Schlagwort: Sizilien

Tim Willocks: The Religion (2006)

Gelungenes Epos über die Belagerung von Malta durch die Türken 1565

Der Roman „The Religion“ / „Das Sakrament“ von Tim Willocks ist ein Werk von epischer Dimension: Völlig zurecht wird von einer maltesischen Iliade gesprochen. Weltgeschichte und Religionsgeschichte greifen hier eng ineinander mit den Biographien der handelnden Personen. Die großen Themen sind Liebe, Glaube und menschliches Schicksal unter den wechselnden Bedingungen der Zeitläufte, die virtuos präsentiert werden.

Gerüst der Handlung ist die Belagerung von Malta durch die Türken 1565, die von einer ähnlich entscheidenden Bedeutung für die Geschichte Europas war wie die Belagerung von Wien. Mitten im Getümmel steht die Person von Tannhauser, der als Kind von den Türken gekidnappt und zum Janitscharen ausgebildet wurde. Er machte dort Karriere und kehrte später nach Europa zurück. Weil er die Türken kennt, wird er kurz vor der Ankunft der türkischen Invasionsflotte als kriegswichtig auf die Insel gelockt – mithilfe einer Frau.

Islam und Christentum werden von Willocks als gleichermaßen fanatisch dargestellt, womit der Autor zumindest nichts falsch macht. Für die Probleme der Gegenwart kann man daraus kaum hilfreiche Schlüsse ziehen, weil dafür die Frage der weiteren Entwicklung nach 1565 zu stellen wäre – das ist jedoch nicht Thema dieses Buches. Die Schilderungen des Mordens sind in der Tat sehr realistisch gehalten, doch so muss es wohl sein. Der Ton der damaligen Zeit wird gut getroffen, der historische Anspruch wird erfüllt.

Das englische Hörbuch wird von Simon Vance in bestem Englisch und mit viel Pathos gelesen. Der Schwierigkeitsgrad ist Mittel, die Zahl der Vokabeln recht hoch, doch trägt die epische Breite der Geschichte den Leser wie auf einer breiten Woge über jede Verständnisklippe hinweg und viele Worte verstehen sich mit der Zeit von selbst. Bei den Grausamkeiten der Schlachtbeschreibungen will man es ohnehin nicht so genau wissen …

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Geschrieben August 2011)

Leonardo Sciascia: Mein Sizilien (1995)

Zahlreiche Einblicke in die historische Tiefenpsychologie Siziliens, doch etwas bedrückt

Der Band „Mein Sizilien“ von Leonardo Sciascia, erschienen im Wagenbach-Verlag 1995, vereinigt eine Reihe von Aufsätzen aus den 1970er und 80er Jahren, in denen Leonardo Sciascia über Wesen und Seele Siziliens und der Sizilianer berichtet, teilweise aus einer sehr persönlichen, teilweise aus einer allgemeinen Perspektive. Fast alle Aufsätze haben eine historische Dimension.

Wir erfahren von der Abgewandtheit der Sizilianer vom Meer, obwohl sie doch überall vom Meer umgeben sind, und von ihrem Charakter eines stummen Leidens. Wir hören von den vielen Eroberungen im Laufe der Geschichte und ihren psychologischen Folgen für die Sizilianer, und von einzelnen Helden, die aus den Umständen auszubrechen versuchten. Wir lesen von Sciascias Heimatort Racalmuto und vom Schweigen im Motto des Stadtwappens. Wir hören von dem Vorrecht Siziliens, das dem Papst abgetrotzt wurde, und von einer Stadt Mussolinis, die nie gebaut wurde. Es wird von einem Massaker berichtet, dass deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg an der Zivilbevölkerung anrichteten, aber auch von der Effektivität, mit der dieselben deutschen Soldaten die Invasion der Alliierten bekämpften und einen erfolgreichen Rückzug organisierten. Wir lesen von einer „Gebrauchsanweisung“ für Sizilien, die 1577 für einen neuen Vizekönig geschrieben wurde, und von der Beschreibung von Siziliens Küsten von 1584. Ebenso erfahren wir von den klugen Beobachtungen von Alexis de Tocqueville zur Landwirtschaft am Ätna und der besonderen Bedeutung von Grundbesitz auf der Insel. Wir erfahren einiges über die Hauptstadt Palermo und seine Beziehung zu Monreale. Wir hören von dem britischen Herzog von Bronte und von der sizilianischen Unabhängigkeitsbewegung. Aber auch von einer skurrilen Jugendbewegung in Catania, und davon, dass die Catanesen als die „exemplarischen“ Sizilianer gelten, während die Mafia sich, so Sciascia, eher im Westteil Siziliens austobte. Schließlich bekommen wir einen Überblick, wie sich die Präsenz der Mafia in der sizilianischen Literatur niederschlug.

