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Michael Sommer: Volkstribun – Die Verführung der Massen und der Untergang der Römischen Republik (2023)

Der Populist Clodius und der Einsatz organisierter, öffentlicher Gewalt am Ende der Römischen Republik

Das Buch „Volkstribun“ von Michael Sommer ist ein Leckerbissen für alle Fans des antiken Roms: Nicht nur Karriere und Schicksal des ruchlosen Clodius werden dem Leser vor Augen geführt, sondern auch das größere Bild der bekannten Abläufe drumherum, von Ciceros Aufstieg über Ciceros Verbannung bis zum Triumvirat und dem Aufstieg Caesars. Der Autor erklärt alles ausführlich und gut verständlich, was auch nötig ist, denn der Leser wird fortwährend mit den berühmt-berüchtigten termini technici bombardiert, die das komplexe Regelwerk der Römischen Republik bestimmten. Ob senatus consultum ultimum, interrex, ambitus, pietas oder mos maiorum: Wer’s mag, wird sich gut aufgehoben fühlen und kann unbeschwert Eintauchen in eine seit Schulzeiten wohlvertraute Welt. Ein Überblick über die wechselhafte Forschungsgeschichte zu Clodius, ein Register und eine Bibliographie runden das Buch ab, es ist wirklich ordentlich gemacht.

Clodius aus der altehrwürdigen gens Claudia war nicht der einzige, aber wohl der erfolgreichste „Populist“ im Alten Rom, der die Solidarität der Senatoren gegenüber dem Volk durchbrach und sich direkt beim Volk eine Machtbasis aufbaute (populariter agere). Dazu vollbrachte er eine organisatorische Glanzleistung, denn er musste über ein ausgeklügeltes Mikromanagement in die kleinteiligen Strukturen der römischen Gesellschaft hineinregieren. Überall hatte Clodius seine Leute, es muss ein riesiges Netzwerk gewesen sein. Clodius ließ sich zudem vom Patrizier zum Plebejer herunterstufen und auch sein Name wurde von Claudius zum volkstümlichen Clodius umgestylt.

Auf dieser Basis schaffte Clodius es, die bewährten Abläufe der republikanischen Staatsordnung immer wieder zu durchbrechen. Sei es durch die Störung von Abstimmungen, durch deren Verschiebung, oder auch durch die Einschüchterung von politischen Gegnern, die sich nicht mehr aus dem Haus trauten. Der Höhepunkt war zweifelsohne die Vertreibung von Cicero ins Exil – mithilfe eines ex post erlassenen Strafgesetzes – und die Zerstörung seines Hauses, an dessen Stelle Clodius ironischerweise einen Schrein der Göttin Libertas errichten ließ.

Ermöglicht wurde Clodius dieses Treiben auch dadurch, dass die römischen Senatoren sich nicht mehr so einig waren wie in früheren Zeiten, und sich immer heftiger gegenseitig bekämpften, so dass Clodius immer die eine Seite gegen die jeweils andere Seite ausspielen konnte. Außerdem versagten die Senatoren durch ihre Machtspiele immer häufiger in der Lösung von Problemen, was die Menschen in die Hände von Populisten wie Clodius trieb. Kurz: Die römischen Senatoren waren dekadent geworden und die Strukturen des alten Stadtstaates passten nicht mehr zu den Verhältnissen eines Weltreiches, in dem es um sehr viel Macht und sehr viel Geld ging.

Im besten Fall hätte das Treiben des Clodius zu einem Umbau der Republik hin zu einem demokratischeren System geführt, mit einem moderneren Verständnis von Libertas. Dafür war der Charakter des Clodius allerdings nicht geeignet. Er war wirklich Populist im negativen Sinne, d.h. er beutete die niederen Instinkte des Volkes aus Eigeninteresse aus, statt wirklich die Interessen des Volkes zu vertreten. Aus diesem Populismus erwuchs schließlich nicht die Freiheit, sondern die Tyrannei: Auch Julius Caesar übte sich im populariter agere und ersetzte schließlich die Republik durch eine Diktatur.

Heute ist Clodius weitgehend vergessen. Bekannt ist nur noch Caesar, natürlich aus Filmen und Comics. Schon Cicero dürfte nur noch jenen bekannt sein, die einmal Latein gelernt haben. In meiner Abiturprüfung zum Großen Latinum wurde ich nach dem Gegenspieler Ciceros gefragt. Ich antwortete vorsichtig: Caesar? Das war nicht falsch, gemeint war vom Prüfer aber Clodius, von dem ich bis zu dieser Prüfung nie etwas gehört hatte. Eine gute Note habe ich dann trotzdem bekommen. Gut, dass es jetzt dieses Buch gibt, mit dem ich meine damalige Wissenslücke gründlich schließen konnte!

Defizite

Zunächst einige Formalia: In den letzten Kapiteln des Buches überschlagen sich die Ereignisse so sehr, dass es dem Leser schwerfällt, die verschiedenen Drehungen und Wendungen der politischen Allianzen noch nachzuvollziehen. Manche Koalition erscheint überraschend und willkürlich. – Einige wenige Begriffe bleiben unerklärt, so z.B. Prodigien. Auch ambitus hätte vielleicht noch einmal erklärt werden müssen. – Im ganzen Buch finden sich nicht allzu viele, aber doch auffällig viele Rechtschreibfehler: Hier hätte der Verlag besser aufpassen müssen.

Die größte Kritik richtet sich aber gegen den Umstand, dass der Autor es scheute, Parallelen zu unserer Zeit zu ziehen. Dabei ist das doch eine der Hauptanwendungen antiker Geschichte: Dass wir unsere modernen Verhältnisse auf der Bühne der antiken Geschichte spiegeln, und so unsere modernen Probleme besser verstehen und vielleicht auch lösen können.

Moderne Parallelen zur organisierten öffentlichen Gewalt

Ergänzen wir also, was fehlt: Welche modernen Parallelen zu Clodius und seinen organisierten Volksmassen und Schlägerbanden lassen sich denken? Es geht um organisierte, sichtbare Gewalt von Gruppen im öffentlichen Raum. Es geht also nicht um Terror und Mord, wie er von RAF, NSU oder Islamisten verübt wird: Das ist eine völlig andere Kategorie von Gewalt.

  • Donald Trump und die Erstürmung des Kapitol am 06. Januar 2021. Richtig ist, dass hier organisierte Gruppen wie Proud Boys und Oath Keepers Gewalt gegen die Polizei anwendeten. Es ist allerdings falsch, dass Trump die Menge bei seiner Rede aufgepeitscht hätte. Die Erstürmer des Kapitols versammelten sich unabhängig von Trumps Versammlung direkt am Kapitol und begannen ihren Sturm, während Trump noch eine halbe Stunde redete und zu einem friedlichen Protest aufrief. Als dann einige Teilnehmer von Trumps Veranstaltung zum Kapitol herübergelaufen kamen, war der Durchbruch durch die Polizeikette schon geschehen. Ja, es war organisierte Gewalt, aber nein: Trump hat sie weder organisiert noch aufgestachelt. Außerdem hatten zuständige Demokraten „vergessen“, für genügend Polizei zu sorgen, obwohl genau bekannt war, wer an diesem Tag zum Kapitol kommen würde.
  • Die sogenannte „Antifa“. Dabei handelt es sich in der Tat um organisierte Gruppen, die in der Fläche des Landes präsent sind. Sie bedrängen teilweise Politiker, sprengen Versammlungen, schrecken Besucher von politischen Veranstaltungen ab, beschmieren die Häuser von Politikern, fackeln die Autos von Politikern ab usw. Geld fließt nicht selten vom Staat, etwa an „autonome Zentren“ oder für „autonome Projekte“.
  • Gewalt durch NGOs, sogenannte „Nichtregierungsorganisationen“. Diese werden meistens sehr wohl von der Regierung bezahlt. Oder von einflussreichen Milliardären. Einem physischen Gewaltbegriff nahe kommen sie als Klimaradikale der „Letzten Generation“ oder als angebliche „Seenotretter“, die illegale Migration unterstützen und dabei auch mal ein Polizeiboot über den Haufen fahren.
  • Islamistische öffentliche Gewalt, getragen von gewissen Gruppen und Moscheen, ist ebenfalls organisierte Gewalt. Dazu gehören auch pro-palästinensischen Proteste, die jüdische Studenten von der Universität und Juden generell aus dem öffentlichen Raum ausgrenzen. Nicht selten verbinden sich diese Gruppen mit linken Gruppen.

Es scheint, dass die politische Linke die Klaviatur der öffentlichen Gewalt derzeit wesentlich besser beherrscht und über wesentlich besser organisierte und finanzierte Strukturen verfügt, als die politische Rechte. Rechte organisierte Gewalt scheint sich auf manche Regionen in Ostdeutschland zu beschränken.

Hinzu kommt, dass die etablierten Medien die politische Linke decken. Dazu gehört, dass über die organisierte, öffentliche Gewalt von Links kaum gesprochen wird. Thematisiert wird vielmehr vor allem Gewalt von Rechts. Das geht so weit, dass offensichtlich falsche Statistiken, die die linke Gewalt klein- und die rechte Gewalt großreden, unhinterfragt zur veröffentlichten Meinung werden.

Drei Maßnahmen lassen sich in aller Kürze nennen, die zu einem Ende der politischen Gewalt führen würden:

  • Die Finanzierung ist trockenzulegen. Politik muss sich aus der Finanzierung von liebgewordenen Gruppen und Grüppchen gleich welcher Art auch immer grundsätzlich zurückziehen. Wer sich für das Klima und gegen Rechts engagieren will, kann dies gerne tun, aber bitte mit eigenem Geld und auf friedliche Weise.
  • Die Medien müssen fair berichten, dann wird politische Gewalt schnell unattraktiv für diejenigen, die sie organisieren und finanzieren. Dazu müssten die Medien neu geordnet werden.
  • Polizei und Staatsanwaltschaft müssen ohne Ansehen der Person konsequent durchgreifen. Dazu müsste wohl u.a. die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften in Deutschland abgeschafft werden.

Wie man sieht, hängt die Lösung ganz vom politischen Willen ab, Gewalt nicht zu einem Mittel der Politik zu machen. Ein solcher politischer Wille, eine solche Entschlossenheit gibt es derzeit offenbar nicht. Was am ehesten zur Wiedergewinnung eines solchen Willens führen könnte, ist der Aufbau alternativer Medien, die den Finger immer spürbarer in die Wunde legen und die Anwendung öffentlicher Gewalt auf diese Weise immer unattraktiver machen. Mit der Fairness des Mediensystems steht und fällt der gesamte demokratische Prozess in allen seinen Facetten, so auch hier.

Weitere Parallele: Populismus

Populismus im negativen Sinne gibt es heute ebenfalls, und zwar auf allen Seiten: Die etablierten Parteien gehen dem Volk um den Bart, indem sie über ihre Medienherrschaft Heile-Welt-Propaganda verbreiten, auch wenn alles den Bach heruntergeht, und indem sie Rentnern und Sozialhilfeempfängern Geldgeschenke machen. Gewisse Probleme werden verschwiegen, kleingeredet, relativiert oder mit primitivem Lösungsoptimismus überdeckt.

Mithilfe von Medien und NGOs wird außerdem „Astroturfing“ betrieben: Damit ist die Vortäuschung einer Bewegung „von unten“, aus dem Volk, gemeint, die in Wahrheit nicht wirklich „von unten“ kommt, sondern „von oben“, von Strippenziehern, organisiert wird, ganz wie bei Clodius im alten Rom. Häufig sind daran auch NGOs beteiligt. Beispiele sind Fridays for Future oder die Demonstrationen gegen die angebliche Wannsee-Konferenz 2.0 von Correctiv: Hier wird jeweils über Medien ein aufpeitschendes Angstnarrativ gestreut und zugleich der Protest von einschlägigen Gruppen vor Ort organisiert (Linksradikale, Kirchen, Ökos, Islamisten). Manche Normalbürger denken, es handele sich um eine „breite Bewegung“ und laufen naiv in solchen Demos mit.

Linksradikale und Rechtsradikale Parteien hingegen sprechen diese Probleme offen an, benutzen sie aber oft nur, um ganz andere Ziele zu verfolgen, mit denen die Bürger vom Regen in die Traufe kommen würden. Teilweise hat man den Eindruck, dass die etablierten Parteien und Medien eifrig daran mitwirken, dass sich in neuen Parteien radikale Kräfte durchsetzen, denn dann kann man diese leichter ausgrenzen. Deshalb gibt es in vielen europäischen Ländern inzwischen nicht mehr nur eine, sondern zwei Rechtsparteien: Eine populistisch-radikale, und eine liberal-konservative. Die Vernunft hat es schwer, in diesen Tagen.

Weitere Parallelen: Dekadenz und Weltreich

So wie die römischen Senatoren dekadent geworden waren, korrumpiert durch ständigen Machtbesitz und die neuen Möglichkeiten des Weltreiches, so sind unsere heutigen Eliten teilweise einfach zu lange an der Macht – teilweise sind sie aber auch globalistisch abgehoben und folgen linksradikalen Träumereien gegen die Interessen der Menschen vor Ort, deren nationale Verwurzelung nur noch als Störfaktor im Weltbetrieb gilt.

Und so, wie die Strukturen des alten römischen Stadtstaates nicht mehr zu den Verhältnissen eines Weltreiches passten, so sind heute viele internationale Strukturen aus der Zeit gefallen und dringend reformbedürftig: Sei es die UN, die von Antidemokraten und Antisemiten beherrscht wird, oder die EU, die von Multikulti-Fanatikern und Lobbyisten durchsetzt ist. Aber auch der Nationalstaat ist in seiner Funktion wieder neu zu entdecken, und das Verhältnis zwischen internationalen Organisationen und Nationalstaaten muss neu austariert werden.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Andreas Mäckler (Hrsg.): Schwarzbuch Wikipedia – Mobbing, Diffamierung und Falschinformation in der Online-Enzyklopädie und was jetzt dagegen getan werden muss (2020)

Der Wikipedia-Sumpf – Es fehlen diese grundsätzlichen Lösungsvorschläge

Dieses Buch versammelt eine ganze Reihe von namentlich gezeichneten Erfahrungsberichten, Recherchen und Interviews rund um das problematische Internet-Lexikon Wikipedia. Wer selbst schon bemerkt hat, dass Wikipedia seltsam einseitig ist, und wer vor allem selbst einmal versucht hat, bei Wikipedia mitzuarbeiten, oder gar Opfer von Falschinformationen in der Wikipedia wurde, wird dieses Buch als ein Trostbuch lesen können, denn man sieht, dass man seine leidvollen Erfahrung mit vielen anderen teilt, und manche sind noch weit schlimmer betroffen als man selbst.

Das Grundproblem der Wikipedia ist, dass es von einem einseitigen Meinungsmilieu beherrscht wird. Man könnte dieses Meinungsmilieu als links-grün beschreiben: Gesellschaftspolitisch ticken diese Leute links, sie sind EU-euphorisch während ihnen die eigene Nation nichts bedeutet, sie sind für radikalen Klimaschutz und schrankenlose Migration, aber zugleich sind sie auch bellizistisch für die NATO eingestellt. Eben genau wie die Grünen. Und die Grünen liegen ganz im Trend des Zeitgeistes. Gerade bei intellektuellen Charakteren, die bei Wikipedia mitmachen. In Wikipedia spiegelt sich also ganz einfach der links-grüne Zeitgeist. Wenn der Zeitgeist sich verändern würde, würde sich Wikipedia automatisch mitverändern. Das würde aber die Probleme nicht lösen.

Problematisch an diesem Buch ist, dass viele der Beiträger selbst einem recht „einseitigen“ Milieu angehören. Da sind z.B. Homöopathie-Anhänger, die auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit pochen und mit Recht eine unwissenschaftliche Wissenschaftsgläubigkeit des Wikipedia-Meinungsmilieus anprangern, aber dann ertappt man sie dabei, wie sie in der Corona-Krise einfachste epidemiologische Zusammenhänge nicht begreifen und die Erwartungshaltungen plumper Wutbürger bedienen. Oder sie beklagen, dass ein Homöopathie-Blogger dabei erwischt wurde, von der Homöopathie-Industrie bezahlt worden zu sein – woraufhin seine Finanzierung futsch war und er Suizid beging. So verständlich die Klage über den Suizid und die menschenverachtende Häme auch ist, so wird doch leider auch deutlich, dass diese Homöopathen kein hinreichendes Verständnis für die Richtigkeit und Wichtigkeit der Aufdeckung des Sachverhaltes haben. Eine andere Gruppe sind die NATO-Kritiker und Anti-Amerikaner, die oft auch Verschwörungstheorien zu 9/11 verbreiten. Was sie zu NATO und USA behaupten ist oft genauso leicht und schnell widerlegt wie ihre Verschwörungstheorien zu 9/11. Außerdem fragt man sich, was denn ihre Alternative zu USA und NATO ist. Etwa Russland?! Ein anderer Beiträger hat eine Internetseite für Männerrechte, auf der u.a. beklagt wird, dass der Mann nicht mehr das diktatorisch bestimmenden Oberhaupt der Familie ist. Gleich auf der ersten Seite begegnet einem ein Zitat des Sektenführers der Ahmadiyya-Muslime. Ein weiterer Beiträger ist ein jüdischer Einzelgänger, der den Islam pauschal verurteilt, statt zu differenzieren, und der zur Wahl der rechtsradikal gewordenen AfD aufruft. Seine berufliche Vita ist recht „bewegt“ und auf seiner Seite über jüdisches Leben bietet er sich als privater Kreditvermittler an: Nanu? Dann ist da noch eine libertäre Zeitschrift, die keine Hemmungen hat, sich mit durchgeknallten Politikern der rechtsradikal gewordenen AfD zu zeigen. Und schließlich ist noch ein Genetiker zu nennen, dessen Vererbungslehre gefährlich holzschnittartig anmutet, und der behauptet, dass Thilo Sarrazin angeblich mehr von ihm übernommen hätte, als Thilo Sarrazin zugeben will. Ironischerweise behauptet das linksgrüne Meinungsmilieu von Wikipedia genau dasselbe, worüber dieser Genetiker doch eigentlich froh sein sollte. Doch beide liegen falsch: Der eine will sich zu Unrecht mit dem Erfolg von Thilo Sarrazin schmücken, die anderen wollen Thilo Sarrazin zu Unrecht in die Nähe holzschnittartiger Thesen rücken.

Natürlich haben auch diese Leute ein Recht auf faire Behandlung und auf eine Erwähnung ihrer Minderheitsmeinungen in der Wikipedia, sofern sie nicht radikal sind. Und im Grunde ist das Wikipedia-Meinungsmilieu keinen Deut besser. Ob halbseiden „rechts“ oder halbseiden „links“, das gibt sich nicht viel.

Allerdings ist die Klage über das Wikipedia-Meinungsmilieu bei aller berechtigten Kritik teilweise überzogen. Viele der beklagten Wikipedia-Artikel stellen sich beim Nachschlagen dann doch als weniger schlimm heraus (einige sind aber wirklich schlimm). Und selbst in diesem Schwarzbuch sind zwei bis drei Geschichten enthalten, bei denen Wikipedia sich am Ende doch noch verbessert hat. Diverse Verschwörungstheorien, dass Wikipedia von bestimmten Interessengruppen unterwandert wäre, oder dass Wikipedia selbst eine solche Unterwanderung zulassen und fördern würde, können nur auf Einzelfälle verweisen, die z.T. von Wikipedia selbstkritisch aufgearbeitet wurden, und sind deshalb aufs Ganze gesehen nicht überzeugend. Dass es vor allem der Zeitgeist ist, der zur Einseitigkeit von Wikipedia führt, scheinen viele nicht glauben zu können. Der gesunde Menschenverstand weiß natürlich, dass es organisierte Versuche der Beeinflussung geben muss, aber die Macht über die Leitmedien scheint am Ende immer noch wichtiger zu sein als Wikipedia, weshalb sich machtvolle Einflussversuche wohl eher dort finden lassen als bei Wikipedia. Denn wenn man den Zeitgeist über die Leitmedien beeinflussen kann, hat man Wikipedia automatisch mitbeeinflusst.

Am Ende sind die Beiträger zu diesem Buch nicht besser als das Wikipedia-Meinungsmilieu, nur „andersrum“. Doch das zu begreifen, reicht ihre Intellektualität oft nicht aus.

Man sieht es an den Verbesserungsvorschlägen: Jeder Beiträger macht in kurzen Absätzen diesen oder jenen Verbesserungsvorschlag. Das ist nichts halbes und nichts ganzes. Sehr oft wird die komplette Aufhebung der Anonymität der Wikipedianer gefordert. Manche wollen zurück in die gute alte Zeit der Brockhaus-Lexika. Was aber notwendig wäre, wäre sich über die Niederungen des eigenen kleinen Meinungshorizontes zu erheben und grundsätzliche Analysen und Lösungsvorschläge zu präsentieren, die jenseits der einzelnen Meinung stehen, die Rationalität auf philosophischem Niveau diskutieren, und die die demokratische Gesellschaft als Ganzes in den Blick nehmen.

Solche grundsätzlichen Analysen und Lösungsvorschläge wären z.B.:

(x) Das Meinungsmilieu von Wikipedia singt – zurecht – das Hohelied des demokratischen Rechtsstaates, aber Wikipedia selbst entzieht sich der Regelung durch eben diesen demokratischen Rechtsstaat. Das ist ein eklatanter Selbstwiderspruch. Wikipedia muss ebenso effektiv verklagt werden können, wie jede Zeitung und jeder Verlag auch. Ob Wikipedia dazu eine Kollektivverantwortung übernimmt, oder ob zu diesem Zweck Anonymitäten einzelner Wikipedianer ganz oder teilweise aufgehoben werden, ist eine ganz andere Frage. Aber die Hoheit des Rechtsstaates ist herzustellen. Punktum. Der politische Wille aller Demokraten sollte sich dieses Ziel setzen. Es sollte auch das Ziel aller Wikipedianer sein. Alles andere wäre unglaubwürdig.

(x) Wikipedia fordert den sogenannten „neutralen“ Standpunkt. Also genau einen einzigen Standpunkt. Philosophisch betrachtet ist ein solcher für Menschen jedoch nicht zu erreichen. Wir alle nähern uns immer nur an die Wahrheit an, und zwar von verschiedenen Seiten. Und auch „die Wissenschaft“ hat gerade bei komplexen Fragestellungen keine einheitliche Meinung. Praktisch führt das dazu, dass Wikipedia-Artikel vom Standpunkt eines allwissenden, autoritären, übermenschlichen Erzählers verfasst werden, der ganz und gar nicht neutral ist, sondern der genau eine einzige Meinung als die lexikographisch geoffenbarte Wahrheit darlegt, während er alle anderen Meinungen folgerichtig entweder als Unsinn herabwürdigt oder als unwürdig ausblendet. Die Abfassung von Lexikonartikeln vom Standpunkt eines allwissenden Erzählers aus, der genau eine Meinung darlegt, hat zwar lexikographische Tradition, ist aber rational betrachtet Unsinn. Und eigentlich liegt dem Meinungsmilieu von Wikipedia doch sehr viel an Rationalität. – Besonders schön kann man diese Problematik bei der Wissenschaft sehen, die ja eben keinen „Mund der Wahrheit“ kennt, wie etwa die katholische Kirche mit Papst und Konzilien. In der Wissenschaft sind Minderheitsmeinungen nicht nur legitim sondern geradezu notwendig. Wo es zu komplexen Fragestellungen nur noch eine einzige Meinung gibt, dort ist die Wissenschaft meistens „verbogen“, z.B. durch politischen Einfluss. Wikipedia spielt sich genau als dieser „Mund der Wahrheit“ der Wissenschaft auf, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Das ist sehr unglaubwürdig. Wikipedia sollte also dringend auf einen anderen Standpunkt wechseln, der dann auch wirklich neutral ist, nämlich auf den Standpunkt eines neutralen Beschreibers der Gesamtwirklichkeit, der die ganze Wirklichkeit beschreibt, dass es also zu einem Thema zunächst unstrittige Aussagen gibt, dann eine Mehrheitsmeinung, und dann Minderheitsmeinungen. Die unstrittigen Aussagen kommen zuerst und ganz groß, dann die Mehrheitsmeinung ebenfalls groß, und schließlich Minderheitsmeinungen, nur klein und hinten. Aber sie werden eben doch dargestellt. Und zwar ohne dass sie herabgewürdigt werden. Und der Leser des Artikels bekommt nicht vorgeschrieben, was er nun glauben soll. In der Demokratie machen wir es übrigens genauso: Wer bei Wahlen unterliegt, darf trotzdem im Parlament sitzen, nur eben mit weniger Sitzen und weniger Zugang zu Geld und Mikrofonen. Alles andere wäre totalitär. Wikipedianer berufen sich gerne auf ihre Rationalität und ihre demokratische Gesinnung. Die sollten sie in dieser Frage zeigen, wenn sie es ernst meinen. Alles andere ist rational nicht darstellbar. Außen vor ist nur radikal Falsches und politischer Radikalismus.

(x) Wikipedia braucht dringend Konkurrenz, denn Wettbewerb spornt am besten zu Verbesserungen an. Eine solche Konkurrenz könnte eigentlich nur durch die weltweite Wissenschaftsgemeinde aufgebaut werden. Nur sie hat die Kompetenz und auch die Manpower. Ziel wäre ein von Fachwissenschaftlern aufgebautes, populärwissenschaftliches (nicht: wissenschaftliches!) Universallexikon, das nach Art klassischer Lexika mit namentlich verfassten und betreuten Artikeln arbeitet. Dazu müssten die Staaten der Welt ihren Wissenschaftlern Budget zu Verfügung stellen, und es müsste je Sprache ein Stab gegründet werden, der die Arbeit koordiniert. Das alte Prinzip der gedruckten Lexika würde endlich wieder eine Finanzierung haben und ins Internet gehoben werden. Damit würden sich zwei Wikipedias, die nach verschiedenen Prinzipien funktionieren, gegenüberstehen. Auf der einen Seite die Intelligenz namentlich zeichnender Wissenschaftler, auf der anderen Seite die zeitgeistige Schwarmintelligenz der anonymen Masse. Das wäre ein durchführbarer Plan, der von allen Demokraten politisch gewollt sein sollte, um die Pluralität und Qualität der zur Verfügung stehenden Information in der demokratischen Gesellschaft zu sichern und zu steigern. Also sollten auch alle Wikipedianer das wollen. Was jedoch nicht funktioniert, ist der Versuch, eine zweite Wikipedia nach gleichen oder ähnlichen Prinzipien aufzubauen.

(x) Es gibt auch rein praktische Vorschläge zur Verbesserung der real existierenden Wikipedia. Zum Beispiel bessere Anleitungen, wie man unter bestimmten Umständen vorgeht, oder Beschwerde-Buttons und -Formulare an Artikeln, um kritische Inhalte schnell und einfach melden zu können. – Insbesondere könnte eine schnellere und direkt anrufbare Schiedsgerichtsbarkeit bzw. schnell herbeirufbare Moderatoren, die sich auch wirklich als solche verstehen, sehr viel helfen. Heute läuft es ja so: Es gibt Streit im Diskussionsforum und einen Edit-War, aber lange taucht kein Admin auf, und wenn dann doch ein Admin auftaucht, ergreift er kurzerhand Partei für eine Seite, und bedroht die andere Seite mit Sperrung, wenn sie nicht still ist. Ganz schlechter Stil. Evtl. sollte Wikipedia solche Moderatoren sogar professionell anstellen. Sie sollen nur moderieren, nicht schreiben. Ebenso könnte man professionelle Schiedsrichter, die geschult sind und selbst nicht schreiben, anstellen.

