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Tobias Engelsing: „Jetzt machen wir Republik!“ – Die Revolution von 1848/49 in Baden und am Bodensee (2023)

Hervorragende Materialsammlung mit ideologischer Schlagseite

Dieser Katalog zur Sonderausstellung des Rosgartenmuseums Konstanz 2023 versammelt eine beeindruckende und wohlgeordnete Fülle von Bildern und Texten zum 175. Jahrestag der Revolution von 1848/49 in Baden. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Stadt Konstanz und den berühmten „Heckerzug“ gelegt, der unter Führung von Friedrich Hecker am 13. April 1848 in Konstanz aufbrach, um erst in Baden und dann in ganz Deutschland auf gewaltsame Weise die Monarchie abzuschaffen und eine Republik zu errichten. Der Katalog ist textuell und graphisch ganz analog zur Ausstellung gestaltet, die sich dem Besucher sehr ansprechend präsentierte.

Leider erlagen die Ausstellungsmachern einem typische Denkfehler: Sie gaben der Versuchung nach, ihr Thema enthusiastisch zu überhöhen und kritische Gesichtspunkte herunterzuspielen, während sie gleichzeitig die Gegenseite in rabenschwarzen Farben malen. So etwas erlebt man leider öfter in Ausstellungen.

Welche Revolution?

Eines der Probleme ist der Eindruck, der Heckerzug wäre hauptsächlich die Revolution gewesen. Es wird zwar hie und da eingestreut, geht aber dennoch ein wenig unter, dass es parallel dazu ein ganz anderes, viel wichtigeres Revolutionsgeschehen gab, nämlich die Einberufung der Nationalversammlung in Frankfurt am Main und die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung für Deutschland. Friedrich Hecker und die Seinen waren damals weder die führenden Revolutionäre, noch waren sie die unbestritten „Guten“, sondern sie spielten vielmehr die Rolle der radikalen Fanatiker und Störenfriede.

Es gab Anfang 1848 gewiss keinen Grund für Gewalt, denn mit der Frankfurter Nationalversammlung war ein friedlicher Weg der Revolution eröffnet und im Gange. Die gewaltsame Aktion von Friedrich Hecker hatte vielmehr das Potential, diese friedlichen Bemühungen zu desavouieren, und das wurde von den Frankfurter Abgeordneten auch deutlich zum Ausdruck gebracht. Zumal es völlig utopisch war, mit einem Haufen von Bauern und Bürgern gegen ausgebildetes Militär vorzugehen. Mit Karl Mathy wird nur ein einziger dieser friedlichen Revolutionäre der Frankfurter Nationalversammlung dargestellt. Karl Mathy war entschieden für demokratische Reformen, aber gegen jede gewaltsamen Umsturzpläne. Deshalb unterstützte er auch konsequent das Vorgehen des preußischen Militärs gegen die radikalen Fanatiker in allen Phasen der Revolution.

Obwohl dieser Ausstellungskatalog so reich an Material ist, fehlt darin doch ein markantes Detail, nämlich der kurze Dialog, der sich zwischen Friedrich Hecker und General Friedrich von Gagern vor der Schlacht bei Kandern entspann, in der der Heckerzug dem Militär unterlag. Friedrich von Gagern wollte unnötiges Blutvergießen vermeiden und forderte Hecker zur Kapitulation auf. Als dieser sich verweigerte, sagte von Gagern angeblich den denkwürdigen Satz: „Sie sind gescheit, aber fanatisch!“ – Se non è vero è ben trovato, kann man da nur sagen.

Wer diesen Ausstellungskatalog liest, denkt: Mit der Niederlage von Hecker war die Revolution gescheitert. Die „Reaktion“ hatte mit der Niederschlagung des Heckerzuges gesiegt. Doch weit gefehlt. Die eigentliche Revolution, die Nationalversammlung in Frankfurt am Main, lief weiter. Und die Niederschlagung des Heckerzuges wurde von den Frankfurter Parlamentarieren begrüßt.