Alles in allem hinterlässt das Bändchen einen etwas düsteren und bedrückten Eindruck. Lebensfreude scheint nicht die Sache der Sizilianer zu sein, eher eine gewisse Skurrilität. Auch scheint die Mafia von Leonardo Sciascia seltsam milde behandelt zu werden: Es ist zu viel von Ehre und Verteidigung gegen den Staat die Rede, und dass sie im Osten der Insel nicht präsent sei. Vom katholischen Glauben und seinen Festen hört man nicht viel. Man sollte unbedingt auch Sciascias Aufsatzsammlung „Das weinfarbene Meer“ lesen, um ein runderes und gegenwärtigeres Bild zu bekommen. Die darin enthaltenen Aufsätze stammen aus früheren Jahren: 1959-1972.

Man hat den Eindruck, dass sich Leonardo Sciascias Stimmung in späteren Jahren eintrübte. Tatsächlich wechselte Sciascia 1977/79 von der kommunistischen Partei zu der radikallibertären Partei Partito Radicale, und redete Ermittlungserfolge gegen die Mafia durch Staatsanwälte wie Falcone und Borsellino schlecht. Angeblich wollte er damit sagen, dass man die Mafia nicht durch eine andere Mafia austreiben dürfe.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Ralph Giordano: Sizilien, Sizilien! – Eine Heimkehr (2002)

Die Seele Siziliens gesucht und gefunden

Ralph Giordano wandelt in diesem Buch auf den Spuren seines Großvaters, der einst von Sizilien nach Deutschland kam. Reisebeschreibungen nach Sizilien gibt es viele – aber hier liegt der Reiz natürlich darin, dass Ralph Giordano eine ganz persönliche Beziehung zu Sizilien hat, noch dazu eine, die erst noch entdeckt werden will: Wie kein anderer kann er deshalb tief in die Seele Siziliens eintauchen, weil er persönlich involviert ist. Wie kein anderer nähert er sich der sizilianischen Kultur, weil er auf der Suche nach etwas ist.

In einer ruhigen, schönen, meisterhaft erzählenden Sprache schildert Ralph Giordano sein Erleben und sein Empfinden. Alles, was in jeder Reisebeschreibung Siziliens enthalten sein muss, findet sich hier wieder: Aber wie verwandelt, wie veredelt! Und am Ende die große Überraschung, ein wahrer Knalleffekt: Ralph Giordano erfährt weit mehr über seinen Großvater, als er sich in seinen kühnsten Träumen erhoffen konnte, ein Geheimnis, das dessen Leben und Charakter plötzlich entschlüsselt!

Ralph Giordanos Sizilienreise kann getrost neben Goethes Italienischer Reise ins Regal gestellt werden: Wer die eine mag, wird auch die andere mögen.

Zum Hörbuch: Sehr empfehlenswert, da vom Autor selbst gelesen, andererseits natürlich schmerzlich gekürzt. Man muss einfach beides haben: Buch und Hörbuch.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. Oktober 2010)

Joachim Sartorius: Die Versuchung von Syrakus (2023)

Eine Marzipanpraline von einem Buch

Joachim Sartorius tut in diesem Buch etwas großartiges: Seit etlichen Jahren hat er einen Zweitwohnsitz in Syrakus, eine Wohnung mitten in der Altstadt auf der Insel Ortygia. Und in diesem Buch lässt er uns teilhaben an seinen Erfahrungen und Eindrücken, an seinen Gedanken und Überlegungen, die er seit seiner Ankunft gesammelt hat.

