der anatolischen Kultur verdanke. Kurz: Man beansprucht nichts weniger als die Wiege der Menschheitskultur, der Zivilisation schlechthin zu sein.

Gemäß der türkischen Staatsideologie steht die „Zivilisation“ über den einzelnen „Kulturen“, die gleichberechtigt nebeneinander leben würden. Diese scheinbare Selbstbescheidung der türkisch-islamischen Kultur als eine Kultur neben anderen im eigenen Land findet in der Realität natürlich nicht statt, wie das in allen Vielvölkerstaaten so üblich ist: So wie in der Sowjetunion unausgesprochen die russische Kultur die Leitkultur war und so wie in Jugoslawien Serbien den Ton angab, so ist in der Türkei natürlich eine massive türkisch-islamische Leitkultur am Werke. Der „Anatolismus“ ist nicht nur eine völlig ahistorische Konstruktion, sondern dient auch der Machtsicherung der türkisch-islamischen Leitkultur, die sich hinter einer offiziellen Ideologie von der Gleichberechtigung der Kulturen umso unhinterfragter ausleben kann, denn auf diese Weise muss man z.B. niemandem einen Minderheitenstatus einräumen. Der „Anatolismus“ existiert vor allem in den Köpfen von gebildeteren Türken, die breite Masse ist ohne ideologischen Umweg türkisch-nationalistisch orientiert.

Was hat das alles mit Troja zu tun?

Frank Kolb gibt uns die Antwort: Seit Manfred Korfmann 1988 in Troja zu graben begann, wurde die historische Interpretation von Troja und Homer Schritt für Schritt im Sinne des „Anatolismus“ umgebogen. Homer sei ein Anatolier, dem sich die europäische Kultur verdanke. Überhaupt müsse man die Entstehung der westlichen Kultur endlich „von Osten her“ verstehen lernen. Um den Mythos von Troja am Leben zu erhalten, wurde die Siedlung am Hissarlik zu einer bedeutenden „anatolischen“ Handelsmetropole hochgejubelt.

Der Sinn hinter all dem ist klar: Hier wollte sich die Türkei in ihrer Staatsideologie selbst bestätigt sehen und sich kulturell als ein Staat etablieren, der zur europäischen Kultur dazu gehört, ja mehr noch, der die Wiege der europäischen Kultur sei! Assistiert wurde Korfmann bei seinen Deutungen von dem Gräzisten Joachim Latacz, dessen Buch „Troia und Homer“ mit einer ganzen Reihe unhaltbarer Thesen zum Bestseller wurde.

Einflussnahme aus Politik und Wirtschaft

Laut Frank Kolb fanden die Ausgrabungen von Korfmann unter einem massiven politischen und ökonomischen Erwartungsdruck statt, und es sieht ganz so aus, als ob Korfmann das lieferte, was man von ihm erwartete. Dafür wurde Korfmann mit der türkischen Staatsbürgerschaft geehrt und bekam als zusätzlichen Vornamen den Namen „Osman“ verliehen. Deutsche Politiker mit Türkei-Ambitionen hofierten das SPD-Mitglied Manfred Osman Korfmann. Korfmann meinte, der Islam sei „nichts anderes als eine Reformation des Christentums.“ Auch „bezüglich der Blutcharakteristika“ (!) unterschieden sich die „heutigen Bewohner Anatoliens von den Europäern in Nichts“, meinte Korfmann, und lobte die „Bindungen an den Boden und seine Vergangenheit“ in der türkischen Kulturpolitik. Anstelle von Fachvorträgen habe Korfmann auch schon einmal längere Plädoyers für den EU-Beitritt der Türkei gehalten.

Hauptfinancier der Ausgrabungen Korfmanns sei die DaimlerChrysler AG gewesen, die einerseits in der Türkei ökonomisch sehr engagiert ist, andererseits mit Edzard Reuter einen Vorstandsvorsitzenden hatte, der über seine Familiengeschichte eng mit der Türkei verbunden war. Der Konzernsprecher sagte laut Kolb: „Wie er (Korfmann) es versteht, die Geschichte Troias immer wieder auch als ‚anatolische‘ Geschichte zu erzählen, fällt auch auf den Sponsor DaimlerChrysler … ein Gewinn an Glaubwürdigkeit, der angesichts des wirtschaftlichen Engagements des Konzerns in der Türkei, aber auch angesichts von drei Millionen in Deutschland lebenden Türken gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.“ Und: „Das homerische Troia ist für viele auch der erste Ort, der Ort nämlich, von dem aus man das Abendland, seine Literatur, seine Kultur, ja seinen Geist verstehen muss“. An Heinrich Schliemann habe der Konzernsprecher gelobt, dass dieser „möglicherweise angebrachte methodische oder wissenschaftliche Hinterfragungen hinter die Public-Relation-Notwendigkeit zurückstellte“, und: „Die Erfolgskontrolle des Sponsoring … ist die Medienresonanz.“

