Schlagwort: Depression

Pascal Mercier: Perlmanns Schweigen (1995)

Intellektuelle Scham, Peinlichkeit, Ängste literarisch glänzend verarbeitet

Pascal Mercier schreibt in seinen Büchern offenbar gerne über mehr oder weniger depressive Typen. In „Nachtzug nach Lissabon“ war es ein schwach depressiver Typ in der midlife crisis, der seine Krise aktiv und philosophisch bewältigt: Sehr sympathisch. In „Lea“ ist der Protagonist so depressiv, dass man sich mehrfach wünscht, er möge sich doch endlich umbringen, damit das schreckliche Buch ein Ende findet. Und in „Perlmanns Schweigen“ ist es nun ein mitteldepressiver Typ: Die Symptome der Depression sind noch nicht so stark ausgeprägt, dass man nicht in allem auch sich selbst erkennen könnte, doch sind sie wiederum doch so stark ausgeprägt, dass man sich aufs Ganze gesehen nicht mit ihm identifizieren kann.

Der Rote Faden des Buches kann als jenes Gefühl beschrieben werden, das wir alle vermutlich noch aus Schulzeiten kennen, wo wir typischerweise darunter litten, wenn wir unsere Hausaufgaben vergessen hatten: Man versucht krampfhaft, noch schnell etwas zu Papier zu bringen, oder man versucht, es zu vertuschen und hofft, nicht entdeckt zu werden, und in jedem Fall wäre es ganz schlimm und gewissermaßen der Weltuntergang, wenn es entdeckt würde! Die Reife, den Vorfall als Bagatelle abzutun und souverän, vielleicht sogar frech und erfolgreich durchzustehen, hat man als Schüler noch nicht entwickelt. Dieses Gefühl nun steht im Zentrum dieses Romans, in dem sich eine Handvoll Sprachwissenschaftler in einem Hotel nahe Genua versammelt, um einige Wochen an ihren Texten zu schreiben und sie sich gegenseitig zu präsentieren. Denn Perlmann ist blockiert, hat wie Goethes Faust die abgeschmackte Wissenschaft gründlich satt, und bringt keinen Text zustande.

Soweit ist es noch das Drama eines jeden Intellektuellen, und es gibt viele wertvolle Stücke dazu in diesem Buch. Allerdings steigert sich Perlmann in diese Gefühlslage derart hinein, dass man es nur mit einer gewissen Depressivität erklären kann, die Symptome sind klar: Perlmann kann sich aus der Enge seiner Ängste nicht lösen, er bezieht alles auf sich, misst Kleinigkeiten große Bedeutung bei, leidet unter radikalen Stimmungsschwankungen, zieht sich zurück. Gnadenlos wird Perlmann vom Autor durch alle Varianten peinlicher Momente und der Scham hindurch gejagt, die sich schicksalhaft aus einer anfänglichen Vertuschung zur Wahrung der Fassade ergeben, und immer mehr auftürmen und in sich verstricken. Man will es als Leser immer wieder nicht glauben, aber es kann immer noch schlimmer und noch peinlicher werden.

Der Leser erleidet bei der Lektüre zwei Arten von Scham: Einmal die direkte Scham, indem man mit Perlmann mitleidet. Dann aber schämt man sich auch deshalb für Perlmann, weil dieser es sich so unnötig schwer macht.

Folgende Themen werden anhand des roten Fadens entfaltet:

  • Die anderen sind wirklich andere. Das unüberwindliche Alleinsein mit sich. Fehleinschätzungen von anderen aus Selbstbezogenheit, Vorurteil.
  • Drama des Intellektuellen. Nutzlosigkeit des erworbenen Wissens, die Suche nach dem wirklichen Leben. Wettbewerb mit anderen Intellektuellen.
  • Unwillkürliche Handlungen, die man sich nachträglich zu eigen macht. Die emotionale Unfähigkeit, einen Entschluss auszuführen
  • Mechanisches aber erstaunlich erfolgreiches Reagieren auf Erwartungshaltungen anderer. Nachträgliche Übernahme von Fremdinterpretationen eigenen Handelns im Sinne der Erwartungshaltung anderer. Was ist am Ende der wirkliche eigene Wille?
  • Verhältnis zur Zeit, Zeitgefühl: Leben in und aus Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
  • Erinnerung und eigene Identität als Selbstkonstruktion.
  • u.v.a.m.

Der zweite Rote Faden des Buches ist ein russisches Manuskript zum Thema Erinnerung, das Perlmann im Laufe des Buches übersetzt, anstatt an seinem eigentlichen Text zu arbeiten. Was dieses Manuskript theoretisch refklektiert, erlebt Perlmann im Laufe des Buches dann auch praktisch.

