Schlagwort: Beziehungen

J.D. Vance: Hillbilly-Elegie – Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise (2016)

Soziale Selbstblockaden und sozialer Aufstieg – ein großes Lehrstück für jedermann und jede Zeit

Der Hintergrund der Hillbilly-Elegie von J.D. Vance ist die soziale Situation der sogenannten „Hillbillies“, d.h. der Nachfahren von iro-schottischen Einwanderern, die aus den Apalachen in die Industriestädte gezogen waren, um dort als Arbeiter ihr Geld zu verdienen – und welches Schicksal sie ereilte, als die Industrie abzusterben begann. Das zentrale Thema des Buches sind aber nicht die äußeren Umstände der Verarmung und sozialen Verelendung der Hillbillies, sondern die Denk- und Verhaltensweisen der Hillbillies, mit denen sie sich selbst in ihrer misslichen Lage gefangen halten.

Hillbillies sind bildungsferne Menschen. Sie erkennen den Wert einer guten Schulbildung nicht und können sich außer einem Industriearbeitsplatz nichts anderes vorstellen. Hillbillies sind außerdem sehr auf die Familienehre bedacht, und sie werden leicht gewalttätig. Damit verbauen sie sich aber oft genug selbst jede Chance auf Aufstieg. Ehen zerbrechen und Kinder wachsen in instabilen Verhältnissen auf. Hillbillies verlassen ihren Wohnort auch nicht, wenn es dort keine Arbeit mehr gibt, sondern bleiben. Soziale Wohltaten des Staates töten zudem jede Motivation, sich anzustrengen. Die Schuld für alle Probleme wird immer bei anderen gesucht. Religion spielt ebenfalls eine Rolle, aber eher im Sinne von Aberglauben. Ein konsequenter religiöser Glaube wirkt in diesem Milieu stabilisierend.

J.D. Vance hatte das Glück, zwei Großeltern gehabt zu haben, die ihm die nötige Stabilität und die nötigen Impulse geben konnten, um sich aus dem Milieu zu befreien. Wir können J.D. Vance dabei zusehen, wie er sich Schritt für Schritt aus dem Sumpf befreit, dabei immer wieder Hilfe von anderen – und durch Zufälle – erfährt, und auch immer wieder umdenken und sich selbst hinterfragen muss. So praktisch und realistisch hat man das noch nicht gelesen. Es ist sehr überzeugend.

Sehr interessant auch zu lesen, wie J.D. Vance bei den Marines die nötige Charakterstärke erlernte. Spätestens hier wird sich auch ein Mittelschicht-Leser fragen: Warum habe ich solche Dinge nicht gelernt? Warum werden solche nützlichen Dinge nicht in der Schule gelehrt? Interessant auch der Werdegang von J.D. Vance an der Universität: Kommunikation und Beziehungen zu Menschen sind das A und O beim Fortkommen, nicht nur an der Uni. Besonders stark sind die Passagen, in denen J.D. Vance auch später noch erkennen muss, dass er immer noch schädliche Charakterzüge der Hillbillies in sich trägt, die je nach Gelegenheit emotional aus ihm hervorbrechen, obwohl er glaubte, bereits alles durchschaut zu haben.

J.D. Vance hat die Probleme seines Milieus in der Wissenschaft analysiert gefunden: Allerdings nicht für die Hillbillies, sondern für gewisse Milieus von Schwarzen in den USA. Es ist verblüffend, wie sich die Probleme gleichen. Als deutscher Leser kann man hinzufügen, dass es vergleichbare Probleme auch mit gewissen Milieus von Zuwanderern in Deutschland gibt. Vielleicht auch mit gewissen Milieus in Ostdeutschland oder generell in ökonomisch abgehängten Regionen in Deutschland, von denen es ja immer mehr gibt.