Die unerwünschte Kritik

Es ist klar, dass wissenschaftliche Kritiker, die das politisch erwünschte Traumbild angreifen, auf massiven Widerstand stoßen. Der Hügel von Hissarlik war nachweislich keine große Handelsmetropole und lag auch nicht an großen Handelsrouten. Es war vielmehr, so Kolb, eine erstaunlich unbedeutende „Burgsiedlung“. Das Projekt von Korfmann hat, so zeigt es Kolb, Grabungsergebnisse überinterpretiert und teilweise auch verfälscht.

Es ist überhaupt sehr zweifelhaft, ob der Trojanische Krieg um diesen Hügel geführt wurde, und nicht erst in mythischer Rückschau von einem Ort in Griechenland aus einer ferneren Vergangenheit an diesen erst später von Griechen besiedelten Ort transferiert wurde, wie es die historisch-kritische Textkritik glaubwürdig herausgearbeitet hat. Auch sind die östlichen Einflüsse bei Homer in der Wissenschaft schon längst bekannt, sie dürfen jedoch auch nicht übertrieben werden. Eine Einordnung von Troja und Homer als „anatolisch“ ist wissenschaftlicher Unsinn wie das ganze Konzept des „Anatolismus“. Frank Kolb kann das alles sehr überzeugend darlegen und belegen. Sein Buch ist auch fachlich äußerst lesenswert, es ist keineswegs nur eine wissenschaftspolitische Polemik. Zahlreiche Fußnoten lassen keine Wünsche nach Belegen und Literatur offen.

Politischer Gegenwind

Latacz schrieb zu dieser Kritik: „Ankara … ist, wie ich höre, über diesen unnützerweise vom Zaun gebrochenen Streit nicht erfreut. Es wäre nicht gut, wenn wir in politische Verwicklungen geraten würden mit der Türkei.“ Die türkische Altertumsbehörde bezeichnete die Kritik von Frank Kolb als Beleidigung des türkischen Staates. Ein Museumsdirektor, der Kritiker zu einer Podiumsdiskussion einlud, sei von Bundestagsabgeordneten damit bedroht worden, seinen Posten zu verlieren, sollte der die Einladung nicht rückgängig machen.

Bei der FAZ wurde die Kritik laut Frank Kolb zunächst abgewimmelt, u.a. von Patrick Bahners. Patrick Bahners schrieb damals an Kolb: „Ihre Vorwürfe … sind so abwegig, dass die Leser an unserem Vertrauen in die eigene Berichterstattung zweifeln müssen, würden wir solche Gegenreden publizieren.“ In dem Artikel „Warum Däniken?“ in der FAZ vom 11.10.2001 polemisierte Patrick Bahners dann gegen die Kritiker. Es handelt sich um denselben Patrick Bahners, der später Chef des FAZ-Feuilleton wurde und im Jahr 2011 mit dem unsäglichen Buch „Die Panikmacher“ an die Öffentlichkeit trat, in dem er berechtigte Islamkritik ganz im Sinne des türkischen Ministerpräsidenten Erdogans als intolerante Panikmache abqualifizierte.

Zangger und Atlantis

Eberhard Zangger vermutete bereits vor Korfmann, dass es am Hügel von Hissarlik eine große Unterstadt gäbe, und verknüpfte diese Idee mit der These, dass mit Platons Atlantis das bronzezeitliche Troja gemeint gewesen sei. Mit beiden Ideen lag Zangger falsch, doch griff Korfmann die irrige Idee von der Unterstadt später auf, ohne Zangger als Quelle anzugeben, so Kolb. Vielmehr war Zangger mit dem Vorwurf abgetan worden, er sei ein „Däniken“. Aber die Idee mit Atlantis und die daraus entstehende Kritik von Zangger an Korfmann war ein erster und öffentlichkeitswirksamer Querschläger gegen Korfmanns Deutungshoheit, mit dem Korfmann so wohl nicht gerechnet hatte.