Das Buch ist sehr gut geschrieben und literarisch stark, aber es kostet den Leser einiges und kann sich endlos ziehen: Zum einen, weil das Thema anstrengend ist, man muss als Leser viele peinliche Momente im Geiste mitgehen. Zum anderen, weil der Autor das Thema wirklich bis zum Exzess durchexerziert. Die ersten 100 Seiten fragt man sich, was das Buch eigentlich soll, dann erkennt man das Schema, dass Perlmann sich Sorgen macht, aber immer unbegründet. Mit den zwei unerwarteten Besuchern verkompliziert sich die Situation dann und eskaliert, der Leser reagiert gereizt. Die Leselust sinkt. Die Fahrt vom Flughafen zum Hotel ist ein Horror-Trip auch für den Leser, man ist froh, wenn man das hinter sich hat. Dann bald die Erlösung, wiederum auch für den Leser: Mestre non è brutta. Ab diesem Moment saugt das Buch den Leser regelrecht in sich hinein, denn die Katastrophe ist abgewendet, und es ist nun fast schon wieder vergnüglich zu sehen, wie sich die peinlichen Momente nun auf raffinierte Weise immer dichter fügen und die aufgestauten Verwicklungen Stück um Stück abgewickelt werden.

Dabei gibt es einige Szenen, die wohl unvergessen bleiben werden und für die Leser klassisch werden könnten:

  • Perlmann konfrontiert Millar mit der Musik-CD, die dessen Irrtum entlarvt („Trouvaille“).
  • Die Autofahrt von Genua zum Hotel mit Leskov.
  • Mestre non e brutta. Welch eine Erlösung auch für den Leser des Buches!
  • Der Irre mit dem Umschlag.
  • Ein furioses Klaviersolo.
  • Die wohlkonstruierte Kaskade der Peinlichkeiten zum Ende hin.

Leider hat das Buch kein Happy End, Perlmann erlebt keine Katharsis und verarbeitet seine Probleme nicht konstruktiv, vielmehr sieht man ihn auch am Ende in der ewigen Wiederholungsschleife seines inneren Hamsterrades: Die Depression hat sich während des Buches zweifelsohne von einem mittleren zu einem schwereren Grad entwickelt. Perlmann zerbricht offenbar an seiner Schuld, die er in seinem Wahn auf sich geladen hat. Ein „schönes“ Buch ist es nicht – aber ein „gekonntes“.

Für das literarisch Meisterhafte und das allgemein Menschliche, das in allem zu erkennen ist, lohnt es sich, dieses Buch zu lesen, aber selten hat man als Leser so an einem Buch gelitten. Es ist kein Muss.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Juli 2012)

Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte (2015)

Sensibler, geistreicher Psycho-Thriller mit (Selbst-)Reflexionen über Autoren und Literatur

Die Schriftstellerin Delphine hat Kinder, eine Beziehung und Freundinnen, doch alles eher fern: Die Kinder sind aus dem Haus, der Partner ständig auf Reisen, die Freundinnen wohnen in anderen Städten. Als Delphine in eine Schaffenskrise gerät, begegnet sie L. (im Französischen gesprochen wie „elle“, also ein unkonkretes „sie“). Diese L. kennt Delphine erstaunlich gut, taucht immer im entscheidenden Moment wie zufällig aus dem Nichts auf, und drängt sich immer mehr als vermeintlich beste Freundin in ihr Leben. Schließlich installiert sich L. in Delphines Wohnung, beantwortet ihre e-mails und unterbindet jeden anderen Kontakt soweit wie möglich. Die Atmosphäre ist gedämpft, und L. sorgt dafür, dass Delphine samtweich verpackt vor ihren Mitmenschen und vor ihrem eigenen Denken abgeschirmt wird. Dann beginnt L., sich herrisch zu benehmen.

* * * Spoiler-Warnung * * *

Was hat es mit L. auf sich?

Eine erste Fährte, auf die der Leser gelockt wird, ist der Verdacht eines Identitätsklaus oder vielleicht auch Identitätstauschs. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Delphine und wegen ihrer erstaunlichen Kenntnisse über Delphine und ihr Werk fährt L. anstelle von Delphine auf eine Autorenlesung. Doch das ist es nicht. – Eine weitere Fährte ist, dass L. als Ghostwriterin für berühmte Persönlichkeiten Autobiographien schreibt, und sich bei diesen jeweils vorübergehend „einnistet“, um alle Informationen für das Werk zu bekommen. Genau das tut L. bei Delphine. Und auch Delphine beginnt, heimlich eine Biograhie von L. zu schreiben. Dazu passt, dass L. von Delphine ständig fordert, ein „wahres“ Buch über sich selbst zu schreiben. Doch auch das ist nicht die richtige Spur. – Am Ende laufen die Biographien beider ineinander, und L. versucht, Delphine zu vergiften, scheitert aber damit.

Danach ist L. aus dem Leben Delphines verschwunden, aber L. hat unter dem Namen von Delphine ein Manuskript bei ihrem Verlag eingereicht, das hervorragend ist: Eine Biographie von Delphine und ihrem Leben mit L. Es ist im Grunde das Buch, das der Leser in Händen hält. Es stellt sich heraus, dass L. eine depressive Fiktion von Delphine war, die das im nachhinein alles gar nicht glauben kann. Deshalb stellt sie Nachforschungen an, die ergeben, dass nicht die geringste Spur von L. zu finden ist. Wir erfahren im Verlauf des Buches schrittweise, dass Delphine eine unmöglich gemachte Jugend hatte (die meisten berichteten Traumata entpuppen sich jedoch als Fiktion in der Fiktion, inspiriert durch Delphines Lieblingsbücher).

