Schlagwort: Altgriechisch

Andrea Marcolongo: Warum Altgriechisch genial ist – Eine Liebeserklärung an die Sprache, mit der alles begann (2018)

Schwärmerisch-merkwürdige Auffrischung des Altgriechischen: Con passione!

Der Inhalt dieses Büchleins ließe sich kurz dadurch beschreiben, dass darin all jene Ratschläge, Eselsbrücken, Weisheiten, Anekdoten und Zusatzinformationen zusammengestellt wurden, die ein Altgriechischlehrer seinen Schülern im Verlaufe des Altgriechischunterrichtes über den bloßen Lehrstoff hinaus vermittelt. Es ist ein lockeres Revue-Passieren der altgriechischen Literatur, Sprachlehre und Grammatik. Wer einmal Altgriechisch gelernt hatte, wird darin eine willkommene, lockere Auffrischung seines Wissens finden. Wer noch nie Altgriechisch gelernt hat, wird mit diesem Büchlein wenig anfangen können. Dem sei besser „The Greek Way“ von Edith Hamilton empfohlen.

Das Buch hat einen großartigen Ansatz, aber leider ist die Umsetzung etwas problematisch. Die Autorin, die sich übrigens selbst als „merkwürdig“ bezeichnet, schwärmt leidenschaftlich vom Altgriechischen und hat über ihrer Schwärmerei die Genauigkeit vergessen. Vieles wird nicht völlig korrekt dargestellt. Meistens meint die Autorin zwar das richtige (so hofft man wenigstens!), sie formuliert aber schräg und schief und trifft den Punkt nicht. Auf diese Weise wird das Büchlein für den kundigen Leser auch zu einer kleinen Denksportaufgabe, was der Auffrischung des Stoffes nur gut tun kann – unfreiwillig.

Teilweise verliert sich die Autorin trotz gegenteiliger Beteuerung doch etwas zu sehr in trockener Grammatik, und versäumt, den Sinn dahinter in den Vordergrund zu stellen. Manches Thema wurde nicht behandelt, obwohl es sich angeboten hätte, so z.B. das Verhältnis von Philosophie und Altgriechisch, oder die Fähigkeit des Altgriechischen durch Verkettung von Worten neue Worte zu bilden. Und dort, wo es richtig spannend wird, nämlich in der Frage, wie das Altgriechische die Schüler für immer verändert, ist die Autorin viel zu kurz angebunden.

Eine gewisse Oberflächlichkeit ist leider nicht zu verkennen. Sie fand sich auch in einer Podiumsdiskussion mit der Autorin auf der Frankfurter Buchmesse am 13.10.2018 wieder. Dort wurde u.a. davon gesprochen, dass die Welt der griechischen Stadtstaaten durch ihre sprachliche Identität zusammengehalten wurde, und dass dies ein Modell für Europa sein könnte. Der Vergleich ist aber höchst schief, denn Europa ist keine Sprachgemeinschaft. Man könnte eher einen Vergleich zu den angelsächsischen Staaten ziehen. Schiefheiten und Oberflächlichkeiten von dieser Art erwarten den Leser in diesem Buch.

Man muss der Autorin allerdings zugute halten, dass sie mit ihrem unbeholfenen Büchlein und vielleicht mehr noch durch ihre sympathische Person etwas geschafft hat, was Anerkennung verdient: Sie hat positive Aufmerksamkeit auf das Erlernen der alten Sprachen gelenkt. Es soll inzwischen beachtliche 500.000 verkaufte Exemplare weltweit geben! Deshalb bekommt dieses Büchlein einen Punkt mehr, als es eigentlich verdient hätte. Die Autorin ist eben in einem positiven Sinne merkwürdig, wie sie selbst sagt. Nehmen wir sie und ihr Buch so, wie sie sind – con passione – und freuen wir uns über die Aufmerksamkeit, die die Autorin erregen konnte. Denn auch das ist eine Kunst.