Welche politischen Lehren und Ratschläge zieht J.D. Vance aus seinen Erfahrungen? Erstens, dass es keine Patentlösungen gibt. Am Ende muss der Wille von den Betroffenen selbst kommen. Was man machen kann, ist, den Betroffenen immer wieder „kleine“ Anstöße und Hilfen zu geben, sich langsam, Schritt für Schritt, aus dem Sumpf herauszuarbeiten. Es gibt aber keine Garantie dafür, dass die Betroffenen die Anstöße und Hilfen auch aufgreifen. Man muss dennoch immer weitermachen mit den Anstößen und Hilfen. – Allzu großzügige soziale Wohltaten des Staates sind natürlich schädlich für die nötige Motivation, sein Leben zu ändern. – Schließlich plädiert J.D. Vance für die soziale Durchmischung von Stadtvierteln: Die Abgehängten dieser Welt brauchen Vorbilder für ein gelingendes Leben, an denen sie sich orientieren können. Leider geht J.D. Vance nicht darauf ein, dass die Mittelschicht kein Interesse an einer sozialen Durchmischung mit der Unterschicht hat, weil sie dabei nur Nachteile erfährt.

Fazit

Mit Hillbilly-Elegie hat J.D. Vance ein großes Lehrstück über das wahre Wesen von sozialen Unterschichten geschrieben, das praktisch überall auf der Welt anwendbar sein dürfte. Dabei zertrümmert J.D. Vance die typischen Mythen von Sozialpolitikern, deren Lösungsvorschläge im wesentlichen darauf hinauslaufen, Geld in die Unterschichten zu pumpen. Es fehlt aber nicht zuerst an Geld, sondern vor allem am richtigen Bewusstsein. Soziale Durchmischung und gute Schulen helfen mehr als jede Sozialhilfe. Ebenso ein enger Zusammenhang von Fördern und Fordern, bei der das Fordern nicht zu klein geschrieben wird.

Speziell für die Probleme der Zuwanderung – über die J.D. Vance sich in diesem Buch nicht äußert – kann man aus den Ausführungen von J.D. Vance schließen, dass man nur so viele Zuwanderer gut integrieren kann, solange eine gute soziale Mischung gewährleistet werden kann. Es gibt also eine Obergrenze für Zuwanderung, und sie wird nicht durch Geld bestimmt, sondern durch das schiere Zahlenverhältnis von Einheimischen und Zuwanderern.

Man würde wünschen, dass jeder Sozialpolitiker und überhaupt jeder Linke dieses Buch liest. Vor allem aber möglichst viele junge Menschen aus der Unterschicht. Doch auch der Mittelschicht-Leser wird im Laufe der Lektüre dazu angeregt, über seinen eigenen Werdegang nachzudenken. Denn wir alle leiden unter falschen Denkmustern, die unser Herkunftsmilieu mit sich brachte, wenn auch nicht so stark wie im Hillbilly-Milieu.

Eine Frage, die J.D. Vance nicht aufwirft, ist die Problematik einer allzu großen Anpassung an ein Aufsteigermilieu. Es ist sicher richtig, dass man mit Kommuikation und Beziehungen nach oben kommt, aber allzu große Anpassung und Aalglattheit bergen natürlich die Gefahr, die eigene Seele zu verkaufen und zu einem Anzug ohne Inhalt zu werden. Über diese Balance hätte J.D. Vance mehr sagen sollen.

Die Hillbilly-Elegie von J.D. Vance ist alles andere als ein typisches Politiker-Buch voller Worthülsen und leerer Euphorie, sondern wahrhaft lesenswert und bereichernd. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass J.D. Vance dieses Buch schrieb, bevor er in die Politik einstieg.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Julia Friedrichs: Gestatten, Elite – Auf den Spuren der Mächtigen von morgen (2008)

Lesenswert – sympathisch – fordert eigene Meinungsbildung heraus

Ein sehr lesenswertes Buch, weil es Einblick in die Schulen und Universitäten bietet, an denen die Elite von morgen herangebildet wird, und weil man vor allem auch einen Blick auf die jungen Menschen selbst bekommt, die sich als Elite verstehen. Vorurteile werden bestätigt – und widerlegt. Es gibt tatsächlich Leistungseliten – aber es gibt natürlich auch die Geldeliten, die sich einen Schul- oder Uni-Abschluss praktisch kaufen, weil sie es im normalen System nicht schaffen würden. Ein Problem für alle – auch bei gutem Willen – ist natürlich der Verlust der Bodenhaftung.