(x) Wikipedia sollte sich Gedanken darüber machen, die Mitarbeiter philosophisch zu schulen, in dem Sinne, dass sie in die Lage kommen, zu erkennen, dass der Zeitgeist nur der Zeitgeist ist, um sich über den Zeitgeist erheben zu können. Und dass die Fiktion eines einzigen realisierbaren neutralen Standpunktes zutiefst irrational und unphilosophisch ist. Und dass nichtradikale Minderheitsmeinungen auch das Recht haben, dargestellt zu werden, ohne dass sie herabgewürdigt werden. Wikipedianer müssten eben weise werden. Das ist natürlich viel verlangt, aber zumindest das Ziel sollte formuliert werden, um das Problem zu kennzeichnen. Jede lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Im Idealfall würde eine Mitarbeit bei Wikipedia den Menschen demütiger und weiser machen, statt wie heute seine niederen Instinkte zu wecken.

Fazit

Bei allen Defiziten ist es trotzdem gut, dass dieses Buch erschienen ist. Es bietet zumindest eine Grundlage und einen Anfang, um sich der Probleme bewusst zu werden. Damit fängt alles an.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juni 2020)

Dennis E. Taylor: Ich bin viele (2016)

Konsequente Auserzählung einer alten Idee

Der Roman „Ich bin viele“ („We are Legion“) von Dennis E. Taylor ist die erzählerische Ausführung einer alten Idee, nämlich der Besiedelung des Weltraums nicht durch Menschen, sondern durch selbstreplizierende Maschinen mit künstlicher Intelligenz. Um genau zu sein, wird die Künstliche Intelligenz in diesem Fall auf den Gehirnscan eines echten Menschen zurückgeführt, und diesen Menschen begleiten wir von seinen letzten Lebenstagen über seinen Tod, sein Erwachen als „Replikanten“ und dem Start seiner Sonde von der Erde bis zur Besiedelung des Weltraumes.

Der Roman entfaltet das Thema in Gänze:

  • Erforschung fremder Planetensysteme.
  • Abbau von Rohstoffen und Bau weiterer Sonden mit derselben Künstlichen Intelligenz, die zu weiteren Sternensystemen aufbrechen, um dort wieder Rohstoffe abzubauen und weitere Sonden zu bauen usw.
  • Kampf mit gegnerischen Sonden, die von anderen Staaten ins Weltall geschickt wurden.
  • Entdeckung von primitiven außerirdischen Völkern, die man in der Rolle eines Gottes zur Zivilisation führt.
  • Entdeckung von entwickelten außerirdischen Völkern, die unbekannte und bedrohliche Technologien entwickelt haben.
  • Rettung der Menschheit von der Erde nach einem Atomkrieg und deren Umsiedelung in ein anderes Planetensystem.

Der besondere Charme des Buches liegt in dem Charakter des Protagonisten, Bob, der als Künstliche Intelligenz weiterlebt. Es handelt sich um einen Weltraum-Nerd mit Unternehmergeist, der jede Situation mit Optimismus und einem besonderen Humor meistert. Da jede weitere Kopie von Bob wieder Bob ist, erzählt der Roman die Geschichte aus immer mehr Perspektiven nahtlos weiter, wie wenn jede Kopie immer dieselbe Person wäre.

Bob hat sich in seinem Computer eine virtuelle Welt erschaffen, in der er wieder wie ein Mensch mit Körper und Gefühlen leben kann. Interessant auch das Zusammenspiel der verschiedenen Bobs: Obwohl sie alle Kopien voneinander sind, entwickelt jede Kopie einen anderen Charakter durch Akzentuierung bestimmter Charakterzüge. Jeder neue Bob wählt sich zudem einen charakteristischen Namen. Auf diese Weise lernt sich Bob noch einmal besser selbst kennen.

Immer wieder geht es auch um politische Spielchen und wie lästig diese sind: Seien es die politischen Querelen der verbliebenen Menschen um die besten Plätze in den Aussiedlungssonden, oder seien es die politischen Friktionen unter den Ältesten einer primitiven Zivilisation, die darüber debattieren, ob sie den Weisungen des „großen Baab“, also von Bob, folgen sollen. Es wird dabei keinerlei Verständnis für den guten Sinn von politischen Aushandlungsprozessen geweckt, sondern im Gegenteil darauf abgezielt, die angebliche Unnötigkeit und Schlechtigkeit von Politik zu „entlarven“, angesichts der praktischen Intelligenz von Bob, der am Ende immer Recht hat.

Die zur Anwendung kommende Technologie wird nur recht oberflächlich beschrieben. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Handlung, nicht auf den Hintergründen. Manche beschriebene Technologie dürfte auch utopisch sein. Aber damit wird es nicht übertrieben, so dass es hinreichend glaubwürdig bleibt.

Der Schwerpunkt auf der praktischen Handlung lässt das Buch auch philosophisch recht schwach sein. Philosophische und moralische Probleme werden zwar kurz angerissen, aber dann beiseite geschoben. So denkt Bob z.B. kurz darüber nach, ob er darüber traurig sein sollte, dass der originale Mensch Bob tot ist und er selbst nur eine Maschine, deren Künstliche Intelligenz auf dem Gehirnscan von Bob beruht. Der „Replikant“ Bob ist also gar nicht Bob. Es würde sich auch die Frage stellen, ob Bob als Maschine wirklich genauso wie der Mensch Bob funktionieren kann, und ob die Maschine Bob überhaupt einen freien Willen und ein Bewusstsein haben kann (wie sollte das technisch realisiert sein?), und nicht nur eine Simulation davon. Aber so tief denkt dieses Buch nicht, denn Bob fühlt sich pudelwohl, ist voller Tatendrang und fängt einfach an zu handeln!

An einer Stelle heißt es: „Ich bin Humanist. Ich glaube nicht an das Jenseits.“ (S. 20) Damit folgt das Buch der begrifflichen Vereinnahmung des Humanismus durch Atheismus bzw. Materialismus. Auch das ist philosophisch schwach, um nicht zu sagen: Völlig falsch.

Fazit: Gut erzählter Pageturner, gute und konsequente Ausführung der Grundidee, aber politisch und philosophisch bedauerlich flach.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig: Nie zweimal in denselben Fluss (2018)

Versuch einer sachlichen Rezension – Kein gutes Urteil

Über Björn Höcke wird viel Unsinn geschrieben. Meistens erklärt man ihn mit haltlosen Gründen zum Rechtsradikalen. So meinten anfangs manche, Höcke wäre deshalb als Rechtsradikaler erkennbar, weil er davon sprach, dass Deutschland schon 1000 Jahre alt sei und noch 1000 Jahre Bestand haben möge. Sie sahen darin eine Anspielung an das „tausendjährige Reich“. Das ist so natürlich Unsinn, denn Deutschland ist tatsächlich 1000 Jahre alt, und wenn das alles wäre, was seine Gegner gegen ihn ins Feld führen könnten, dann wäre Höcke natürlich kein Rechtsradikaler. So dachte damals auch der Autor dieser Rezension, der sich in diesem Urteil auch dadurch bestärkt sah, dass der vermeintliche Konservative Alexander Gauland Björn Höcke „meinen Freund“ nannte.

Inzwischen ist wesentlich mehr von Björn Höcke bekannt, und auch Alexander Gauland wurde als ein pseudo-konservativer Preußenfeind erkannt (siehe die Rezension zu dessen Konservativ-Buch). Es bleibt die Aufgabe, eine Rezension zu Björn Höcke zu schreiben, die versucht, ohne Zorn und Eifer herauszuarbeiten, dass es tatsächlich Probleme mit Björn Höcke gibt, und welche es sind – dennoch ist natürlich auch diese Rezension letztlich ein persönlicher Kommentar. Der Leser wird wie bei jeder Rezension sehen müssen, wo er mitgehen kann und was er davon mitnimmt.

Wo Höcke Recht hat und Sympathien sammelt

Das vorliegende Buch ist ein Marathon-Interview mit Björn Höcke, das sich entlang seiner Lebensgeschichte von Thema zu Thema hangelt, von der Kindheit und Jugend über die Zeit als Lehrer bis zum Engagement als Politiker, um schließlich mit der Frage nach Höckes Zukunftsvisionen für Deutschland und Europa zu enden.

Wie jede Biographie hat auch die Lebensgeschichte von Björn Höcke jenseits der Politik manchen sympathischen und menschlichen Zug zu bieten. Darauf werden wir hier nicht weiter eingehen, aber um das Bewusstsein nicht zu verlieren, dass hinter dem Politiker auch ein Mensch steht, lohnt sich die Lektüre. Darüber hinaus streut Höcke natürlich viel berechtigte Kritik an den etablierten Parteien und deren Politik ein. Darum soll es in dieser Rezension aber gerade nicht gehen, denn dass die etablierten Parteien der AfD viele wichtige und richtige Themen überlassen und sie auf diese Weise stark gemacht haben, ist jedem Beobachter sowieso klar. Die eigentliche Frage, um die es nur gehen kann, ist, ob Björn Höcke und seiner AfD zu trauen ist: Sind sie demokratisch oder sind sie rechtsradikal?

Höcke zeigt sich belesen und intellektuell und jongliert mit zahlreichen Namen namhafter Denker aller Couleur. Darunter sind z.B. Karl Popper (S. 57), Dietrich Bonhoeffer (S. 60, 77, 291), Theodor Fontane (S. 63), Carl Gustav Jung (S. 63), Jakob Böhme (S. 72), Schopenhauer (S. 73), Ludwig Klages (S. 77), Martin Heidegger (S. 77), Martin Luther (S. 212), Caspar David Friedrich (S. 80), Martin Buber (S. 83 ff.), Thomas Hobbes (S. 119), Georg Christoph Lichtenberg (S. 123), Ortega y Gasset (S. 148), Josef Isensee (S. 152), Macchiavelli (S. 226), Friedrich Naumann (S. 281) sowie Goethe, Schiller, Herder, Fichte, Schelling und Hegel (S. 75). Neben Klassikern ist auch vielfach von der Antike die Rede, so z.B. von Vergil (S. 62) oder von der antiken Idee, dass sich die Verfassung eines Staates in Zyklen entwickelt (S. 225). Das Wandern wird als die deutsche Form der antiken griechischen Peripatetiker bezeichnet (S. 80), und schließlich wird die Bildung als solche „klassisch“ genannt, und dass man sich für alle Sichtweisen offenhalten sollte (S. 148).

Viele Themen werden sehr „weich“ gehandhabt. Patriotismus wird z.B. als eine psychologisch notwendige Selbstbefreundung, die zudem unspektakulär sein sollte, vorgestellt (S. 121). An solchen Thesen ist nichts auszusetzen.

Erster Widerspruch: Dialog oder Durchregieren?

Generell versprüht Björn Höcke in diesem Buch viel jugendliche Lebensfreude, Optimismus und Gestaltungskraft, und immer wieder betont er – ganz wohlwollender Lehrer und Pädagoge – dass er sich mit seinen politischen Gegnern offen aussprechen möchte, um zu gemeinsamen Lösungen und zu einem Ausgleich zu kommen (z.B. S. 85, 249). Hier beeindrucken vor allem auch seine Ausführungen zum dialogischen Wesen des Menschen nach Martin Buber (S. 83 ff.). Höcke will angeblich Reformen, keine Revolution (S. 213) und gestaltet lieber, als immer nur dagegen zu sein (S. 287). Ein einzelner Führer könne die nötige Umgestaltung nicht bewerkstelligen, sondern dazu bedürfe es der Pluralität und der Abstimmung mit dem Volk (S. 286). Parteien seien ihrem Namen nach – pars – immer nur Teil, nie das Ganze (S. 149). Der nötige Neubau der Gesellschaft könne nicht von oben angeordnet werden, sondern müsse in Aussprache ermittelt werden (S. 265).

Doch hier stoßen wir zum ersten Mal auf einen unaufgelösten Widerspruch in Höckes Ausführungen. Denn während er immer wieder seinen Willen zum Dialog betont, betont Höcke gleichzeitig auch immer wieder seine Kompromisslosigkeit. Höcke träumt von einem „konsequenten Durchregieren“ (S. 234) und legt sich fest: „Ein wie auch immer geartetes Arrangement wird es mit mir nicht geben“ (S. 221). Wenn es nicht friedlich gehen wird, dann „wird ein neuer Karl Martell vonnöten sein, um Europa zu retten.“ (S. 252). Mit denen, die aus seiner Sicht das gemeinsame Haus komplett abreißen wollen, will er nicht diskutieren (S. 95). Für Höcke gehören eine „gewisse Unbedingtheit, Kühnheit und Wirklichkeitsverachtung“ dazu (S. 61). Eine Zusammenarbeit gibt es nur bei einer grundlegenden Richtungsänderung im Sinne Höckes (S. 224). Höcke kokettiert auch mit der Eigenschaft der Deutschen, Dinge ohne Rücksicht auf Verluste radikal bis zum Ende durchzuziehen (S. 258, vgl. auch S. 215), statt diesen Charakterzug zu kritisieren. Politik versteht Höcke nach dem Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt (S. 274). Nach dem gelungenen Machtwechsel will Höcke aber „Gnade“ walten lassen (S. 223): Das impliziert natürlich eine Art von Unterwerfung, denn Gnade übt man nur bei Besiegten, nicht unter gleichrangigen Partnern.

Der Widerspruch zwischen einem Regieren durch Dialog oder einem Durchregieren zieht sich durch das ganze Buch hindurch und bleibt bis zuletzt unaufgelöst bestehen.

Ebenfalls bedenklich ist die Aussage gegen eine „falsche konservative Loyalität zu Institutionen, die die Zukunft unseres Volkes gefährden“ (S. 239) als Antwort auf Bedenken, dass die AfD extremistisch sei. Hier hätte an erster Stelle ein Bekenntnis zur Erhaltung der Demokratie und ihrer grundlegenden Institutionen stehen müssen. Es mag zwar auch institutionellen Reformbedarf im Detail und in Randbereichen unserer Demokratie geben, z.B. Amtszeitbegrenzungen oder die Medienordnung, aber wo die Frage nach dem Extremismus gestellt wird, muss ein Bekenntnis zur Demokratie und ihren Kerninstitutionen an erster Stelle stehen. Und das ist hier nicht der Fall.

Moralisch bedenkliche Aussagen

Auch mit der Moral hat Björn Höcke offenbar gewisse Schwierigkeiten, wie vor allem einige Passagen auf den Seiten 254 und 255 zeigen. Dort wird eine „wohltemperierte Grausamkeit“ angekündigt, die „so human wie irgend möglich, aber auch so konsequent wie nötig“ ist. Die Regierenden, die solche Anordnungen treffen, würden laut Höcke „schwere moralische Spannungen“ auszuhalten haben, weil sie „Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“.

Hier stellt sich zunächst die Frage, wovon Höcke eigentlich konkret spricht? Denn die gesetzlich vorgeschriebene Ausweisung von Illegalen im Wege normaler polizeilicher Maßnahmen, um ein konkretes Beispiel zu nennen, mag vielleicht manchmal „hart“ sein, doch „grausam“ ist sie keinesfalls, und „Grausamkeit“ ist dazu auch gar nicht nötig. Auch „schwere moralische Spannungen“ entstehen durch solche Maßnahmen nicht. Höcke muss etwas anderes meinen, sagt aber nicht, was.

Höcke sieht offenbar einen Widerspruch zwischen Konsequenz und Humanität, sonst würde er nicht von moralischen Spannungen sprechen. Er hat also keine Vorstellung von Humanität und Moral, die auch dann noch trägt, wenn es hart auf hart kommt und Entscheidungen im Sinne eines kleineren Übels getroffen werden müssen. Denn auch die Entscheidung für ein kleineres Übel ist immer noch eine moralische Entscheidung, die moralische Grenzen kennt. Statt dessen sind für Höcke „Grausamkeiten“ gegen das „eigentliche moralische Empfinden“ denkbar. Der Terminus „Grausamkeit“ für sich allein genommen wäre vielleicht noch kein Problem, weil man auch umgangssprachlich von „Grausamkeiten“ spricht. Aber indem diese „Grausamkeiten“ als Gegensatz zu „humanem“ Vorgehen verstanden werden, sowie in Kombination mit der Aussage, dass gegen das „eigentliche moralische Empfinden“ gehandelt werden soll, kann man sich nur noch schlecht mit einer bloß sprichwörtlichen Bedeutung im übertragenen Sinn herausreden. Zumal der vorliegende Text kein spontanes Presseinterview ist, sondern ein gedrucktes Buch. Wenn das eine unglückliche Formulierung war, dann war sie sehr, sehr unglücklich.

Wie würden es Konservative sagen? Vergleichen wir anhand des konkreten Beispiels der Abschiebung Illegaler. Für Konservative bleiben Humanität und Moral immer Grundlage der Abwägung, doch Höcke sieht hier einen Gegensatz zur Humanität. Das hört sich an, wie wenn es hier zu Entgleisungen und Grenzüberschreitungen kommen würde. Und genau diese werden von Höcke ja auch explizit angedeutet, nämlich durch „Grausamkeiten“, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“. Ein Konservativer würde so etwas niemals sagen. Ein Konservativer würde von „Härte“ und „Konsequenz“ sprechen, die „moralisch geboten“ ist (und deshalb immer noch moralische Grenzen kennt), und keinesfalls von „Grausamkeiten“, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“ (so dass also keine moralischen Grenzen mehr da sind, denn die sind ja dann schon überschritten).

Höcke bestätigt diese Deutung durch eine weitere Argumentation: Denn Höcke will die Schuld für die „Grausamkeiten“, die dem moralischen Empfinden zuwiderlaufen, einfach auf andere abwälzen, nämlich auf die verfehlte Politik der Etablierten, die solche Maßnahmen notwendig werden ließen (S. 255). Doch auch das ist sichtlich nicht moralisch gedacht. Denn es ist zwar wahr, dass die verfehlte Politik die Verantwortung für die Zuspitzung der Lage trägt, und es ist wahr, dass eine zugespitzte Lage harte Maßnahmen erfordert. Doch auch in einer zugespitzten Lage bleibt die Moral in Geltung und die handelnden Personen dürfen zwar im Rahmen eines moralischen Kalküls durchaus vieles aber nicht alles tun, um die Lage zu bewältigen. „Grausamkeiten“ gegen das moralische Empfinden sind keine Option.

Zwei historische Beispiele: In der AfD wurde einmal debattiert, ob man zur Schließung von Grenzen von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfe. Weniger gebildete AfDler meinten, das sei so, auch weil man eine Grenze sonst nicht schließen könnte. Der politmediale Mainstream bestärkte diese weniger gebildeten AfDler in dieser Auffassung nach Kräften und diese fielen darauf herein. Die Pointe ist, dass der Gebrauch der Schusswaffe gar nicht nötig ist, um eine Grenze effektiv zu schließen, sofern man es nicht mit bewaffneten Banden zu tun hat! Ob Spanien, Ungarn, Mazedonien oder Griechenland: Alle sind perfekt dazu in der Lage, ihre Grenzen zu schließen, ohne dafür einen einzigen Schuss abgeben zu müssen. – Ein anderes historisches Beispiel ist der Völkermord an den Armeniern durch die Türkei im Ersten Weltkrieg. Zwar ist es richtig, dass die Armenier teilweise eine Art „inneren Feind“ innerhalb der Landesgrenzen der damaligen Türkei darstellten. Doch war ein Völkermord natürlich eine weit über jedes legitime Ziel hinausschießende Maßnahme zur Lösung des Problems.

Es gibt immer moralische Grenzen, auch in zugespitzten Situationen, und wer allen Ernstes sagt, dass er gegen das moralische Empfinden handeln will, muss sich kritische Fragen gefallen lassen. Merken wir am Rande noch kritisch an, dass Moral hier wie ein Gefühl behandelt wird. Moral ist aber mehr als nur ein Gefühl, sondern vor allem auch harte Rationalität, die man nicht einfach beiseite schieben kann. Moral ist nur für Romantiker ein Gefühl.

Politische Philosophie: Edgar Jung

Wir sahen, dass Höcke z.B. Karl Popper, Martin Buber oder die Klassiker Goethe und Schiller anführte. Doch auf die Frage, welche Denker des 20. Jahrhunderts ihn geprägt haben, nennt er diese vier Namen: Ludwig Klages, Edgar Jung, Dietrich Bonhoeffer, Martin Heidegger (S. 77). Dietrich Bonhoeffer und Ludwig Klages scheinen unproblematisch. Zu Martin Heidegger sagt Höcke nur wenig (S. 59, 77-79). Man könnte kritisieren, dass Höcke das rechtsradikale Gedankengut von Heidegger ungerechtfertigt kleinredet (S. 78). Aber dem Fass den Boden schlägt der Name Edgar Jung aus. Denn Edgar Julius Jung (1894-1934) war eindeutig ein Rechtsradikaler!

Laut Wikipedia gehörte Edgar Jung der Bewegung der „Konservativen Revolution“ an, die bekanntlich mehr revolutionär als konservativ war. Jung wirkte bei der Ermordung des Präsidenten der Autonomen Pfalz Franz Josef Heinz mit. Er traf Adolf Hitler persönlich und verhandelte über seinen Beitrtt zur NSDAP, wozu es wegen Differenzen nicht kam. Den Rassegedanken der Nationalsozialisten lehnte Edgar Jung ab, weil er auf den Gedanken des Volkstums setzte. Edgar Jung strebte die Verhängung des Ausnahmezustandes unter Einbeziehung von Hitler und Göring an, die er für weniger radikal hielt als andere NS-Größen. Edgar Jung war gegen die Demokratie, weil sie alle Stimmen gleich zählt, polemisierte gegen Juden, weil diese in seinen Augen für Aufklärung und Individualismus standen, war gegen eine bürgerliche Elite, weil er das Leistungsprinzip ablehnte, und wollte eine neue Aristokratie errichten. 1934 wurde Edgar Jung im Zuge des Röhm-Putsches von den Nationalsozialisten ermordet.

Doch der Sachverhalt bleibt in diesem Buch völlig undiskutiert! Der Name Edgar Jung wird lapidar genannt, sonst nichts. An einer anderen Stelle wird noch eine ungefährliche Binsenweisheit von Edgar Jung zitiert (S. 28). Das war’s.

So geht es nicht. Das ist hochgradig unglaubwürdig. Wenn Höcke ehrlich mit seinen Lesern hätte sein wollen, hätte er den Rechtsradikalismus von Edgar Jung zum Thema machen und sich dazu erklären müssen.

Politische Philosophie: Nietzsche und Schopenhauer

Ebenfalls zentral für Höckes Denken ist ausgerechnet Friedrich Nietzsche. Höcke berichtet, wie er im Alter von 17 Jahren Nietzsche entdecke: „Mich beeindruckte, wie Nietzsche … alles gnadenlos hinterfragte: die Moral, die Tradition, die Philosophiegeschichte. In seinem Voluntarismus fand ich meinen eigenen Tatendrang und Optimismus wieder, ebenso die Verachtung gegenüber dem Erstarrten und Verkrusteten.“ (S. 56 f.) Höcke bekennt, dass er Nietzsche lesen wird, solange er lebt (S. 73).

Doch Nietzsche ist ein gefährlicher Denker. Er reißt alles nieder, was die westliche Welt ausmacht. Auch die Vernunft. Und an die Stelle Gottes tritt der Übermensch. Auch als Atheist sollte man da Fragen haben. Nicht zuletzt lässt sich auch der aktuelle Wokismus über die französische Postmoderne bis zu Nietzsche zurückverfolgen. Auf kritische Nachfragen des Interviewers meint Höcke, dass er eben nicht nur konservativ sei (S. 58) und dass er kein „Nietzsche-Jünger“ sei, sondern lediglich gewisse geistige Impulse von Nietzsche empfangen habe (S. 74). Die Frage nach der Irrationalität Nietzsches wiegelt Höcke genauso wie beim Thema Romantik ab: Seiner Meinung nach sei Nietzsche gar nicht so irrational (S. 75).

Durch Nietzsche sei Höcke dann auf Schopenhauer gestoßen, und auch hier ging es Höcke vor allem um Widerstand gegen Autoritäten und Kritik am Establishment (S. 76). Von Schopenhauer habe Höcke auch die Mitleidsethik übernommen, sagt er. Wie der Optimismus, der ihn bei Nietzsche faszinierte, mit dem Pessimismus von Schopenhauer zusammenpasst, sagt Höcke nicht.

Politische Philosophie: Romantik

Ein weiterer weltanschaulicher Schwerpunkt Höckes ist die Romantik. Für Höcke ist sie die „fruchtbarste geistig-literarische Epoche unserer Kulturgeschichte“ (S. 156), womit er die Klassik von Goethe und Schiller auf die Plätze verweist. Höcke wendet sich gegen die Generalkritik an der Romantik, dass sie irrational sei. Für Höcke ist Romantik eine Form der Weltzugewandtheit (S. 25).

Romantik gründe auf der platonischen Erkenntnis, dass es eine Wirklichkeit hinter den Dingen gibt (S. 158). Doch Platon war einer der Begründer des Rationalismus, der die Sphäre des Mythischen, des Unbekannten, durch die Vernunft einhegen wollte, und eine klare Absage an haltlose Irrationalität und Schwärmerei formulierte. – Höcke kritisiert die Aufklärer, die bemängelten, dass Mythen nicht wahr sind: Denn darauf käme es nicht an, meint Höcke, sondern darauf, dass die Mythen Identiät stiften! Mythen müssten nur „authentisch“ sein, im Sinne von George Sorel, und das beschreibt Höcke als die Ermöglichung verschiedener Lesarten (S. 159 f.). Doch seit Platons Zeiten kommt alles darauf an, dass Mythen gut und wahr sind. Die Taten und Worte der Vergangenheit, auf die eine Gemeinschaft ihre Identität stützt, sollten real sein, nicht erfunden. Denn wer, der bei Verstand ist, sollte das dann glauben? Wer sollte es ernst nehmen? Und eine Offenheit für verschiedene Lesarten macht alles nur noch schlimmer, denn wie soll dann eine gemeinsame Identität zustande kommen?!

Höcke meint, dass die Deutschen auch als Romantiker bereits ökonomischen Erfolg gehabt hätten, ohne die Übernahme der Ideen der Angelsachsen, die er „smarte Praktikusse“ nennt (S. 157). Doch das ist sehr fraglich, denn vor der Romantik kam bekanntlich die Klassik mit Goethe und Schiller, und auch die Aufklärung mit Friedrich dem Großen und Immanuel Kant. Preußen wurde durch seine Rationalität bekannt und erfolgreich, nicht durch seine Romantik. Das gilt auch für die Ökonomie. Außerdem stand Preußen damals mit England im Bunde. Schließlich hat Höcke beobachtet, dass auch die Naturwissenschaften sich von einem rein materialistischen Weltbild abwenden und zur Verzauberung der Welt zurückkehren (S. 162 f.). Das ist nicht falsch, doch findet diese „Verzauberung“ natürlich unter den strengen Auspizien der Rationalität statt.

Gegen Romantik wäre nichts einzuwenden, wenn sie unter der klaren Prämisse der Rationalität stünde. Klassik geht vor Romantik. Dann wäre die Gefährlichkeit der Irrationalität gebändigt. Doch genau diese Einhegung der Romantik findet sich bei Höcke nicht.

Politische Philosophie: Antimodernismus

Für Höcke ist der Inbegriff der Moderne die Entstrukturierung, die totale Auflösung von allem, bis hin zur Auflösung von Nationen und Geschlechtern. Die Moderne ist für ihn die Verfallsform der Neuzeit (S. 261-263). Deshalb will er die Moderne beseitigen und eine Nach-Moderne anstreben (S. 258). Er möchte von der Dekomposition zur Re-Komposition kommen (S. 264).

Die Kritik an der völligen Auflösung aller Strukturen in Ehren, aber ist die Zuschreibung der Verantwortung für diese Auflösung ausgerechnet an die Moderne wirklich berechtigt? Die Moderne als Verfallsform der Neuzeit beginnt für Höcke anscheinend mit der Aufklärung und ihrer analytischen Rationalität. Diese Analytik sieht er vermutlich als „auflösend“. So genau sagt er das nicht.