Atlantis:

An zwei Stellen bindet Andrea Marcolongo das Thema Atlantis ein. Auf S. 45 gibt sie als Ursachen für den Wandel der griechischen Sprache in den dunklen Jahrhunderten Eroberungen, Migration und gesellschaftlichen Wandel an, und stellt ihren Leser dann die rhetorische Frage, ob sie etwa an Naturkatastrophen oder gar Atlantis geglaubt hatten? Auf S. 237 spricht sie über dieselbe Epoche der dunklen Jahrhunderte, über die es „zahlreiche trostlose Legenden“ über „Naturkatastrophen wie Erdbeben und Tsunamis“ gäbe, die „den Untergang ganzer Inseln und Völkerschaften bewirkt haben sollen“. Eine unmissverständliche Anspielung auf Atlantis!

Die Autorin lässt damit offen, wie sie zum Thema Atlantis steht. Sie behandelt das Thema mit einem Augenzwinkern. Die anfänglich Atlantis-skeptische erscheinende rhetorische Frage bleibt ohne klare Antwort, und wird durch den späteren Verweis auf die Legenden über Atlantis konterkariert. Aber es sind eben nur Legenden. Die Autorin spielt mit dem Thema Atlantis, ohne sich zu entscheiden. Das muss sie auch nicht.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. November 2018)

Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders – Eine Schulgeschichte (1980)

Der Sohn eines Nazis – Mörder des Klassischen Humanismus

Die kurze Erzählung „Der Vater eines Mörders“ von Alfred Andersch ist mitsamt ihrem Nachwort zu einer Ikone linksliberaler Kulturkritik, zu einem literarischen Kronzeugentext gegen den klassischen Humanismus geworden. Unter dem klassischen Humanismus, der in der Erzählung immer nur kurz als Humanismus angesprochen wird, sei hier jener Humanismus verstanden, der aus der Beschäftigung mit den Texten und Sprachen der griechisch-römischen Antike entspringt. Er ist die hauptsächliche Grundlage unserer westlichen Kultur.

Zunächst handelt die autobiographische Skizze einfach nur davon, wie der Schulrektor Himmler, der Vater des späteren Reichsführers SS Heinrich Himmler, zwei Schüler in einer Griechisch-Stunde vor versammelter Klasse auf autoritäre Weise demütigt und schließlich des Gymnasiums verweist. Einer davon war Alfred Andersch. Wie die Erzählung zeigt, beschränkt sich der Humanismus von Vater Himmler offenbar darauf, auf der griechischen Grammatik herumzureiten. Andersch nennt ihn eine „alte, abgespielte und verkratzte Sokrates-Platte“, doch das ist schon zuviel gesagt, denn Vater Himmler äußert sich in diesem Buch ausschließlich zu griechischer Grammatik und Lautlehre, mit keinem Wort aber zu den Gedanken des Sokrates. Andersch berichtet, dass es kein Wunder sei, dass sich der Sohn Heinrich Himmler von diesem Vater abgewendet und einer anderen weltanschaulichen Orientierung zugewendet hatte. Am Ende erfährt man, dass Schulrektor Himmler Alfred Andersch vermutlich gerade deshalb von der Schule verwies, weil der Vater von Andersch mit dem abtrünnigen Sohn von Himmler politisch verbunden war.

Soweit könnte diese Erzählung ein hilfreiches Lehrstück über den autoritären Charakter und über Väter und Söhne sein. Doch dabei bleibt das Buch leider nicht stehen. Im Nachwort holt Alfred Andersch zum Schlag gegen den klassischen Humanismus aus, indem er auf die Feststellung, dass Heinrich Himmler „in einer Familie aus altem, humanistisch fein gebildetem Bürgertum“ aufgewachsen ist, die vielzitierte, anklagende Frage folgen lässt:

„Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“

Mit diesen Worten klagt Andersch den Humanismus nicht nur an, kein Schutz vor der Verirrung des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Es ist mehr: Andersch unterstellt auf subtile Weise eine direkte Verbindungslinie vom klassischen Humanismus zum Nationalsozialismus. Dies geschieht auf folgende Weise: Die Feststellung, dass Heinrich Himmler in einem humanistischen Haus aufgewachsen sei, und die anschließende Frage, ob Humanismus denn vor gar nichts schützt, impliziert unausgesprochen, dass Heinrich Himmler ebenfalls ein Humanist gewesen sei, und trotz (oder vielleicht gerade wegen?) seines Humanismus zum Nationalsozialisten wurde. Denn die Frage nach dem Schutz durch den Humanismus stellt sich natürlich nur solange, solange der Mensch sich als Humanist versteht. Diese Passage ist zu einem Kronzeugen geworden für die Anklage an den klassischen Humanismus, dass er gewissermaßen eine Propädeutik des Nationalsozialismus gewesen sei, eine Vorschule für autoritäre Charaktere. Klassischer Humanismus war anscheinend ein guter Nährboden und Wurzelgrund für den Nationalsozialismus, so lautet die Logik.

Diese Passage mit ihrer anklagenden Frage „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ wird von linksliberal verblendeten Menschen wieder und immer wieder zitiert, um gegen den klassischen Humanismus und den altsprachlichen Unterricht zu Felde zu ziehen.

Doch Alfred Andersch betrügt seine Leser mit dieser Passage in mehrfacher Hinsicht. Zum einen fällt es jedem aufmerksamen Leser sofort auf, dass Andersch hier plötzlich von einem „humanistisch fein gebildetem“ Bürgertum spricht – eine Aussage, die auf Vater Himmler, so wie Andersch ihn viele Seiten lang portraitierte, gewiss nicht zutrifft! Heinrich Himmler war also gar nicht der Sohn eines „fein gebildeten“ klassischen Humanisten, sondern der Sohn einer autoritären Persönlichkeit, deren „Humanismus“ sich offenbar in griechischer Grammatik erschöpfte. – Zum anderen ist es in diesem Fall völlig unzulässig, eine direkte Verbindungslinie von Vater zum Sohn zu ziehen, also die humanistische Bildung des Vaterhauses für die nationalsozialistische Verirrung des Sohnes verantwortlich zu machen. Denn wie Andersch selbst schreibt, hatte sich Heinrich Himmler von seinem Vater abgewendet, und damit natürlich auch vom Humanismus, den der Vater – wenn auch schlecht – verkörperte! Heinrich Himmler verstand sich selbst definitiv nicht als klassischen Humanisten, sondern bevorzugte bekanntlich nordische Mythen und inhumane Ideologien. Wie also sollte der Humanismus einen Menschen schützen können, der sich von ihm abgewendet hat?

Was ist das für eine Frage: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ in bezug auf einen Menschen, der gar kein Humanist ist, gar kein Humanist sein will, und gar nicht aus einem „fein gebildeten“ humanistischen Elternhaus stammt? Es ist eine von jenen heimtückischen Anklagen, die einen eingängigen – aber falschen – Zusammenhang konstruieren und über eine Anklage moralisieren und emotionalisieren. Es erfordert viele Worte, um den falschen Zusammenhang sichtbar zu machen, doch wer hört schon geduldig zu, wo die Emotionen hohe Wellen schlagen? Zudem kann sich der Ankläger jederzeit damit herausreden, dass er ja „nur“ eine Frage gestellt habe, ja, dass er damit nirgendwo explizit ausgesprochen hat, dass er eine Verbindungslinie zwischen klassischem Humanismus und Nationalsozialismus sieht. Diese anklagende Frage „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ ist nichts anderes als ein Stück äußerst gelungener Propaganda.

Aber sagt Alfred Andersch in seinem Nachwort nicht auch, dass er nicht wisse, „dass und wie der Unmensch und der Schulmann miteinander zusammenhängen“? – „Oder ob sie einander gerade nicht bedingen“? Doch das ist nur die Vortäuschung von Objektivität. Denn in Wahrheit hat Andersch bereits durch den Titel der Erzählung „Der Vater eines Mörders“ die ganze Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass hier doch wohl ein Zusammenhang sein müsse, und ohne diese Frage würde die ganze Erzählung keinen Sinn mehr machen. Die Frage so zu stellen, wie Andersch es mit dieser Erzählung tut, lässt nichts anderes als eine positive Antwort zu. Andersch argumentiert nicht sachlich, er argumentiert überhaupt nicht, er ist einfach nur suggestiv.