Zanggers Atlantis-These ist zwar falsch, aber sie war fachlich eben doch viel zu gut und zu niveauvoll, so dass sie im Zusammenprall mit Korfmanns fragilen Thesen für ersten Zündstoff sorgte. Was Kolb so nicht darstellt, weil es nicht sein Thema ist: Die Zangger-Debatte hat auch eine enorme Bedeutung für die Atlantis-Forschung: Zangger hatte einen Maßstab für eine realistische Atlantisthese gesetzt, und damit einen wichtigen Beitrag geleistet, eine teils sehr pseudowissenschaftlich abgehandelte Fragestellung wieder ein gutes Stück näher an die Wissenschaft heranzuführen.

Fazit

Frank Kolb hat ein ganz großes Lehrstück geschrieben über die Verfälschung von Wissenschaft unter dem Einfluss von politischen und ökonomischen Erwartungshaltungen, und wie schwierig es ist, sich bei Medien und Publikum Gehör zu verschaffen und wissenschaftlichen Standards zur Geltung zu verhelfen. Es ist ebenso ein Lehrstück darüber, welche Fehler man bei der Interpretation alter Texte im Lichte von Ausgrabungsfunden nicht machen sollte; der historische Kern alter Texte kann manchmal gefalteter und geschachtelter sein, als man meint. Ohne eine fundierte historisch-kritische Textinterpretation hilft einem keine Ausgrabung weiter. Konkret konnte man wieder einmal einiges darüber lernen, wie tief sich türkische Interessenpolitik in Politik, Wirtschaft und Kultur Deutschlands hineingefressen hat.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. April 2011)

Arthur Conan Doyle: Die Maracot-Tiefe (1927-1929)

Genre-prägende Verarbeitung des Atlantis-Themas

Wir kennen Sir Arthur Conan Doyle als den Schöpfer des berühmten Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Hier jedoch könnte man meinen, einen der klassischen Science-Fiction-Romane von Jules Verne in Händen zu halten: Ein international besetztes Team von Wissenschaftlern taucht in die tiefsten Tiefen des Meeres hinab, und erlebt dort Abenteuer, deren Grundlage ein intelligentes Ausphantasieren des damaligen Standes der Wissenschaft ist. Der Grundton ist optimistisch, sowohl was die internationale Zusammenarbeit der Wissenschaftler anbelangt, als auch was den Fortschritt der Wissenschaft und der Aufklärung anbelangt. Es ist eine Lust, das zu lesen.

Die Genialität und Kreativität, mit der hier das Atlantis-Thema verarbeitet wurde, war offenbar so eindrucksvoll, dass sich eine ganz neue Perspektive auf das Atlantis-Thema ausgeprägt hat, die seitdem in immer neuen Variationen wiederkehrt. Die Merkmale dieser Perspektive auf das Atlantis-Thema sind:

  • Atlantis existierte vor 12000 Jahren. Damals hatte Atlantis einen „bösen“ Herrscher, durch den es unterging.
  • Es gab aber auch dessen „guten“ Gegenspieler, der ein Fortleben der Atlanter unter Wasser durch seine Genialität ermöglichte.
  • Das wurde ermöglicht durch eine Technik, die fortschrittlicher ist als die Technik der Gegenwart (Atomspaltung, Gedankenkino), bzw. durch übernatürliche Kräfte, Kristalle usw.
  • Wiedergeburt und Erinnerung an ein früheres Leben spielen eine Rolle. Ebenso Unsterblichkeit oder Weiterleben als Geistwesen, das inspiriert.
  • Irgendwann (nach langen geologischen Zeiträumen) wird Atlantis wieder auftauchen.
  • Wissenschaftler werden nach Atlantis verschlagen und begegnen auf dem Weg dorthin einem Ungeheuer der Tiefsee.
  • In Atlantis werden sie mit archaischen Sitten konfrontiert (Sklaverei, Tötung von Mischlingen).
  • Erneut muss der Kampf Gut gegen Böse bestanden werden.
  • Der Kampf wird mit übernatürlichen Kräften geführt, die u.a. durch List besiegt werden müssen.
  • Je nach Ausgang bleibt Atlantis bestehen oder geht unter.
  • Am Ende gelingt den Wissenschaftlern die Rückkehr in unsere Welt.