Ein Vorteil aller Eliteschulen ist, dass nicht nur auf Stoffvermittlung, sondern auch auf Persönlichkeitsbildung Wert gelegt wird. Stark auch die Passagen, wo die Autorin überzeugend darlegt, dass die Zugehörigkeit zu den oberen Zehntausend nur selten durch Leistung entschieden wird, sondern fast immer durch quasi traditionelle Beziehungen und Stallgeruch (d.h. nicht allein und nicht zuerst durch Geld, sieh an).

Sehr sympathisch lesen sich die Passagen, wo die Autorin den Werdegang der Elite-Schüler mit ihrem eigenen ganz normalen Werdegang an staatlichem Gymnasium und staatlicher Uni vergleicht. Oder wo sie selbstkritisch wird und auch schildert, wie ihre eigenen Sozi-Eltern mit dem Alter plötzlich so manches ganz anders sahen. Oder wo sie zeigt, dass es bei Ökos und Sozen ebenfalls zu Elite-Bildungen kommt.

Dass die Autorin politisch links ist und es auch zeigt, wäre kein Problem, da sie nicht radikal ist, aber manchmal stört es doch. Das Problem ist weniger, was sie sagt, als was sie nicht sagt. Wenn Eliten wirklich Leistungseliten sind, die der Gesellschaft etwas bringen, dann sind sie gut und sinnvoll – aber in dieser Klarheit liest man das in diesem Buch leider nicht. Dass bei Vermischung von guten und schlechten Schülern nicht nur die schlechten Schüler besser, sondern auch die guten Schüler schlechter abschneiden, hätte die Autorin ruhig sagen können. Dass in Deutschland durch eine unkontrollierte Zuwanderung und Multikulti-Illusionen bezüglich der Integration eine enorm angewachsene, bildungsferne Unterschicht entstanden ist, die das staatliche Schulsystem heute ganz anders aussehen lässt als vor 20 Jahren, als die Autorin zur Schule ging, bleibt ebenfalls unausgesprochen, obwohl es gut gepasst hätte, z.B. als die Flucht in private Schulsysteme thematisiert wird.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon im Dezember 2009)

Christine Brückner: Letztes Jahr auf Ischia (1964)

Alltag, Allzu-Menschliches und Abgründe im Urlaubsparadies

Der Roman „Letztes Jahr auf Ischia“ von Christine Brückner beginnt harmlos, ja fast schon enttäuschend. Vier Deutsche, drei Männer und eine Frau, sind auf Ischia in einer Ferienwohnung zusammen gekommen, um auf der Insel gemeinsam einen Film zu drehen: Arne, Carlos, Paul und seine Freundin, die Erzählerin. Doch sie kommen damit nicht voran. Die Stimmung ist schwül. Die Beziehungen innerhalb der Gruppe changieren ebenso schwül, übergriffig und unentschieden hin und her. Der Millionärssohn Arne macht der Erzählerin ein Angebot. Paul verhält sich Oberlehrerhaft. Carlos stellt den Frauen nach. Man beobachtet, wie eine andere Deutsche sich den zurückgezogenen Signor Ernesto zum Liebhaber nimmt. Erwartungshaltungen werden enttäuscht. Illusionen gepflegt. Rücksichtslosigkeiten begangen.

