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Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit (1967)

Das Epos Lateinamerikas

Der Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Marquez aus dem Jahr 1967 ist ein wahres Epos: Es ist nicht nur eine Geschichte, sondern die Geschichte aller Geschichten, eine Erzählung, die eine ganze Welt umgreift und in Worte fasst. Es ist die Welt Lateinamerikas um 1850-1950 und ihr Lebensgefühl.

Der Roman entfaltet sein Panorama anhand der Geschichte der Familie Buendía über mehrere Generationen hinweg. Am Anfang steht die Gründung des Ortes Macondo, der klein und beschaulich ist, ohne Kontakt zur Außenwelt, der nur von Zigeunern besucht wird. Nach und nach ziehen Staat und Kirche ein, dann kommt ein immer wieder aufflammender Bürgerkrieg zwischen „Liberalen“ und „Konservativen“, dann kommen italienische Tanzlehrer und französische Huren, dann eine ausbeuterische Bananengesellschaft und die Eisenbahn, Streiks und Erschießungen von Arbeitern, schließlich die Mode der 20er Jahre, das Motorrad und (fast) das Flugzeug. Die Geschichte der Buendías wiederholt sich in jeder Generation auf immer gleiche und doch immer wieder andere Weise. Verwirrenderweise wiederholen sich auch die immergleichen Namen: Aureliano, José Arcadio, Amaranta, Remedios, usw. Der Eindruck eines ewigen Kreislaufes entsteht, von Streben und vergeblicher Hoffnung, von Verrücktheit und Genie. Der Roman enthält zahllose „running gags“, die immer wieder und wieder vorkommen. Der Roman hat Züge eines psychedelischen Flusses, der rauschhaft vor den Augen des Lesers vorübergleitet.

Zum Lebensgefühl Lateinamerikas scheint auch der Aberglaube als fester Bestandteil zu gehören. Er wird in diesem Roman durch diverse übernatürliche Phänomene repräsentiert, die als faktische Gegebenheiten ohne weiteres in die Handlung eingebaut werden. Dazu gehören die Geister von Verstorbenen, Vorahnungen, Telepathie, die Levitation eines Priesters, Gegenstände, die im Haus umherwandern, Vieh, das besonders fruchtbar ist, je mehr Sex seine Besitzerin hat, oder jahrelanger Dauerregen, und ein Zimmer, in dem die Zeit stehen zu bleiben scheint – aber nicht für jeden. Dazu gehören auch Menschen, die über 100 Jahre alt werden und über mehrere Generationen im Leben mitmischen, und eine Schönheit in edler Einfalt, die der Oberst für die klügste von allen hält, weil sie ein vernünftiges Verhältnis zur Sexualität hat, und die leibhaftig in den Himmel auffährt. Diese Vorkommnisse sind aber nicht plakativ „esoterisch“ aufgebauscht, sondern zur Gesamtatmosphäre passend in die Handlung eingewoben.

Zu diesen übernatürlichen Phänomenen gehört insbesondere auch der Zigeuner Melquiades, der Alchemie, antike Texte und geheime Manuskripte nach Macondo bringt, und eine Prophezeiung über die Zukunft der Familie Buendía ausspricht. Und natürlich der „weise Katalane“, der eine Buchhandlung für seltene Bücher im Ort eröffnet, die am Ende des Romans zur Entzifferung der Manuskripte des Melquiades und seiner Prophezeiung gebraucht werden, woraufhin der Ort Macondo der endgültigen Zerstörung anheim fällt.

Sexualität wird in diesem Roman vorwiegend derb gelebt. Liebe im eigentlichen Sinne kommt zwar vor, aber selten. Es mag dem Milieu entsprechen, aber man hätte sich etwas mehr Kritik gewünscht, und sei es nur durch Ironie. Es ist so ziemlich alles dabei: Angefangen von Männern, die Hausmägde schwängern und dann verlassen, über Zweitfrauen und Scheinehen, über Mütter, die ihre Töchter dem berühmten Oberst wie einem Zuchtbullen zuführen, über ständig vorkommende Prostitution, die vom Autor immer wieder als heilsam und hilfreich gezeichnet wird, über hin und wieder vorkommende Inzucht, über die Andeutung eines Päderasten, bis hin zu Beziehungen, die allein auf rauschhaftem Sex gegründet sind.