Aber ist es wirklich so, dass der Aufklärung der Drang zur Auflösung aller Strukturen innewohnt? Ist es aufgeklärt und rational, nützliche und sinnvolle und begründbare Gegebenheiten wie Nationen oder Geschlechter aufzulösen? Ist es nicht vielmehr anti-rational und unaufgeklärt? Steckt dahinter nicht etwa die Moderne, sondern vielmehr der sogenannte Postmodernismus und Wokismus? Diese Ideologien formulieren eine Absage an die Vernunft. Für diese Ideologien ist die Rationalität eine koloniale, „weiße“ Beherrschungsstrategie. Dahinter steckt Nietzsche und dessen irrationale Ablehnung von allem, was wahr, gut und schön ist. Jener Nietzsche, von dem Höcke so fasziniert ist.

Und wie will Höcke etwas re-komponieren, wenn nicht mithilfe der Vernunft? Ist es nicht die Vernunft, mit deren Hilfe wir die Welt ordnen? Ist nicht z.B. der Nationalstaat bereits eine Art von Re-komposition der voraufgeklärten Wirklichkeit, die wir der Aufklärung verdanken, also der Moderne?

Politische Philosophie: Nur ein Humanismus des Gefühls?

Höcke schreibt sich selbst eine humanistische Gesinnung zu: „In der irdischen Welt sind Licht und Schatten wild miteinander verwirbelt. Durch alles – also auch durch uns selbst – geht ein ‚tragischer Riss‘. … … … Aus dem Wissen und dem Gefühl über dieses gemeinsame Schicksal speist sich mein tief verankerter Humanismus. Diese Einheit des Menschseins in Anbetracht der inneren Wunde ist elementar.“ (S. 62 f.)

Doch Höcke definiert seinen Humanismus nur vom Gefühl her. Wie wir oben sahen, geht es Höcke um das menschliche Leiden (Schopenhauer) und um moralisches Empfinden (wohltemperierte Grausamkeiten), aber es geht immer nur um Gefühl. Rationalität hingegen findet in Höckes Humanismus eher keine Erwähnung und spielt eine sichtlich zurückgesetzte Rolle. Höcke schwärmt für die Romantik und für Nietzsche, während Klassik und Aufklärung ganz offensichtlich nicht so sehr sein Ding sind. Die Moderne gilt ihm gar als Verfallserscheinung. Platon deutet Höcke nicht als Rationalisten, und ob Mythen auch wahr sind, ist für Höcke nicht entscheidend. An einer Stelle spricht Höcke sogar von „Wirklichkeitsverachtung“ (S. 61).

Ein klassischer Humanist würde das nicht tun, denn ohne Rationalität geht es nicht. Auch wenn Höcke durch name-dropping wiederholt in Richtung Klassik und Vernunft „blinkt“, biegt er doch sichtlich in die andere Richtung ab.

Einzelthemen: Staatsbegriff

Höcke strebt einen Staat in „neuzeitlich-klassischer Form“ an. Es ist „das von uns präferierte Modell eines erneuerten Nationalstaates – von dessen klassischen Modell des 19. Jahrhunderts sicher einiger Ballast abgeworfen werden muss“ (S. 269 f.). Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts ist also nicht (!) das Modell, sondern Höcke geht weiter zurück in der Geschichte. Das entspricht auch seiner Gegnerschaft zur Moderne, die er als Verfallsform der Neuzeit deutet. Die Staaten der Neuzeit waren die ständisch und absolutistisch verfassten Staaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Es bleibt etwas nebulös, wie sich Höcke einen solchen Staat konkret vorstellt.

Jedenfalls möchte Höcke, dass der Staat „bändigend, ordnend und gestaltend“ wirkt; er will also eine „politisch gesteuerte Nationalökonomie“ und einen „starken Staat“, um die „zerstörerischen Kräfte der Emanzipation in produktive Bahnen zu lenken“ (S. 259-261). – An anderer Stelle meint Höcke, dass der Staat sich auf die Grundlinien der Politik beschränken sollte, und dass Staat und bürgerliche Gesellschaft getrennt sein sollten (S. 272). Auch gehört zu seinem Bild des neuzeitlichen Staates die Entfesselung von Wissenschaften, Technik, Ökonomie und Kultur (S. 259).

Es bleibt unklar, wie diese beiden Ideale von Staat miteinander vereinbar sein sollen, die sich gegenseitig widersprechen: Auf der einen Seite ein steuernder und starker Staat, auf der anderen Seite ein beschränkter Staat, der Freiheit entfesselt.

Einzelthemen: Volkskirche

Höcke möchte eine „neue Volkskirche, die wie das alte Gotteshaus im Dorf in der Mitte der Gemeinschaft steht.“ (S. 268) Diese Volkskirche „müsste die tradierte Volksfrömmigkeit, die sich bis heute in verschiedensten Bräuchen und Ritualen erhalten hat, mit der idealistisch-romantischen Vorstellung einer beseelten Natur und dem ursprünglichen spirituellen Impuls des Christentums verbinden – ohne gleichzeitig im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu geraten.“ (S. 268). Die neue Volkskirche müsste „mit Schopenhauer den allegorischen Charakter der hergebrachten Religion“ akzeptieren und sollte sich ausschließlich auf das Seelenheil konzentrieren, also klar aus der Politik heraushalten (S. 268).

Diese Ideen sind hochproblematisch. Zunächst dürfte es schwierig sein, in einer halbwegs freien Gesellschaft eine gemeinsame Volkskirche aufzubauen, in der alle Mitglied sind. Egal wie attraktiv die Lehre dieser Volkskirche auch sein mag, eine solche religiöse Einheit dürfte freiheitlich kaum herstellbar sein. Das nächste Problem ist der vorgeschlagene Synkretismus: Eine Totgeburt! Denn wer soll eine solche Konstruktion religiös glauben? Höcke meint offenbar, dass der allegorische Charakter genüge, ganz im Sinne seines Glaubens, dass es bei Mythen egal sei, ob sie wahr sind (s.o.). Aber so funktioniert Religion nicht. Religionen wurden zwar schon immer politisch verbogen, aber immer nur graduell und ausgehend von einem bereits vorhandenen Glauben. Die Vorstellung, dass Politik Religion beliebig konstruieren könnte, ist grundfalsch. Es ist nicht ohne Ironie, dass Höcke hinzufügt, dass man „immer die conditio humana im Auge behalten“ müsse, „die sich nicht endlos ohne böse Folgen verbiegen lässt.“ (S. 269) Ohne eine solche Verbiegung wird eine solche Volkskirche nicht möglich sein.

Übrigens führt auch dieser Gedanke einer Volkskirche ideengeschichtlich hinter die Aufklärung zurück, ganz im Sinne von Höckes Deutung von der Moderne als einer Verfallserscheinung der Neuzeit. Für die Staaten der Neuzeit galt „cuius regio eius religio“, d.h. es gab eine einheitliche Religion im ganzen Staatsgebiet. Wer andersgläubig war, musste auswandern, wie z.B. die französischen Hugenotten oder die Salzburger Protestanten.

In einem Punkt hat Höcke allerdings Recht: Ein Gemeinwesen kann sich nicht in Materialismus erschöpfen (S. 162). Der Mensch braucht eine sinnstiftende Weltanschauung. Und eine Gemeinschaft benötigt eine „große Erzählung“, sie benötigt Symbole, Rituale und Mythen. Die Lösung kann aber nicht in einer Volkskirche bestehen, sondern müsste einerseits pluraler ansetzen, andererseits partielle Gemeinsamkeiten suchen.

Die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen ist nicht hintergehbar. Man müsste allerdings damit aufhören, nur ganz bestimmte Anschauungen zu fördern, andere aber zu vernachlässigen. Das würde schon viel helfen. Die Gemeinsamkeit liegt ebenfalls auf der Hand: Sie liegt im Humanismus, den es in allen großen Religionen und Weltanschauungen bereits gibt. Die große Forderung müsste deshalb sein, dass sich alle Religionen und Weltanschauungen darum bemühen, ihre Lehre nach humanistischen Maßstäben zu entfalten, d.h. mit Rationalität und Mitgefühl. Entscheidend ist nicht, welche Religion oder Weltanschauung es ist, sondern entscheidend ist die humanistische Perspektive. Fanatismus jeder Art, ob religiös oder atheistisch, muss hingegen geächtet werden. Der Staat wiederum sollte seine Geschichte und seine Verfassung symbolisch und mythisch zelebrieren. Stichwort Zivilreligion. Natürlich nur mit Mythen, die gut und wahr sind. Unsere Geschichte ist voll davon.

Einzelthemen: Frauen

Es ist in Ordnung, konservative Lebensentwürfe von Frauen und das Familienleben wieder aufzuwerten, aber Björn Höcke bleibt dabei in gewissen Klischees stecken (S. 112-117). Es ist in Ordnung, Männern „Wehrhaftigkeit, Weisheit und Führung“ und Frauen „Intuition, Sanftmut und Hingabe“ zuzuschreiben, aber für sich allein klingt das einfach zu holzschnittartig (S. 115). Das Thema endet mit dem Zitat „Die Frau ist stärker als der Mann, wenn sie einen hat.“ (S. 117)

Das ist für einen modernen Konservativismus einfach zu wenig. Höcke befürwortet Emanzipation dort, wo sie „sinnvoll“ ist, was sich nach einer Einschränkung anhört (S. 113). Wenn es ein Islamist wäre, den man so über Frauen reden hören würde, würden sämtliche Alarmglocken schrillen.

Einzelthemen: Islam

Zum Islam nennt Höcke die Islam-Broschüre von Dr. Michael Henkel, die Höckes Thüringer AfD-Fraktion im Jahr 2016 herausgab (S. 174). Die darin enthaltenen Grundthesen werden auch hier von Höcke wiedergegeben: Höcke wendet sich gegen eine „Verwestlichung“ des Islam, sondern vielmehr müsse man das Andersartige achten (S. 196). Die Lösung für die Probleme mit dem Islam in Europa ist für Höcke ganz einfach: „Wir können uns also im Grunde die ganze Islam-Debatte sparen: Hätten wir nicht die Massen an Orientalen und Muslimen in Europa und Deutschland, hätten wir auch kein elementares Problem mit dem Islam.“ (S. 197 f.)

Diese Einstellung ist natürlich in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig. Zunächst entspricht diese Haltung dem bekannten Satz des Methusalix aus dem Asterix-Band XXI (Geschenk des Caesars, S. 17): „Nein! Mich stören Fremde nicht, solange sie bleiben wo sie hingehören.“ Diese Einstellung ist dann doch etwas zu plump. Und sie löst auch unsere Probleme nicht. Oder will Höcke etwa ausnahmslos alle Muslime, also auch die Muslime aus der Generation der Gastarbeiter, wieder wegschicken? Höcke will nach eigener Auskunft die Remigration von nicht integrierbaren Migranten (S. 284). Doch je länger die Einwanderung dieser Migranten zurückliegt, desto unglaubwürdiger und schwieriger wird eine Remigration zu bewerkstelligen sein.

Indem Höcke den Islam überhaupt nicht kritisieren sondern sogar „achten“ will, solange er uns fern bleibt, verrät Höcke auch unsere westlichen Werte – oder verrät er unfreiwillig etwas über seine wahren Werte? Jedenfalls enthält der unreformierte Islam in seiner traditionalistischen Form Elemente, die von uns unmöglich geachtet werden können, sondern deutlich kritisiert werden müssen! Jemand, der das unkritisiert lässt, muss sich fragen lassen, wo er selbst steht.

Unsere westlichen Werte sind nämlich nicht nur für den Westen gut, sondern sie sind für alle Menschen gut. Davon sind wir überzeugt, sonst hätten wir diese Werte nicht. Westliche Werte sind keine westliche Folklore, die nur im Westen ihren Platz hätten. Und es geht auch nicht um den Wokismus. Woke Werte sind nicht die westlichen Werte, von denen hier die Rede ist. Ein erfolgreich reformierter Islam wäre in großen Teilen gewiss immer noch so konservativ wie die katholische Kirche.

Mehr noch: Auch das Christentum ist erst durch Reformen „genießbar“ geworden. Es begann mit der Wiederentdeckung der antiken Philosophen und der Erkenntnis, dass Vernunft und Glaube nicht im Widerspruch zueinander stehen können. Früher wurden Hexen und Ketzer einfach verbrannt, das Gottesgnadentum der Könige war kirchlich legitimiert, und natürlich wurde auch die Bibel wesentlich wörtlicher genommen als das heute der Fall ist, bis hin zum Abhacken der Hände von Dieben. Heute bedeckt keine christliche Frau mehr ihr Haupt, obwohl es im Neuen Testament so geboten wird. Die historisch-kritische Lesart überlieferter Texte, auch religiöser Texte, ist ein großer Fortschritt in der richtigen Welterkenntnis und eine zentrale Errungenschaft unserer westlichen Zivilisation. Diesen ganzen Reformprozess verleugnet Höcke implizit durch seine Einstellung zum Islam. Warum sollte man Reformen in der christlichen Welt als große Errungenschaft und unbedingte Notwendigkeit begrüßen, in der islamischen Welt aber mittelalterliche Verhältnisse „achten“, ohne den geringsten Versuch, etwas daran zu verbessern? Das passt logisch nicht zusammen.

Mit der These, dass der Islam zu „achten“ ist, wie er ist, also in seiner aktuell vorherrschenden traditionalistischen und islamistischen Form, ist die AfD keine islamfeindliche Partei mehr, ja sie ist noch nicht einmal mehr eine islamkritische Partei. Im Gegenteil. Mit dieser Grundeinstellung stehen alle Türen für eine Zusammenarbeit der AfD mit Traditionalisten und Islamisten offen! Und mehr noch: Die AfD hält auch nichts von der Unterstützung von Islamreformern, weil sie ja von Islamreformen generell nichts hält („Verwestlichung“). Dabei müsste das doch die klare Entscheidung auf der Grundlage unserer westlichen Werte sein, auch in unserem eigenen, langfristigen Interesse: Der islamischen Welt dabei zu helfen, dieselben Reformprozesse zu durchlaufen, die auch die christliche Welt durchlaufen hat. Genau wie beim Christentum auch, sind die Grundlagen dafür in den islamischen Traditionen selbst zu finden. Im Mittelalter war die islamische Welt sogar zeitweise fortschrittlicher als die christliche Welt.

Natürlich sollte man sich von Islamreformen keine Wunder erwarten. Aber es gibt nicht den geringsten Grund, diesen wichtigen Baustein im Umgang mit dem Islam zu vernachlässigen. Auch und gerade, um uns selbst treu zu bleiben.

(PS 25. April 2024: Der Co-Autor dieses Buches, Sebastian Hennig, konvertierte selbst im Jahr 1990 zum Islam. Er sieht den Islam in Opposition zur rationalen Moderne.)

Einzelthemen: Ökonomisch links

Höcke propagiert bekanntlich einen „Sozialpatriotismus“. In diesem Buch präsentiert sich Höcke als „Antikapitalist“ (S. 250 ff.). Über die Marktwirtschaft spricht er ungefähr so wie Sarah Wagenknecht: Zwar hätte er nichts gegen die Marktwirtschaft, aber dann wird doch deutlich, dass es um einen sehr stark steuernden Staat geht. Davon sprach er ja auch bei seinem Staatsverständnis (s.o.). Höcke erstrebt eine post-kapitalistische Wirtschaftsordnung, „ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen.“ (S. 265 f.) Dem Leser drängt sich hier der Gedanke an einen Sozialismus „neuer Machart“ auf.

Höcke erzählt auch, wie er als Jura-Student in Bonn in einschlägige Kneipen ging, um mit Linksradikalen zu diskutieren (S. 144). Der Lebensabschnitt von Höckes Jura-Studium bleibt im ganzen Buch seltsam blass. Sollte Höcke als junger Mensch etwa eine „linke“ Phase gehabt haben? Doch das ist Spekulation.

Einzelthemen: Antiamerikanismus

In zahlreichen Äußerungen Höckes wird deutlich, dass er von den USA nicht viel hält und sich politisch von ihnen absetzen möchte. So spricht er z.B. vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ (S. 39), was zumindest sehr einseitig ist. Oder dass die Alliierten Deutschland 1945 angeblich als Völkerrechtssubjekt hätten ausschalten wollen und nur wegen des Kalten Krieges nicht dazu kamen (S. 65), was einfach falsch ist, und zwar gerade was die gutmütigen und optimistischen Amerikaner anbelangt. Laut Höcke hätte US-Präsident Roosevelt gesagt, dass man „gegen die Deutschen an sich“ kämpfe (S. 216). Ein entsprechendes Zitat war nicht zu finden. Eine solche Aussage wäre im Kontext der Emotionalisierung des Weltkrieges auch nicht allzu verwunderlich. Die USA haben jedenfalls nicht in diesem Sinne gehandelt. Schließlich spricht Höcke auch noch von dem „alten Wirtschaftskrieg der Seemächte Großbritannien und USA gegen den Kontinent im 20. Jahrhundert“ (S. 279) Der Satz wäre vielleicht noch verständlich, wenn es nur um den Ersten Weltkrieg ginge. Aber der Bezugsrahmen ist das 20. Jahrhundert. Damit wird auch der Zweite Weltkrieg als Wirtschaftskrieg gedeutet. Das will doch etwas gewagt erscheinen.

Höcke hält die deutsche Bundeswehr für völlig fremdbestimmt, sie sei nie eine genuin deutsche Armee gewesen (S. 53). Wie es dann möglich ist, dass diese Bundeswehr durch einsame Entscheidungen von Kanzlerin Merkel gegen den Willen der Amerikaner heruntergewirtschaftet wurde, sagt Höcke nicht. Und dass ein Mangel an deutschem Selbstbewusstsein spätestens nach Ende des Kalten Krieges keine Fremdbestimmung mehr war, sondern selbstverschuldet, fällt bei dieser Analyse auch unter den Tisch.

Höcke wettert gegen die amerikanischen Neocons und deren angebliche Destabilisierungspolitik, und spricht von einer „bewusst geförderten muslimischen Masseneinwanderung nach Europa“ (S. 195). Diese Analyse will doch recht undifferenziert erscheinen: War das Ziel der Neocons wirklich die Destabilisierung? Wenn überhaupt, dann war es ein ungewollter Effekt. Sind alle Amerikaner Neocons? Wohl kaum. Hat z.B. Obama stabilisierend gewirkt, als er den Bürgerkrieg in Syrien anheizte und die Truppen aus dem Irak abzog? Eher nicht. Aber Obama war kein Neocon, und das ist der Punkt. Und waren es nicht Tsipras und Merkel, die 2015 die Migranten nach Europa und Deutschland hereinließen? Oh doch! Und war es nicht Hillary Clinton, eine amerikanische Spitzenpolitikerin, die meinte, die Deutschen sollten die massenhafte Aufnahme von Migranten besser wieder beenden, doch Merkel hörte nicht auf sie? Die Amerikaner schauen genauso staunend auf die „verrückten Deutschen“ wie alle anderen auch. Höcke hat damit eine völlig falsche Analyse der Wirklichkeit. Höcke will jedenfalls keine „Nibelungentreue zur US-geführten NATO“ (S. 279). Schließlich träumt Höcke vom Rückzug der Amerikaner aus Europa (S. 54).

Paradox, dass in diesem Buch auch erwähnt wird, dass die CIA schon 2008 vor diversen Szenarien warnte, die Höcke heute beklagt (S. 204). Wie ist das möglich, wo doch die USA an allem schuld sein sollen? Und selbst Höcke muss einräumen, dass die USA mit Donald Trump sogar einen Präsidenten hatten, der sich gegen manche zeitgeistige Verirrung wandte (S. 207).

Die Frage, wie es möglich sein soll, dass das kleine Deutschland sich in einer Welt von Großmächten souverän behauptet, ohne vereinnahmt zu werden, beantwortet Höcke an keiner Stelle. Die Idee, dass Deutschland sich einer der Großmächte anschließen muss, und dass die USA trotz allem die beste Wahl für einen Hegemon sind, bleibt undiskutiert.

Einzelthemen: Pro Russland und Islamische Welt

Höcke möchte zu einem „dauerhaften Ausgleich mit Russland“ kommen, weil es „einen dauerhaften Frieden in Europa niemals gegen Russland, sondern nur mit Russland geben kann.“ (S. 281) Wie das mit dem Kalten Krieg und der Notwendigkeit, die Freiheit gegen Russland zu verteidigen, zusammenpasst, sagt Höcke nicht. Auch nichts dazu, dass Russland keinen „Ausgleich“ will, sondern Herrschaft, und dass man diesem Bestreben etwas entgegensetzen muss.

An einer Stelle hört es sich sogar so an, als ob Höcke bereits 1945 ein Zusammengehen mit der Sowjetunion gegen die USA befürwortet hätte: „Ein Zusammengehen mit der Sowjetmacht war nach den schrecklichen Begleiterscheinungen des russischen Einmarsches in Ostdeutschland im Volk nicht vermittelbar.“ (S. 38) Ein seltsamer Satz, denn es hört sich tatsächlich so an, als würde sich Höcke wünschen, dass ganz Deutschland zu einer Groß-DDR unter der Führung der Sowjetunion geworden wäre. Man beachte auch, dass die schrecklichen Verbrechen der russischen Armee an der deutschen Zivilbevölkerung als „Begleiterscheinungen“ verharmlost werden, während Höcke gleichzeitig vollmundig vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ (S. 39) spricht.

Höcke träumt von geopolitischen Großräumen, in denen „raumfremde“ Mächte ein Eingriffsverbot haben (S. 283). Hier übersieht Höcke, dass Verbote nicht helfen. Mächte setzen sich durch, oder eben nicht. Auf „Raumfremdheit“ wird dabei leider keine Rücksicht genommen. Nicht Räume sondern Mächte bestimmen, was geschieht, und Deutschland ist ohne die Hilfe der USA an Russland ausgeliefert. Paradoxerweise erwähnt Höcke die Kooperation der osteuropäischen Visegrad-Staaten als Beispiel für die Durchsetzung nationaler Interessen (S. 283). Dass aber die osteuropäischen Staaten aus Angst vor Russland sehr an dem Bündnis mit den USA interessiert sind, sagt Höcke nicht.

Aber auch zur Türkei will sich Höcke in ein gutes Verhältnis setzen, denn sowohl mit Russland als auch mit der Türkei würden wir auf einem Doppelkontinent zusammenleben (S. 279). Mit der islamischen Welt strebt Höcke nach einem „modus vivendi, aber die intransigente Außenpolitik der USA, an die wir sklavisch gekettet zu sein scheinen, verhindert das.“ (S. 194) Höcke sieht eine „Anti-Islam-Koalition“, aus der er gern aussteigen würde (S. 195).

Einzelthemen: Der große Plan der Eliten?

Es ist sicher richtig, dass es einen Zeitgeist gibt, der in bestimmten Milieus besonders wirkt und auch von einem Teil der weltweiten Eliten geteilt und vorangetrieben wird. Ob Klima, Massenmigration, Wokismus oder Transhumanismus. Aber bei Höcke bekommt diese Analyse einen verschwörungstheoretischen Drive. Bei Höcke ist es kein Zeitgeist, sondern ein geheimer Plan, es sind nicht bestimmte Milieus und Teile der Eliten, sondern es ist „die“ Elite, und manche spontane Entscheidung wird zur lange geplanten Absicht umgedeutet.

Höcke sieht eine „geschlossene transatlantische Politelite“ (S. 201), wobei die politische Klasse als „Dienstklasse“ der wahren Eliten dahinter anzusehen ist (S. 206). Diese Politelite habe ein „hartes politisches Programm“, nämlich „die Entnationalisierung der europäischen Völker und die Umwandlung der bisherigen Nationalstaaten in multi-ethnische Gebilde“ (S. 201). Die Politik der Masseneinwanderung sei gezielt gewollt, es gehe um die Minorisierung der autochthonen Völker (S. 185, 187). Die Ereignisse des Jahres 2015 wären nicht geplant gewesen, aber die Eliten hätten die Gunst der Stunde genutzt (S. 206), um ihre Pläne durchzusetzen. Die Globalisten wollten eine Art „ethnische Säuberung“, nämlich den reinen Menschen ohne nationale Identität und ohne Tradition (S. 203).

Höcke spricht nicht davon, dass im Zuge der Euro-Krise 2015 der linksradikale Tsipras an die Regierung in Griechenland kam und daraufhin die EU-Außengrenzen rigoros öffnete, die bis dahin von den griechischen Grenzschützern gut bewacht worden waren. Das ist der wahre Hintergrund von 2015. Aber Tsipras besuchte kurz vorher noch Putin und das möchte Höcke wohl eher ungern diskutieren. – Zwei Beispiele von Aussagen der UN, die Höcke als Beleg für seine Thesen anführt (S. 205, 222), belegen eher etwas anderes: Nämlich dass die Eliten unglaublich naiv sind bezüglich der Integrationsfähigkeit von massenhaft ins Land kommender Zuwanderer.

Diese unglaubliche Naivität und Weltfremdheit von Teilen der Elite, sowie das Konglomerat an sekundären Interessen vieler Nutznießer des Systems, die den Zirkus trotz seiner Sinnlosigkeit am Laufen halten, hätte Höcke analysieren müssen, um zum wahren Kern der Probleme vorzustoßen. Eine Verschwörung von Eliten ist maximal die halbe Wahrheit.

Einzelthemen: Völkisches Denken? Biologismus?

Auf die heikle Frage, wie Höcke „Volk“ versteht, werden einige Seiten des Interviews verwendet (S. 126-134). Höcke versteht ein Volk im wesentlichen kulturell und wendet sich gegen einen „biologischen Reduktionismus“, doch Abstammung sei nun einmal eine biologische Tatsache, die weitgehend innerhalb einer Gruppe geschehe (S. 128). Ein Volk sei aber nicht nur Verwandtschaft (S. 132). Biologistisches Denken gäbe es gerade bei Deutschlandhassern (S. 131).

Soweit hört sich das gut an, doch es ist nicht gut genug. Denn gegen einen biologischen „Reduktionismus“ zu sein heißt nicht, das Biologische für irrelevant zu erklären; erst recht nicht, wenn man gleich hinterherschiebt, dass Abstammung eine Tatsache sei und Gruppen sich angeblich so gut wie nicht mischen würden – was vielleicht so sein mag, doch mit Biologie kann und darf nationale und kulturelle Identität nichts zu tun haben! Auch der Satz, dass ein Volk „nicht nur“ Verwandtschaft sei, betont die Verwandtschaft doch immer noch sehr.

Man hätte sich einen klaren Satz gewünscht, dass allein die Kultur zählt, und die Biologie im Grunde völlig irrelevant ist, jedenfalls für die nationale Identität (für die Vererbung von Intelligenz mag sie eine gewisse Rolle spielen: Ein Thema, das Höcke interessanterweise nirgends anschlägt). Man hätte sich einen Satz gewünscht, dass z.B. ein asiatisches oder schwarzes Waisenkind, das von einer deutschen Familie adoptiert und erzogen wurde, allein aufgrund seiner kulturellen Assimilation vollkommen deutsch ist, ohne wenn und aber und radikal unabhängig von der Biologie. Doch ein Satz in dieser Klarheit fehlt.