Preußen

Die Rolle Preußens und der Hohenzollern wird in diesem Ausstellungskatalog rabenschwarz gemalt. Es bleibt ungesagt, dass die Barrikadenkämpfe in Berlin durch einen einzelnen Schuss ausgelöst wurden, von dem bis heute nicht klar ist, woher er kam. Jedenfalls gab es keinen Befehl zum Schießen und die Kämpfe begannen in jedem Fall ungewollt. Ebenso wurden die Berliner Straßenkämpfe nicht erst beendet, nachdem alle Revolutionäre besiegt waren, sondern der König selbst ließ den ohne Befehl spontan ausgebrochenen Kampf wieder beenden, zeigte sich mit der schwarz-rot-goldenen Fahne und ehrte die Getöteten. Man kann ehrlicherweise nicht behaupten, dass Preußen die Revolutionäre zusammenschießen ließ wie es die Kommunisten am 17. Juni 1953 taten. Alles andere als das.

Man beachte auch, dass die Frankfurter Nationalversammlung dem preußischen Königshaus die deutsche Kaiserkrone antrug. Es war also von den Hauptvertretern der Revolution weder geplant, die Monarchie abzuschaffen, noch scheint Preußen in den Augen der Frankfurter Parlamentarier der Inbegriff alles Bösen gewesen zu sein. Es ist den Ausstellungsmachern auch entgangen, dass Preußen die Kaiserkrone u.a. auch wegen Österreich ablehnen musste, um einen innerdeutschen Krieg zu vermeiden (der dann 1866 doch noch kam). Auch die Erschießung des Abgeordneten Robert Blum war ein Werk der Österreicher, nicht der Preußen. Der ganze Vormärz wurde von den Österreichern und ihrem Staatskanzler Metternich beherrscht. Davon liest man in diesem Ausstellungskatalog aber nicht viel.

Völlig obskur ist die Zeichnung der Hohenzollernherrscher und des Kaiserreiches. Wilhelm I. wird z.B. die Niederschlagung der gewaltsamen Umsturzversuche zur Last gelegt, ohne dabei an den Standpunkt von Karl Mathy (siehe oben) zu erinnern. Das Wahlrecht des Kaiserreiches wird als „stark beschränkt“ beschrieben. Das ist objektiv falsch. Historiker wie Hedwig Richter weisen darauf hin, dass das Wahlrecht des Kaiserreiches demokratischer war als in manchen Demokratien. Auch sei das Kaiserreich „militärisch strukturiert“ gewesen: Das ist mindestens eine Übertreibung. Wir verzichten auf eine Auflistung weiterer Irrtümer, der ideologische Tenor dieses Ausstellungskataloges ist klar.

Der Vogel wird aber ganz am Ende auf S. 148, schon mitten im Bildnachweis, abgeschossen: Dort ist das bekannte Vier-Generationen-Foto der Hohenzollern (Wilhelm I., Friedrich III, Wilhelm II. und Kronprinz Wilhelm als Baby) abgedruckt und mit den Worten versehen: „Diese Drei herrschen bis 1918 über das neue Kaiserreich: … Das Baby Wilhelm dient sich als Kronprinz a.D. schon vor 1933 dem „Führer“ Adolf Hitler als Wahlkämpfer an.“ – Hier wird schamlos die schwarze Legende von einer direkten Kontinuität der deutschen Geschichte im Nationalsozialismus behauptet! Wir sahen schon, dass die Rolle Preußens in der Revolution völlig falsch dargestellt wurde. Soviel also zu Wilhelm I. Von Friedrich III. haben die Autoren dieses Ausstellungskataloges offenbar nie gehört, dass er ein Liberaler war, und dass Deutschland zweifelsohne einen liberalen Kurs eingeschlagen hätte, wäre er nicht viel zu früh an Krebs gestorben. Und Wilhelm II. hat immerhin Bismarcks Sozialistengesetze aufgehoben und die Sozialdemokratie wieder zugelassen, und war auch sonst moderner, als manche meinen. Einer Kooperation mit dem Nationalsozialismus hat sich Wilhelm II. stets verweigert.