Ein Grundthema des Romans, das allerdings immer nur angedeutet und nie zu größeren Höhen der Einsicht geführt wird, ist die Einsamkeit, das Scheitern der Hoffnungen und die Sinnlosigkeit, schließlich das Warten auf den Tod. Dabei die ewige Wiederholung des Immergleichen. Obwohl meistens recht heiter, durchzieht ein melancholischer Grundton das Buch.

Der Schluss des Romans ist etwas seltsam: Für Sippen, die zu hundert Jahren Einsamkeit verdammt waren, so heißt es, gibt es keine zweite Chance. Damit schneidet der Roman seine Verbindung zur Gegenwart ab, und lässt auch keinen Raum für eine bessere Zukunft. Der Roman beschreibt, was geschieht, gibt aber keine Ratschläge und vermittelt keinen Sinn.

Nebenbei:

Der Autor des Romans war Unterstützer diverser kommunistischer Regime. Davon ist im Roman aber kaum etwas zu merken. Eine leichte Sympathie für die „Liberalen“ hat damit nichts zu tun. Im Roman sind „Konservative“ und „Liberale“ gleichermaßen albern. Auch die Bananengesellschaft der „Gringos“ wird zumindest nicht auffallend für ein antiamerikanisches Ressentiment ausgeschlachtet.

Unter den Manuskripten des Melquiades sind auch die Texte von Hermann dem Lahmen, einem Mönch von der Insel Reichenau („damit er das Astrolabium, den Kompass und den Sextanten bedienen konnte“).

Die Neuübersetzung von Dagmar Ploetz erweist sich als sehr gelungen. Als Vorleser hat Ulrich Noethen komplett überzeugt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. November 2018)

Leo Tolstoj: Krieg und Frieden (1868/69)

Trotz allem ein echter Klassiker über Mensch und Gesellschaft, der bleiben wird

Der Roman „Krieg und Frieden“ von Tolstoj beschreibt den Werdegang mehrerer Familien und ihres Umfeldes rund um die Zeit des Russlandfeldzuges Napoleons. Obwohl man zunächst den Eindruck hat, einem eher oberflächlichen Werk wie etwa einem Roman von Alexandre Dumas gegenüber zu stehen, zeigt sich bald, dass der Roman reich an Einsichten ist, die teils implizit, teils fast aufdringlich explizit vermittelt werden.

Zunächst bietet sich eine Fülle an Material, um seine Menschenkenntnis zu schulen und Einsichten in das gesellschaftliche Leben zu gewinnen. Zahlreiche Charaktere und ihre Veränderung und Entwicklung nach Situation, Stimmung und Zeitläuften werden genauestens nachgezeichnet: Da ist der Besonnene, der Tatkräftige, der Heißsporn, der Vorsichtige, der Praktische, der Karrierist, der Vater, die Mutter, die Kinder, die Brüder, die Schwestern, der naive Intellektuelle, der Reiche, der Alte, der Bauer, der Adelige, die Gesellschafterin, der Hauslehrer, der Kutscher, der General, der Skeptiker, die Gläubige usw. Diese Charaktere sind aber nicht stereotyp gezeichnet, sondern durchlaufen eine Entwicklung. Es handelt sich auch keineswegs um Randfiguren: Tolstojs „Krieg und Frieden“ hat nicht zwei oder drei Hauptpersonen, sondern gleich ein ganzes Dutzend davon.

Als Folie für diese Figuren entfaltet sich in epischer Breite ein gewaltiger Bilderbogen verschiedenster typischer Szenen des gesellschaftlichen Lebens: Die Salonrunde, der Ball, die Jagdgesellschaft, das Militärleben, die Schlacht, das Duell, der Gottesdienst, die Begegnung mit dem Kaiser, die Eheanbahnung, die Geburt, die Sterbeszene, die Bauernrevolte, das vertraute Zwiegespräch unter Eheleuten, die Rituale der Freimaurer usw.