Die Stärken des Buches sind:

  • Die Sensibilität und Präzision, mit der die Verletzungen von Delphine und L. entfaltet werden. Der „samtweiche“ Schreibstil.
  • Die augenscheinliche Realität von L. und das ungläubige Staunen auch des Lesers, dass es L. gar nicht gibt (gespiegelt im ungläubigen Staunen von Delphines Partner François).
  • Die Genialität der Konstruktion der Beziehung von Delphine und L., die sich dem Leser erst ex post in allen Raffinessen enthüllt. Man blättert wiederholt zurück, und versteht manche Stelle erst dann richtig.
  • Die mehrfache Selbstreflexivität: Das Buch, das der Leser in der Hand hat, ist das Buch, das im Buch geschrieben wird. Die meisten Horrorgeschichten entpuppen sich als Fiktion in der Fiktion. Und die im Buch angestellten Überlegungen über Literatur werden praktisch an diesem selben Buch durchexerziert.

Weitere Themen sind:

  • Das Leben und Leiden eines Schriftstellers, sein Kontakt zu Verlagen und Lesern, ganz unabhängig von Depressionen.
  • Die Frage nach Wahrheit und Fiktion in der Literatur. Dieses Thema wird in vielen Facetten durchgespielt. Von den „Realitätseffekten“ des Roland Barthes, über den Satz von Jules Renard, dass eine Wahrheit, die über fünf Zeilen hinausgeht, bereits ein Roman ist, bis hin zu der sinnlosen Frage nach der „reinen“ Wahrheit (während die ebenso sinnlose Frage nach der „reinen“ Fiktion so gut wie nie gestellt wird). Vorgeführt wird dies an dem Verwirrspiel um Delphine und L. und deren Biographien, gespeist aus ihrer realen Biographie, aus den fiktionalen Gehalten von Delphines letztem Buch, und aus Schlüsselstellen von Delphines Lieblingsbüchern (fast alle traumatischen Erlebnisse entpuppen sich am Ende als Fiktion in der Fiktion, S. 346; die tote Mutter von Delphine soll sogar quicklebendig sein, S. 324).

Im Grunde ist „Nach einer wahren Geschichte“ von Delphine de Vigan eine Art Psycho-Thriller, aber er ist nicht auf Action, Horror und Effekt getrimmt, sondern sensibel, intelligent und geistreich.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. März 2019)

Ewald Arenz: Alte Sorten (2019)

Zwei beschädigte Seelen treffen aufeinander und finden aneinander Heilung

Die Jugendliche Sally tut sich schwer damit, sich in die „vernünftige“ Welt einzuordnen, ist wahnsinnig misstrauisch gegen alles und jeden, reagiert hysterisch, ritzt sich, wird deshalb von ihren aalglatten und verständnislosen Eltern von Klinik zu Klinik geschickt, und reißt eines Tages aus – da trifft sie auf Liss, die alleinstehend und schon über 40 einen Bauernhof mit allem drum und dran umtreibt. Liss nimmt Sally bei sich auf, sagt nicht viel, lässt sie gleichmütig gewähren und an den Arbeiten des Bauernhofes teilhaben. Sally erfährt zum ersten Mal die Freiheit, die sie benötigt, und beginnt Interesse an dem ihr völlig unbekannten Landleben zu zeigen. Aber Liss ist keineswegs die heile Seele, als die sie zunächst erscheint. Nach und nach zeigen sich ihre Beschädigungen, und nun ist es an Sally, Liss vor dem Abgrund zu retten.

Eine wunderschöne Geschichte von zwei Menschen, die aneinander ihr Glück finden und beste Freunde werden. Es sind genau die richtigen zwei aufeinander gestoßen. So ist es auch im richtigen Leben. Wir wollen und sollen alle freundlich und hilfsbereit zueinander sein, aber das alles muss dennoch an der Oberfläche bleiben. Nur in seltenen Fällen geschieht es, dass sich zwei Seelen treffen, die sich mehr zu sagen haben als das. Und manchmal trifft man eben keine. Dann bleibt man allein. So wie Liss, die immer an die Falschen geriet, und sich daraufhin in ihrem Leben durchaus sinnvoll eingerichtet hatte, soweit es ihr möglich war, mit ihrer Arbeit, mit ihren Büchern, und mit ihrem stoischen Gleichmut.

Der Roman wird ruhig erzählt und entfaltet mit einfachen Worten eine eindrucksvolle Geschichte. Neben dem eigentlichen Thema ist der Leser mindestens genauso fasziniert wie Sally von den Einzelheiten des Landlebens. Ein wahres Lesevergnügen, das zum Nachdenken über das Leben anregt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Verfasst Februar 2022.