Vermutlich muss man diese zynische Bildlegende, die gnadenlos in die Irre führt und zudem einem Baby (!) gewissermaßen eine historische Erbschuld zuschreibt, als eine Reaktion auf die aktuell laufende öffentliche Debatte um die Rolle der Hohenzollern im Nationalsozialismus deuten. Diese Debatte wurde durch Rückforderungsklagen des Hauses Hohenzollern ausgelöst. Kein Historiker sollte sich zu einem solchen kurzsichtigen, politischen und falschen Denken hinreißen lassen. – Ebenso aktuell und zugleich verfehlt ist der Bezug zum sogenannten „Synodalen Weg“ der deutschen katholischen Kirche in diesen Tagen (S. 87). Dieser wird weltweit auch von liberalen Bischöfen und Theologen als zu radikal kritisiert, ganz wie damals der Heckerzug. Aber dieser Ausstellungskatalog hat ganz offensichtlich kein Gespür für die Übertreibung und die Gefährlichkeit von Radikalität. Dass auf dem hinteren Klappentext Friedrich Engels zur Notwendigkeit von Revolutionen zitiert wird, wundert dann schon nicht mehr.

Anderes

Eine Stärke dieses Ausstellungskataloges ist die Beleuchtung zahlreicher Nebenaspekte, die sonst in den Geschichtsbüchern unterbelichtet bleiben, z.B.:

  • Der Aufbau eines Netzwerkes bzw. einer Partei durch Johann Adam von Itzstein durch Treffen auf seinem Weingut in Hallgarten nahe des Klosters Eberbach im Rheingau.
  • Die Rolle von Frauen und die Frage des Frauenwahlrechts.
  • Der Antisemitismus mancher Revolutionäre.
  • Der Abriss der historischen Stadtmauer in Konstanz als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Zeiten der Not.
  • Die Verfassungsentwicklung in der Schweiz (Sonderbundskrieg) und die Verflechtungen von Schweizer Persönlichkeiten mit Deutschland.
  • Die Dialektik der Revolution und der Schweiz: Schweizer Verleger drucken Revolutionsschriften und schmuggeln sie nach Deutschland. Schweizer Waffenfabrikanten liefern Waffen an die deutschen Revolutionäre. Die Schweiz nimmt fliehende Revolutionäre auf. Es kommt zu den üblichen Migrationsquerelen.
  • Das spätere Wirken zahlreicher Revolutionäre in den USA wird ebenfalls recht ausführlich beleuchtet. So kämpften sie vielfach gegen die Sklaverei, auch als Soldaten im Bürgerkrieg. Oder sie setzten sich gegen die Vertreibung und für die Integration der Indianer in die moderne Gesellschaft durch Bildung ein (was heute in manchen Kreisen auch schon als rassistische Anmaßung gewertet wird; gut, dass dieser Ausstellungskatalog da nicht mitmacht).

Man muss in diesen Tagen auch dankbar sein, dass die Texte nicht gegendert sind.

Fazit

Eine höchst brauchbare und ansprechend gestaltete Materialsammlung, die mancherlei Anregung zu geben vermag. Der Leser sollte allerdings beim Lesen den Verstand nicht ausschalten und die Schlagseite dieser Publikation mitbedenken.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Patrick Tschan: Schmelzwasser (2022)

Ein fürchterlich verunglücktes Buch

Dieser Roman will anhand der Geschichte der Überlinger Buchhändlerin Eleonore Weber (1900-1992), die 1947 ihre überregional bekannte Buchhandlung eröffnete, einen Einblick geben, wie die deutsche Gesellschaft nach 1945 den nationalsozialistischen Ungeist zurückdrängte und in die Zeit von 1968 aufbrach. Doch leider ist dieses Vorhaben gründlich missglückt.