Damit ist dieser Roman auch ein ausgezeichnetes Dokument dieser Zeit. Der moderne Leser wird viel Geduld mitbringen müssen, um diese aufmerksam beschriebenen Szenen genießen zu können; wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt. Lediglich in der zweiten Hälfte des Romans nehmen die Beschreibungen des größeren geschichtlichen Verlaufs einen deutlich zu großen Raum ein, sie führen zu weit weg von den betrachteten Personen – hier muss man als Leser eben durch.

Tolstoj hebt immer wieder auf die Eigenheiten des russischen Charakters ab. Die Negativfolie dazu ist häufig der deutsche Charakter: Während man den Russen im Krieg zügeln, den Franzosen hingegen in den Krieg prügeln müsse, müsse man dem Deutschen erklären, warum er in den Krieg ziehen solle; die Deutschen seien die einzigen, die Selbstbewusstsein aus einer selbsterfundenen Theorie schöpfen könnten; die Deutschen seien dazu imstande, Verletzte ignorant liegen zu lassen, während sie ihr Hab und Gut retten; der Deutsche wird als „Wurstmacher“ bezeichnet, er spalte sein Korn auf dem Rücken des Beiles, und wenn eine Lokomotive nicht vom Teufel bewegt werde, dann doch sicher „vom Deutschen“.

Das Problem der Unauflöslichkeit der Ehe und der Abtreibung wird am Rande gestreift. Interessante Einsichten vermittelt der Roman auch zum Thema Freimaurer, die als eine Gruppierung dargestellt werden, deren Mitglieder ihre Ideale genauso selbstgerecht verraten, wie die Mitglieder jeder anderen Kirche auch. Tolstoj hat auch einen Blick für die charakterliche Verhärtung und das schlechte Gewissen von Menschen, die ein Verbrechen auf Befehl begehen, und weist vehement den Gedanken zurück, dass ein Verbrechen verzeihlich werde, wenn es auf Befehl großer Männer geschieht. Die Entscheidungsfindung unter Politikern und Generälen wird ebenso kritisch beleuchtet wie der Umstand, dass in der Politik morgen verdammt sein kann, was heute gilt, und umgekehrt.

Ins Zentrum seiner Darstellungen hat Tolstoj jedoch die Erkenntnis gerückt, dass die Geschichte nicht von großen Männern und Denkern gemacht wird, sondern dass die großen Männer und Denker seiner Auffassung nach nur dem Zug der Zeit entsprechen und nicht wirklich nach eigenem Willen handeln und Einfluss nehmen können. Tolstoj hat damit eine Art Chaostheorie der menschlichen Gesellschaft geschaffen: Das chaotische Zusammenwirken vieler Einzelner sei es, das in Strömungen und Gesetzmäßigkeiten zusammenlaufe. In den allerletzten Absätzen des Romans entwickelt Tolstoj daraus die Idee, dass der Mensch in Wahrheit gar keinen freien Willen habe, dass freier Wille eine Einbildung sei.

Die Radikalität dieser Auffassungen verwundert ein wenig, ist aber für Tolstoj typisch. Denn natürlich hat ein großer Mann erheblich mehr Einfluss auf den Gang der Geschichte als ein kleiner Mann, ein vielgelesener Denker mehr als ein schlichter Arbeiter; und der finale Schluss Tolstojs auf die Nichtexistenz des freien Willens ist vollends übertrieben. Verstehen kann man diese Radikalität nur vor dem Hintergrund der damaligen Geschichtsschreibung, die die großen Männer zu sehr ins Zentrum rückte, was Tolstoj natürlich völlig zurecht kritisiert. Unangenehm fällt auf, dass Tolstoj die Idee, dass große Männer den Gang der Geschichte nicht beeinflussen könnten, immer wieder und wieder in stets neuen und anderen Variationen vorträgt, vor allem in der zweiten Hälfte des Buches – der Leser ist dessen bald überdrüssig, Tolstoj hört und hört nicht auf, wieder und wieder die gleichen Gedanken zu wiederholen. Tolstoj stößt auch nicht zu einer allgemeinen Theorie kollektiver Irrtümer vor, sondern bleibt ganz bei diesem einen kollektiven Irrtum stehen, dass Geschichte allein von großen Männern gemacht werde.