Statt dessen finden sich einige Aussagen, die begründet vermuten lassen, dass Höcke der Biologie doch eine größere Rolle bei der Identität von Menschen zuschreibt. Von den USA sagt Höcke, dass sich die Weißen und die Schwarzen vor ihrer Einwanderung nach Amerika „aus mehreren hochdifferenzierten Völkern mit eigenen Identitäten zusammen“ setzten, doch „jetzt sind sie in einer Masse aufgegangen. Diesen Abstieg sollten wir als Europäer vermeiden und die Völker bewahren.“ (S. 133) Hier ignoriert Höcke völlig, dass die Amerikaner in den USA zu einer neuen Nation zusammengewachsen sind, mit eigenen Mythen und eigener Identität, die unseren europäischen Nationen in nichts nachsteht. Und Höcke ignoriert, dass die spezifischen Probleme mit den Schwarzen in den USA natürlich darauf zurückzuführen sind, dass diese erst einmal als Sklaven nach Amerika geholt wurden. Doch Höcke sieht die Vermischung von Menschen verschiedener Herkünfte zu einer neuen Nation anscheinend als ein grundsätzliches Problem und als eine Ursache für „Abstieg“ an. Höcke spricht von „Masse“. Doch sind die USA abgestiegen und identitätslos vermasst? Nein, denn es ist eine der reichsten und mächtigsten Nationen auf Erden, und sie hat nicht weniger Selbstbewusstsein als irgendeine andere Nation!

Höcke meint auch, dass bei einem Versuch, Trumps Veränderungen wieder zurückzudrehen, „ein Aufstand der weißen Arbeiterklasse“ drohe (S. 209). Da fragt man sich: Warum ausgerechnet der „weißen“ Arbeiterklasse? Die US-Republikaner sind jedenfalls immer sehr stolz darauf, dass Trump gerade auch bei den Schwarzen und Latinos der Arbeiterklasse gute Wahlergebnisse erzielt hat, weil es Trump gelungen wäre, das Narrativ der Demokraten zu durchbrechen, dass es Rassenprobleme gäbe, wo es in Wahrheit doch vor allem soziale Probleme seien. Höcke scheint das anders zu sehen.

Schließlich präsentiert Höcke für den Fall eines siegreichen Multikulturalismus die Dystopie des Rückzugs der Deutschen in „gallische Dörfer“ auf dem Land, wo sie gewissermaßen überwintern und eines Tages von dort aus die „Rückeroberung“ starten (S. 253). Das Problem, das hier deutlich wird, ist die völlig Ablehnung jeder kulturellen Veränderung durch Vermischung.

Natürlich bringt der ungesteuerte und ideologisch verblendete Multikulturalismus einen Niedergang der gewachsenen deutschen Kultur mit sich, der ungerecht und schlimm für alle ist, auch für die Zuwanderer. Es ist ja gerade nicht wie in Amerika, wo die Menschen verschiedener Herkünfte eine neue gemeinsame Zukunft, eine neue gemeinsame Nation errichteten, sondern Multikulti heißt, dass jeder seiner Herkunft verhaftet bleibt und unverbundene Parallelgesellschaften entstehen. Ein Land wie Syrien oder der Balkan würde das Ergebnis sein, wo verschiedene Religions- und Volksgruppen sich dermaßen misstrauen, übervorteilen und ja: auch bekämpfen, dass der Gemeinsinn darüber verloren geht. Deshalb muss der Untergang einer gemeinsamen und organisch fortentwickelten, deutschen Kultur zum Wohle aller verhindert werden. Im Idealfall würde die deutsche Kultur durch Zuwanderung so bereichert werden, wie einst Preußen durch die zugewanderten Hugenotten. Das wäre ein lohnendes, gemeinsames Zielbild für Deutsche und Zuwanderer. Dazu müssten sich aber auch die Deutschen ein wenig konstruktiv einbringen. Davon ist bei Höcke aber absolut nichts zu sehen.

Doch auch im Falle von Höckes Dystopie, dass der Multikulturalismus die deutsche Kulturnation zerstören wird, liegt Höcke falsch: Denn irgendwann, nach langen und schlimmen Turbulenzen, werden sich die Bewohner dieses Landes zeitlich und kulturell so weit von ihren Wurzeln entfernt haben, dass sie zu einer neuen Nation, vielleicht auch mehreren neuen Nationen, verschmelzen können. Das wird dann keine deutsche Nation mehr sein, und es mag Jahrhunderte dauern und viele leidvolle Umwälzungen über die Menschen bringen, aber es wird wieder eine Nation sein. Die Geschichte bleibt nicht stehen. Wenn die deutsche Kulturnation tatsächlich verloren sein wird, wird diese Vision die nächstbeste Perspektive sein. Doch ausgerechnet Höcke, der sich immer so gerne konstruktiv einbringen möchte, will sich nicht konstruktiv in diese neu entstehende Nation einbringen, sondern er will sich trotzig in „gallische Dörfer“ auf dem Land zurückziehen, von wo nach Jahrhunderten unvermischte Deutsche zu einer „Rückeroberung“ aufbrechen sollen. Das ist schon ein ziemliches groteskes Bild. In der Praxis würde es wohl darauf hinauslaufen, dass diese zurückgezogenen Deutschen die ewigen Hinterwäldler bleiben und irgendwann aussterben.

Die Geschichte ist kein Wunschkonzert und sollte uns lehren, wie wertvoll die Kultur ist, die wir haben. Sie ist viel leichter zerstört als wieder aufgebaut. Angesichts des Wahnsinns in der Welt ist es überhaupt ein Wunder, wie die westlichen Nationen mit ihren humanistisch entwickelten Nationalkulturen, mit Rationalität, Wissenschaft, Demokratie und Marktwirtschaft, entstehen konnten.

Einzelthemen: Nationalsozialismus

Wir sahen bereits oben, dass sich Höcke Edgar Jung sehr verbunden sieht (S. 77), einem Denker der „Konservativen Revolution“, der mit Hitler über seinen Beitritt zur NSDAP verhandelte. Anders als die Nationalsozialisten lehnte Jung den Rassegedanken ab, weil er auf den Gedanken des Volkstums setzte. Er war zudem undemokratisch und antisemitisch. Man mag Edgar Jung mit einiger Spitzfindigkeit nicht für einen Nationalsozialisten halten, ein Rechtsradikaler war er jedoch in jedem Fall. Wie gesagt, unterbleibt eine genau Diskussion des Verhältnisses von Höcke zu Jung.

Das ganze Buch hindurch kommt es zu einem name-dropping von mehr oder weniger „rechten“ Autoren, so z.B. Carl Schmitt (S. 274, 287), Alain Finkielkraut (S. 201), David Engels (S. 203), Wolfgang Caspart (S. 105), oder eben Edgar Jung (S. 28, 77). Das allein kann aber kein Vorwurf sein. Schon seltsamer ist, dass Höcke vom Faschismus sagt, dass er „eine geschichtlich und räumlich begrenzte Erscheinung gewesen“ sei und „heute in Deutschland nur als bizarrer Fremdkörper existieren“ könne (S. 141). Man beachte, dass es um Faschismus geht, nicht um Nationalsozialismus. Man beachte auch, dass der Faschismus für Höcke „heute“ ein Fremdkörper wäre – damals nicht?

Eine direkte Kritik des Nationalsozialismus wird nicht formuliert, wohl aber eine Kritik am „NS-Imperialismus, der eine Missachtung des Selbstbestimmungsrecht der Völker war und anstelle der nationalen Identitäten das Prinzip der Rasse favorisierte.“ (S. 283) Das ist aber nur eine Kritik an der Außenpolitik des Nationalsozialismus, nicht an dessen Innenpolitik. Und das Wort „favorisierte“ formuliert keine völlige Absage an den Rassegedanken. Außerdem ist auch das nationale oder völkische Prinzip von übel, wenn man es als oberstes Prinzip definiert. Die Nation ist sicher ein hohes Gut, aber es gibt doch noch ein paar Dinge, die noch wichtiger sind. Bei Höcke ist die Nation oder das Volk aber immer oberstes Prinzip.

Für die Deutschen 1945 sieht Höcke einen „Vorsprung der Besiegten“ (S. 64). Damit meint er, dass die Besiegten genötigt sind, an sich zu arbeiten und dadurch aufsteigen, durch einen „Erkenntnisgewinn“, so Höcke – während die Sieger sich satt auf ihren Lorbeeren ausruhen und deshalb abfallen. Doch ist das wirklich die Situation von 1945? Damals war Deutschland nicht nur ökonomisch und militärisch besiegt, sondern insbesondere auch moralisch. Der Erkenntnisgewinn der Deutschen war praktisch gleich null, denn wie Helmut Schmidt treffend formulierte, wusste er auch schon vor dem Nationalsozialismus, dass man nicht töten soll. An dieser Stelle wird implizit deutlich, dass Höcke den Charakter der Niederlage von 1945 nicht verstanden hat. Es hat zwar der Stärkere den Schwächeren besiegt, ja, aber das ist nicht der Punkt.

Ebenfalls höchst peinlich ist Höckes Aussage, dass der Nationalstaat „in Preußen und Österreich“ vorbildlich funktioniert habe (S. 259). In Preußen ja. Aber in Österreich? Ganz gewiss nicht! Österreich zerfiel an der Herausbildung der Nationalstaaten und blockierte sie, solange es ging, was ein Grundübel dieser Zeit war. Wie kommt Höcke dazu, so etwas zu sagen? Man kann eine Absicht erkennen, wenn man sich ansieht, dass Höcke hier von Preußen und Österreich als „den beiden deutschen Hauptmächten“ spricht. Es geht ihm also um Deutschland. Und da gehört Österreich für ihn offenbar dazu. Um Österreich in diese Aussage mit aufnehmen zu können, begeht Höcke sogar die historische Unwahrheit, dass der Nationalstaat in Österreich gut funktioniert hätte. – Höcke hätte besser daran getan zu sagen: Mit Preußen war der Nationalstaat in Deutschland erfolgreich. Punkt. Und wenn überhaupt, dann hätte er dies hinzufügen sollen: Österreich gehört seit dem Zeitalter der Nationalstaaten nicht mehr zu Deutschland, wird nie mehr dazu gehören, und war als Nationalstaat im 19. Jahrhundert auch nicht erfolgreich. Aber das war offensichtlich nicht das, was Höcke sagen wollte.

Wenn wir in einem Brainstorming in aller Kürze einige Vergleichspunkte von Höckes Ideenwelt mit dem Nationalsozialismus durchgehen, dann haben wir bis jetzt folgendes gefunden: Zunächst Edgar Jung, der völkisch, antidemokratisch und antisemitisch ist. Einen höheren Wert als die Nation nennt Höcke nicht. Biologistisches Denken wird zwar in die zweite Reihe verbannt, jedoch nicht völlig abgelehnt. Der Humanismus von Höcke ist rein romantisch-gefühlig, keinesfalls vernünftig und aufgeklärt zu verstehen. Höcke will eine post-kapitalistische Wirtschaftsordnung, ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen. Was sich wie nationaler Sozialismus anhört, nennt er Sozialpatriotismus. Gegen anti-humanistische Strömungen im Islam möchte Höcke keine Einwände erheben und sie „achten“. Nietzsche und die Romantik sind für Höcke sehr wichtig. Und eine Volkskirche soll errichtet werden, die ein wenig an das „positive Christentum“ aus Hitlers Parteiprogramm erinnert.

Und an dieser Stelle erhebt sich die Frage, wie der Titel des Buches eigentlich zu verstehen ist: „Nie zweimal in denselben Fluss“. Höcke beschreibt, wie er von seinem Vater lernte, „dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne, und es also ein unmögliches Unterfangen darstelle, vergangene Zustände zu wiederholen“ (S. 24). Wenn wir diesem Gedanken die Aussage Höckes gegenüberstellen, dass der Faschismus „heute“ ein bizarrer Fremdkörper wäre, drängt sich einem der Gedanke auf, dass der Buchtitel wohl sagen soll: Wir sind dieselben von damals, und wir wollen im Grundsatz dasselbe wie damals, aber unter den veränderten historischen Umständen kommen wir mit denselben Grundsätzen zu anderen Schlussfolgerungen und zu einer anderen Politik. Nie zweimal in denselben Fluss eben.

Einzelthema: Preußen

Immer wieder und wieder rekurriert Höcke auf Preußen als ein großes Vorbild. Es sind mindestens fünfzehn Stellen. An einer Stelle des Buches ist von der „Re-Preußifizierung“ Deutschlands die Rede: Für Höcke soll zwar nicht nur aber eben auch der Geist Preußens eine besondere Rolle bei der Rekonstruktion Deutschlands spielen (S. 288). Doch Höcke zeichnet ein höchst einseitiges Bild von Preußen: Bei Höcke geht es vor allem um Härte, Entbehrung und Pflichterfüllung, oder um den Staatsapparat, die Armee und das Bildungswesen (z.B. S. 36, 213, 287-290). Friedrich der Große wird mehrfach dazu herangezogen, um Positionen Höckes zu legitimieren, so z.B. seinen Agnostizismus (S. 50) oder seine Polemik gegen das Links-Rechts-Schema (S. 136). Wobei Friedrich der Große eigentlich kein Agnostiker war, sondern ein philosophischer Theist, aber das nur am Rande.

Völlig ungesagt bleibt, dass Friedrich der Große die Aufklärung in Deutschland maßgeblich vorantrieb, und dass der preußische Philosoph Immanuel Kant den kritischen Rationalismus etablierte. Auch von Wilhelm und Alexander von Humboldt hören wir bei Höcke nichts. Insbesondere hören wir auch nichts zu der glücklichen Rezeption der griechisch-römischen Antike in jener Zeit, ganz im Sinne Goethes. Preußen war eben Klassik und keine Romantik, also das Gegenteil dessen, was Höcke bevorzugt.

Dass Preußen „die Vernunft und das klassische Maß“ repräsentiert, weiß und sagt Höcke auch an einer Stelle (S. 75). Wie das mit seinem Hang zur Romantik zusammenpasst, sagt er jedoch nicht. Schlimmer noch: An genau dieser Stelle wurde die Frage nach der Irrationalität Nietzsches und der Deutschen insgesamt aufgeworfen, und Höcke nennt die Klassik und Preußen als Beispiele, dass die Deutschen doch sehr vernünftig seien – doch Klassik und Preußen sind nur dann ein Gegenmittel gegen Irrationalität und Romantik, wenn man sie der Irrationalität und der Romantik als das Bessere gegenüberstellt! Aber genau das tut Höcke hier nicht. Höcke missbraucht vielmehr die Klassik und Preußen an dieser Stelle, um Bedenken gegen Irrationalität und Romantik zu zerstreuen, indem er von der Existenz irrationaler Strömungen wie der Romantik ablenkt und auf die Klassik und Preußen verweist, wie wenn es Nietzsches Irrationalität und die Romantik nicht gäbe! – Gegen Ende des Buches strebt Höcke eine Synthese des Geistes von Potsdam mit dem Geist von Weimar an (S. 290). Auch diese Forderung bleibt völlig oberflächlich, da unklar bleibt, wie sie mit den Tiefenschichten von Höckes Denken zusammengeht.

Höcke stellt auch die bekannte preußische Toleranzformel, dass jeder nach seiner Façon selig werden soll, auf den Kopf. Er wendet sie nämlich auf traditionalistische und islamistische Formen des Islams an, die wir „achten“ sollten (S.197). Wie wir oben schon sahen, können wir dies nicht, wenn wir unsere eigenen Werte ernst nehmen. Wir können verschiedene Anschauungen nur insoweit tolerieren, insoweit sie humanistischen Maßstäben genügen, also z.B. ein Islam im Sinne der islamischen Humanisten, die es ja gibt. Dass Höcke die preußische Toleranzformel zitiert, um Respekt vor antihumanistischen Vorstellungen einzufordern, ist sehr unpreußisch. Damit werden auch andere Erwähnungen der preußischen Toleranz in diesem Buch fragwürdig, weil man nicht stillschweigend voraussetzen kann, dass Höcke auf dem Boden des preußischen Humanismus steht (S. 31, 32, 288).

An einer Stelle wird deutlich, welche Rolle Preußen für Höcke tatsächlich spielt. Auf die Frage, ob man denn anstelle des „harten“ Nationalsozialismus nicht eine „weiche“ Variante von Faschismus propagieren sollte, zieht Höcke die Parallele zur faschistischen Casa-Pound-Bewegung in Italien, die dort seit 2003 als „soziale Bewegung“ für die Propagierung des Faschismus agiert, und sagt: „Eine ‚Casa Pound-Bewegung‘ … brauchen wir Deutschen aber nicht: wir haben Preußen als positives Leitbild.“ (S. 142)

Damit ist klar: Für Höcke spielt Preußen die Rolle eines ideologischen Bahnbrechers. Höcke rekurriert auf Preußen, weil er darin ein ideales Vehikel sieht, um seine Ideen zu transportieren. Darum geht es. Etwas schärfer formuliert, könnte man die Frage stellen, ob Höcke Preußen nicht einfach als „unverbrannten“ Platzhalter nach vorne schiebt, weil man den Faschismus heute in Deutschland in keiner Form mehr propagieren kann? Im Grunde würde es sich dann wie mit der Reichskriegsflagge der kaiserlichen Marine verhalten: Ursprünglich war die Reichskriegsflagge überhaupt nicht rechtsradikal konnotiert, doch da man die faschistischen Symbole nicht mehr zeigen konnte, suchten sich die Neonazis Ausweichsymbole, und so verfiel man auf die Reichskriegsflagge.

Für Höcke geht es bei Preußen nicht um Preußen, soviel scheint klar. Preußen ist für Höcke nur eine Chiffre, die er benutzt und nach eigenem Gutdünken mit Bedeutung auflädt. Das wird einerseits daran deutlich, dass Höcke eher ein Freund von Nietzsche und der Romantik als der Klassik und Preußens ist. Es wird daran deutlich, was Höcke in Preußen sieht und was nicht (s.o.). Und es wird daran deutlich, dass Höcke an keiner Stelle sagt, dass er Preußen als Bundesland wiederherstellen möchte. Denn das wäre das naheliegendste für jeden Preußenfreund. Doch dazu kein Ton. Es wäre auch verwunderlich. Das reale Preußen würde Höcke gar nicht in den Kram passen. Das reale Preußen wäre keine Chiffre mehr, die man nach Belieben aufladen kann. Zudem wendet sich Höckes Freund Gauland vehement gegen die Wiederherstellung Preußens. Gauland hätte es lieber gesehen, wenn Österreich und nicht Preußen die deutsche Einheit hergestellt hätte. Auch Höckes spiritus rector Götz Kubitschek scheint in dieser Frage Gauland nahe zu stehen. Wir erinnern hier noch einmal an die oben besprochene Aussage Höckes, dass der Nationalstaat „in Preußen und Österreich“ vorbildlich funktioniert habe (S. 259). Kein Preußenfreund würde so einen Unsinn verzapfen.

Höcke missbraucht Preußen, und dieser Missbrauch Preußens wird auch durch den folgenden Umstand sehr deutlich: Wie gesehen, will man Deutschland re-preußifizieren. Doch kein Mensch, der Deutschland verstanden hat, wird Deutschland re-preußifizieren wollen! Denn Deutschland ist in Länder gegliedert, und jedes Land hat seine ganz eigenen Traditionen. Die Bayern würden sich über eine Re-Preußifizierung schön beklagen! Schon Kaiser Wilhelm II. echauffierte sich über die Nationalsozialisten, weil sie nicht begreifen wollten, dass man Deutschland nicht als zentralen Einheitsstaat regieren kann. Was man re-preußifizieren müsste, wäre natürlich Preußen selbst, als ganz normales Bundesland, bestehend aus den Gebieten, die in der ehemaligen DDR liegen – aber genau das kommt bei Höcke nicht vor. Wo Höcke von Preußen spricht, spricht er immer nur von ganz Deutschland, nie von Preußen. Niemand, dem es um Preußen ginge, würde das tun.

Über dieses Buch hinaus

Björn Höcke hat immer wieder durch Reden auf sich aufmerksam gemacht, bei denen er beinahe etwas sagte, es dann aber doch nicht ganz sagte – aber irgendwie doch recht auffällig in eine bestimmte Richtung tendierte. Am Anfang waren es die 1000 Jahre. Für sich allein genommen völlig unauffällig. Dann folgte 2015 eine Rede, in der Afrikanern aufgrund der Evolution ein anderes Fortpflanzungsverhalten unterstellt wurde. Evolution konnte man allerdings auch sozial verstehen, und die Forderung nach einer Veränderung der Politik in Afrika unterstrich, dass es nicht genetisch gemeint war. In seiner sehr bekannt gewordenen Dresdner Rede 2017 sprach Höcke vom Holocaust-Denkmal doppeldeutig als dem „Denkmal der Schande“, und forderte eine 180-Grad-Wende der Vergangenheitspolitik. Im Jahr 2020 wollte Höcke dann unliebsame Parteifreunde aus der AfD „ausschwitzen“. Und 2021 schloss Höcke dann eine Rede mit dem SA-Wahlspruch „Alles für Deutschland“. Jeder einzelne Fall ist für sich allein genommen harmlos oder könnte auch als Versehen oder Doppeldeutigkeit gedeutet werden. In der Serie wird dann aber doch recht deutlich, wohin die Reise geht. Die Methode wird natürlich erst nach einer Reihe von Vorfällen durchschaubar.

An einigen Stellen des Buches verteidigt sich Höcke gegen diverse Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden. Doch leider nicht erfolgreich. Nicht Höcke, sondern der Interviewer wiegelt Vorwürfe mit der rhetorischen Frage ab: „Wer ist wirklich schon einmal einem echten Nazi begegnet?“ (S. 90) Das ist nun wirklich keine valide Verteidigung. Seine Dresdner Rede versucht Höcke dadurch zu verteidigen, dass er seine 180-Grad-Wende in der Gedenkkultur nicht wörtlich gemeint habe (S. 66 f.). Doch dass eine 180-Grad-Wende eine Wende ins Gegenteil ist, ist allgemein bekannt. Auch die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Denkmal der Schande“ unterschlägt Höcke (S. 68). Höcke betreibt die Verteidigung des Einzelfalls, unterschlägt aber, dass es eine Serie von Einzelfällen ist, die eine Absicht erkennbar werden lässt.

Höcke versucht auch immer wieder, das politische Links-Rechts-Schema auszuhebeln (S. 136, 138, 143 ff., 146 ff.). Mit dieser Technik laviert er sich regelmäßig um die Frage nach seiner Radikalität herum, die ihm auch in diesem Buch gestellt wurde, und vermeidet auch sonst jede Festlegung. Richtig ist allerdings, dass der historische Nationalsozialismus auch nicht einseitig für links oder rechts erklärt werden kann. Er hatte Aspekte von beidem. Aber Höcke wird doch nicht dem historischen Nationalsozialismus nacheifern wollen?

Höcke betont das ganze Buch über seine Verbundenheit zur Pegida-Bewegung (S. 110 f., 113, 210, 233 f., 238). Pegida machte am Anfang mit höchst legitimen Forderungen auf sich aufmerksam, entpuppte sich dann aber als eindeutig zu rechts. Frauke Petry war damals zu einem Gespräch mit den Pegida-Organisatoren gegangen und von dort ernüchtert zurück gekommen. Höcke ist Pegida treu geblieben. – Von Höckes Verbindung zu Götz Kubitschek ist im ganzen Buch nicht die Rede. Kubitschek wird nur einmal beiläufig zitiert (S. 93). Wie so oft, ist auch hier das Schweigen Höckes bezeichnend.

Manche versuchen ein gutes Bild der AfD zu retten, in dem sie Björn Höcke als Einzelfall darstellen. Höcke sei zwar schlimm, die AfD aber im ganzen in Ordnung. Doch Björn Höcke ist nicht irgendwer in der AfD, er ist nicht nur der Platzhirsch in Thüringen. Höcke ist einerseits die beherrschende Figur im sogenannten „Flügel“, einer informellen (und angeblich aufgelösten) innerparteilichen Sammlungsbewegung des rechten Flügels in der AfD. Andererseits nennt Alexander Gauland Björn Höcke immer wieder „seinen Freund“. Und nicht zuletzt ist Höcke eng verbunden mit Götz Kubitschek, den rechten Vordenker, der von Schnellroda die Strippen zieht. An diesen drei, am Flügel, an Alexander Gauland und an Götz Kubitschek kommt in der AfD heute niemand mehr vorbei, und damit nicht an Björn Höcke.

Aufruf zur Selbsterkenntnis

Der ideologische Hauptgegner von Björn Höcke und der AfD sind angeblich die Grünen. Deshalb mag es erkenntnisfördernd sein, darauf aufmerksam zu machen, dass die Grünen und die AfD bzw. Björn Höcke sich ähnlicher sind, als beide Seiten wahrhaben wollen. Sie sind perfekte Spiegelbilder und teilweise sogar auf gleicher Linie.

  • Die Grünen mögen die Rationalität nicht. Sie setzen lieber auf Emotionen. Aber das finden wir auch bei Höcke wieder: Romantik und Nietzsches Irrationalität liegen Höcke mehr als die Klassik und die Rationalität Preußens.
  • Höckes Lieblingsphilosoph Nietzsche ist über das Zwischenglied der Postmoderne der große Vordenker des heutigen Wokismus. Es klingt in der Tat sehr woke, wenn Höcke eine gewisse „Wirklichkeitsverachtung“ fordert (S. 61). Man fühlt sich an Robert Habeck erinnert, der sich „von Wirklichkeit umzingelt“ sieht.
  • Sowohl Grüne als auch Rechtsradikale wollen keine Integration von Ausländern. Die Grünen wollen es nicht, weil sie auf Multikulti bzw. „Vielfalt“ setzen, und jede Anpassung von Zuwanderern als Zumutung betrachten. Deshalb sprechen die Grünen heute oft auch von „Inklusion“ statt von „Integration“: Teilhabe ohne jede Anpassung. Die Rechtsradikalen wollen keine Integration, weil sie nur die beiden Extreme Assimilation oder Abschiebung kennen.
  • Beim Islam wollen die Grünen und Höcke von Reformen nichts wissen. Wir Deutschen müssten das Fremde achten wie es ist, lautet die Forderung von beiden. Islamkritik, und sei sie noch so konstruktiv, gilt beiden ein Zeichen mangelnden Respekts vor dem „Fremden“. Islamreformer sind für die Grünen wie für Höcke böse Menschen, die den Islam „verwestlichen“ wollen.
  • Die Grünen und Höcke möchten ansonsten mit dem Islam einfach nichts zu tun haben. Der Unterschied ist lediglich dies: Während Höcke den Islam komplett aus Deutschland verbannen möchte, möchten die Grünen den Islam in eine Parallelgesellschaft in Deutschland verbannen. Alles „Fremde“, was Grüne an einem unreformierten Islam tolerieren möchten, würden sie in ihrem eigenen Umfeld niemals dulden. Und so kommt es, dass es dort, wo die typischen Grün-Wähler wohnen, nur wenig Muslime und keine Moscheen gibt.
  • Die Grünen und Höcke träumen beide von einer Absage an Kapitalismus und Konsum. Beide wollen dazu den starken Staat. Höcke spricht davon, „die Bescheidung im Materiellen“ mit „der Vertiefung des Immateriellen“ zu kompensieren (S. 271). Ein Grüner hätte es nicht besser sagen können.
  • Mit Heidegger ist Höcke gegen „Technikgläubigkeit“ und tritt für die Bewahrung der Natur ein (S. 79). Grüner als grün geht nicht.
  • Und so, wie die Grünen ihre „große Transformation“ der Gesellschaft mit jener unbelehrbaren Rücksichtslosigkeit vorantreiben, die schon immer einer der schlechtesten Charakterzüge des deutschen Wesens war, und so, wie auch Angela Merkel ihre Migrationspolitik auf einem CDU-Parteitag am 14.12.2015 rücksichtslos mit den Worten vorantrieb: „Wie kann sie sagen, wir schaffen das? Und ich antworte Ihnen, ich kann das sagen, weil es zur Identität unseres Landes gehört, Größtes zu leisten“, so kokettiert auch Höcke mit diesem schlechten deutschen Charakterzug, „keine halben Sachen“ zu machen (S. 258; vgl. auch S. 215), statt die deutsche Kultur zu mehr Rationalität und Skepsis zu entwickeln: Denn das ist es, was jemand tun müsste, der Deutschland und die deutsche Kultur liebt.