Es beginnt damit, dass der Roman völlig ahistorisch ist. Mit der Anlehnung an die Person von Eleonore Weber wird Historizität angedeutet, doch in Wahrheit ist der Roman fast vollständig frei erfunden. Die historische Person Eleonore Weber wird völlig verfehlt. Warum dann nicht gleich völlig frei erfinden? Nicht einmal als Lokalroman für die Stadt Überlingen taugt das Buch, denn auch die Stadt Überlingen bleibt mit einigen spärlichen Anspielungen seltsam blass. Es geht eher um irgendeine imaginierte deutsche Kleinstadt als um Überlingen. Hinzu kommt die Verfremdung durch Pseudonyme: Eleonore Weber heißt in diesem Roman „Emilie Reber“. Der Name der Stadt bleibt ungenannt. Warum dieses Versteckspiel? Und aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wird die „Sozialistische Partei Deutschlands“ (S. 283): Das ist fast schon eine Schändung der Tradition der SPD.

Auch die Handlung ist leider sehr unrealistisch. Man hat das Gefühl, es mit Stehaufmännchen zu tun zu haben. Den Protagonisten gelingt im Grunde immer alles, es sind Tausendsassas ohne Charakter. Und wenn sich die Buchhändlerin Emilie Reber in der Überlinger Stadtgesellschaft unbeliebt gemacht hat, dann ändert sie einfach die Strategie und schon ist sie wieder obenauf – in der Realität würde das nicht so funktionieren. Im Hintergrund steht dabei immer die französische Besatzungsmacht, die Emilie Reber eine besondere Macht über ihre schuldigen Mitmenschen verleiht. Das ist eine sehr unwirkliche Situation (und auch moralisch etwas fragwürdig.) Man könnte versuchen, diese unwirkliche Handlung symbolisch zu lesen. Aber dafür ist das Buch wieder nicht symbolisch genug.

Die Unglaubwürdigkeit setzt sich damit fort, dass die Realität der Nachkriegszeit völlig verfehlt wird. In diesem Buch gibt es auf der einen Seite eine durch und durch schuldig gewordene und eisern schweigende deutsche Gesellschaft, angeführt von einer Reihe alter Nazis, die so alt und so dumpfbackig sind, wie es nur eben geht. Dem gegenüber stehen junge, weibliche, dynamische „Aufklärer“, die die Gesellschaft aufmischen. Eine klare Polarität. So war es aber nicht. Die Schuld am Nationalsozialismus war in der deutschen Gesellschaft sehr ungleich verteilt, dazu gleich mehr. Und so mancher Nazi war jung, clever, elegant und unangenehm anpassungsfähig. Im Roman fehlt z.B. auch die katholische Kirche in Form eines Stadtpfarrers oder der katholischen Jugend völlig. Die Kirche spielte in Baden sowohl im als auch nach dem Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Auch das Handeln der Franzosen als Besatzungsmacht wird an keiner Stelle kritisch hinterfragt. Die Rollen von Gut und Böse sind in diesem Roman so klar verteilt, dass es weh tut. Wer sich für die Nachkriegszeit interessiert, sollte besser „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen. Koeppen hat diese Zeit selbst miterlebt und beschreibt sie sehr realistisch. Auch was die Stimmung anbelangt: Dort findet man viele kleine und große Sorgen der Menschen, serviert mit erstaunlich viel Humor, und von Schuldgefühlen eher keine Spur. „Aufklärer“ sind in der Nachkriegsgesellschaft eines Wolfgang Koeppen völlig überflüssig.