Wir gehen mit ihm zum Friseur oder in sein Stammcafé. Wir besuchen lokale Künstler und Kulturschaffende, zu denen Joachim Sartorius offenbar schnell Kontakt geknüpft hat. Wir lernen, welche Geschäfte und Restaurants Besonderheiten zu bieten haben. Wir sind aber auch bei zwei alteingesessenen Adligen eingeladen, um mit ihnen ihre Sammlung antiker Münzen zu bestaunen und ihre Forschungen zur Lokalgeschichte zu besprechen. Wir erleben eine Aufführung im Teatro Greco mit, und nehmen an den Diskussionen teil, wie man das städtische Theater auf Ortygia wieder zum Leben erwecken könnte. Wir sind mitten im Trubel des Festes der Stadtheiligen Santa Lucia oder in der Einsamkeit des städtischen Friedhofes mit seinen Totenhäusern. Auch die nähere Umgebung von Syrakus wird besucht und besprochen. Gelegentlich wird die Bedeutung der Geschichte für das Syrakus von heute reflektiert, von der Antike über die Araber und Normannen bis zu den Spaniern. Wir lernen auch, welche Persönlichkeiten schon alle in Syrakus waren, von August von Platen über Johann Gottfried Seume und Ferdinand Gregorovius, bis hin zu Pier Paolo Pasolini und Winston Churchill.

Kurz: Joachim Sartorius lässt uns teilhaben an seiner Heimischwerdung in Syrakus, wie wenn wir selbst dort einen Zweitwohnsitz hätten. Die Kapitel sind meist nicht länger als zwei Seiten. Jedes davon ist ein Genuss für sich, eine kleine Miniatur, die im Alltag das Besondere aufblitzen lässt. Ein großartiges Buch, dessen Konzept so einfach wie genial ist. Wer mag, kann (fast) alle genannten Orte bei Google Streetview persönlich in Augenschein nehmen.

Ergänzungen

Zu dem großen Reigen an historischen Persönlichkeiten und Werken, die Joachim Sartorius zusammengetragen hat, sei noch dieses aus eigenem Wissen hinzugefügt:

Zunächst fehlt die vorgriechische Epoche gänzlich, die immer wieder systematisch unterschätzt wird. Wie wenn alles erst mit den Griechen begonnen hätte. Doch ganz versteckt hat sich die Prähistorie doch hineingeschlichen: Genannt wird das Caffè „Al Ciclope“ in Pachino oder das Landgut des Barons Lucio Tasca di Lignari in den Hybläischen Beren. Die Hybläischen Berge sind nach dem Sikanerkönig Hyblon benannt, der den ersten Griechen Land zur Ansiedlung zuwies, und auch der Kyklop wird traditionellerweise auf Sizilien verortet. Auf Ortygia gab es Ausgrabungen zur Vorgeschichte, zwei Ecken hinter dem Dom, bei der Polizeipräfektur. Die Vorgeschichte Siziliens ist überall präsent, doch kaum einer sieht sie.

Der Philosoph Ludwig Marcuse, nicht zu verwechseln mit Herbert Marcuse, hat 1947 ein engagiertes Büchlein „Der Philosoph und der Diktator“ verfasst. Es verdient, genannt zu werden.

Im Jahr 1966 veröffentlichte Mary Renault ihren Roman „Die Maske des Apoll“, in dem es um das griechische Theater im Allgemeinen und um Platons Aufenthalte in Syrakus im Besonderen geht. Wo anders als im Roman wird alles noch einmal lebendig?

Kurt von Fritz hat 1968 dasselbe Thema aufgegriffen: „Platon in Sizilien“.