Man möchte das Buch vor Langeweile am liebsten weglegen. Doch dann kommt es zu einem reinigenden Gewitter, zu einem Ausbruch von Zorn und einer Aussprache, und von da an nehmen die Dinge Fahrt auf.

Als erstes wird der unfertige Film symbolisch beerdigt. Dieses Projekt ist gestorben. Auf der Fiesta der Inselheiligen entjungfert Carlos eine Inselschönheit, woraufhin deren Clan Schwierigkeiten macht. Die Freunde halten dagegen zusammen. Und nun beginnt ein Reigen von Entlarvungen und Enhüllungen der biographischen Hintergründe der einzelnen Personen, die das Buch wahrlich lesenswert macht.

Der Frauenheld Carlos heißt eigentlich nur Karl, kommt aus NRW, und hat eine sehr praktisch denkende Ehefrau, die plötzlich auf der Insel auftaucht. Und schon ist Karl ein ganz anderer, biederer Mensch. Er verschwindet mit seiner Ehefrau nach Capri und damit aus der Geschichte. Ein Abendessen bei dem zurückgezogenen Signor Ernesto und seiner deutschen Partnerin verläuft surreal. Dann ein schwerer Autounfall von Arne und der Erzählerin, weil der Clan der Inselschönheit die Reifen gelockert hatte, um Carlos zu treffen. Die Einheimischen raten von rechtlichen Schritten ab. Auf dem Krankenbett die Offenbarung des Vorlebens der Erzählerin: Sie hat bereits einen Sohn, und ist jetzt Großmutter geworden. Arne stirbt an dem Autounfall: Er hätte eine vielversprechende Karriere als Komponist vor sich gehabt. Die Erzählerin und Paul raufen sich zusammen, versuchen für sich den Urzustand des Paradieses wiederzuerlangen. Weil der Autounfall die Falschen traf, wird die Inselschönheit von ihrem Clan zur Versöhnung in die Ferienwohnung der Deutschen geschickt: Zum Arbeiten. Dort wird sie mit einem deutschen Inselarzt verkuppelt, der auf Ischia gestrandet ist. Letzter Akt: Die deutsche Partnerin des Signor Ernesto schwimmt bei Unwetter ins offene Meer hinaus und muss durch ein riskantes Manöver gerettet werden. Jetzt werden auch noch die Hintergründe dieser beiden offenbart. Es sind Abgründe.

Man bekommt in diesem Buch auch viel vom Inselalltag auf Ischia mit. Man sieht das Urlaubsparadies durch die Brille von Menschen, die länger dort leben. Es ist langweilig, spießig und manchmal zynisch. Und immer wieder schön. – Ein Anachronismus zu heute ist der Umgang mit Frauen: Einer alleinreisenden Touristin wird solange von den „Pepis“ nachgestellt, bis sie sich einen Liebhaber nimmt. Erst dann hat sie Ruhe. Solches hört man heute vor allem aus noch weiter südlich gelegenen Staaten, damals war es aber wohl auch auf Ischia noch so. – Schließlich fehlt auch das Multikulti von heute: Die vier Kollegen aus Deutschland sind alles Deutsche, die Italiener sind alle Italiener. Heute würde ein Filmteam kaum mehr nur aus vier „Biodeutschen“ bestehen. Der moderne Leser hält Carlos zunächst z.B. für einen Spanier, und würde das auch für das Selbstverständlichste von der Welt halten, bis überraschend die Aufklärung kommt, dass er Karl heißt und aus NRW kommt.

Ein Punkt Abzug, weil das Buch keinen echten roten Faden hat. Die Dinge entwickeln sich, und man nimmt manche Einsicht zu Menschen und ihrem Charakter und Zusammenleben aus diesem Buch mit, ebenso manche Einsicht zu den Vorgängen hinter den Kulissen eines Urlaubsparadieses, aber eine zentrale Botschaft ist eher nicht zu erkennen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Mai 2018)