Neben die unrealistische Zeitdiagnose wird eine unrealistische Therapie gesetzt: Dieser Roman glaubt allen Ernstes, den Nationalsozialismus mit „Literatur, Musik, Mode, Frisuren, Aufklärung, Sex“ überwinden zu können, so heißt es wortwörtlich (S. 210). „Aufklärung“ meint dabei Sexualaufklärung, nicht philosophisch-politische Aufklärung. Hannah Arendt oder Thomas Mann werden zwar genannt, aber die Inhalte ihrer Werke bleiben in diesem Roman stumm: Dabei wäre hier viel Gutes zu finden gewesen. Statt dessen treten die „Aufklärer“ des Romans den Rechtsstaat, den sie angeblich aufbauen möchten, mit Füßen, indem sie das Briefgeheimnis wiederholt und systematisch brechen, um Nazis zu bekämpfen. Am Ende wird sogar ein Mord am Obernazi des Romans als finale Erlösungstat angedeutet, denn er wird in seinem Rollstuhl bei Nacht und Nebel hinaus aufs Eis des Bodensees geschoben (und ward danach wohl nie mehr gesehen; das bleibt aber ungesagt).

Es kommt hinzu, dass die „Aufklärung“ der kleinstädtischen Gesellschaft erstaunlich kommerziell verläuft. Die Protagonisten des Romans verkaufen ständig irgendetwas: Sie verkaufen Taschenbücher, Frisuren, Jeans, Beate-Uhse-Kataloge, Musik und Eintrittskarten in die Disko, wo dann wieder Getränke verkauft werden. Auch das große Konzert am Ende des Romans hat einen genau bezeichneten Eintrittspreis, nämlich 5 DM, und die örtlichen Vereine verkaufen Bratwurst und Getränke, wie sorglich vermerkt wird. Und die Protagonisten loben sich gegenseitig mehrfach für ihren Geschäftssinn. Natürlich, nicht selten gehen Fortschritt und Kommerz Hand in Hand. Aber diese Einseitigkeit hat doch ein Gschmäckle.

Was die Schuld der Deutschen anbelangt, wiederholt dieser Roman doch tatsächlich das ewig falsche Mantra, dass jeder von dem kommenden Unheil durch die Nationalsozialisten hätte wissen können und deshalb jeder voll schuldig sei: Jeder Deutsche also ein vollschuldiger Massenmörder (S. 301). Man denke aber nur, wie kurzsichtig und oberflächlich die große Masse der Wähler auch heutzutage politische Fragen beurteilt: Es ist unrealistisch, allzu hohe Forderungen an die Masse der Menschen zu stellen. Zwar gibt es eine gewisse Schuld auch bei den „kleinen“ Leuten, doch sie ist meist klein oder auch gar nicht vorhanden. Die Hauptschuld ist natürlich vor allem bei den „Vorbetern“ der Gesellschaft zu suchen. Abgesehen davon, dass die NSDAP in den letzten Wahlen vor der Machtergreifung nicht 100% sondern 33% erzielte, und selbst nach der Machtergreifung bei ungebremster Propaganda und Einflussnahme auf die öffentliche Meinung nur auf 43,9% kam. Die badischen Wahlergebnisse bewegten sich dabei ziemlich genau im Durchschnitt Gesamtdeutschlands. Der Überlinger Lokalhistoriker Oswald Burger, den Patrick Tschan als eine seiner Quellen anführt, urteilt: „Ein Nazinest war Überlingen vor 1933 allerdings eindeutig nicht.“

Zumal sich die Frage stellt, was es denn genau ist, was man vorher über die Verbrechen der Nationalsozialisten hätte im voraus wissen können, vorausgesetzt, man wäre intellektuell wach gewesen. Es sei an Hannah Arendt erinnert, die als verfolgte Jüdin und Intellektuelle am ehesten in der Lage hätte sein sollen, Dinge vorauszusehen. Doch als 1945 die Nachrichten aus den KZs in die Zeitungen kamen, brauchte sie eine gewisse Zeit, um zu begreifen, dass der Holocaust keine alliierte Propaganda sondern Realität war. Wenn Hannah Arendt Schwierigkeiten hatte, die Monstrosität des Nationalsozialismus im nachhinein zu begreifen, wie soll es dann der Otto-Normal-Deutsche im vorhinein hätte sehen können? Die Schuldfrage wird in diesem Roman ganz platt und falsch behandelt, wie wenn alle Deutschen bei einer freien und geheimen Volksabstimmung mit einem willentlichen und wissentlichen „Ja“ explizit für die massenhafte Ermordung von Menschen gestimmt hätten. Das ist grotesk. Die komplexe Realität der Schuldfrage wird von diesem Roman vollkommen verfehlt.