Folgende Ratschläge können dem Leser dieser Rezension zur Überwindung der Irrtümer gegeben werden:

  • Rationalität und Klassik müssen den unbedingten Vorrang vor Romantik und Irrationalität haben. Romantik und Phantasie sind erlaubt und nützlich, aber nur, wenn sie von Rationalität eingehegt stattfinden.
  • Der heilsame Einfluss der griechisch-römischen Antike auf unsere Kultur, mithin der klassische Humanismus, ist vollauf anzuerkennen, noch vor dem Einfluss des Christentums oder irgendeiner anderen traditionellen Religion oder Philosophie.
  • Es muss belletristische Literatur gelesen werden! Nicht nur Philosophen und Politiker. Und wenn Philosophen, dann auch antike Autoren, nicht nur moderne.

Dann wird man wie von selbst auf die richtigen Schlüsse kommen:

  • Nationalismus, Rassismus, Sozialismus, Faschismus, Nationalsozialismus: Alles nur Mist.
  • Antikapitalismus und Antiamerikanismus sind olle Kamellen von anno ’68, die abzulegen sind.
  • Die westlichen Werte sind wertvoll und universal und keinesfalls mit Multikulti und Wokismus zu verwechseln.
  • Deutschland wird am ehesten durch Preußen definiert. Weniger durch Sachsen oder Bayern. Und gar nicht durch Österreich. Österreich ist eine eigenständige Nation geworden, die nicht mehr zu Deutschland gehört. Genau wie die Schweiz auch.
  • usw. usf.

Großes Fazit

Kehren wir am Ende dieser Besprechung an den Anfang des Buches zurück, zur Kindheit Björn Höckes (S. 41 f.). Wir lesen, dass Björn Höcke „kein Bücherwurm“ war, „und wenn dann nur sehr unfreiwillig Stubenhocker.“ Er bevorzugte es, in einem Kleinkrieg von Kinderbanden den Bandenführer zu spielen. Er „verbrachte viele Stunden … im Kampf“ und als „Draufgänger“, und wurde von der Kindergärtnerin zur Strafe in die Ecke geschickt. Sie hatte „den Lausbuben“ aber doch ins Herz geschlossen. Wir lesen außerdem immer wieder, dass Björn Höcke „anarchische“ Züge hatte: Autoritäre Verhältnisse waren ihm immer zuwider (S. 47). Auch über seine Zeit bei der Bundeswehr sagt Höcke: „Der Kommiß mit seiner Hierarchie lag mir nicht sehr.“ (S. 52). Und auch an Nietzsche faszinierte den jungen Höcke, „wie Nietzsche … alles gnadenlos hinterfragte: die Moral, die Tradition, die Philosophiegeschichte. In seinem Voluntarismus fand ich meinen eigenen Tatendrang und Optimismus wieder, ebenso die Verachtung gegenüber dem Erstarrten und Verkrusteten.“ (S. 57) Auch bei Schopenhauer ging es Höcke vor allem um den Widerstand gegen Autoritäten und um Kritik am Establishment (S. 76).

Es scheint, als seien wir hier ganz nah am wahren Wesen von Höcke: Höcke war nie ein Bücherwurm, nie ein Mensch der Ordnung, sondern ein Tunichtgut, ein Lausbub, voller anarchischem Tatendrang. Dieses Wesen seiner Kindheit scheint sich Höcke bewahrt zu haben, nur dass er es jetzt polit-philosophisch zu legitimieren weiß. Heute beschwört Höcke eben Nietzsche und die Romantik, und mit Ordnung und Hergebrachtem weiß er auch heute nicht viel anzufangen.

Zum Schluss ein Fehler: Dem Buch ist ein Sinnspruch von Theoderich dem Großen vorangestellt: „Es gilt der Heimat, auch wenn wir nur zu spielen scheinen.“ Im Original lautet dieses Zitat wie folgt: „Sit ergo pro re publica et cum ludere videmur.“ (Cassiodor Variae I 45) Es geht im Original also gar nicht um „Heimat“, was sehr romantisch klingt, sondern um die „res publica“, also um das „Gemeinwesen“ bzw. den „Staat“, was sehr klassisch und preußisch gedacht ist. Wenn der Grundirrtum schon in der Widmung zum Vorschein kommt, ist Umdenken ernstlich angezeigt!

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? (1966)

Schon 1966 klare Warnung vor Parteienoligarchie – gültig bis heute!

Das Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ des bekannten Philosophen Karl Jaspers erschien 1966 und wurde zu einem politischen Bestseller wie vielleicht in unseren Tagen das Buch von Thilo Sarrazin. Im Zentrum der Analyse steht die Erkenntnis, dass die BRD schwerwiegende demokratische Defizite aufweist.

Das Grundgesetz und das Wahlgesetz beruhen auf einem ausgesprochenen Misstrauen dem Volk gegenüber, und installieren eine Parteienoligarchie. Der Begriff „Parteienoligarchie“ wurde durch Jaspers Buch geprägt. Der Wähler hat in diesem System so gut wie keinen Einfluss. Die Parteien halten im Zweifelsfall gegen den Wähler zusammen. Wichtige Entscheidungen werden nicht nur nicht durch das Volk entschieden, sie werden häufig noch nicht einmal öffentlich diskutiert und zu Bewusstsein gebracht.

Neue Parteien haben praktisch keine Chance. Das Wahlsystem, die Parteienfinanzierung u.a. Mechanismen sichern die Macht der Altparteien. Es gibt eine Tendenz zu einer indirekten Zensur, und Intellektuelle werden kritisiert, sobald sie unabhängige Gedanken in den Massenmedien äußern. Jaspers äußert Verständis für Menschen, die keine Hoffnung mehr sehen und auswandern.

Die BRD ist eine Gründung „von oben“, durch die Westalliierten, die ihre wahre demokratische Gründung durch die Bewusstwerdung des Volkes als Souverän erst noch zu leisten hat. Das will Karl Jaspers aber nicht gegen das Grundgesetz, sondern mit dem Grundgesetz erreichen, das er als gute Ausgangsbasis ansieht, und dessen Grundrechtekatalog er hoch schätzt. Jaspers will u.a. die 5%-Klausel abschaffen und einen Ombudsmann für Meinungsfreiheit einsetzen. Politische Bewegungen aus dem Volk heraus will Jaspers fördern, doch die Forderung nach Volksbegehren und Volksentscheid fehlt seltsamerweise: Sie wird noch nicht einmal diskutiert! Wie das, fragt sich der Leser?

Das Buch äußert sich auch zu konkreten Einzelthemen der damaligen Politik. In seiner Opposition gegen Fehlentwicklungen schießt Jaspers aber häufig über das Ziel hinaus und formuliert eine radikale Gegenposition, die genauso falsch ist, bzw. er scheitert daran, eine differenzierte Sicht richtig zum Ausdruck zu bringen, oder er verwickelt sich in Widersprüche. Außerdem ist der Schreibfluss teilweise ungeordnet und es kommt zu störenden Wiederholungen. Wo es nicht um Freiheit und Demokratie, sondern um einzelne Themen geht, ist Jaspers vielfach schwach. Dennoch ist manche Anregung dabei, die auch heute noch wert ist, beachtet zu werden:

Notstandsgesetze:
Für Jaspers drohen die damals diskutierten Notstandsgesetze zur Überleitung von der Parteienoligarchie zur Diktatur zu werden.

Schuldfrage:
Zwar ist Jaspers gegen eine Kollektivschuld der Deutschen am Nationalsozialismus, aber seine Schuldzuweisungen sind dennoch maßlos und zelebrieren fast eine Art „Schuldseligkeit“. Allein dass man überlebt hat, gilt praktisch schon als Schuld. Jeder, der nicht sein Leben daran gesetzt habe, den Nationalsozialismus zu bekämpfen, sei schuldig. Von allen Deutschen seien vielleicht 500.000 ohne Schuld, meint Jaspers. Gleichzeitig nimmt Jaspers aber z.B. den einfachen Soldaten in Schutz, weil er nur Befehlsempfänger war. – Jaspers bedauert, dass sich der Bundestag nur zu einer rechnerischen Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen um wenige Jahre durchringen konnte, nicht aber zu einer dauerhaften Aufhebung der Verjährung als politisch gewollter, rechtssetzender Tat.

Bündnis mit den USA:
Die Tatsache, dass die beiden Großmächte USA und Russland militärisch uneinholbar sind, zwingt die anderen Staaten in Schutzbündnisse mit einer der beiden Großmächte. Neutralität ist nicht mehr möglich, weil Neutralität heute nicht mehr verteidigt werden kann. Dabei übertreibt es Jaspers allerdings mit der Unterwürfigkeit gegenüber den USA, er merkt aber auch richtig an, dass die Hegemonie nur in der Politik gegenüber dem äußeren Feind gilt, nicht jedoch in der Politik der freien Staaten untereinander. Jaspers sieht das Bündnis zu den USA als bedeutend wichtiger an als das Bündnis zu Frankreich. Charles de Gaulle ist für Jaspers ein weltfremder Romantiker.

Souveränität:
Jaspers will, dass die Deutschen aus Vernunft auf ihre Souveränität verzichten. Jaspers versäumt es jedoch, den Gedanken zu formulieren, dass man in einem Bündnis souverän bleibt, wenn man die Gestaltung und Mitgliedschaft des Bündnisses jederzeit neu verhandeln kann. Allerdings stellte sich die Frage nach der Souveränität der BRD vor 1990 ganz anders als heute.

Europäische Einigung:
Jaspers verwendet auf dieses Thema nicht mehr als einen Absatz. Er ist grundsätzlich dafür, glaubt aber nicht daran, dass Europa jemals eine große Macht wie USA oder Russland sein könnte.

Atomkrieg, Friedenspolitik:
Jaspers opfert praktisch die Freiheit auf dem Altar des Friedens. Weil ein Atomkrieg das Ende sei, müsse man alles (!) tun, um den Frieden zu erhalten. Wenn man das konsequent zu Ende denkt, hieße das Unterwerfung unter den Kommunismus, doch so weit denkt Jaspers nicht. Jaspers hat nicht verstanden, dass der Satz „Si vis pacem para bellum“ auch und gerade im Atomzeitalter Geltung hat. Damals war die Angst vor dem Atomkrieg allerdings sehr viel realer als heute – obwohl die Gefahr nach wie vor besteht.

China:
Jaspers verwendet mehrere Seiten darauf, vor dem aufstrebenden China zu warnen, und plädiert dafür, die Atomanlagen Chinas zu zerstören. China ist für Jaspers kein berechenbarer Gegner wie die Sowjetunion.

DDR-Politik:
Jaspers wünscht, dass die BRD die DDR ökonomisch unterstützt, auch wenn man damit das Ulbricht-Regime stabilisiert. Jaspers hofft, dass eine Vertrauensbildung irgendwann dazu führen wird, dass die Sowjets abziehen, weil die DDR dann auch freiwillig ein kommunistischer Staat bleiben würde. Man sieht, dass Jaspers hier die Realität krass verkennt. Gerade auch angesichts der bewunderswerten Verve, mit der Jaspers für die BRD freiheitlichen Geist fordert, ist es erstaunlich, dass die DDR-Bürger sich mit kleinen persönlichen Freiheiten und Konsum abfinden sollen, anstatt für die Freiheit zu kämpfen. Für den Frieden opfert Jaspers einfach alles, und das ist falsch.

Deutsche Teilung und Vertreibung aus Ostgebieten:
Jaspers formuliert mit Recht, dass der status quo anerkannt werden muss, um den Frieden zu wahren. Jaspers versäumt es aber zu formulieren, dass die Freiheit für die DDR-Bürger automatisch die Wiedervereinigung bedeuten würde, und dass die Vertreibung Unrecht war, auch wenn sie nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann. Bei Jaspers spürt man große Kälte und Unverständnis gegenüber den Vertriebenen, und wiederum eine unmenschliche Schuldseligkeit, die Jaspers dazu führt, Vertreibung und Teilung als legitime Folgen der deutschen Aggression anzusehen: Hier rechnet er ein Verbrechen gegen das andere auf, und das darf man nicht.

Bundeswehr:
Jaspers wendet sich gegen eine Traditionsbildung der Bundeswehr, die an NS-Generäle anknüpft, und würde lieber eine Bundeswehrtradition sehen, die auf preußische Vorbilder wie Gneisenau, Scharnhorst, Clausewitz oder Moltke aufbaut. Den 20. Juli hält Jaspers nicht für würdig und betrachtet ihn als eine fadenscheinige Legitimierung der Bundeswehr durch die Adenauerregierung. An anderer Stelle jedoch lobt Jaspers einen General, der die Opfer des 20. Juli gewürdigt wissen will, und kritisiert, dass die Bundeswehr von Offizieren aufgebaut wurde, die gegen den 20. Juli waren. Eine typisch Jaspersche Unausgegorenheit.

Bildung:
Für die Bildung möchte Jaspers auf die Antike zurückgreifen: „Der Abendländer soll in griechischer und römischer Welt und in der Bibel zu Hause sein. Das ist möglich auch ohne Kenntnis der alten Sprachen, zumal bei der heute gegenüber früheren Zeiten unvergleichlichen Zugänglichkeit guter Übersetzungen in billigen Ausgaben. Es ist als ob wir durch die Tiefe und Einfachheit des Großen in der Antike wie in eine neue Dimension unseres Lebens gelangen, den Adel des Menschen erfahren und Maßstäbe gewinnen. Wer nicht von der Antike weiß, ist noch nicht erwacht und bleibt barbarisch.“ (S. 202 f.) Die Geschichte „lässt uns heimisch werden in der eigenen Herkunft, in dem Leben der Völker und der Menschheit.“ (S. 203)

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 28. Juni 2015)

Einige Zitate:

„Das Volk ist dem Namen nach der Souverän. Aber es hat keinerlei Einwirkung auf die Entscheidungen außer durch Wahlen, in denen nichts entschieden, sondern nur die Existenz der Parteienoligarchie anerkannt wird. Die großen Schicksalsfragen gehen nicht an das Volk. Ihre Beantwortung muss das Volk über sich ergehen lassen und merkt oft gar nicht, dass etwas und wie es entschieden wird.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 134)

„Wenn die Opposition nicht anerkannt wird als produktive Macht und als für den Staat unentbehrlich, dann ist sie nur negativ beurteilter, staatsfeindlicher, daher eigentlich verwerflicher Gegner. Wenn die Opposition keine eigenen, durchdachten und das Denken der Bevölkerung ergreifenden Zielsetzungen und Wege hat, dann erscheint sie der herrschenden Partei ähnlich. … Mit der Aufhebung des Spiels der Opposition als unentbehrlichen Faktors der politischen Willensbildung des Staates hört die demokratische Freiheit auf. Denn der politische Kampf im Denken der Bevölkerung hört auf.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 138)

„Demokratie heißt Selbsterziehung und Information des Volkes. Es lernt nachdenken. Es weiß, was geschieht. Es urteilt. Die Demokratie befördert ständig den Prozess der Aufklärung. Parteienoligarchie dagegen heißt: Verachtung des Volkes. Sie neigt dazu, dem Volke Informationen vorzuenthalten. Man will es lieber dumm sein lassen. Das Volk braucht auch die Ziele, die die Oligarchie jeweils sich setzt, wenn sie überhaupt welche hat, nicht zu kennen. Man kann ihm statt dessen erregende Phrasen, allgemeine Redensarten, pompöse Moralforderungen und dergleichen vorsetzen. Es befindet sich ständig in der Passivität seiner Gewohnheiten, seiner Emotionen, seiner ungeprüften Zufallsmeinungen.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 140)

„Die Tendenz, eine Zensur auszuüben im Interesse der autoritären politischen Herrschaft, nimmt zu. Sie zeigt sich heute durch indirekte Maßnahmen.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 153)

„Die Freiheit aber muss durch Erziehung, Überlieferung, Übung und Wagnis stets neu erworben werden.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 169)

„Es gibt für uns [Deutsche] noch immer keinen politischen Ursprung und kein Ideal, kein Herkunftsbewusstsein und kein Zielbewusstsein, kaum eine andere Gegenwärtigkeit als den Willen zum Privaten, zum Wohlleben und zur Sicherheit.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 178 f.)

„Die Wirtschaft kann sich selbst ruinieren, wenn sie nicht unter ethischen Impulsen steht, die zuerst bei den Unternehmern, die durch ihr Vorbild den Geist ihres Betriebes erzeugen, dann bei den Arbeitern das ganze Leben tragen.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 192)

„Einige Vorschläge: … Abschaffung 5%-Klausel, des konstruktiven Misstrauens-Votums, der Finanzierung der Parteien aus der Staatskasse. Der Sinn ist: Durchbrechung der Parteienoligarchie. Eine Gefahr, dass bei Anarchie der Parteien eine Hitlerdiktatur sich wiederhole, besteht nicht. Wohl aber besteht die Gefahr, dass aus der Parteienoligarchie ein autoritärer Staat und aus ihm die Diktatur erwächst. Diese Gefahr wird erhöht, wenn man die Angst vor der nicht bestehenden andern Gefahr festhält.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 194)

„Heute brauchen wir vor allem eine Geschichte der Freiheit in den deutschen Gebieten im Rahmen der abendländischen Geschichte, deren Glied wir sind.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 204)

„Dies muss mit Deutlichkeit betont werden. Die Verbindung mit den freien Staaten unter der Hegemonie der USA ist zwar notwendig zur Selbstbehauptung der Freiheit. Aber dieses Bündnis gilt nur außenpolitisch gegenüber der nicht freien Welt. Innenpolitisch hat jeder Staat, jedes Volk seine Freiheit. Dazu kommt eine gemeinsame ‚Innenpolitik‘ der freien Staaten unter sich, vor allem in Wirtschaftsfragen. Hier gilt keine Hegemonie.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 250)

„Wer als Deutscher alt geworden ist, hat es zweimal erlebt (1914 und 1933) und fürchtet, dass es sich zum dritten Mal wiederholen könnte. Es ist in allem Wandel der Erscheinung etwas unheimlich Bleibendes. Nur die Deutschen, die sich dessen bewusst werden, können es überwinden.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 281)

Tobias Engelsing: „Jetzt machen wir Republik!“ – Die Revolution von 1848/49 in Baden und am Bodensee (2023)

Hervorragende Materialsammlung mit ideologischer Schlagseite

Dieser Katalog zur Sonderausstellung des Rosgartenmuseums Konstanz 2023 versammelt eine beeindruckende und wohlgeordnete Fülle von Bildern und Texten zum 175. Jahrestag der Revolution von 1848/49 in Baden. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Stadt Konstanz und den berühmten „Heckerzug“ gelegt, der unter Führung von Friedrich Hecker am 13. April 1848 in Konstanz aufbrach, um erst in Baden und dann in ganz Deutschland auf gewaltsame Weise die Monarchie abzuschaffen und eine Republik zu errichten. Der Katalog ist textuell und graphisch ganz analog zur Ausstellung gestaltet, die sich dem Besucher sehr ansprechend präsentierte.

Leider erlagen die Ausstellungsmacher einem typische Denkfehler: Sie gaben der Versuchung nach, ihr Thema enthusiastisch zu überhöhen und kritische Gesichtspunkte herunterzuspielen, während sie gleichzeitig die Gegenseite in rabenschwarzen Farben malen. So etwas erlebt man leider öfter in Ausstellungen.

Welche Revolution?

Eines der Probleme ist der Eindruck, der Heckerzug wäre hauptsächlich die Revolution gewesen. Es wird zwar hie und da eingestreut, geht aber dennoch ein wenig unter, dass es parallel dazu ein ganz anderes, viel wichtigeres Revolutionsgeschehen gab, nämlich die Einberufung der Nationalversammlung in Frankfurt am Main und die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung für Deutschland. Friedrich Hecker und die Seinen waren damals weder die führenden Revolutionäre, noch waren sie die unbestritten „Guten“, sondern sie spielten vielmehr die Rolle der radikalen Fanatiker und Störenfriede.

Es gab Anfang 1848 gewiss keinen Grund für Gewalt, denn mit der Frankfurter Nationalversammlung war ein friedlicher Weg der Revolution eröffnet und im Gange. Die gewaltsame Aktion von Friedrich Hecker hatte vielmehr das Potential, diese friedlichen Bemühungen zu desavouieren, und das wurde von den Frankfurter Abgeordneten auch deutlich zum Ausdruck gebracht. Zumal es völlig utopisch war, mit einem Haufen von Bauern und Bürgern gegen ausgebildetes Militär vorzugehen. Mit Karl Mathy wird nur ein einziger dieser friedlichen Revolutionäre der Frankfurter Nationalversammlung dargestellt. Karl Mathy war entschieden für demokratische Reformen, aber gegen jede gewaltsamen Umsturzpläne. Deshalb unterstützte er auch konsequent das Vorgehen des preußischen Militärs gegen die radikalen Fanatiker in allen Phasen der Revolution.

Obwohl dieser Ausstellungskatalog so reich an Material ist, fehlt darin doch ein markantes Detail, nämlich der kurze Dialog, der sich zwischen Friedrich Hecker und General Friedrich von Gagern vor der Schlacht bei Kandern entspann, in der der Heckerzug dem Militär unterlag. Friedrich von Gagern wollte unnötiges Blutvergießen vermeiden und forderte Hecker zur Kapitulation auf. Als dieser sich verweigerte, sagte von Gagern angeblich den denkwürdigen Satz: „Sie sind gescheit, aber fanatisch!“ – Se non è vero è ben trovato, kann man da nur sagen.

Wer diesen Ausstellungskatalog liest, denkt: Mit der Niederlage von Hecker war die Revolution gescheitert. Die „Reaktion“ hatte mit der Niederschlagung des Heckerzuges gesiegt. Doch weit gefehlt. Die eigentliche Revolution, die Nationalversammlung in Frankfurt am Main, lief weiter. Und die Niederschlagung des Heckerzuges wurde von den Frankfurter Parlamentarieren begrüßt.

Preußen

Die Rolle Preußens und der Hohenzollern wird in diesem Ausstellungskatalog rabenschwarz gemalt. Es bleibt ungesagt, dass die Barrikadenkämpfe in Berlin durch einen einzelnen Schuss ausgelöst wurden, von dem bis heute nicht klar ist, woher er kam. Jedenfalls gab es keinen Befehl zum Schießen und die Kämpfe begannen in jedem Fall ungewollt. Ebenso wurden die Berliner Straßenkämpfe nicht erst beendet, nachdem alle Revolutionäre besiegt waren, sondern der König selbst ließ den ohne Befehl spontan ausgebrochenen Kampf wieder beenden, zeigte sich mit der schwarz-rot-goldenen Fahne und ehrte die Getöteten. Man kann ehrlicherweise nicht behaupten, dass Preußen die Revolutionäre zusammenschießen ließ wie es die Kommunisten am 17. Juni 1953 taten. Alles andere als das.

Man beachte auch, dass die Frankfurter Nationalversammlung dem preußischen Königshaus die deutsche Kaiserkrone antrug. Es war also von den Hauptvertretern der Revolution weder geplant, die Monarchie abzuschaffen, noch scheint Preußen in den Augen der Frankfurter Parlamentarier der Inbegriff alles Bösen gewesen zu sein. Es ist den Ausstellungsmachern auch entgangen, dass Preußen die Kaiserkrone u.a. auch wegen Österreich ablehnen musste, um einen innerdeutschen Krieg zu vermeiden (der dann 1866 doch noch kam). Auch die Erschießung des Abgeordneten Robert Blum war ein Werk der Österreicher, nicht der Preußen. Der ganze Vormärz wurde von den Österreichern und ihrem Staatskanzler Metternich beherrscht. Davon liest man in diesem Ausstellungskatalog aber nicht viel.

Völlig obskur ist die Zeichnung der Hohenzollernherrscher und des Kaiserreiches. Wilhelm I. wird z.B. die Niederschlagung der gewaltsamen Umsturzversuche zur Last gelegt, ohne dabei an den Standpunkt von Karl Mathy (siehe oben) zu erinnern. Das Wahlrecht des Kaiserreiches wird als „stark beschränkt“ beschrieben. Das ist objektiv falsch. Historiker wie Hedwig Richter weisen darauf hin, dass das Wahlrecht des Kaiserreiches demokratischer war als in manchen Demokratien. Auch sei das Kaiserreich „militärisch strukturiert“ gewesen: Das ist mindestens eine Übertreibung. Wir verzichten auf eine Auflistung weiterer Irrtümer, der ideologische Tenor dieses Ausstellungskataloges ist klar.

Der Vogel wird aber ganz am Ende auf S. 148, schon mitten im Bildnachweis, abgeschossen: Dort ist das bekannte Vier-Generationen-Foto der Hohenzollern (Wilhelm I., Friedrich III, Wilhelm II. und Kronprinz Wilhelm als Baby) abgedruckt und mit den Worten versehen: „Diese Drei herrschen bis 1918 über das neue Kaiserreich: … Das Baby Wilhelm dient sich als Kronprinz a.D. schon vor 1933 dem „Führer“ Adolf Hitler als Wahlkämpfer an.“ – Hier wird schamlos die schwarze Legende von einer direkten Kontinuität der deutschen Geschichte im Nationalsozialismus behauptet! Wir sahen schon, dass die Rolle Preußens in der Revolution völlig falsch dargestellt wurde. Soviel also zu Wilhelm I. Von Friedrich III. haben die Autoren dieses Ausstellungskataloges offenbar nie gehört, dass er ein Liberaler war, und dass Deutschland zweifelsohne einen liberalen Kurs eingeschlagen hätte, wäre er nicht viel zu früh an Krebs gestorben. Und Wilhelm II. hat immerhin Bismarcks Sozialistengesetze aufgehoben und die Sozialdemokratie wieder zugelassen, und war auch sonst moderner, als manche meinen. Einer Kooperation mit dem Nationalsozialismus hat sich Wilhelm II. stets verweigert.

Vermutlich muss man diese zynische Bildlegende, die gnadenlos in die Irre führt und zudem einem Baby (!) gewissermaßen eine historische Erbschuld zuschreibt, als eine Reaktion auf die aktuell laufende öffentliche Debatte um die Rolle der Hohenzollern im Nationalsozialismus deuten. Diese Debatte wurde durch Rückforderungsklagen des Hauses Hohenzollern ausgelöst. Kein Historiker sollte sich zu einem solchen kurzsichtigen, politischen und falschen Denken hinreißen lassen. – Ebenso aktuell und zugleich verfehlt ist der Bezug zum sogenannten „Synodalen Weg“ der deutschen katholischen Kirche in diesen Tagen (S. 87). Dieser wird weltweit auch von liberalen Bischöfen und Theologen als zu radikal kritisiert, ganz wie damals der Heckerzug. Aber dieser Ausstellungskatalog hat ganz offensichtlich kein Gespür für die Übertreibung und die Gefährlichkeit von Radikalität. Dass auf dem hinteren Klappentext Friedrich Engels zur Notwendigkeit von Revolutionen zitiert wird, wundert dann schon nicht mehr.

Anderes

Eine Stärke dieses Ausstellungskataloges ist die Beleuchtung zahlreicher Nebenaspekte, die sonst in den Geschichtsbüchern unterbelichtet bleiben, z.B.:

  • Der Aufbau eines Netzwerkes bzw. einer Partei durch Johann Adam von Itzstein durch Treffen auf seinem Weingut in Hallgarten nahe des Klosters Eberbach im Rheingau.
  • Die Rolle von Frauen und die Frage des Frauenwahlrechts.
  • Der Antisemitismus mancher Revolutionäre.
  • Der Abriss der historischen Stadtmauer in Konstanz als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Zeiten der Not.
  • Die Verfassungsentwicklung in der Schweiz (Sonderbundskrieg) und die Verflechtungen von Schweizer Persönlichkeiten mit Deutschland.
  • Die Dialektik der Revolution und der Schweiz: Schweizer Verleger drucken Revolutionsschriften und schmuggeln sie nach Deutschland. Schweizer Waffenfabrikanten liefern Waffen an die deutschen Revolutionäre. Die Schweiz nimmt fliehende Revolutionäre auf. Es kommt zu den üblichen Migrationsquerelen.
  • Das spätere Wirken zahlreicher Revolutionäre in den USA wird ebenfalls recht ausführlich beleuchtet. So kämpften sie vielfach gegen die Sklaverei, auch als Soldaten im Bürgerkrieg. Oder sie setzten sich gegen die Vertreibung und für die Integration der Indianer in die moderne Gesellschaft durch Bildung ein (was heute in manchen Kreisen auch schon als rassistische Anmaßung gewertet wird; gut, dass dieser Ausstellungskatalog da nicht mitmacht).

