Schlagwort: Brüder

Ian Caldwell: Das geheime Evangelium (2015)

Lehrreicher Vatikan-Thriller mit deutlichen Schwächen

Der Roman „Das geheime Evangelium“ (Original: The Fifth Gospel) ist ein Vatikan-Thriller. Der Leiter einer geheimnisvollen Ausstellung zum Grabtuch von Turin in den Vatikanischen Museen wurde wenige Tage vor deren Eröffnung ermordet und eine Schautafel im letzten Raum der Ausstellung ist verschwunden. Der Protagonist des Romans ist der Bruder des Angeklagten, der nun im Vatikan von Pontius zu Pilatus läuft, um die Hintergründe der Tat zu erforschen und die Unschuld seines Bruders zu beweisen. In Rückblenden spielt aber auch das Mordopfer eine wichtige Rolle: Es wird vor Augen geführt, wie dem Ausstellungsleiter, einem rein wissenschaftlich orientierten Menschen, die Bedeutung des Grabtuches immer klarer wurde, bis er – für ihn selbst überraschend und schockierend – vor einer schwierigen Gewissensentscheidung stand.

Im Zentrum der Geschichte steht das Verhältnis der katholischen zur orthodoxen Kirche und wie man diese beiden Kirchen wieder miteinander versöhnen könnte, gespiegelt in den beiden Brüdern, von denen der eine römisch-katholisch ist, der andere römisch-orthodox. Eine große Rolle spielt das Grabtuch von Turin und die Frage, ob es doch echt sein könnte. In diesem Zusammenhang ist das Diatesseron des Tatian von Bedeutung, eine Zusammenschrift der vier Evangelien, um aus vier sich teilweise widersprechenden Evangelien eines zu machen (Evangelienharmonie).

Der Leser lernt eine Menge über das Verhältnis der vier Evangelien zueinander, und wie diese Evangelien historisch-kritisch gedeutet werden. Das Diatesseron selbst liefert dazu eigentlich gar keine Enthüllungen, dient aber als Vehikel dieser Erklärungen. Auch die Geschichte des Grabtuches wird natürlich intensiv behandelt. Ebenso lernt der Leser viel über die Einrichtungen des Vatikan und deren innere Machtmechanik kennen: Von den Wohnblocks der wenigen Vatikan-Bürger über das Vatikan-eigene Hotel Casa Sanctae Martae, die Garage und den vatikanischen Fahrdienst, die Schweizergarde, die Gendarmerie, die Vatikanische Geheimbibliothek, den Regierungspalast, die Casina Pius IV., den Petersdom, den Papstpalast, und natürlich auch die vatikanische Gerichtsbarkeit, die immer noch nach dem Modus der Inquisition funktioniert.

Kritik

Besonders störend ist, dass der Autor ziemlich viel Herzschmerz und Schmalz in seinen Roman verwoben hat: In Bezug auf den fünfjährigen Sohn des Protagonisten (der als römisch-orthodoxer Priester heiraten durfte). In Bezug auf die Ehefrau des Protagonisten, die nach Jahren der Abwesenheit ausgerechnet jetzt wieder zurückkehrt. Und in Bezug auf die Versöhnung der katholischen mit der orthodoxen Kirche, die über viele Seiten hinweg in ziemlich unglaubwürdiger Weise als spontane, gefühlsgetriebene Handlung von Papst und Patriarchen dargestellt wird. Am ehesten scheint mir der Schmalz noch in Bezug auf den Onkel funktioniert zu haben, für den seine Neffen seine ganze Familie sind.

Ebenfalls schade ist, dass der Leser relativ wenig über das Selbstverständnis der Orthodoxen erfährt, obwohl sich der Roman doch um das Verhältnis der katholischen zur orthodoxen Kirche dreht. Man erfährt z.B. praktisch nichts über die Rolle von Klöstern in der Orthodoxie oder deren Staat-Kirche-Verhältnis.

Gewöhnungsbedürftig ist die Erzählperspektive: Der Erzähler schaut gewissermaßen in das Hirn des Protagonisten und beschreibt fortwährend dessen Gedanken und Gefühlsregungen. Auch die Dramaturgie des Romans ist fragwürdig: Es geht nur in ganz kleinen Schritten voran, so dass sich die Handlung wie Kaugummi zieht. Mehr als einmal hat der Leser das Gefühl, dass die Protagonisten eine Schlussfolgerung reichlich spät ziehen, d.h. der Fortgang der Handlung ist nicht glaubwürdig. So z.B., als in eine Wohnung eingebrochen wurde, ohne die Tür aufzubrechen, doch erst viel später kommt der Protagonist auf die Idee, nach dem Zweitschlüssel unter der Fußmatte zu sehen.