Halten wir also fest, dass man keinerlei Schlüsse aus der von Andersch skizzierten Episode über den klassischem Humanismus ziehen kann. Man erfährt nur etwas über das Drama zwischen einem autoritären Vater und seinem Sohn, der vor seinem Vater in eine andere weltanschauliche Orientierung flüchtet – im Falle von Heinrich Himmler leider zum Nationalsozialismus. Aber Alfred Andersch sah das offenbar ganz anders, und seine linksliberalen Leser bis heute auch. Alfred Andersch ist mit seinen unzulässigen Unterstellungen, subtilen Anklagen und suggestiven Fragen gewissermaßen zu einem heimtückischen Mörder des klassischen Humanismus geworden, der doch der Urgrund unserer Kultur ist.

Aber warum hat Alfred Andersch das getan?

Ein Blick in den Text hilft uns weiter. Denn dort ist nicht nur von dem Vater von Heinrich Himmler die Rede, sondern auch noch von einem weiteren Vater – dem Vater von Alfred Andersch! Und dieser Vater ist ein Anhänger von Ludendorff. Ein überzeugter Antisemit. Ein Kamerad von Heinrich Himmler im Reichskriegsflaggenbund. Schon 1920 wurde er Mitglied der NSDAP. Kurz: Im Gegensatz zu Vater Himmler, der konservativ und katholisch war und den Schülern Sowjetsterne und Hakenkreuze gleichermaßen verbot, war der Vater Andersch ein echter Nationalsozialist! Von diesem Vater hat sich der Sohn Alfred Andersch später natürlich nun seinerseits abgewendet. Und nun war es Alfred Andersch, der vor seinem Vater flüchtete – und auch er wählte für seine Flucht bedauerlicherweise eine radikale weltanschauliche Orientierung: 1930 trat Alfred Andersch der KPD bei. Hier sind wir am Kern der Sache: Es entspricht einem typisch unaufgeklärten linken bzw. später linksliberalen Weltbild, der klassischen Bildung eine Mitschuld am Nationalsozialismus zu unterstellen. Alles, was nicht links war, wurde und wird in diesem Sinne unter NS-Verdacht stellte. Das ist die Erklärung, wie es dazu kam, dass der Sohn eines Nazis gewissermaßen zum heimtückischen Mörder am klassischen Humanismus werden konnte.

Aperçu am Rande: Alfred Andersch outet sich hier als begeisterter Leser von Karl May, während der Schulrektor Himmler geäußert haben soll: „Karl May ist Gift!“ Das ist eine interessante Ironie angesichts der Tatsache, dass Karl May, der eine eminent humanistische Botschaft hatte, in linksliberalen Kreisen als NS-verdächtig abgetan wird. Vielleicht stehen so manche Linksliberale dem autoritären Charakter von Schulrektor Himmler näher, als sie glauben. Heute ist die Erzählung „Der Vater eines Mörders“ eine bei Lehrern beliebte Schullektüre. Ob sie ihren Schülern heute die irrigen Suggestionen von Alfred Andersch einpauken, so wie einst Vater Himmler seinen Schülern die griechische Grammatik? Übrigens legt der Schüler Alfred Andersch in dieser Erzählung eine so überaus erstaunliche Faulheit und Unwissenheit an den Tag, dass man nicht völlig ohne Verständnis für den Zorn des Schulrektors Himmler ihm gegenüber bleiben kann, auch wenn dessen Pädagogik natürlich indiskutabel ist. Doch das nur am Rande.

PS 16.12.2023

Im Jahr 1993 warf W.G. Sebald in einem Artikel der Zeitschrift „Lettre International“ die Frage auf, inwieweit Alfred Andersch sein Leben vor 1945 schön gefärbt und verfälscht hatte. Inzwischen sind zahlreiche Belege aufgetaucht, die diesen Vorwurf stützen. Ohne in die Untiefen dieser Debatte einsteigen zu wollen, sei festgehalten: Es zeigt sich einmal mehr, dass Alfred Andersch kein wahrhaftiger Mensch war. Und das ist der entscheidende Vorwurf.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 2014; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden.)