Man muss in diesen Tagen auch dankbar sein, dass die Texte nicht gegendert sind.

Fazit

Eine höchst brauchbare und ansprechend gestaltete Materialsammlung, die mancherlei Anregung zu geben vermag. Der Leser sollte allerdings beim Lesen den Verstand nicht ausschalten und die Schlagseite dieser Publikation mitbedenken.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Ulrike Guérot: Begräbnis der Aufklärung? – Zur Umcodierung von Demokratie und Freiheit im Zeitalter der digitalen Nicht-Nachhaltigkeit (2020)

Die Engführung des grün-linken Zeitgeistes endet in antidemokratischem Denken

Ulrike Guérot steht fest auf dem Boden des grün-linken Zeitgeistes. Das ist allgemein bekannt, wird aber auch in diesem Büchlein am Rande immer wieder sehr deutlich: Sie träumt von einer Welt ohne Staaten und Grenzen (S. 68), und wünscht sich die Verbindung von Demokratie und Sozialismus (S. 66 f.). Der Kapitalismus ist das Böse. Die „Zivilgesellschaft“, die sie in linken NGOs realisiert sieht, gefällt ihr sehr (S. 31 f.). Der britische Brexit ist ihrer Meinung nach ein Weg in einen neuen Totalitarismus (S. 25). Demokratie ist für Guérot immer „liberale“ Demokratie (S. 28 f.). Dass in einer Demokratie auch konservative Politiker Mehrheiten erringen können, scheint bei ihr eher nicht vorgesehen zu sein. Guérot glaubt, dass z.B. ein Fleischverbot oder ein Verbot der Weihnachtsbeleuchtung sinnvoll und machbar seien, und auch die Abschaltung der Atomkraftwerke nach Fukushima sei problemlos möglich gewesen, meint sie (S. 29, 47).

Last but not least glaubt sie an die „worst case“ Apokalypse des menschengemachten Klimawandels: Sie glaubt fest daran, dass die ganz große Katastrophe in allernächster Zukunft bevorsteht, wenn die Menschheit nicht dramatisch umsteuert (z.B. S. 26). Das nennt sie die „posthume Kondition“ unserer Zeit.

Demokratie sei das Problem

Davon ausgehend stellt Ulrike Guérot die Frage, ob die „liberale“ Demokratie in der Lage ist, die nötigen vernünftigen Entscheidungen zu treffen, um das Überleben der Menschheit angesichts der Klima-Apokalypse zu treffen (S. 28 f.). Die „liberale“ Demokratie ist für sie grundsätzlich nicht dazu in der Lage, Verbote auszusprechen, weil Liberalität für Guérot automatisch Laschheit bedeutet (S. 37). Zudem sind die Bürger der „liberalen“ Demokratie für Guérot eher dekadente Konsumenten als Bürger, die sich zu keinem vernünftigen, moralischen Ziel mehr aufraffen können (S. 37).

Daran knüpft Ulrike Guérot eine ausführliche Demokratiekritik an: Churchills Diktum, dass die Demokratie die am wenigsten schlechte Staatsform ist, stellt sie infrage (S. 50). In Wahrheit wäre unsere Demokratie eine konstitutionelle Oligarchie (S. 30 f.). Die Gesetzgebung in einer Demokratie wäre immer willkürlich, weil das Wahlvolk nicht wirklich handlungsfähig wäre (S. 33). Bis auf Ausnahmen seien demokratische Beschlüsse immer ungerecht und gegen das Gemeinwohl gerichtet (S. 34). Die beiden Lager Links und Rechts würden sich immer gegenseitig blockieren (S. 34). Ein Volk wisse nicht, was gut für es ist (S. 50). – Es sind die altbekannten Halbwahrheiten des antidemokratischen Denkens.

Welche Alternative zur Demokratie schlägt Guérot vor? Losverfahren und Räterepublik werden als Alternativen geprüft und verworfen (S. 35). Guérot wird nicht völlig deutlich, worauf sie hinaus will, und zündet eine Nebelkerze: Sie problematisiert den Begriff „Souveränität“. Angeblich würde Souveränität auf Herrschaft über andere und auf Zwang hinauslaufen. Echte Freiheit gäbe es aber nur ohne das (S. 33 Fußnote 14, S. 67 f.). Hier träumt wieder einmal jemand von einer paradiesischen Staatsform, in der alle in völliger Freiheit friedlich und vernünftig zusammenleben. Guérot hätte gerne eine Welt ohne Staaten und Grenzen, eine „legitimierte, und selbststeuerungsfähige Organisation einer globalen Allmende“. Wie das gehen soll, verrät sie nicht.

Jedenfalls hat Guérot zu ausführlich über das Unvermögen der Demokratie, Verbote auszusprechen, geklagt, um nicht deutlich werden zu lassen, worum es wirklich geht: Nämlich um genau das, was sie angeblich nicht will: Um die Souveränität, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen, Verbote auszusprechen und Zwang gegen Andersdenkende auszuüben. Am Ende träumt sie von einer „(hoffentlich freiwillig hervorgebrachte[n]) Kultur der Selbstbegrenzung“ (S. 68). Mit diesem „hoffentlich freiwillig“ deutet sie erneut an, dass es im Notfall eben auch ohne Freiwilligkeit gehen muss. Ebenfalls ein deutlicher Hinweis auf Guérots Gesinnung ist der Umstand, dass sie am Anfang noch mit Aufklärung und Vernunft als Zielen und Grundlagen guten und richtigen Lebens argumentiert, doch weiter hinten rutschen Aufklärung und Vernunft zusammen mit der Demokratie auf die Anklagebank („führen Aufklärung und Demokratie … in einen Bürgerkrieg“ S. 36; „Die Aufklärung und mit ihr die liberale Demokratie haben versagt“ S. 50; „Liberaldemokratisch dürfte dies nicht aufzulösen sein“ S. 64; „Wo … die Vernunft als Ausdruck des Kant’schen Gewissens versagt hat“ S. 68).

Auf der anderen Seite erkennt Guérot richtig, dass der Mensch an sich selbst arbeiten muss, und nicht nur an der Technologie (S. 52 f., 65). Aufklärung und Vernunft werden zumindest am Anfang noch als erstrebenswerte Ziele genannt. Später hofft sie auf eine „aufgeklärte oder zumindest abgeklärte Menschheit“ (S. 68). Aber auch Meditation als Schulfach wird von Guérot befürwortet (S. 52). Dass die sieben Todsünden in der Konsumwelt zu Tugenden geworden sind, hält Guérot mit Recht für falsch (S. 48).

Kurz: Guérot lässt der Menschheit zwar die Chance, es freiwillig, vernünftig und demokratisch zu schaffen, aber sie ist offenbar bereit, Aufklärung und Demokratie zu opfern, falls die Dinge sich nicht so entwickeln, wie sie sich das vorstellt.

Typisch antidemokratisches Denken

Das Denken von Ulrike Guérot ist ein exemplarischer Fall von antidemokratischem Denken: Man versteift sich fanatisch auf irgendein Problem als der ganz großen Katastrophe – Klima, Demographie, Integration, Euro-Krise, was immer – und sieht, dass die Demokratie das Problem anscheinend nicht zu lösen vermag. Daraus schließt man messerscharf, dass die Demokratie nicht die beste Staatsform sein kann, und beginnt an eine andere Staatsform zu glauben, von der man sich einredet, dass es in ihr besser zugehen würde.

Dieses Denken beruht auf grundlegenden Denkfehlern:

(1) Oft ist der fanatisch aufgeblasene Problemfall nicht ganz so dramatisch, wie man sich einbildet. Statt die Demokratie zu hinterfragen, sollte man besser seine Annahmen hinterfragen. Beim Klima ist es gewiss nicht so dramatisch, wie behauptet wird. Das ist leicht zu sehen. Ulrike Guérot ist viel zu sehr dem grün-linken Zeitgeist und seinen Hysterien verhaftet.

(2) Es ist ein Irrglaube, eine andere Staatsform sei besser. Auch wenn es tatsächlich gelingen sollte, ein Problem durch die Abschaffung der Demokratie zu lösen, würde man sich dafür zahlreiche andere Probleme einhandeln, die nicht weniger schwer wiegen.

(3) Die Korrekturfähigkeit von Demokratie wird oft unterschätzt. Demokratie kann zwar träge sein und Probleme lange ignorieren. Aber spätestens wenn Probleme akut werden, wacht die Demokratie auf. Das ist oft leider spät, aber besser spät als nie. Andere Systeme wachen womöglich selbst dann nicht auf. Es ist jedenfalls vollkommen falsch zu glauben, Demokratie sei zu Verboten und moralischem Handeln nicht fähig. Eine Demokratie ist zu schlichtweg allem fähig, wenn nur die Stimmung im Volk entsprechend ist. Guérot selbst zählt ja viele historische Beispiele auf, in denen sich Demokratien als handlungsfähig erwiesen haben (S. 41). Dass Guérot es als etwas völlig neues und mit der Demokratie unvereinbares anpreist, dass sich die Menschen vom „anything goes“ verabschieden müssen, ist Unsinn (S. 64).

Kurz: Churchill behält Recht. Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen, die jemals ausprobiert worden sind. Man muss einen Blick für das Machbare, das Realistische und das Wünschenswerte haben. Ulrike Guérot hat diesen Blick nicht. Demokratie ist höchstens dann nicht machbar, wenn zu viele Bürger keine Demokraten sind, oder sich die Bürger in unversöhnliche Lager aufspalten.

Zweites großes Thema: Verstrickung in der digitalen Welt

Das zweite große Thema, das Guérot in diesem Büchlein bearbeitet und ebenfalls zur „posthumen Kondition“ rechnet, ist die zunehmende Verstrickung des Menschen in die digitale Welt: Wir werden immer abhängiger von Computern und Netzen. Wir überlassen den Algorithmen immer mehr Entscheidungen. Wir verlernen, ohne sie zu leben. Wir machen keine echten Erfahrungen mehr. Das Irrationale sei das Menschliche.

Das alles sind reale Probleme, aber Ulrike Guérot überzieht auch diese Probleme ins Maßlose: Denn natürlich machen wir immer noch Erfahrungen. Natürlich gibt es auch Anfänge einer Gesetzgebung zur Regulierung des Netzes. Es ist auch ganz falsch zu glauben, dass Algorithmen rational, perfekt und unmenschlich seien, sondern dahinter stehen immer Menschen, mit höchst menschlichen, irrationalen, kommerziellen und politischen Interessen. Die Digitalisierung ist mitnichten das Ende der Geschichte, als das sie Guérot beschwört.

Es ist auch befremdlich, dass Guérot sich statt der Nationalstaaten die „legitimierte, und selbststeuerungsfähige Organisation einer globalen Allmende“ wünscht (S. 68), während sie gleichzeitig beklagt, dass der Einzelne in der durchalgorithmisierten Welt keinen Einfluss mehr habe. Denn die Orte, an denen der Einzelne Einfluss nehmen kann, sind natürlich vor allem die gewohnten Demokratien der menschlich gewachsenen Nationalstaaten, während eine anonyme, internationale „selbststeuerungsfähige Organisation“ sich eher nach jenem unbeeinflussbaren Moloch anhört, den Guérot fürchtet.

Schwaches Denken

Ulrike Guérot ist zum Opfer ihres eigenen ungenauen Denkens geworden, das sich die Argumente zur Erreichung vorgefasster Ergebnisse zurechtbiegt. Es finden sich in ihrem Text viele falsche und schräge Argumente, die noch nicht genannt wurden. Einige davon wollen wir hier aufzählen.

Wenn man Politiker per Los statt per Wahl bestimmt, würde die Repräsentation wegfallen, meint Guérot (S. 35). Das stimmt natürlich nicht. Die Repräsentanten würden dann nur auf eine andere Weise bestimmt, es wären aber immer noch Repräsentanten. – Wie viele, so glaubt auch Guérot, dass Links und Rechts heute verwechselbar geworden sind (S. 37). Das ist keineswegs so. Vielmehr wird das normale demokratische Wechselspiel von Rechts gegen Links aus verschiedenen Gründen behindert. Insbesondere dadurch, dass allzu viele Menschen zu der undemokratischen Überzeugung gelangt sind, man dürfe konservative Positionen aus dem erlaubten Spektrum der „liberalen“ Demokratie ausschließen. – Es ist auch völlig übertrieben, dass die Bürger heute willenlose Konsumenten seien (S. 39 f.). Ganz so schlimm ist es nicht. In diesem Zusammenhang ist es auch unverschämt, wenn im Zusammenhang mit der friedlichen Revolution in der DDR die Banane als Symbol der wahren Motivation der Menschen beschworen wird (S. 40). Hier zeigt sich wieder, dass Ulrike Guérot eine in der Wolle gefärbte Linke ist, die bis heute innerlich nicht verwunden hat, dass die Menschen den real existierenden Sozialismus nicht mittragen wollten. – Guérot meint, das Projekt der ersten Aufklärung sei das Begreifen gewesen, dass es keinen Gott gibt (S. 61). Das ist Unsinn. Die Aufklärer glaubten bis auf wenige Ausnahmen alle an einen Gott. Nur radikale Materialisten und Linke nicht. Dies ist ein weiterer Fingerzeig auf das denkerische Milieu von Guérot. – Völlig falsch ist auch ein Seitenhieb gegen Donald Trump: Dieser hätte das atomare Armdrücken mit Nordkorea wieder aufgenommen, meint Guérot (S. 64). In Wahrheit hat Trump Nordkorea an den Verhandlungstisch gebracht. Wie viele, so begreift auch Guérot nicht, dass das notorische Verbreiten von hysterisch aufgeblasenen Unwahrheiten über den politischen Gegner nicht zur eigenen Glaubwürdigkeit beiträgt. Aber auch das ist nichts neues. Das war schon bei Ronald Reagan so.

Sehr blauäugig ist Ulrike Guérot in Bezug auf die Bewegungen „Fridays for Future“ und Extinction Rebellion (S. 65 f.): Es ist zwar richtig, dass diese Bewegungen ein Ziel jenseits des Konsum haben, aber das allein genügt nicht. Denn das Ziel wird durch pseudowissenschaftlichen Fanatismus definiert. Andersdenkende werden nur noch als Radikale wahrgenommen. „Follow the Science“ ist hier längst zu einem Demokratie-zerstörerischen Slogan geworden, der mit Wissenschaft nichts mehr zu tun hat. Und es gibt eine verborgene Agenda: Es finden sich in diesen Bewegungen, die keinesfalls Graswurzelbewegungen von Jugendlichen sind, altbekannte antikapitalistische und linksradikale Motivationen wieder, die die wahren Antriebe sind. So geht es diesen Bewegungen immer nur ums Abschalten und Dichtmachen und Blockieren. Um den Aufbau einer ökonomisch tragfähigen Energie-Infrastruktur nach durchdachten Gesamtplänen geht es hingegen sichtlich nicht.

Guérot versucht ihre Argumentation durch mehrere Verweise auf Hannah Arendt abzusichern, um ihnen den Anstrich der Klugheit und der Legitimität zu verschaffen. Doch die meisten Zitate sind rein beschreibend, nicht unterstützend (S. 44, 67, 69). An einer Stelle wird die Aussage von Hannah Arendt jedoch klar überzogen: Guérot behauptet, dass Hannah Arendt in letzter Konsequenz für eine Räterepublik gewesen wäre (S. 33 Fußnote 14). Das ist zumindest übertrieben. Die angeführte Quelle berichtet u.a. von Hannah Arendts Bewunderung für die Verfassung der USA, in der der Anspruch auf Souveränität eliminiert sei. „Souveränität“ wird hier im Sinne von unkontrollierter Herrschaft verwendet. Das ist etwas ganz anderes, als Ulrike Guérot in diesem Büchlein unter dem Stichwort „Souveränität“ bespricht, denn die US-Verfassung gehört für Guérot offensichtlich zu den demokratischen Verfassungen, die sie kritisiert.

Last but not least hat Ulrike Guérot die zutreffende Beobachtung gemacht, dass die Rechtspopulisten heute zu den wenigen gehören, die tatsächlich bereit sind, für ihre Überzeugungen einen Preis zu bezahlen. Gerade sie handeln also nicht wie verdummte Konsumenten. Ein Beispiel ist für sie der Brexit. (S. 42) – Leider denkt Guérot an dieser Stelle nicht weiter, weshalb sie nicht erkennt, dass diese Rechtspopulisten zumindest einen Zipfel der Wahrheit in der Hand halten, für den Guérot aber völlig blind ist. Der Brexit war tatsächlich notwendig, um die Demokratie in Großbritannien vor dem unbelehrbaren Brüsseler Moloch zu retten. Und der Widerstand gegen die Klimahysterie ist ebenfalls nicht nur ein dummes Blaffen von verwöhnten Konsumenten, sondern die warnende Stimme von wissenden Menschen:

  • Was Ihr da sagt stimmt nicht!
  • Was Ihr da wollt, funktioniert nicht!
  • Auf diesem Weg macht Ihr die Demokratie kaputt!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. März 2022)

Markus Krall: Die Bürgerliche Revolution – Wie wir unsere Freiheit und unsere Werte erhalten (2020)

Obwohl so vieles richtig ist – dennoch totales Versagen

Natürlich hat Markus Krall mit vielem einfach nur Recht. Dennoch scheitert er völlig. Wie das?

Wie es nicht geht, das hat bereits die Entwicklung der AfD gezeigt: Die Verschmutzung berechtigter Kritik mit Rechtsradikalismus schadet massiv. Denn wenn es den etablierten Kräften gelingt, berechtigte Kritik als rechtsradikal hinzustellen, dann haben sie gewonnen. Und wenn da wirklich Rechtsradikalismus ist wie in der AfD, dann haben die etablierten Kräfte ganz leichtes Spiel. Höcke ist kein Randphänomen in der AfD, und Bernd Lucke und Frauke Petry sind schon lange aus der AfD ausgetreten. Die Gauland-AfD könnte glatt eine Erfindung der etablierten Kräfte sein, denn solange sich der Widerstand in einem Boot mit Rechtsradikalen befindet, ist er wunderbar neutralisiert.

Leider macht es Markus Krall nicht wirklich besser, und das zeigen wir jetzt Punkt für Punkt:

  • Markus Krall hat eine falsche Analyse zur AfD (S. 175 f.). Er glaubt immer noch daran, dass man die Rechtsradikalen abspalten könne. Das ist leider nicht der Fall. Dieser Zug ist lange abgefahren. Die Rechtsradikalen dominieren jetzt diese Partei. Wer jetzt noch in der AfD ist, kann auch nicht mehr ernsthaft als Liberaler bezeichnet werden, sondern nur noch als nützlicher Idiot oder Pseudoliberaler. Krall glaubt, dass die AfD zu einer rechtspopulistischen Partei werden könnte, die dabei helfen könnte, die anderen Parteien auf einen rechteren Kurs zu zwingen. Das wird mit dieser AfD nicht gehen.
  • Berücksichtigung Andersdenkender: Wer die demokratische Gesellschaft reformieren möchte, muss auch berücksichtigen, dass es eine große Zahl von Andersdenkenden gibt. Die darf man ruhig argumentativ und scharf kritisieren. Aber sie sind eben doch da. Man muss mit ihnen leben. Man muss sich mit ihnen in einem gemeinsamen Staat arrangieren! Sprich: Man muss Bedingungen formulieren, ab welchen Graden man bereit ist, ihnen dies oder jenes zuzugestehen. Oder sogar mit ihnen begrenzt zusammen zu arbeiten. Und es müssen erfüllbare, faire Bedingungen sein. Markus Krall schreibt aber, wie wenn er eine 2/3-Mehrheit im Bundestag hätte. Die hat er aber nicht. Er muss froh sein, wenn seine Meinungen mit Müh und Not und mit teils ungeliebten Koalitionspartnern auf 51% kommen. Und zwar ohne die rechtsradikale AfD, denn die rechtsradikal gewordene AfD will vieles von dem, was Krall an wirtschaftsliberalen Themen durchsetzen will, nicht. Leidet Markus Krall an illusionärem Wunschdenken?
  • Markus Krall plädiert für ein Wahlrecht, demzufolge Bezieher von Sozialleistungen nicht mehr wählen dürfen (S. 233). Die Idee dahinter ist zwar sehr verständlich, dennoch wäre es dann keine Demokratie mehr. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Und damit ist der Vorwurf von antidemokratischem Denken nicht mehr von der Hand zu weisen. Und schon hat man verloren. Unrettbar verloren.
  • Thema Goldstandard und reine liberale Lehre: Kralls Überlegungen zu einem Goldstandard in der Währung und zur reinen Lehre des Liberalismus im Wirtschaftssystem mögen ihm unbenommen bleiben. Aber in den Augen der meisten Menschen ist das radikal. Es schreckt ab. Viel sinnvoller wäre es, ganz einfach eine Rückkehr zu den guten alten Prinzipien der BRD zu fordern: Ein Bundesbanksystem für eine vernünftig gemanagte Papiergeldwährung, und eine soziale Marktwirtschaft im altbekannten Stil. Das ist nicht die reine Lehre, aber es würde gut genug funktionieren, und es wäre mehrheitsfähig. Aber Krall träumt von Idealen, mit denen er nur verlieren wird.
  • Thema Abtreibung: Es ist sicher richtig, dass Abtreibung bis kurz vor der Geburt ein Problem ist, und es sei Markus Krall unbenommen, Abtreibung auch sonst für falsch zu halten. Der Punkt ist aber: Jede Aussicht auf eine Verschärfung des Abtreibungsrechtes verschlechtert die Findung von Mehrheiten massiv. Das ist einfach so. Schon wieder eine Steilvorlage für den politischen Gegner.
  • Thema Monarchie: Kralls Überlegungen zu einer demokratischen Monarchie mögen ihm unbenommen bleiben (S. 239 ff.), aber auch damit liefert er eigentlich nur eine unnötige Steilvorlage für politische Gegner. Markus Krall will offenbar nicht gewinnen?
  • Thema USA: Krall schweigt zur Westbindung und zur NATO. Schmallippig redet er von Bündnisverpflichtungen im Rahmen der UNO (S. 199). So redet auch Gregor Gysi von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Das ist unakzeptabel. Die Westbindung ist viel zu wichtig, um sie zu übergehen. Man darf schließen, dass Krall kein Interesse an ihr hat, ganz wie die Gauland-Höcke-Kalbitz-AfD. Und schon wieder eine Position, die völlig unakzeptabel ist. Deutschland benötigt den Anschluss an eine Weltmacht, um Freiheit und Wohlstand zu sichern, und es gibt nur eine einzige Weltmacht, die das garantiert. Das hätte Krall ganz klar in seinem Buch schreiben müssen!
  • Thema Christentum und Aufklärung: Das Verhältnis zwischen Christentum und Aufklärung wird von Markus Krall völlig falsch gefasst. Er meint, dass die Aufklärung im Christentum wurzele. Das ist aber falsch. Die Aufklärung wurzelt in der antiken Philosophie, die in der Renaissance (=Wiedergeburt) wieder auf die Tagesordnung kam, und sich erst mühsam einen Platz neben und gegen das Christentum erobern musste, bis auch das Christentum sich damit (vorübergehend?) angefreundet hatte. Stichwort „Humanismus“. Aber das Wort „Humanismus“ kommt bei Krall nicht vor. Natürlich ist unser Land auch christlich geprägt, aber das ist nur ein Punkt von mehreren, und nicht der entscheidende Punkt. Im übrigen bleibt völlig unverständlich, warum Markus Krall nicht auf jene Stellen im Neuen Testament eingeht, die dem Sozialismus Vorschub leisten, oder denen zufolge Frauen schweigen und ihr Haupt bedecken sollen. Dazu könnte er durchaus was Kluges sagen, ohne sich verstecken zu müssen. Doch er tut es nicht. Jedenfalls wird deutlich, dass alles nicht so einfach ist, wie Krall meint. Wenn das Christentum das Nonplusultra war, warum war dann das zweifelsohne christliche Mittelalter keine Demokratie und keine Marktwirtschaft? Bildung für alle und Gleichberechtigung von Mann und Frau gab es im Mittelalter auch nicht. Die traditionalistische Auslegung des Christentums im christlichen Mittelalter war ganz genauso problematisch wie die traditionalistische Auslegung des Islams heute. Im Mittelalter war die islamische Welt sogar vorübergehend viel moderner als das christliche Europa. Weil man dort in dieser Zeit antike Philosophen las. Krall schweigt dazu. Seine Analysen stimmen einfach nicht. Und wenn die Diagnose nicht stimmt, kann die Therapie auch nicht stimmen.
  • Kralls Analyse von „Frankfurter Schule“ und „Kulturmarxismus“ ist etwas seltsam (S. 106). Es stimmt zwar vieles von dem, was Markus Krall schreibt, aber er bringt gar keine Belege. Man hätte ein Zitat erwartet, eine „smoking gun“. Aber so ist es nur eine Ansammlung von Behauptungen. Und tatsächlich ist die Analyse der „Frankfurter Schule“ teilweise falsch. Erstens ging es diesen Linken teilweise durchaus um Aufklärung. Nicht alles daran war falsch. Und zweitens muss man auch die historischen Bedingungen begreifen, die damals herrschten. Man kann die „Frankfurter Schule“ nicht einfach aus dem Geschichtsbuch streichen. Man kann nur korrigieren und darüber hinaus wachsen. Von einer solchen „kritischen Anschlussfähigkeit“ ist bei Markus Krall aber nichts zu sehen.
  • Thema Islam und Integration: Auch diese Themen kommen bei Krall nicht vor bzw. der Islam kommt eigentlich nur als Islamismus vor (S. 216). Diese Themen sind aber für die Zukunft der deutschen Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Doch Krall schweigt, und macht damit deutlich, dass er „Lösungen“ für dieses Problem anstrebt, die eine Integration gar nicht erfordern! Nämlich die simple Total-Assimilation bzw. die Ausweisung jener, die sich nicht assimilieren wollen. Das ist aber an Plumpheit kaum zu überbieten, und weder Muslime noch andere Zuwanderer werden das mitmachen, und zwar – und das ist entscheidend – auch die Gutwilligen nicht. Krall hat also keine Lösung. Er ist noch nicht einmal in der Lage, die Existenz des Problems zu akzeptieren. Das ist dann einfach nur das andere Extrem zum plumpen, dummen Vielfalt-Multikulti. Auch Vielfalt-Schwärmer verstehen nicht, warum Parallelgesellschaften ein Problem sein sollen, und sie fangen deshalb gar nicht erst an, nach Wegen zwischen den beiden Extremen Parallelgesellschaft und Total-Assimilation zu suchen. Markus Krall ist keinen Deut besser.
  • Deutsche Kultur: Markus Krall spricht viel von Christentum (er selbst ist übrigens als katholischer Laie aktiv), und vom Leistungsprinzip in der Bildung, und beim Thema Monarchie spricht er vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Aber von Deutschland und der deutschen Kultur spricht er eigentlich gar nicht. Man könnte z.B. vorschlagen, den konfessionellen Religionsunterricht abzuschaffen, und statt dessen ein Schulfach „Humanismus“ für alle Kinder einzureichten, wo man neben Religion auch über Philosophie und Geistesgeschichte unterrichtet wird und das Handwerk der historischen Kritik erlernt? Das wäre ein starkes Stück deutscher Kultur (und nebenbei auch ein Stück Integration). Oder man könnte Preußen als Bundesland wieder einrichten, um auf diese Weise eine Befreundung mit der eigenen Geschichte herzustellen. Bayern und Sachsen gibt es schließlich auch noch. Aber nichts davon. Krall mag Preußen und die preußisch-humanistische Kultur Deutschlands offenbar nicht. Vermutlich ist ihm das alles zu modern und zu aufgeklärt? Krall scheint eher kuk-österreichisch orientiert zu sein, Stichworte: Christentum, Katholizismus und „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“. Kein gutes Zeichen. Die Verfallsprodukte des rückwärtsgewandten katholischen kuk-Gebildes waren schon immer schädlich. Deutsch geht anders.
  • Markus Krall kann sehr gesittet und vernünftig sprechen, z.B. in der Sendung „mission money“. Aber auf Twitter und in diesem Buch und bei bestimmten anderen Veranstaltungen schlägt er einen Ton an, der leider unter Niveau ist: Fies. Hämisch. Sarkastisch. Zynisch. Es tut mir sehr leid, aber auch damit kommt er nicht durch. Die politische Korrektheit muss zwar durchbrochen werden. Aber eine „menschliche Korrektheit“ muss man sich bewahren. Nicht nur „für die anderen“, nicht nur „aus Rücksicht“, sondern natürlich zuerst einmal für sich selbst. Welche Ästhetik und Moral hat jemand, der sich in gedruckter Form auf dieses Niveau begibt? Und welches Publikum will er ansprechen?
  • Sachliche Unrichtigkeiten: Gerade der fiese, sarkastische Ton bringt leider auch viele unrichtige Feststellungen mit sich. Meistens sind es Halbwahrheiten oder eine schiefe, unfaire Perspektive. Es ist also nicht nur der Ton sondern dann auch die Sache, die nicht mehr akzeptabel ist. Mit der falschen Sprache verfälscht man auch sein eigenes Denken. Man muss sich die Fähigkeit unbedingt bewahren, differenziert zu denken. Differenziertes Denken ist kein Zeichen von Schwäche und auch nicht „links“. Linke behaupten zwar ständig, dass sie differenziert denken würden, aber in Wahrheit tun sie es natürlich nicht. Markus Krall leider zu oft auch nicht.
  • Wenig glücklich ist, dass Markus Krall bei Degussa Goldhandel angestellt ist. Dahinter steht die Familie Finck, die wiederum die AfD finanziert haben soll. Das kratzt schon ein wenig an der Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit von Markus Krall. Und dann ist Krall auch Mitglied in dem elitären päpstlichen Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem. Solche undurchsichtigen Zirkel der Mächtigen schaffen einfach kein Vertrauen, zumindest das kann man dazu sagen.