Schließlich ist das Büchlein „Atlantis och Syrakusai“ des schwedischen Philologen Gunnar Rudberg aus dem Jahr 1917 zu nennen, das eine interessante Möglichkeit diskutiert: Hat Platon seine Geschichte von Atlantis nach dem Vorbild von Syrakus entworfen? Das Büchlein wurde erst 2012 einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich, als es aus dem Schwedischen ins Englische übersetzt wurde („Atlantis and Syracuse“). Daraus wollen wir die Schlussworte zitieren, wie gesagt aus dem Jahr 1917:

„There is a wonderful mood over the present-day Syracuse, although the city is quite often overlooked by tourists visiting from afar; nor can it measure up to Taormina, Palermo or certain other Sicilian cities in terms of picturesque location and breathtaking beauty. It is primarily a historical mood that rests over the place, whether one is visiting today’s crowded and dirty city on the island with its mighty and renowned, if lesser visible, remains from ancient times, or the more grandiose ruins out in the old Neapolis, one of the countless tomb grottoes carved into the mountain, the Latomiae with their fantastic shapes and lush foliage, protected even when the summer sun has burned all other greenery, Cyane spring with its forest of papyrus plants, the venerable monuments from the oldest Christian times or, finally, the barren high plateau over the city, Epipolae, with the ruins of Euryalos in the background and Dionysius‘ walls still visible at the northern and southern edge of the plateau; with the panorama over the city, the Ionian sea, and the historical neighborhood on the east coast of Sicily and Etna far to the north. Amid the jumble of historic sources, it is often somewhat difficult to follow the course of the massive historic dramas that played out around this city; a visit there removes the veil over much of this, and allows one to see the events in a much clearer light than before. Those who have seen and experienced this will surely never forget it. Certainly this mood of millenia of history and colossal events in the struggle between East and West is not disrupted by the fact that one of the greatest figures of our Western civilization mused, hoped and failed in his reformer’s zeal in this place; nor by the fact that he seems to have taken from here the foundation for one of his most remarkable and gripping dreams and poems, a poem which has held humanity captivated under its spell ever since.“

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Mary Renault: Die Maske des Apoll (1966)

Ruhiger, genau beobachtender, aber zu braver Historienroman

Die Handlung des Historienromans „Die Maske des Apoll“ von Mary Renault entwickelt sich rund um den Versuch Platons, im Syrakus des Tyrannen Dionysios II. unter Mithilfe von Dion, dessen Verwandten und Anhänger Platons, den Idealstaat zu errichten. Der Protagonist ist dabei ein reisender Theaterschauspieler, der das politische Geschehen beobachtet und dessen Auswirkungen am eigenen Leibe zu spüren bekommt.

Mary Renault kann sich gut in die Zeit und die besonderen Umstände hineindenken und verblüfft mit ihrer genauen Kenntnis des antiken griechischen Theaters; wer sich dafür interessiert, kommt in jedem Fall auf seine Kosten. Vorkenntnisse in diesem Bereich sind von Nutzen, um jede Anspielung zu verstehen. Auch Platon und seine Philosophie werden ganz gut getroffen, ebenso alles andere. An zwei Stellen kleidet Mary Renault die Philosophie Platons etwas gewagt in neutestamentliche Worte. Die Person des Platon wird zu sehr idealisiert. Der Roman ist in einem antiquiert wirkenden, ruhigen Stil geschrieben, der fern von dem Aktionismus moderner Pageturner seinen eigenen Charme entwickelt.

Doch der Roman ist zu brav geraten. Es fehlt das Besondere, der Biss. Vielleicht ist der Biss in bezug auf das antike Theater gerade eben noch vorhanden; in bezug auf Platon, seine Philosophie und dessen Versuch, den Idealstaat zu verwirklichen, fehlt er jedoch gewiss.

In Kapitel 12 (S. 261) könnte es eine Anspielung auf Platons unvollendete Darstellung von Atlantis geben, wo von einer unvollendeten Schrift Platons die Rede ist; doch das bleibt eine Vermutung, auf den Inhalt der Schrift wird nicht eingegangen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 14. Februar 2012)