Fazit

Tolstojs Roman „Krieg und Frieden“ hat einige auffällige Schwächen, dennoch ist und bleibt er ein lesenswerter Klassiker, der dem Leser viel zu geben vermag. Erstaunlich ist dabei, dass dies nicht so sehr an den explizit formulierten Intentionen des Autors liegt, sondern vielmehr an den zahlreichen Einsichten in das Wesen von Mensch und Gesellschaft, die Tolstoj eher implizit mitteilt. Diese sind es, die das Werk zu einem Klassiker machen: Wer mit den Figuren dieses Romans, mit Andrei, Pierre, Natascha, Boris, Nikolai, Marja usw. mitgefiebert hat, gehört fortan zu einem Kreis von Eingeweihten, die einen gemeinsamen Schatz von Einsichten und Erfahrungen teilen. Es lohnt sich, dazu zu gehören.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 09. Juli 2010; dort ist die Rezension inzwischen verschwunden)

Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809)

„Werther für Erwachsene“ – Starker Anfang, starkes Nachlassen, interessante Nebenthemen

Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ von 1809 handelt vom Wechselspiel der Gefühle in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen; wie sie sich zu Paaren finden, oder wieder lösen, um sich in anderer Kombination neu zu verbinden, und welche subtilen und teils romantischen, teils unromantischen Antriebe und Motive hinter all dem stecken.

Im ersten Drittel geht es sehr subtil zu, und das ist auch der starke Teil des Romans: Im Zentrum steht das Paar Eduard und Charlotte, die glücklich verheiratet auf einem Schloss wohnen. Doch bereits das Zustandekommen dieser Idylle war nicht geradlinig: Schon als Jugendliche waren sie einander zugetan, dann aber in andere Ehen gekommen, und nur das Schicksal hat es ihnen erlaubt, am Ende doch noch zusammen zu kommen. Dabei hatte Charlotte jedoch zunächst versucht, Eduard mit ihrem jüngeren Patenkind Ottilie zu verkuppeln. Doch Eduard hatte nur Augen für Charlotte, und so kam diese scheinbar perfekte Ehe zustande.

Als Eduard seinen Freund, einen Hauptmann, und Charlotte Ottilie zum dauerhaften Mitwohnen in ihr Schloss einladen, kommt es zu weiteren Wechselfällen der Gefühle: Eduard und Ottilie fühlen sich zueinander hingezogen, und ebenso Charlotte und der Hauptmann. Dabei sind Eduard und Ottilie die eher schlichteren Gemüter, während Charlotte und der Hauptmann sich an Feinsinnigkeit gleichen, und über Eduard und Ottilie lächeln. Dem entsprechend verfallen Eduard und Ottilie ihren Leidenschaften, während Charlotte und der Hauptmann ihre Beziehung platonisch halten.

Der Roman verflacht zusehends, als die Leidenschaft zwischen Eduard und Ottilie irrational aufflammt und gewissermaßen kindisch wird, und bis zum Ende des Romans nicht mehr zur Vernunft kommt, sondern sich auf eine unnötige Weise zu einer überromantischen Tragik steigert. Gegen Ende stört es einfach nur noch, und man möchte nur noch möglichst schnell zum unvermeidlichen und offensichtlichen Ende kommen, wenn die „heilige“ Ottilie sich endlich entschlossen zu haben scheint, auf Eduard zu verzichten, und sie diesen Entschluss dann doch wieder über den Haufen wirft, aber auch das wieder nicht richtig. Oder wenn Charlotte auf die Gefühle von Eduard und Ottilie eine Rücksicht nimmt, die sie nicht verdient haben, die ihnen auch nicht gut tut, und die Charlottens eigenes Schicksal völlig unterpflügt. Das ist dann kein subtiles Seelenleben mehr, sondern Kitsch und Unvernunft. Das ist dann wieder „Werther für weniger erwachsene Leser“, und man fragt sich, warum Goethe seinem Roman diese Wendung gegeben und den größeren Teil seines Romans auf solche Geschehnisse verwendet hat. Hatte er nicht immer darunter gelitten, vor allem als der Autor des „Werther“ zu gelten? Wirklich entfernt davon hätte er sich mit dem größeren Teil dieses Romans nicht.