Schlusswort

Warum versagen die deutschen Liberalkonservativen darin, die vielen richtigen Gedanken, die sie haben, richtig umzusetzen? Warum entstehen statt dessen solche pseudo-liberalkonservativen Dinge wie die Gauland-AfD oder dieses Buch von Markus Krall? Vermutlich liegt es an mangelnder Bildung. Wer glaubt, dass die westliche Welt sich im wesentlichen auf das Christentum reduzieren lasse, ist einfach nur unterbelichtet und niemals liberalkonservativ. Da war Franz-Joseph Strauß ein ganz anderes Kaliber. Für Franz-Joseph Strauß spielte seine klassisch-humanistische Bildung eine wichtige Rolle. Und genau das fehlt heute offenbar. Links wie Rechts. Statt Markus Krall sollte man z.B. besser die ersten vier Bücher des Sozialdemokraten Thilo Sarrazin lesen. Sarrazin ist wesentlich umsichtiger und realistischer als Markus Krall. Sarrazin scheitert mit seiner Bildung erst in seinem fünften Buch an der Analyse des Islam. Im Übrigen empfehle ich die Lektüre antiker Philosophen: Platon, Aristoteles, Cicero.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. Mai 2020)

Melanie Amann: Angst für Deutschland – Die Wahrheit über die AfD: wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert (2017)

Demokratie-blinde Analyse der (leider) rechtsradikal gewordenen AfD

Melanie Amann hat zwar Recht: Die AfD (von heute) ist eine rechtsradikale Partei. Aber man kann die AfD nicht korrekt analysieren, ohne gleichzeitig den bedenklichen Zustand der BRD-Demokratie zu analysieren.

Der Gründungsimpuls der AfD war keineswegs Sarrazin. Der Gründungsimpuls der AfD war der Bruch von Staatsverträgen, Verfassung und Gesetzen durch die Merkel-Regierung, in „alternativloser“ Komplizenschaft mit den anderen etablierten Parteien, um den Euro zu „retten“. Unsere Demokratie war durch die „alternativlose“ Ununterscheidbarkeit der etablierten Parteien in immer mehr Politikfeldern schon davor in einer Krise, aber durch den formalen Bruch der demokratischen Grundregeln hatte unsere Demokratie nun einen echten Hau abbekommen: Und genau das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, genau das war der Gründungsimpuls, der Bernd Lucke und andere völlig seriöse Menschen zusammenbrachte, um die AfD zu gründen. Als liberal-konservative Partei.

Erst im Laufe der Zeit ist die AfD immer rechter geworden, bis sie schließlich die Grenzen zum Rechtsradikalismus überschritten hat (meiner Meinung nach war das im Sommer 2016, und nicht schon mit dem Abgang von Lucke). Heute schafft es die AfD nicht mehr, sich glaubwürdig von Antisemitismus abzugrenzen. Björn Höcke hält Reden im unverhohlenen Hitler-Duktus.

Und was den Islam anbetrifft, so ist die AfD schon längst von den Weisheiten Sarrazins abgewichen, der in seinem berühmten Buch auf S. 268 den folgenden klugen Satz schrieb: „Liberale Muslime wehren sich dagegen, ‚dem Islam‘ als solchem bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und damit haben sie Recht. … Leider ist aber nicht zu bestreiten, dass unter den vielen teils uneindeutigen, teils widersprüchlichen Strömungen des Islam ein Gesellschaftsbild dominiert, bei dem die Trennung von Religion und Staat weitgehend noch nicht angekommen ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter kaum existiert“. — Anders als Sarrazin lehnt die AfD von heute den Islam pauschal und radikal ab, und hat die die Solidarität mit Islamreformern aus ihrem Programm herausgestrichen. [PS 30.07.2023: Zum Islam hat Björn Höckes AfD-Fraktion im Thüringer Landtag Mitte 2016 eine Schrift veröffentlicht, die eine antihumanistische Haltung zum Thema Islam formuliert. Der Islam sei inhärent traditionalistisch, denn die „säkularen“ Ideen von Vernunft und Aufklärung könnten auf den Islam angeblich nicht angewandt werden. In islamischen Ländern habe der Islam seinen guten Platz, nur nach Europa gehöre er nicht. Auf dieser ideologischen Grundlage kann die AfD mit islamischen Traditionalisten und Islamisten weltweit kooperieren, während sie Islamreformer grundsätzlich ablehnt und auch keinen liberalen Islam in Deutschland möchte.]

Die AfD ist heute also rechtsradikal und damit abgehakt.

Die fundamentalen Probleme der BRD-Demokratie sind damit aber noch lange nicht abgehakt. Unsere etablierten Parteien brechen immer noch Staatsverträge, Verfassung und Gesetze. Unsere etablierten Parteien vertreten in vielen Politikfeldern immer noch eine derart einheitliche Meinung, dass andersdenkende Bürger praktisch keine Wahl bei der Wahl haben. Wer darin keine ernsthaften, fundamentalen und über kurz oder lang auch gefährlichen Probleme sieht, darf sich nicht Demokrat nennen.

Melanie Amann hat das falsche Buch geschrieben. Hier geht es schon lange nicht mehr um die AfD. Hier geht es schlicht um das Überleben der Demokratie in unserem Land. Aber dazu hat Melanie Amann nichts zu bieten. Und ja: Ich habe Angst davor in einem Land zu leben, das keine Demokratie mehr ist. Echte, berechtigte Angst.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15.04.2017)

Julian Nida-Rümelin: Die gefährdete Rationalität der Demokratie – Ein politischer Traktat (2020)

Für die Wiederherstellung rationaler Verhältnisse als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie

Der Traktat „Die gefährdete Rationalität der Demokratie“ von Julian Nida-Rümelin bringt viele Probleme unserer Zeit auf den Punkt: Es mangelt buchstäblich an Rationalität. Fernab jeder fundierten Bildung wird zu oberflächlich gedacht. Es wird zu viel Propaganda gemacht, statt ernsthaft Argumente auszutauschen und nach der Wahrheit zu suchen. Aber schlimmer noch: Manche haben aus der Ablehnung von Rationalität und Realität inzwischen eine Weltanschauung gemacht und stellen Gefühle und Empfinden über Vernunft und Wirklichkeit.

Dem begegnet Julian Nida-Rümelin mit einer wohlfundierten Analyse des politischen Philosophen: Was ist Demokratie eigentlich? Woran krankt Demokratie in unseren Tagen? Und was ist zu ihrer Gesundung vonnöten?

Geschrieben wurde das Buch im Sommer 2019, also noch vor der Corona-Pandemie und der nachfolgenden „Zeitenwende“ des Ukrainekrieges, was die Hellsichtigkeit der Analyse unterstreicht. Veröffentlicht wurde das Buch mitten im ersten Jahr der Pandemie, weshalb es nicht die Aufmerksamkeit bekam, die es verdient hätte. Denn Julian Nida-Rümelin sagt hier viel Richtiges und Wichtiges. Und manches ist erstaunlich mutig gegen den Zeitgeist gesprochen.

Was ist Demokratie eigentlich?

Zuerst und vor allem klärt Julian Nida-Rümelin den Begriff „Demokratie“ auf. Es gibt heute so viele Missverständnisse zu diesem Thema, dass hier erst einmal gründlich aufgeräumt werden muss. Vieles von dem, was Julian Nida-Rümelin hier zu sagen hat, hat man vielleicht auch schon in der Schule im Politikunterricht gehört, sofern man einen guten Lehrer hatte.

Demokratie beruht nicht (!) zuerst auf dem Prinzip der Mehrheitsbeschlüsse, sondern auf einem „Konsens höherer Ordnung“, oder konkret: Auf der Akzeptanz einer gemeinsamen Staatsverfassung. Der Einzelne mit seiner „individuellen Autonomie“ lebt – grundsätzlich frei und gleich – mit anderen Menschen zusammen in einem Gemeinwesen. Die Staatsverfassung legt die Grundrechte fest, die jeder Einzelne auch gegen Mehrheitsbeschlüsse behält. Damit wird eine Balance zwischen Individualität und Kollektiv hergestellt. Einseitige Übertreibungen zugunsten von Individuum oder Kollektiv führen in die Katastrophe. Die Staatsverfassung legt auch die Verfahren fest, durch die das Gemeinwesen sich selbst bestimmt, d.h. „kollektive Autonomie“ ausübt. Diese Verfahren konstituieren eine „kollektive Rationalität“, die die Rationalität der Einzelnen nach vorgegebenen Regeln in ein großes Ganzes einfließen lässt. Hier spielt das Mehrheitsprinzip eine große Rolle.

Doch die Konstruktion der Verfahren, nach denen Mehrheitsbeschlüsse gefasst werden, ist dabei nicht beliebig. Das Condorcet-Paradoxon zeigt, dass Mehrheitsentscheidungen über Präferenzen in Zirkelschlüssen enden können. Das Arrow-Theorem zeigt, dass es grundsätzlich kein Verfahren gibt, dieses Problem zu umgehen. Konkret formuliert kennt jeder das Problem: Wenn man die Menschen nach ihren Wunschträumen abstimmen ließe, kämen dabei Beschlüsse heraus, die sich gegenseitig widersprechen, spätestens bei der Finanzierung.

Praktisch wird das Problem vor allem dadurch gelöst, dass Parteien und Politiker Politikangebote entwerfen und politisch aushandeln, die in sich widerspruchsfrei sind (oder sein sollten). Man kann Zirkelschlüsse auch dadurch verhindern, indem man die Zahl der Alternativen auf zwei reduziert. Die repräsentative Demokratie, in denen die Politik im wesentlichen von Politikern in gebündelter Form gemacht wird, hat also nicht nur den Sinn, den Bürger von politischer Arbeit zu entlasten, sondern auch den Sinn, dem Bürger in sich stimmige Politikangebote aus einem Guss zu unterbreiten. Überhaupt werden politische Angebote immer nur von Wenigen entwickelt, während die Masse der Menschen immer nur „Ja“ oder „Nein“ sagt. Deshalb wird man eine politische Elite auch niemals los. Man kann sich nur überlegen, wie sie strukturiert sein sollte. Jedenfalls führt die Idee, tausend Einzelfragen per Volksabstimmung zu entscheiden, zwangsläufig ins Chaos. Der Extremfall ist die „liquid democracy“, in der jeder Bürger beliebige Entscheidungen antriggern kann und jeder Bürger alle Einzelfragen per Mausklick entscheidet: Sie kann aus logisch zwingenden Gründen nicht funktionieren. Damit ist insbesondere auch Rousseaus Vorstellung von einer kollektiven Autonomie gescheitert.

Auch das alte Problem der Balance von Freiheit und Gleichheit wird sehr ausführlich diskutiert. Freiheit führt automatisch zu einer gewissen Ungleichheit, da die Präferenzen der Menschen verschieden sind. Das Sen-Paradoxon von Amartya Sen zeigt, dass es unmöglich ist, die individuellen Präferenzen so zu aggregieren, dass zugleich die Liberalität gesichert ist und und alle Chancen der Wohlstandsmehrung ergriffen werden. Sprich: Demokratie ist eine gewisse Form von Luxus, denn man verzichtet bewusst auf gewisse ökonomische Vorteile, um die Freiheit der Bürger zu erhalten. Damit erteilt Julian Nida-Rümelin auch den Sympathien für China eine Absage, die von manchen angesichts der (angeblichen) Effizienz des chinesischen Systems gehegt werden. Zudem muss ergänzend angemerkt werden, dass eine Diktatur zwar die Macht hat, die richtigen Entscheidungen für die Wohlstandsmehrung durchzusetzen, aber die Diktatur weiß keinesfalls besser als die crowd intelligence der freien Bürger darüber Bescheid, was die „richtigen“ Entscheidungen sind.

Demokratie lebt wesentlich davon, dass ihre Akteure sich nicht nur Propaganda und Lügen um die Ohren hauen, sondern rationale Argumente austauschen und einfordern. Die rationale Deliberation, die Politiker und Kommentatoren uns in den Medien zeigen, ist zwar dennoch teilweise Schau und Theater, aber sie darf auf keinen Fall vollständig zum Theater verkommen, weil sonst die Demokratie abhanden kommt. Rationalität, Realismus, Bodenständigkeit sind unerlässlich für das Funktionieren einer Demokratie. Um diese rationale Deliberation aufrecht zu erhalten, spielen die Medien eine wesentliche Rolle: Sie sind die Bühne dafür, und sie müssen diese rationale Deliberation auch von den Politikern einfordern.

Die Bedrohung durch den Klientel-Egoismus

Wichtig ist, dass die Bürger nicht nur nach kurzsichtigen, egoistischen Interessen entscheiden, sondern auch nach langfristigen Erwägungen und „höheren“ Interessen. Julian Nida-Rümelin unterscheidet hier mit Rousseau den bourgois vom citoyen. Der bourgois denkt nur an sich, der citoyen ist am Allgemeinwohl interessiert. Der Verzicht auf einen kurzsichtigen Egoismus wird von Julian Nida-Rümelin „strukturelle Rationalität“ genannt. Es handelt sich um eine Rationalität, die in der Lage ist, um langfristiger Vorteile willen auf kurzfristige Voreile zu verzichten. Auch abstrakte Vorteile, wie z.B. eine stabile Demokratie oder ein gutes Gewissen, spielen hier mit herein.

Was sich etwas utopisch anhört, ist in der politischen Praxis der westlichen Welt real existent. Der höhere Standpunkt, das gute Gewissen, die langfristige Rationalität: Sie fließen für uns alle beobachtbar in die Entscheidungen der Menschen mit ein. Die militärische Abwehr des Kommunismus im Kalten Krieg, die Unterstützung der Armen in der Welt, der Umweltschutz oder – am wichtigsten – die Beachtung von Verfassung und Gesetzen sind Beispiele dafür. Außerdem glaubt Julian Nida-Rümelin mit Aristoteles, dass der Mensch von Natur aus auf Gemeinschaft angelegt ist: Es handelt sich also um eine Eigenschaft des Menschen, die in uns allen angelegt ist. Diese kann zwar verkümmern, sie kann aber auch zum Wachsen und Blühen gebracht werden: Vor allem, wenn sich die Bürger ernst genommen fühlen und tatsächlich sehen, dass sie effektiv mitentscheiden. Daran fehlt es zur Zeit.

Gemäß dem Gibbard-Theorem ist es nicht möglich, demokratische Verfahren zu entwickeln, die nicht durch taktisches Abstimmen beliebig verfälscht werden können. In Italien nennt man es tatticismo: Vor lauter Taktik mit Rücksicht auf alle möglichen egoistischen Klientel-Gruppen gehen die politischen Inhalte verloren. Dieses taktische Verhalten „zieht“ aber nicht mehr, wenn die Bürger nicht rein egoistisch handeln, sondern übergeordnete Interessen mit im Blick haben. Die Rentnerin, die sich trotz der Erhöhung der Mütterrente gegen Angela Merkel entscheidet, weil sie an das größere Ganze und an ihre Enkel denkt, ist das Paradebeispiel (das sich so allerdings nicht in Julian Nida-Rümelins Buch findet).

Die identitäre Bedrohung von Links und Rechts

Linksradikale wie Rechtsradikale betrachten öffentliches Reden, Wahlen und Parlamentarismus nur mit zynischer Verachtung. Das alles sei nur eine große Show, und hinter den Kulissen würden die wahren Mächtigen die Strippen ziehen, meinen sie. Sie verhöhnen die humanistische Idee der öffentlichen rationalen Deliberation. Für Marxisten geht es um den Kampf der Arbeiter und Unterdrückten gegen eine imaginierte herrschende Klasse von „Reichen“. Die postmodernen Wokisten glauben überhaupt nicht mehr, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt geben könnte, und ersetzen Wahrheit durch Macht. Wokisten und Multikulturalisten teilen die Gesellschaft in Gruppen auf. Radikale Feministen möchten, dass Frauen überall 50:50 repräsentiert sind. Rechtsradikale Identitäre teilen die Menschen ebenfalls nach Herkunft und Rasse auf, nur mit umgekehrten Vorzeichen.

In einer Gesellschaft, die in Gruppen zerfällt, die nur noch ihre egoistischen Interessen verfolgen – z.B. Frauen, Männer, Rentner, Jugendliche, Familien, Singles, Zuwanderer, Einheimische, Arbeiter, Schwarze – ist keine Demokratie mehr möglich, da der Einzelne in der Gruppe verschwindet. Die Gruppen stehen sich starr gegenüber, statt wechselnde Mehrheiten quer zu diesen Gruppen zu bilden. Zudem geht das Leistungsprinzip verloren, weil alle Posten in der Gesellschaft nur noch nach Gruppenproporz vergeben werden. Julian Nida-Rümelin kritisiert marxistische und postmoderne, aber auch multikulturalistische Konzepte von Gesellschaft, die immer nur Gruppen und deren „Kampf“ gegen die anderen in den Blick nehmen. Aus einem Eigeninteresse wird erst dann ein demokratisch-politisches Interesse, wenn man das Eigeninteresse mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen versucht und diskutable Vorschläge für die ganze Gesellschaft unterbreitet. So wie ein Bundeskanzler auch nicht nur Bundeskanzler für diejenigen sein sollte, die ihn gewählt haben, sondern natürlich für alle Bürger. Wo diese geistige Grundhaltung für das Gemeinwohl verloren geht, ist der Weg in den failed state beschritten.

Julian Nida-Rümelin im Wortlaut: „… die Multikulturalisten verabschieden die humanistischen Grundlagen der Demokratie in Gestalt eines pluralistischen … Kollektivismus.“ (S. 171) Und: „Wahrheit hat einen Ort in der Demokratie; ohne das Ringen um zutreffende empirische und normative Urteile entleert sich die Demokratie zu einem großen Illusionstheater, das dann von den Entlarvungen der Meisterdenker marxistischer, psychoanalytischer, dekonstruktivistischer, aber auch populistischer und identitärer Provenienz vorgeführt wird.“ (S. 250) Und: „Antirealismus ist keine Option, er befriedet nicht und ist mit der Form politischer Diskurse unvereinbar.“ (S. 250)

Demokratie ist kulturell verwurzelt

Völlig gegen den aktuellen Zeitgeist, und explizit gegen Vordenker wie John Rawls und Jürgen Habermas (S. 138 f.), vertritt Julian Nida-Rümelin die Auffassung, dass ein abstrakter, rein rationaler Verfassungspatriotismus nicht ausreicht, um eine demokratische Gesellschaft zusammenzuhalten. Dieser Irrtum wird von ihm auch „liberalistische Illusion“ genannt (S. 34). Vielmehr sind gewisse gemeinsame kulturelle Voraussetzungen erforderlich, damit Demokratie möglich wird. Eine humanistische Leitkultur ist erforderlich. Das heißt konkret eine auf den einzelnen Menschen als Individuum ausgerichtete Kultur, sowie Rationalität, Mitgefühl mit allen Menschen, und Säkularität. Ein kleinliches Steckenbleiben in Religion, Herkunft usw. verträgt sich damit nicht.

Julian Nida-Rümelin denkt bei seiner humanistischen Leitkultur nicht an die Nationalkulturen. So spricht er z.B. von einer „multikulturell verfassten Demokratie“ (S. 138), oder er schreibt: „Nicht die multikulturelle Verfasstheit demokratischer Gesellschaften, sondern die multikulturalistische Ideologie ist mit den normativen Prinzipien moderner Demokratien unvereinbar.“ (S. 168) – Allerdings widerspricht sich Julian Nida-Rümelin hier selbst. Denn gegen Ende des Buches gibt er zu, dass die humanistische Leitkultur sich spezifisch in Europa entwickelt hat und bis heute nur in europäisch geprägten Ländern wirklich gut funktioniert (S. 229). Es handelt sich also um eine Art Europäischer Leitkultur, ähnlich wie Bassam Tibi vorgeschlagen hat.

Und hier müssen wir Julian Nida-Rümelin bei seiner eigenen Erkenntnis packen und kritisieren. Zunächst stellt sich die Frage, ob es denn wirklich eine „europäische“ Leitkultur ist? Funktioniert die Demokratie in Rumänien und Russland so gut wie in England und Dänemark, die ja alle in Europa liegen? Die Antwort ist klar: Nein, leider noch lange nicht. Die humanistische Kultur, die Julian Nida-Rümelin erstrebt, ist ganz offensichtlich keine „europäische“ Leitkultur, sondern eng mit den Nationalkulturen verwoben. Nicht in dem Sinne, dass nur bestimmte Nationen sich für den Humanismus öffnen könnten, aber doch in dem Sinne, dass der Humanismus sich in die jeweilige Nationalkultur inkulturieren muss. Und das ist in einigen europäischen Staaten geschehen, in anderen hingegen nicht.

Julian Nida-Rümelin sagt es ja selbst: Bevor Demokratie möglich wird, muss ihr ein zivilisatorischer Prozess vorangehen (S. 233). Es muss nämlich dazu kommen, dass sich die humanistische Leitkultur in die Nationalkultur inkulturiert. Das spricht Julian Nida-Rümelin zwar nicht explizit aus, aber genau das ist es. Was er aber sehr wohl explizit ausspricht, ist die Tatsache, dass Demokratie bis heute immer nur im Kontext des Nationalstaates funktioniert, siehe nächster Abschnitt. Wenn Julian Nida-Rümelin zwei und zwei zusammenzählen würde, müsste er darauf kommen, dass sich die erstrebte humanistische Leitkultur nur in der Nationalkultur manifestieren kann. Zerstört man die Nationalkultur und löst man die Nation in Multikulti auf, kann es auch keine humanistische Leitkultur mehr geben.

Das hätte Julian Nida-Rümelin explizit aussprechen müssen, statt von einer „multikulturellen Verfasstheit demokratischer Gesellschaften“ zu phantasieren. Demokratische Gesellschaften können nur transkulturell vielfältig sein, nicht jedoch multikulturell vielfältig. Will heißen: Alle Bürger können Kulturen pflegen wie sie wollen, aber alle Bürger müssen eine gemeinsame Kultur vor allen anderen pflegen: Die humanistisch geprägte Nationalkultur, auf die auch die Demokratie angewiesen ist.

Demokratie ist national verwurzelt

Gegen alle Blütenträume des linksliberalen Zeitgeistes stellt Julian Nida-Rümelin fest, dass Demokratie bis heute nur im Nationalstaat funktioniert (S. 57, 234). Und das lässt sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern. Vielleicht nie. Die allermeisten Menschen sind lokal verwurzelt. Ein Raum für öffentliche Debatte, der für die Demokratie unerlässlich ist, existiert nur auf nationaler Ebene. Die Auseinandersetzung zwischen den anywheres und den somewheres hält Julian Nida-Rümelin langfristig für entschieden: „Ein antikommunitaristischer Kosmopolitismus hat weder politisch noch ethisch eine Zukunft“ (S. 63).

Julian Nida-Rümelin spricht sich deshalb auch klar gegen den Versuch aus, die Europäische Union zu einer Über-Demokratie über den Nationalstaaten auszubauen. Das Mehrheitsprinzip funktioniert nicht, wenn die Grundgesamtheit der Bürger nicht hinreichend homogen ist. Das ist aber nicht der Fall, jedes europäische Land hat seine ganz eigenen Traditionen (S. 70 f.).

Demokratie reformieren

Julian Nida-Rümelin fordert die Beendigung einer Politik des Durchwurstelns ohne Programm und abgekoppelt von der Realität (S. 240). Damit zielt Julian Nida-Rümelin direkt gegen den Politikstil von Angela Merkel und ihren Anhängern, die immer den Weg des kurzfristig geringsten Widerstandes gegangen waren, wie es dem illusionären Wunschdenken von Journalisten und Bürgern gefiel. Das spricht er aber nicht explizit aus.

Auch diejenigen, die die Demokratie nicht akzeptieren, sollten nicht von vornherein aus dem politischen Diskurs ausgegrenzt werden, meint Julian Nida-Rümelin (S. 148). Der Schaden, der durch allzu scharfe Ausgrenzung problematischer Andersdenkender entsteht, ist groß. Damit spricht sich Julian Nida-Rümelin mehr als deutlich gegen die grassierende Cancel Culture aus.

Julian Nida-Rümelin beklagt die falsche Rekrutierung des politischen Personals in Deutschland (S. 240 f.). In angelsächsischen Ländern würde die Rekrutierung des politischen Personals noch deutlicher günstiger sein.

Wie einst schon Karl Jaspers, so kritisiert Julian Nida-Rümelin auch, dass die Politischen Parteien in Deutschland die Politik in Koalitionen im wesentlichen unter sich aushandeln, vor allem in Großen Koalitionen, und das Volk kaum die Möglichkeit bekommt, Richtungsentscheidungen zu treffen; daran sei das Verhältniswahlrecht schuld. (S. 145 f.)

Allzu viel direkte Demokratie hält Julian Nida-Rümelin nicht für wünschenswert. Allerdings erkennt er an, dass Volksentscheide dazu führen, dass sich die Bürger besser informieren. Volksentscheide können auch dazu beitragen, dass sich Bürger nicht völlig machtlos fühlen (S. 99 f., 104). Wenig überzeugend ist allerdings der Einwand, dass eine Entscheidung wie der Brexit zu komplex für die Bürger gewesen wäre. Denn Komplexität kann niemals das Kriterium sein. Die Bürger sollen sich zwar um Rationalität bemühen, aber in der Demokratie geht es nicht um die rationalste Entscheidung. Sonst könnte man gleich Experten regieren lassen bzw. diejenigen, die sich dafür halten. Nein, in der Demokratie geht es darum, dass die Bürger ihr Schicksal selbst bestimmen, und dass sie Entscheidungen, die sie gestern noch für gut befunden hatten, heute aber bereuen, verändern können, ohne eine Revolution veranstalten zu müssen. Mit seiner Brexit-Kritik widerspricht Julian Nida-Rümelin seinen eigenen Einsichten in die Rationalität der Demokratie.