Weiter tischt dieser Roman die uralte Lüge auf, dass der Nationalsozialismus ganz dem jahrhundertealten deutschen Wesen entsprochen habe, das im Nationalsozialismus lediglich zu seiner reinsten Form kulminiert sei. Zitat: „Seit Generationen werden in diesem Land Menschen gedemütigt, gefügig gemacht, abgerichtet. Wie Sie. Weitergegeben von Vätern an Söhne, von Müttern an Töchter. Wie bei Ihnen. Das ist das Wesen dieses Landes, das Europa zweimal in den Abgrund geführt hat. Millionen und Abermillionen Tote wegen dieser Zucht: demütigen, gehorchen, die nächsten demütigen, zum Kadavergehorsam, zu Maschinen wie Sie erziehen, in den Krieg schicken und so weiter und so weiter.“ (S. 301 f.) „Und dass alle diese Eichmanns in diesem Land das Resultat einer Erziehung zum Kadavergehorsam durch Demütigung und Strafen sind, die seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben worden ist. Er sei genauso eine Ausgeburt deutscher Zucht, die stets gedankenlos den noch Schwächeren tritt.“ (S. 304)

Die Idee, dass das Wesen des Deutschen „seit Jahrhunderten“ in „deutscher Zucht“ zum „Kadavergehorsam“ bestünde, die „stets“ gedankenlos den noch Schwächeren tritt, ist einfach nur Quatsch. Man versuche mal Goethe und Schiller mit dieser Idee im Hinterkopf zu lesen. Oder Immanuel Kant und Friedrich den Großen. Kadavergehorsam gab es in der SS, in der Tat. Aber schon in der Wehrmacht sah es anders aus, und das mitten im Nationalsozialismus. Selbst Wikipedia weiß es besser: „In Wirklichkeit setzt gerade die vom preußischen und deutschen Militär (unter anderem in beiden Weltkriegen) sehr erfolgreich umgesetzte Auftragstaktik das Gegenteil von Kadavergehorsam voraus.“ Der Nationalsozialismus war nur eine Karikatur des wahren deutschen Wesens, wenn überhaupt. Den Nationalsozialismus als höchste Manifestation des deutschen Wesens zu beschreiben, ist ein sehr, sehr radikaler Standpunkt, dessen logische Konsequenz die Auslöschung von allem ist, was deutsch ist. Nur weniger gebildete Menschen vertreten solche Thesen. Gebildete Menschen hingegen hätten nicht nur Goethe und Schiller gelesen, sondern wüssten z.B. auch, dass die Frage nach der Kriegsschuld beim Ersten Weltkrieg, der von Patrick Tschan hier in einem Atemzug mit dem Zweiten Weltkrieg genannt wird, sehr differenziert betrachtet wird. Wer glaubt denn heute noch daran, dass der „verrückte Kaiser Wilhelm“ und die „kadavergehorsamen Deutschen“ die volle und alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg tragen?

Aber damit nicht genug. Dieser Roman schöpft den Brunnen der Peinlichkeit voll aus. Nicht nur das deutsche Wesen, auch Preußen wird klischeehaft in die Pfanne gehauen. Angeblich hätte Preußen nach der Niederschlagung der badischen Revolution von 1849 überall in Baden „Statthalter“ eingesetzt. So z.B. auch den Vorfahren des Roman-Obernazis, der ein Überlinger Landgut erhalten hätte, das zuvor einem Revolutionär gehört hätte. Diese Obernazi-Familie hätte von 1849 durchgehend bis in den Nationalsozialismus hinein Überlingen mit Kadavergehorsam beherrscht (S. 296). Und der alte Obernazi hätte noch in den 1920er Jahren seinen Sohn „nach alter preußischer Schule“ (S. 291) Spießruten laufen lassen. Die „Kaiserzeit“ wird wiederholt negativ genannt.