Fazit: Eine gute Grundidee lehrreich ausgeführt, aber mit deutlichen Schwächen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Johan Bargum: Nachsommer (1993)

Trost- und Lachbuch für vielgeplagte „stille“ Brüder

Das Buch erzählt von einem ungleichen Brüderpaar, das sich nach langer Zeit am Sterbebett der Mutter wiedertrifft. Einer der Brüder ist eher „still“ und zurückhaltend, der andere aggressiv und rücksichtslos. Der eine unbeholfen und scheinbar ein Versager, der andere ein „Macher“ und scheinbar ein Erfolgsmensch. Der eine lebt dauerhaft einsam, der andere hat Familie. In Retrospektive wird das Verhältnis der beiden nachgezeichnet, sowie das Verhältnis zur Mutter, zum Stiefvater („Onkel“), und zur Ehefrau und den Kindern des einen Bruders.

Johan Bargum schafft es, in knappen Worten kurze Episoden zu Papier zu bringen, die den Charakter der beiden Brüder subtil und präzise auf den Punkt bringen. Bargum muss so eine Situation selbst erlebt oder sehr genau beobachtet haben, denn er kann auch die untergründigen Beweggründe der Beteiligten bestens nachzeichnen. Angefangen von der unfasslichen Ignoranz des „Macher“-Bruders und seines Kotzbrocken-Sohnes in ihrer ganzen lächerlichen Tragikomik, über die erlernte Hilflosigkeit des systematisch entmutigten „stillen“ Bruders, bis hin zur Mutter, die über sich selbst keine Klarheit erlangen zu können scheint und unwahrhaftig bis zur Heuchelei ist: Während sie den „Macher“-Bruder offiziell hasst, zieht sie ihn in Wahrheit dem „stillen“ Bruder immer wieder vor, angefangen vom ewig einseitig geäußerten „Schieb die Schuld nicht auf Deinen Bruder!“ bis hin zu dem Umstand, dass er selbst noch beim Erbe benachteiligt wird.

Es ist fast schon eine Satire über allzumenschliche Verhältnisse. Eine Satire, die von der Realität bisweilen überholt wird. Wer selbst in einer ähnlichen Situation lebt, wird sie wiedererkennen, und darin Trost und Ermutigung finden. Wer einer solchen Situation entronnen ist, wird herzlich darüber lachen können. Zeile für Zeile, Wort für Wort wird ein Volltreffer nach dem anderen gelandet. Der faule Zauber der ignoranten „Macher“ und der unklaren Unwahrhaftigen, hier wird er entlarvt. Das Büchlein ist kurz, aber sehr dicht und sehr reich. Es ist ein Plädoyer für rationale Klarheit und unverfälschte Menschenfreundlichkeit ex negativo.

Kritik ist an der Darstellung der Begebenheiten rund um die Ehefrau des „Macher“-Bruders, Klara, angebracht. Es ist unglaubwürdig, dass sie aus Unsicherheit über ihre Beziehung zum „Macher“-Bruder spontan mit dem „stillen“ Bruder ins Bett geht. So sind die Ehefrauen von „Machern“ nicht. Und es ist ebenso unglaubwürdig, dass der „stille“ Bruder dies geschehen lässt, ohne dass sie sich von ihrer Beziehung zum „Macher“-Bruder losgesagt hätte. So sind „stille“ Brüder nicht. Treffender wäre es gewesen, wenn der „Macher“-Bruder dem „stillen“ Bruder die Freundin ausgespannt hätte.

Auch das Ende des Buches, wo sich Klara wieder dem „stillen“ Bruder zuneigt, ist unglaubwürdig. So läuft es in Wirklichkeit nicht. Solche „Macher“-Menschen haben einen inneren Abwehrmechanismus gegen alles, was sie zum Nachdenken und zum Zweifeln bringen könnte. Deshalb kann es auch kein Umdenken geben. Nachdenken und Zweifeln gilt ihnen schon als verdächtig, als seelische Krankheit, als Aussatz der Aussätzigen, dem man sich am besten gar nicht erst aussetzt. Wegschauen ist in diesen Kreisen Trumpf. Solche Menschen huldigen der Oberflächlichkeit und dem Aufgehen in einem Mainstream-Denken als dem wahren Glück. Sie verwechseln Vernunft mit „common sense“ und sind notorisch gut drauf. Probleme umgeht man, indem man sie einfach nicht hat (weil man vom Glück und den Umständen begünstigt wird, womöglich auf Kosten anderer, worüber man aber nicht nachdenkt), oder indem man ihre Wahrnehmung aktiv unterdrückt, bis es zu spät ist (und dann sind andere schuld, oder man spricht cool von „Pech“, obwohl man selbst schuld ist, was man aber niemals zugeben würde, nicht einmal vor sich selbst).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Oktober 2018)