Die Motive wurden z.B. aufgegriffen in Walt Disney Comics, in denen die Atlanter im Laufe der Zeit zudem Fischschwänze entwickelt haben, oder der Walt Disney Zeichentrick-Film „Atlantis: The Lost Empire“ von 2001. Ein Atlantis, das unter Wasser fortbesteht, über hohe Technologie verfügt und eines Tages wieder auftauchen wird, ist auch zu einer typischen Vorstellung eines pseudowissenschaftlichen Atlantis geworden. Die fortentwickelte Technik taucht allerdings schon in Francis Bacons „New Atlantis“ auf und wurde hier von Sir Arthur Conan Doyle offenbar erneut literarisch verarbeitet.

Alles in allem ist die „Maracot Deep“ ein geniales Stück Literatur, das jeder Atlantis-Interessierte und Jules-Verne-Fan gelesen haben sollte, dessen Science-Fiction-Charakter aber immer klar sein sollte.

PS: Zum genauen Ort der Maracot Deep: Auf der einen Seite spricht der Roman wiederholt von einem Ort 27N28W, auf der anderen Seite spricht er wiederholt von einem Ort 200 Meilen südwestlich der Kanaren. Das passt nicht zusammen, denn 27N28W liegt ca. 650 Meilen westlich der Kanaren. Beide Orte zeigen keinerlei bemerkenswerte Vertiefung im Meeresboden. Es ist also alles Fiktion.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15. Januar 2017)

Manfred Fuhrmann: Rom in der Spätantike – Porträt einer Epoche (1994)

Extrem lehrreiches Buch über Antike, Mittelalter und europäische Kultur

Dieses Buch stellt eine Zeit in den Mittelpunkt, über die man sonst nur unzureichend informiert wird: Den Übergang von der Antike zum lateinischen Mittelalter. Obwohl man es nicht erwarten würde, lernt man hier enorm viel über die Antike, indem man sieht, auf was die Antike an ihrem Ende komprimiert wurde. Man lernt aber auch enorm viel über das Mittelalter, denn hier sieht man, wie es entstand. Vieles von dem, was wir für typisch mittelalterlich halten, ist in Wahrheit spätantik.

Für manche Leser mag der Ansatz ungewöhnlich sein, sich einem Zeitalter über seine Literatur zu nähern. Aber eigentlich ist das genau der richtige Ansatz: Hier diskutiert man die originalen Quellen, aus denen die Geschichtsschreiber dann die Erzählung der Geschichte ableiten. Mancher wird dabei die Seiten über Themen wie Bibelepik als langweilig überblättern, aber spätestens die Berichte über die Zustände während des schrittweisen Zusammenbruchs des römischen Reiches werden jeden fesseln.

Wir lesen von gebildeten Römern, die den bald kommenden Zusammenbruch nicht voraussehen. Wir lesen hier von Einzelschicksalen, die mit dem Zusammenbruch der staatlichen Strukturen zurecht kommen müssen. Wir sehen, wie es zu Arrangements mit den eindringenden germanischen Stämmen kommt. Wir sehen, wie die Kirche oft die letzte Institution ist, die noch funktioniert, und deshalb die Aufgabe des Staates übernimmt. Wir sehen, wie manche – als Bischöfe – die Verteidigung ihrer Heimat organisieren, andere von Germanen enteignet werden, wieder andere von ehrlichen Germanen unerwartet entschädigt werden, und wieder andere in noch sichere Gebiete des Reiches umgesiedelt werden. Wir sehen, wie die Bildung abnimmt und mit dem Schulwesen ihre Basis verliert. Wie die Bildung immer grobschlächtiger wird, bis sie ganz verschwindet. Wir sehen, wie manche Gebildete sich ins Mönchstum flüchten, um dort mit selbsterstellten Regeln für den Erhalt der Bildung zu sorgen (Cassiodor).

Über Antike und Mittelalter wusste man auch ohne dieses Buch Bescheid, und man wusste auch, dass es dazwischen die Völkerwanderung und überhaupt „irgendwie“ eine „dunkle“ Zeit gab, aber wie dies alles nun wirklich zusammenhängt, wie die Antike im Einzelnen zum Mittelalter transformiert wurde, dazu erfährt man in diesem Buch sehr viel. Man bekommt auch eine Ahnung davon, durch welche Zerrbrille wir die Antike teilweise noch heute sehen, wenn man sich klar macht, welche Prägungen die Wahrnehmung der Antike durch den Übergang zum Mittelalter erfahren hat.