Auch das ist alles ganz falsch und unhistorisch. Preußen hat gewiss keine „Statthalter“ in Baden eingesetzt, sondern Preußen hatte Baden für ein gutes Jahr komplett militärisch besetzt. Später wurde Baden durch eine dynastische Beziehung des badischen Prinzregenten Friedrich mit der preußischen Prinzessin Luise (ab 1855) an Preußen gebunden. Es gab auch nie ein Spießrutenlaufen „nach alter preußischer Schule“. Das Spießrutenlaufen war im Zeitalter des Absolutismus überall in Europa verbreitet und kein preußisches Spezifikum. Im Gegenteil. Preußen schaffte das Spießrutenlaufen als eines der ersten Länder im Jahr 1806 ab. In süddeutschen Ländern geschah dies erst viel später, z.B. in Württemberg erst 1818, in Österreich sogar erst 1855. Und der reale Überlinger Obernazi, Kreisleiter Gustav Robert Oexle (1889-1945), war kein preußischer Gutsbesitzer, sondern stammte aus einer Tagelöhnerfamilie. Romanautor Patrick Tschan muss das gewusst haben, denn den Motorradunfall von Zänglers Sohn im Roman und dessen Bestrafung nach 1945 hat er sichtlich dem realen Motoradunfall von Oexles Nachfolger Ernst Bäckert nachempfunden. Zuguterletzt sei an die Autobiographie „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki erinnert: Darin kommt Reich-Ranicki immer wieder mit lobenden Worten auf das preußische humanistische Gymnasium zu sprechen. Wer aber nur Patrick Tschans Roman gelesen hat, wird gar nicht verstehen, wie man „Preußen“ und „Humanismus“ in einem Atemzug nennen kann.

Fazit

Für ein Buch des Jahres 2022 hätte man sich wahrlich mehr Gedankenreichtum über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gewünscht. Wir wissen inzwischen, dass die Aufarbeitung im Zuge von 1968 so ihre Probleme hatte. Johannes Gross prägte das Wort: „Je länger das Dritte Reich tot ist, umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“ Es ist viel Ungerechtigkeit der damaligen Generation gegenüber geschehen, und es wurde oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es musste immer gleich alles, was deutsch oder preußisch ist, dran glauben. Ein Unding! Abgesehen davon, dass es sachlich falsch ist, stellt sich zudem die Frage, wie man mit einer solchen Einstellung jemals wieder ein Land namens Deutschland aufbauen soll? Eine konstruktive Vision für Deutschland und die deutsche Kultur außer Sex und Jeans und Rock’n’Roll findet sich in diesem Roman nicht. Das hätte man von einem Roman aus dem Jahr 2022 aber erwarten können. Das Rad der Geschichte hat sich inzwischen doch deutlich weitergedreht.

Dieser Roman verrät mehr über den Zeitgeist des Jahres 2022 in einem bestimmten linken „juste milieu“ als über die wahren Vorgänge der Nachkriegszeit. Denn dieser Roman tut nichts anderes, als die infantilen Phantasien linker Spätgeborener, die geistig irgendwo in den 1980er Jahren stehen geblieben sind, in die Vergangenheit zu projizieren. Dieser Roman ist schrecklich falsch: Literarisch falsch. Historisch falsch. Politisch falsch. Es ist kein Wunder, dass dieser Roman sich nicht an der historischen Realität orientieren konnte sondern fast alles frei erfinden musste: Denn dieser Roman ist die Ausgeburt einer fehlgeleiteten Phantasie, die mit der Realität nichts zu tun hat. Historizität wird nur vorgetäuscht. Der Roman hätte statt „Schmelzwasser“ auch den Titel „Li-La-Lustiges Nazi-Bashing mit Claudia Roth und Greta Thunberg“ tragen können. In die Tonne damit!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 07. Oktober 2022)