Vielleicht handelt es sich bei den „Wahlverwandtschaften“ wie bei „Wilhelm Meister“ um einen Roman ohne geradlinigen Plot, der sich spontan und wenig planvoll entwickelt hat, und bei dem zeitweise manches Nebenthema wichtiger wird als die Handlung selbst, so dass sich die Handlung der Präsentation eines Nebenthemas unterordnen muss?

Folgende Nebenthemen werden behandelt:

  • Landschaftsgartenbau. Gärtnerei. Architektur. Wandmalerei. Der Hauptmann. Der Architekt. Der Gärtner.
  • Chemie: Von hier kommt der Begriff der „Wahlverwandtschaften“, der sich in der damaligen Chemie auf Stoffe bezog, die sich einander unwillkürlich anzogen, deshalb aus vorhandenen Bindungen lösten, und miteinander eine neue Bindung eingingen.
  • Diskussion um die Institution der Ehe. Der Graf und die Baronesse. Mittler. Es ist keineswegs ausgemacht, was genau die Meinung Goethes ist.
  • Erziehung. Gebote statt Verbote. Der Gehülfe aus der Pension. Mittler.
  • Gesellschaftliches Leben. Frechheit siegt. Die Tochter Charlottens.
  • Übernatürliche Empfindungen. Wunderglaube. Pendeln. Nanny. Der Begleiter des Lords.
  • Diverses: Tableaux vivants. „Dunkle Kammer“ zur Zeichnung von Landschaftsbildern.

Fazit

Das erste Drittel ist ein starker Einblick in das subtile Seelenleben der Menschen. Die Nebenthemen sind interessant. Es ist jedoch kein runder Roman. Die Stärke des ersten Drittels wird den Roman über nicht durchgehalten, und das Abdriften der Handlung ins allzu Romantische, Irrationale, Kitschige stört den guten Eindruck aus dem ersten Teil doch sehr.

Man beachte: Der Roman ist keinesfalls ein Plädoyer für Beliebigkeit und Laisser-faire, als der er von weniger gebildeten Menschen gerne verstanden wird.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2022)

Bram Stoker: Dracula (1897)

Ein unverdienter Klassiker – Emanzipation als unerwartetes Hauptthema

Für gewöhnlich verbindet man mit dem Wort „Klassiker“ ein Werk, das die Leser durch seine literarische Qualität und durch die darin transportierte Weisheit über mehr als ein Jahrhundert zu überzeugen vermag. Nicht so bei Bram Stokers „Dracula“. Dieses Buch ist allein deshalb von Bedeutung, weil es für die Ausbildung des Vampir-Genres von großer Bedeutung war und auf diese Weise zu einem Klassiker wurde. Der Leser verfolgt also mit Interesse, welche Unterschiede es zwischen diesem Urbild aller Vampirgeschichten und den ihm bekannten Vampirgeschichten gibt.

Der größte Unterschied ist sicher, dass Dracula nicht in Transsylvanien bleibt, sondern nach London kommt, und dort mitten in der modernen Stadt sein Unwesen treibt. Der Roman betont auch sonst die Moderne: Tagebücher werden z.B. auf Phonographen aufgenommen oder auf Reiseschreibmaschinen geschrieben. Bluttransfusionen werden vorgenommen. Man fährt sogar schon Untergrundbahn in London. Am Ende flieht Dracula zurück nach Transsylvanien und wird kurz vor Erreichen seines Schlosses zur Strecke gebracht. Verfolgt wird er mit der Eisenbahn und mit einem Dampfschiff, bewaffnet mit geweihten Hostien und modernen Winchester-Gewehren. Die „Bluttaufe“ von Mina Harker, d.h. das erzwungene Trinken von Blut aus den Adern des Vampirs, erinnert an Harry Potter, der in sich ein Element seines großen Gegenspielers Voldemort trägt. In der Trance der Hypnose kann Mina Harker deshalb in das Denken des Vampirs eindringen, ganz wie bei Harry Potter. Heutige Vampirgeschichten haben nichts mehr davon.