Eine interessante Ergänzung zu diesem Buch könnte „Im Schatten des Schwertes“ von Tom Holland sein, das die Zeit der Spätantike im östlichen Mittelmeer schildert: Byzanz und Islam.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Juni 2015)

Stichworte: 5 von 5 Sternen, Antike, Bildungsverlust, Cassiodor, Dunkles Zeitalter, Europa, Germanen, Humanismus, Manfred Fuhrmann, Mittelalter, Mönchstum, Sachbuch, Spätantike, Völkerwanderung, Westeuropa

Theodor Gomperz: Griechische Denker – Eine Geschichte der Antiken Philosophie (1896-1909)

Aufklärung über die Aufklärung anhand der griechischen Aufklärung

Das Werk

Obwohl Gomperz‘ dreibändiges Werk über die „Griechischen Denker“ in den Jahren 1896-1909 veröffentlich wurde, ist es dennoch erstaunlich modern: Der Grund dafür ist, dass der Verfasser politisch-weltanschaulich ein klassischer Liberaler war, der auch mit den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit bestens vertraut war, die bis heute die Grundlage unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes bilden: Evolutionstheorie, Psychologie, Religionskritik, Ethnologie, Ökonomie, Atomphysik und Astrophysik, bis hin zu den Gedanken, dass hinter den Atomen noch kleinere Teilchen stehen könnten oder dass es im Weltraum noch andere Planeten mit Leben geben müsste. Teilweise stand der Autor mit den Vordenkern der Moderne in persönlichem Kontakt, etwa mit Sigmund Freud oder dem Physiker Ernst Mach. Aber auch unter historisch-kritischen Gesichtspunkten ist Gomperz immer noch modern genug: Eine gläubige Verklärung der Antike findet sich bei ihm nicht, auch wenn er noch nicht jede Hinterfragung kennt, von der wir heute, 100 Jahre später, wissen.

Das Werk nimmt mit seiner Eindringtiefe in den behandelten Stoff eine Mittelstellung zwischen kurzer Einführung und tiefgehender Einzelabhandlung ein. Dadurch kann Gomperz etwas bieten, was es heute so nicht mehr gibt: Neben der Behandlung der großen und bekannten Denker wie Demokrit, Platon oder Aristoteles, geht Gomperz einerseits auch auf viele „kleinere“ Denker ein, von denen man sonst eher selten liest, so z.B. die Megariker, die Kyrenaiker und die Kyniker, oder Theophrast und Straton. Andererseits kann Gomperz so viel besser die Entwicklungszusammenhänge zwischen den Denkern aufzeigen, so z.B. die Einteilung der Vorsokratiker in die Ionischen Naturphilosophen, die Eleaten und spätere komplexere Denker, oder die Entstehung der Stoiker und Epikureer aus den Kynikern und Kyrenaikern, über die man nur selten liest. Gomperz breitet den ganzen Horizont vor seinen Lesern aus: Nicht nur Philosophen im engeren Sinne, sondern das ganze geistige Umfeld wird erfasst: Er beginnt mit Religion und Mythos, und vergisst nicht den wesentlichen Einfluss von Dichtern und Geschichtsschreibern. Gleichzeitig verliert sich Gomperz aber auch nicht in Teilproblemen, wie dies Spezialabhandlungen tun. Gomperz geht teilweise recht tief, bleibt dabei aber doch immer klar.

Gomperz bringt die Dinge auf den Punkt, und zwar ihren eigenen Punkt. Wo andere eher beschreiben als erklären, oder ihre moderne Ideologie in der antiken Philosophie wieder entdecken wollen, dort ist Gomperz ein Meister in der Kunst, den entscheidenden Punkt, die innere Motivation, die tiefere Triebkraft herauszuarbeiten, die hinter den antiken Entwicklungen steht. So erst werden Inhalte und Entwicklungen der antiken Philosophie wirklich verständlich.

Wer Gomperz lesen will, muss vor allem Geduld und Konzentration mitbringen. Pausen empfehlen sich. Notizen ebenfalls. Man wird später auch immer wieder noch einmal nachlesen, was Gomperz sagte, und dabei immer noch neues entdecken. Man hätte sich eine bessere Gliederung des Stoffes in einer Hierarchie von Unterkapiteln wünschen können, um dadurch einenn besseren Überblick und eine mnemotechnisch nützliche Wissensordnung zu haben. Besonders ungünstig ist die Kapiteleinteilung im dritten Band, aber auch im ersten Band ist z.B. das Kapitel über Demokrit und die Atomlehre ungünstig gehalten. Die Sätze sind manchmal etwas verwickelt und altertümlich, hier hilft lautes Lesen.