Wissenschaft und Politik, Klimawandel

Julian Nida-Rümelin weist darauf hin, dass Politik und Wissenschaft zwei Systeme sind, die verschiedenen „Rationalitäten“ folgen. Aber statt getrennt voneinander zu agieren, vermischen sich beide Bereiche immer mehr, wodurch sie ihre je eigene Rationalität schwer beschädigen: „So ist die wissenschaftliche Debatte um den Klimawandel und die unterschiedlichen erklärenden Modelle kontaminiert durch die hohe politische Relevanz dieser wissenschaftlichen Studien. Die Folge ist, dass, von vielen wohl unbemerkt, die politische Rationalität in der Wissenschaft, hier der Forschung zum Klimawandel, Einzug hält. Abweichende Positionen werden stigmatisiert, anstatt sie am Diskurs teilhaben zu lassen, und die Frage, wie viele Wissenschaftler nun eine bestimmte wissenschaftliche These zum Klimawandel befürworten, wird zu einem vermeintlichen wissenschaftlichen Argument.“ (S. 205) Und: „Die Wissenschaft darf sich nicht, wie es gegenwärtig immer wieder geschieht, politisch instrumentalisieren lassen.“ (S. 219)

Und: „Es ist das besondere Merkmal demokratischer Ordnungen, dass sie nicht das höhere Wissen einzelner besonders Gebildeter zugrunde legen …, oder es der Wissenschaft anheimstellen, zu bestimmen, was eine gute politische Praxis ist, wie es von der Ikone der Fridays for Future-Bewegung Greta Thunberg gefordert wird, sondern es ist die Bürgerschaft als ganze, die in einer inklusiven, alle umfassenden Deliberation zu klären versucht, was die richtige bzw. falsche politische Entscheidung wäre“ (S. 218) Und: „Der so sympathische Aufruf von Fridays for Future, doch auf die Wissenschaft zu hören, ist hier ein weiteres Indiz für die Vermengung zweier separat zu haltender Rationalitäten.“ (S. 206)

Eurokrise, Migrationskrise

Julian Nida-Rümelin wendet sich auch klar gegen die Politik von Angela Merkel in Sachen Euro und Migration. Er meint, dass Merkels Politik der Griechenland-„Rettung“ ein großer Fehler war, und dass man Griechenland besser mit einem Schuldenerlass aus dem Euro (nicht aber aus der EU) entlassen hätte. Es wäre überhaupt von Anfang ein Konstruktionsfehler des Euro gewesen, dass es keine institutionalisierte gemeinsame Wirtschaftspolitik gab. Die Hoffnung, dass die Euro-Staaten automatisch wirtschaftlich konvergieren würden, wäre naiv gewesen. (S. 237 f.)

In Sachen Migration konstatiert Julian Nida-Rümelin ein Gefühl der Täuschung bei den Bürgern (S. 238). Die Politiker sind nicht ehrlich und die Bürger haben keinen Einfluss. „Auch die großzügigste Aufnahme von Flüchtlingen aus den Armutsregionen wird das Weltelend aber nicht nennenswert mildern können.“ (S. 191) Und auch die Enttäuschungen bei der Integration von Zuwanderern, speziell von Muslimen, werden von Julian Nida-Rümelin klar angesprochen (S. 33).

Weiteres gegen den Zeitgeist

Julian Nida-Rümelin berührt en passant auch weitere Themen, in denen er Position gegen den Zeitgeist bezieht:

  • Gegen den Akademisierungswahn (S. 196).
  • Bildungsgerechtigkeit allein kann soziale Probleme nicht lösen (S. 196).
  • Die SPD ist zu einer Partei der Lehrer statt der Arbeiter geworden (S. 197).
  • Die Armutsdefinition in Deutschland muss dringend revidiert werden, so dass steigender Wohlstand nicht automatisch zu statistisch steigender Armut führt (S. 192).
  • In der DDR war das Leistungsprinzip im Bildungswesen noch intakter als in manchen westlichen Bundesländern (S. 236).
  • Viele Linke verstehen heute unter Säkularität die Bekämpfung von Religion, das sei aber ganz falsch (S. 138).
  • Die Militärdiktatoren in der islamischen Welt stehen uns näher als die Islamisten (S. 44).

Über Donald Trump sagt Julian Nida-Rümelin, dass seine Außenpolitik eine Wende zum Realismus war, und ein Versuch, gegen den deep state vorzugehen (S. 40 f.). Er benutzt tatsächlich das Wort deep state. Diese Meinung passt überhaupt nicht in die Landschaft des aktuellen Zeitgeistes. Julian Nida-Rümelin nimmt auch die Wähler von Donald Trump gegen die linksliberale Unterstellung in Schutz, sie würden gegen ihre eigenen Interessen wählen. Ihre Wahlentscheidung sei keinesfalls so irrational, wie es manchen linksliberalen Beobachtern erscheint (S. 76 f.).

Globale Rechtsordnung

Julian Nida-Rümelin sieht das Problem, dass die Nationalstaaten gegen grenzübergreifende Probleme und gegen internationale Konzerne oft machtlos sind. Sein Rezept dagegen ist nicht die Verlagerung von demokratischen Entscheidungen auf immer höhere Ebenen, sondern die Etablierung einer globale Rechtsordnung. Die Menschenrechte müssen rechtlich verbindlich werden. Der Marktradikalismus muss durch internationale Regeln eingedämmt werden. Außerdem muss es einen ökonomischen Ausgleich in sozialen und ökologischen Fragen geben. (S. 55 f., 63-68, 199 f., 240)

Das Problem ist: Diese Versuche gibt es schon längst. Es gibt die UN, es gibt die UN-Menschenrechtscharta, es gibt einen UN-Menschenrechtsgerichtshof, es gibt das Welthandelsabkommen, und es gibt viele politische Formate, die Nationalstaaten international zu koordinieren. So z.B. die G7 und die G20 Gipfel, oder in Europa die EU, die KSZE, den Europarat. Sozialer Ausgleich findet statt durch Entwicklungshilfe, durch Schuldenerlass, durch den Einkauf von Rohstoffen. Der ökologische Ausgleich findet statt durch großzügige Geldgaben bei Weltklimakonferenzen, usw. usf. – Nur sind alle diese Versuche auf halbem Wege stecken geblieben. Viele Versuche, nationale Kompetenz auf höhere Ebenen zu übertragen, haben die Demokratie beschädigt. Handelsabkommen sind leider nicht immer fair. Die Durchsetzung von Regeln ist leider nicht in allen Ländern gleich. Und Geld an ärmere Länder zu geben, endete oft nur in Korruption.

Man kann Julian Nida-Rümelin zugute halten: Der Versuch bedarf einer Erneuerung. Es geht ihm auch nicht um die Übertragung von Demokratie auf höhere Ebenen, sondern um eine globale Rechtsordnung, also um Regeln und Gerichte, die die Einhaltung von Regeln überwachen. Auch Entwicklungshilfe kann klug statt dumm gestaltet werden. Aber egal wie klug man es anstellt: Es wird Jahrzehnte und Jahrhunderte brauchen. Deshalb ist der Schutz der Demokratie, die im Hier und Jetzt realisierbar ist, nämlich der Demokratie in den Nationalstaaten, vorrangig. Das hätte Julian Nida-Rümelin deutlicher sagen sollen.

Richtig ist, dass die Menschenrechte den anderen Ländern nicht vom Westen aufoktroyiert worden sind (S. 124 f.). Vielmehr kam die UN-Charta gegen den Willen der USA und Großbritanniens zustande. Die Menschenrechte sind auch keine kulturelle Folklore des Westens, sondern für alle Menschen nachvollziehbar, insofern sie vernunftbegabte Menschen sind. Humanismus ist kulturell global anschlussfähig.

Einige Kritikpunkte

Manche Kritik wurde bereits in den vorigen Abschnitten geäußert. Obwohl Julian Nida-Rümelin schon recht deutlich ist, kommt er doch nicht überall deutlich genug auf den Punkt. Insbesondere ist eine klare Benennung von Angela Merkel als einer Hauptschuldigen unserer Situation zu vermissen.

Eine gravierende Leerstelle ist das Thema Medien. Julian Nida-Rümelin spricht zwar von der Bedeutung der Medien für die Aufrechterhaltung der öffentlichen demokratischen Deliberation, aber zur Problematik der Öffentlich-Rechtlichen Medien hat er nur wenig zu sagen: Die Aufsichtsgremien sollten politikfern besetzt werden, und das öffentlich-rechtliche Prinzip sollte auch auf Print und Digital ausgeweitet werden (S. 242). Das ist entschieden zu wenig. Die Organisation des Mediensystems steht definitiv im Zentrum unserer Probleme, hier müsste sehr viel mehr gesagt werden: Sowohl was Kritik, als auch was Lösungen anbelangt.

Julian Nida-Rümelin spricht wiederholt von „Marktversagen“ als einer Ursache unserer Krisen (S. 195, 198), u.a. im Zusammenhang mit der Finanzkrise von 2008. Aber diese Finanzkrise war letztlich von einer Politik verursacht worden, die die Marktkräfte auszuhebeln versuchte. In USA gab es Sozialgesetze, die den Banken vorschrieben, Hauskredite auch an Schuldner zu vergeben, die nicht kreditwürdig sind. Es war von vornherein klar, dass diese Kredite vielfach platzen mussten. Schuld war aber nicht der Markt, sondern eine falsche Politik. Und das ist oft so. Eigentlich immer. Diese Erkenntnis sollte Julian Nida-Rümelin in seine Analyse mit aufnehmen.

Auch bei der Einführung der Marktwirtschaft in der ehemaligen DDR und in Russland sieht Julian Nida-Rümelin viel Versagen, was das Vertrauen in Marktwirtschaft und Liberalität dort untergraben hätte (S. 237 f.). Die Frage ist aber, wie man eine solche Umstellung hätte bewerkstelligen sollen, ohne dass es zu Brüchen kommt. Vermutlich gibt es dafür kein Patentrezept. Es wurden Fehler gemacht, ja, aber ob man es ökonomisch so viel besser hätte hinbekommen können, wie manche meinen, muss bezweifelt werden. Auch diese Opfer sind zuerst und vor allem dem sozialistischen System zuzuschreiben, das eine verheerte Ökonomie zurückließ.

Es ist gut, dass Julian Nida-Rümelin das Thema des Zusammenlebens von Individuen und wirtschaftlichen Unternehmen in einer freien Gesellschaft aufgreift (S. 59). Allerdings ist auch dieses Feld nicht unbeackert: Es gibt bereits Gesetze zum Verbraucherschutz, zum Umweltschutz usw. Und eigentlich war es immer gute Praxis, dass sich Unternehmen abseits ihrer ökonomischen Interessen eher nicht in die Politik einmischen. Ja, die Gesetze müssen weiterentwickelt werden, aber neu ist das Thema nicht.

Julian Nida-Rümelin beklagt zurecht, dass die Vereinigung der DDR mit der BRD eher ein Anschluss war, und keine echte Vereinigung. Denn es wurde keine neue Verfassung ausgearbeitet und auch die wenigen Errungenschaften, die die DDR vorzuweisen hatte, wurden untergebügelt (S. 236 f.). Das ist alles richtig, allerdings vermeidet Julian Nida-Rümelin auch hier, auf den Punkt zu kommen. Denn eine Vereinigung auf Augenhöhe und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, hätte bedeutet, dass Deutschland die Nachkriegszeit überwindet und sich als Nation selbstbewusst neu definiert. Dazu hätte z.B. auch die Wiederherstellung des Bundeslandes Preußen als einem ganz normalen Bundesland gehört, zusammengesetzt aus Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Vorpommern und Restschlesien. Julian Nida-Rümelin irrt auch, wenn er die Schuld daran nur bei Helmut Kohl sieht. Es war nicht nur Helmut Kohl, der diese Debatte scheute, sondern es waren natürlich die Linken und Linksliberalen mit ihrem nekrophilen nationalen Selbstbild, die das nicht wollten. Damals hieß es: „Deutschland? Wir wollen doch Europa!“

Bedauerlicherweise verwendet auch Julian Nida-Rümelin an einigen wenigen Stellen den Begriff „liberale Demokratie“. Aber Demokratie benötigt kein Adjektiv, auch nicht das Adjektiv „liberal“. Demokratie ist entweder demokratisch oder es ist keine Demokratie. Demokratie ist ihrer Verfasstheit nach per se liberal, insofern alle Meinungen, die die demokratischen Spielregeln einhalten, in der Demokratie mitspielen dürfen. Demokratie ist ihrer Verfasstheit nach aber zugleich auch nichtliberal, insofern auch konservative Kräfte Wahlen gewinnen dürfen. Deshalb ist der Zusatz „liberal“ so gefährlich. Es ist ein Versuch, konservative Kräfte aus dem demokratischen Spektrum auszuschließen. Man kann vermuten, dass das nicht die Absicht von Julian Nida-Rümelin war, denn es passt nicht zu dem hier vorgestellten Demokratiebegriff. Ein guter Lektor hätte auf das Problem hingewiesen.

Donald Trump wird ein Übermaß an Lügen unterstellt (S. 27). Hier liegt Julian Nida-Rümelin eindeutig falsch. Donald Trump lügt zwar hin und wieder, aber nicht im Übermaß. Vieles, was ihm als Lüge ausgelegt wird, ist eben eine andere politische Meinung. Und das wahre Problem ist doch nicht, dass Trump lügt, sondern dass auch die etablierten Demokraten in einem Maße zum Gebrauch der Lüge übergegangen sind, dass man erschrecken muss! Da werden Migranten pauschal „Flüchtlinge“, nein: „Geflüchtete“ genannt. Da wird behauptet, ein babylonisches Multikulti würde wunderbar funktionieren. Da wird alles an der westlichen Geschichte und Kultur schlechtgemacht. Da werden radikale Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels propagiert, die nachweislich keinen guten Effekt haben, während effektive Maßnahmen unterbleiben. usw. usf.

Der AfD wird unterstellt, ihre Rhetorik wäre von Anfang an „populistisch“ gewesen (S. 170). Aber in Wahrheit schlägt Julian Nida-Rümelin in diesem Buch genau dieselbe Alternative zu Angela Merkels Griechenland-„Rettung“ vor (s.o.), die damals von AfD-Gründer Professor Bernd Lucke vorgeschlagen wurde. Die These, dass die AfD von Anfang an populistisch gewesen sei, ist vollkommen unsinnig. Die These passt auch gar nicht zu dem, was Julian Nida-Rümelin an anderer Stelle des Buches sagt.

Zum Thema Islam sagt Julian Nida-Rümelin durchaus Richtiges, doch leider verfehlt er den Punkt. Einerseits will er im säkularen Staat von Religion gar nichts wissen: Julian Nida-Rümelin schaut geradezu bewusst weg, wenn er sagt, dass die Religion selbst nicht an den Kreuzzügen schuld sei, und auch Koranverse seien an nichts schuld (S. 230). Andererseits zählt er auf, welche religiösen Praktiken nicht zu einer humanistischen Leitkultur und damit zur Demokratie passen: Autoritäre Muster, religiöser Fundamentalismus, Sehnsucht nach vormodernen Zeiten, Angst vor Aufklärung und Veränderung (S. 230 f.). – Das ist soweit zwar richtig, aber Julian Nida-Rümelin hat sich damit um den entscheidenden Punkt herumgemogelt, den man aber verstehen muss, wenn man politisch zum Handeln kommen will: Wie ist es denn nämlich möglich, dass eine Religion diesen humanistischen Anforderungen genügen kann, wenn die traditionelle Interpretation der Religion dem nicht entspricht?

Die Antwort ist, dass die Vernunft selbst dem Gläubigen befiehlt, die alten Texte der Religion ernst zu nehmen und sie gerade deshalb auf der Grundlage von Vernunft und moderner Erkenntnisse neu zu lesen und historisch-kritisch zu deuten. Das ist keine „Verbiegung“ und keine „Anpassung“ an die Moderne, denn es werden dadurch keineswegs alle Ecken und Kanten einer Religion abgeschliffen. Im Gegenteil: Je mehr Vernunft dabei zur Anwendung kommt, desto authentischer wird die Religion dadurch. Es ist vielmehr die Emotionalität und die Vernunftfeindlichkeit, die der Feind einer authentischen Auffassung von Religion ist. Kurz: Es geht um theologisch valide religiöse Reformen. Die Religionen selbst müssen sich also für den humanistischen Geist öffnen, so wie sich auch die Nationalkultur für den humanistischen Geist öffnen muss. Das können sie auch, denn Vernunft und Menschlichkeit wird in allen Religionen großgeschrieben. Und diese Öffnung ist es, die der Staat abverlangen muss. Der Staat darf deshalb beim Thema Religion nicht so völlig blind sein, wie es manche propagieren. Mehr noch: In einer Situation, in der eine beträchtliche Zahl von Mitbürgern einer traditionellen Lesart von Religion verfallen ist, muss der Staat sogar aktiv werden, um den Humanismus in diese Religion zu inkulturieren. Dazu gibt es vielfältige Möglichkeiten direkter und indirekter Einflussnahme. Doch davon liest man bei Julian Nida-Rümelin nichts.

Die westliche Interventionspolitik in anderen Ländern wird scharf kritisiert: Sie sei schuld an einem Großteil der aktuellen Flüchtlingsbewegungen und hätte hunderttausenden Zivilisten den Tod gebracht (S. 191). Doch hier irrt Julian Nida-Rümelin. Es gab gewiss auch viel Versagen, aber hat nicht auch ein Saddam Hussein hunderttausendfachen Tod gebracht? Und wer hat eigentlich die Opferzahlen der westlichen Interventionen ermittelt? Antiamerikanische NGOs? Die jedes Bombenopfer des IS-Terrors den Amerikanern zuschreiben?! Gerade im Irak ist noch erstaunlich viel Gutes übrig: Es gibt immer noch die freien Kurdengebiete im Norden. Es gibt immer noch die Demokratie des Irak, so formal sie auch ist. Beide haben dem IS widerstanden und waren hilfreiche Verbündete des Westens. Man stelle sich vor, Obama hätte die Truppen nicht aus dem Irak abgezogen und damit dem IS Tür und Tor geöffnet, was für ein Stabilitätsanker hätte dieses Land für die Region werden können! Der große Traum des George W. Bush, endlich den Teufelskreis aus Diktatur und Islamismus in Nahost zu durchbrechen, lebt weiter. Julian Nida-Rümelin hat hier offenbar vieles nicht verstanden. Da ist er aber nicht allein.

Schließlich kommt Julian Nida-Rümelin auf das „Verrechnungsverbot“ von Menschenrechten zu sprechen (S. 133 f.). Dieses ist stark von der Philosophie Immanuel Kants geprägt, sowohl im Guten wie im Schlechten. Grundsätzlich ist es ja auch richtig: Man kann nicht einfach Menschenleben gegen Menschenleben verrechnen. Das ist unmoralisch. – Aber nun die Kritik: Wenn man dieses Verrechnungsverbot absolut setzt, und das wird es oft genug, dann kommt man in Teufels Küche. Dann dürfte kein Staat mehr Soldaten in einen Verteidigungskrieg schicken, um seine Bürger zu schützen, denn dann würde ja das Leben der Soldaten gegen das Leben der Bürger verrechnet. Dann wären auch keine verhältnismäßigen Entscheidungen bei einer Pandemiebekämpfung mehr möglich: Man dürfte Suizide, Depressionen, häusliche Gewalt und verdorbene Bildungskarrieren von Schülern nicht mehr gegen einen vorzeitigen Tod älterer Menschen abwägen. Wir müssen Julian Nida-Rümelin zugute halten, dass er zu diesem Problem in der Corona-Pandemie ausführlich gesprochen hat. Doch hier im Buch fehlt der Gedanke, und es wird ein radikales Verrechnungsverbot formuliert.

In der Danksagung spricht Julian Nida-Rümelin davon, dass viele politische Übereinstimmungen mit Jürgen Habermas deutlich würden (S. 254). Aber dass er bei der Frage nach der kulturellen Verwurzelung der Demokratie einen deutlich anderen Standpunkt bezogen hat (s.o.), davon schweigt er an dieser Stelle. Völlig verschwiegen wird auch, dass Habermas ein großer Unterstützer von Angela Merkels Politiken war, während Julian Nida-Rümelin auch hier eine klar andere Meinung hat. – Es hat den Anschein, als wollte Julian Nida-Rümelin mit diesen Worten der Danksagung einen klaren Dissens zu Jürgen Habermas überkleistern, der sich bei näherem Hinsehen an vielen Stellen zeigt, und der sich in der Corona-Pandemie noch stärker gezeigt hat.

Es fehlt eine tiefere Analyse

Julian Nida-Rümelin beschreibt, wie die Demokratie vor unseren Augen erodiert. Und er beschreibt und kritisiert auch verschiedene geistige Strömungen, die an dieser Erosion beteiligt sind. Aber was fehlt, ist eine Analyse der tieferen Ursachen hinter dem allen. Wie kommt es denn dazu, dass Phänomene wie z.B. der Multikulturalismus und der Wokismus entstehen? Nicht erklären muss man hingegen, wie die Gegenbewegung des Rechtspopulismus entsteht.

Man könnte der Spur des Geldes folgen. Große Unternehmen haben ein Interesse an linksliberalen Zuständen. Der lustorientierte Linksliberale ist einfach der bessere Konsument, verglichen mit einem asketischen Bildungsbürger, der sich mit Büchern begnügt. Auch die Vereinfachung der Zuwanderung und die Schleifung der Nationalkulturen war immer im Interesse des Kapitals, da sie den Zugang zu kostengünstigen Arbeitskräften ermöglicht. Man könnte auch an Betrugschemata denken: Indem man diese oder jene Angst schürt, verkauft sich dieses oder jene Produkt besser. Das alles ist es auch, aber das allein kann es nicht sein.

Einen besseren Fingerzeig, wo das Problem liegt, geben jene Milliardäre, die mit ihrem Geld versuchen, etwas „Gutes“ für die Welt zu tun und auf diese Weise großen Einfluss nehmen. Sie tun das nicht um des Geldes wegen. Vielmehr glauben sie an das, was sie predigen. Und wie wir alle sind sie mit ihren Überzeugungen nicht selten Opfer des Zeitgeistes. Wir haben es nicht so sehr mit einer Verschwörungstheorie zu tun, bei der dunkle Hintermänner die Welt steuern, sondern mit dem Phänomen des kollektiven Irrtums. Gesellschaften können sich kollektiv in einen Irrtum hinein steigern.

Aber woher kommt der Irrtum? Es ist letztlich eine Dekadenzerscheinung. Wenn die Menschen in zu großem Wohlstand leben, wird das Leben leichter. Man verliert den Kontakt zur Realität, der sich vor allem dort manifestiert, wo man hart mit der Realität zusammenstößt. Und mit dem Realitätsempfinden hängt bei weniger gebildeten Menschen die Rationalität eng zusammen. Rationalität könnte man als die Fähigkeit beschreiben, möglicher Zusammenstöße mit der Realität geistig vorwegzunehmen und auf diese Weise zu vermeiden. Und als die Fähigkeit, die Realität so zu ordnen, dass man Vorteil davon hat. Ohne Realitätsempfinden keine Rationalität.

Der Wohlstand reduziert die harten Zusammenstöße mit der Realität, und so heben die Menschen ab und verlieren sich in illusionärem Wunschdenken. Rationalität zählt immer weniger, Gefühle immer mehr. Konservative Skeptiker verschwinden, emotionale Linksliberale setzen sich kulturell durch. Betrachten wir z.B. das berühmte Buch von Thilo Sarrazin aus dem Jahr 2010: Es handelt sich um eine rationale Analyse der Wirklichkeit mit dem Ziel, unangenehme Folgen zu verhindern und gute Zustände anzustreben. Doch das Buch verletzte Gefühle und durchkreuzte liebgewonnene Illusionen. Es wurde deshalb von Angela Merkel als „nicht hilfreich“ bezeichnet. Eine öffentliche Diskussion von Inhalten und ein Austausch von Argumenten fand niemals statt, obwohl viele Bürger das wollten. Es war die totale Zerstörung der demokratischen öffentlichen Deliberation.

Man könnte sagen: Die hohen Herren und Damen tanzen in Versailles. In Versailles galt man etwas, wenn man immer mit der neuesten Mode ging und geistreichen Unsinn von sich geben konnte. Wer jedoch kluge Politik für die Menschen machen wollte, der galt in Versailles nichts und wurde bestenfalls herumgeschubst. Intrigieren und Charmieren war alles, Rationalität und Realismus waren nichts. Die Kritik eines Voltaire wurde am Hof von Versailles auch nicht mit dem Argument zurückgewiesen, dass Voltaire nicht Recht hätte. Es wurde vielmehr überhaupt nicht argumentiert, sondern Voltaire störte einfach nur. Er war eine Beleidigung für den Geschmack und die Sensibilität der Höflinge. Und deshalb musste er weg. Ganz so, wie Angela Merkel das Buch von Thilo Sarrazin für „nicht hilfreich“ erklärte.

Hinzu kommt, dass vielen Menschen ein Sinn in ihrem Leben abhanden gekommen ist. Der religiöse Glaube nimmt immer mehr ab. Und in einer Gesellschaft des Wohlstands gibt es auch immer weniger Not zu lindern. Es ist in der Tat gar nicht so einfach, einen Sinn im Leben zu finden, wenn man in einem materialistischen Paradies lebt. Und so suchen sich die vielen weniger gebildeten Menschen einen Sinn für ihr Leben, wo eigentlich gar keiner ist: Klima, Multikulti, Wokismus, oder Rechtsradikalismus.

Wir haben es also mit einem Dekadenzproblem zu tun. Eine größere Zahl von Menschen ist vor lauter Wohlstand in Illusionen und Wunschdenken sowie in eine quasi-religiöse Sinnsuche hinein geraten. Und sie werden aus ihrem Schlummer nur durch den Zusammenstoß mit der Realität erwachen. – Eine Analyse dieser Art hätte man sich von Julian Nida-Rümelin gewünscht. Vielleicht würde Julian Nida-Rümelin es ganz anders sehen?

Fazit

Julian Nida-Rümelin hat ein richtiges und wichtiges Buch geschrieben, das einmal mehr den betrüblichen Zustand unserer Demokratie beleuchtet und dabei vor mutigen Aussagen nicht zurückschreckt, auch wenn es noch mutiger hätte sein können. Es ist wahr: Die Rationalität selbst leidet heute. Nichts weniger steht auf dem Spiel als die Errungenschaften der Aufklärung.

Julian Nida-Rümelin ist ein weiterer SPDler in einer langen Reihe von SPDlern, die sich von ihrer eigenen Partei entfremdet haben und den Weg nach Linksaußen nicht mitgegangen sind. Teilweise gibt es Überschneidungen mit Thilo Sarrazin, der mit „Wunschdenken“ eine Art Handbuch für kommende Politiker zusammengestellt hat, wie gute Politik gemacht werden muss.

Leider erklärt Julian Nida-Rümelin seine Thesen etwas umständlich. In der zweiten Hälfte ist das Buch auch etwas langatmig geschrieben. Die Erklärungen sind nicht „knackig“ und „griffig“, sondern akademisch abstrakt. Griffige Erklärungen muss sich der Leser selbst suchen, und diese Rezension will einen Beitrag dazu leisten, die Thesen von Julian Nida-Rümelin griffig zu machen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

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