Der Inhalt

Das Hauptthema der Antike ist natürlich der Prozess der Aufklärung und die Gewordenheit unserer heutigen geistigen Welt. Gomperz weiß noch ganz genau, warum die Beschäftigung mit der Antike so wichtig ist, während der Zeitgeist uns weismachen will, die Antike sei von gestern.

Gomperz legt aber nicht nur die Entwicklung der Aufklärung in der Antike dar, sondern zeigt ständig die Zusammenhänge und Parallelen zur modernen Aufklärung und Wissenschaft auf. Er erklärt anhand der Antike die aufklärerischen Prinzipien von philosophischem und wissenschaftlichem Denken im allgemeinen, so dass der der Leser nicht nur die Schritte der Aufklärung der griechischen Denker kennenlernt, sondern auch selbst Schritt für Schritt aufgeklärt wird.

Man kann mit Fug und Recht sagen: Bei Gomperz lernt man das Denken selbst. Dazu gehört nicht nur exakte Berechnung und konsequente Logik, sondern vor allem auch die Fähigkeit der richtigen Einschätzung. Die Kunst des Abwägens. Das Maß der Erkenntnis. Das richtige Interpretieren anhand von Indizien. Man lernt auch, wie Dinge sich entwickeln, und dass vieles nur schrittweise voran geht, dass auch Irrwege nützlich sein können, usw.

Aus heutiger Sicht ist Gomperz erfrischend vernünftig und unideologisch. Die Lektüre dieser 100 Jahre alten Abhandlung ist eine wahre Labsal für die vom Zeitgeist geplagte Vernunft. Gomperz hat in vielen Punkten den richtigen, differenzierten Ansatz, er trifft an den entscheidenden Weggabelungen der Erkenntnis die richtigen Entscheidungen, während ein irriger Zeitgeist die falschen Abzweigungen nimmt und eine schiefe Ideologie entwickelt.

Die Sophisten werden von Gomperz korrekt als eine Stufe des Fortschreitens der Aufklärung gesehen; man darf dabei nur nicht vergessen, dass Sokrates die nächste, höhere Stufe ist: Nach der De-konstruktion kommt die Re-konstruktion. – Bei Platon ist Gomperz ungewöhnlich kritisch: Fast schon respektlos kritisiert er Platon als einen Denker des Absoluten, der in seiner absoluten Präzision oft genug absolut falsch lag. Auch wenn Gomperz hier nicht immer Platons Genialität voll erfasst hat, so ist sein respektlos kritischer Ansatz berechtigt und anregend. – Platon wird bei Gomperz einseitig Demokratie-kritisch und Tyrannen-freundlich gesehen. Hier und in anderen Punkten erliegt Gomperz dem Geist seiner Zeit. – Aristoteles erscheint bei Gomperz als ein Ausbund an Inkonsequenz und kompromisslerischem Pragmatismus. Was für die Philosophie im engeren Sinne eher fragwürdig ist, hat sich für Politik und Wissenschaft jedoch als Segen erwiesen: Hier hat Aristoteles mehr Erfolge bewirkt als Platon. Im letzten dürften sich beide Ansätze jedoch in der Mitte treffen, zumal Platon in den Nomoi bereits den Weg hin zu mehr Pragmatismus zu gehen begonnen hatte, und Aristoteles nicht zufällig ein Schüler Platons war. Diese Erkenntnis deutet sich bei Gomperz an, wird jedoch nicht in dieser Klarheit formuliert.

Der Autor

Erschreckend ist es zu lesen, wie Gomperz kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Auffassung vertritt, die Staaten Europas seien auf einem guten Wege des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes, und würden immer enger zusammenrücken; Krieg sei undenkbar geworden. Im Sinne des „Zauberberges“ von Thomas Mann ist Gomperz ein wahrer „Settembrini“, ein durchaus sympathischer aber vielleicht doch allzu optimistischer klassischer Liberaler mit etwas zu wenig Einfühlungsvermögen in das „absolute“ Denken Platons. Da es aber besser so als andersherum ist, verzeiht man ihm diese Schwäche gern.

Wer ein vernünftiges, rundes, schönes, klares, erhellendes, bildungsbürgerliches, vollständiges, gutes, menschenfreundliches Buch über die antiken Denker lesen möchte, das nicht angekränkelt ist von den Irrtümern unserer Zeit, sondern wesentliche und richtige zeitlose Einsichten als Basis für eigenes Weiterdenken vermittelt, der ist mit den „Griechischen Denkern“ von Gomperz bestens bedient. Sicher eines der Bücher, die man gelesen haben sollte.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juni 2013)

« Ältere Beiträge