Literarisch ist das Buch nur von mäßiger Qualität. Insbesondere die erste Hälfte des Romans zeichnet sich dadurch aus, dass Doktor van Helsing unglaublich lange braucht, um den anderen Protagonisten zu verkünden, dass die seltsamen Phänomene, denen sie gegenüberstehen, auf Vampirismus zurückzuführen sind. Mindestens fünfmal wird Lucy Westenraa durch Bluttransfusion oder Abschirmung gerettet und dann doch wieder ausgesaugt, bis sie endlich tot ist, aber die Ursache für ihre seltsame Krankheit bleibt die ganze Zeit über ungenannt. Der Leser wird allzu sehr auf die Folter gespannt. Erst in der zweiten Hälfte des Buches nimmt die Erzählung angenehm Fahrt auf. Sehr befremdlich auch, dass alle Frauen und Männer in diesem Roman die besten und die edelsten Frauen und die tapfersten und die verlässlichsten Männer sind. Das versichert insbesondere Doktor van Helsing jedem, dem er begegnet, und bietet ihm auch sogleich seine unverbrüchliche Freundschaft an. Dieser Stil kann nur teilweise mit den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts entschuldigt werden. Dementsprechend sind die Charaktere allzu flach.

Immerhin: Obwohl die Männer das ganze Buch über ständig dabei sind, verletzliche Frauen vor Gefahren zu schützen und zu retten, stellt sich regelmäßig heraus, dass die Frauen den Männern in nichts nachstehen. Insbesondere mit typischen Sekretärstätigkeiten (Schreibmaschine schreiben, Fahrpläne studieren, usw.), die Ende des 19. Jahrhunderts vielen Frauen den Weg ins Berufsleben bahnten, unterstützt Mina Harker die Vampirjagd ganz maßgeblich, und während die Männer ohne Mina Harker auf Vampirjagd gehen und sie zuhause zurück lassen, um sie zu schonen, wird sie genau dort zum Opfer des Vampirs.

Weisheiten hat das Buch kaum zu bieten, außer ein paar Lebensweisheiten am Rande, wie sie in jedem Groschenroman zu finden sind. Es stellt sich überhaupt die Frage, was die Geschichte sagen will. Für welche menschliche Realität sind Vampire eine Chiffre? Es lässt sich nichts vorstellen. Der Kontrast zwischen Moderne und realisiertem Aberglauben fällt auf. Ob das ein Hinweis darauf sein soll, dass die Moderne die Vergangenheit nicht völlig abräumen kann? Es wäre ein allzu grobschlächtiger, geradezu kindischer Hinweis. Nein.

Vielleicht muss man für eine Deutung in die Niederungen der menschlichen Begierde hinabsteigen. Die Begehrlichkeit der Vampire wird regelmäßig erotisch konnotiert, ebenso die Schönheit der weiblichen Vampire. Und Graf Dracula hat es offenbar immer nur auf junge Frauen abgesehen. Die jungen Frauen verfallen dem Vampir in einer Art Hypnose und lassen sich willig aussaugen. Hinterher können sie sich an nichts mehr erinnern und sind verwirrt. Eine unbekannte Krankheit hat sie befallen, die sie schrittweise in einen von wollüstiger Blutbegierde getriebenen Vampir verwandelt. Im Kontrast dazu werden Beziehungen zwischen edlen Männern und Frauen von höchst niveauvoller Art vor Augen geführt, in auffällig übertriebener Weise. Nicht zuletzt erweist sich Mina Harker als eine moderne Frau, die den Männern in nichts nachsteht.

Soll das Buch eine Mahnung und Warnung vor allem an die Adresse junger Frauen sein, die Ende des 19. Jahrhunderts immer selbstbewusster und selbständiger werden, damit sie „edle“ Beziehungen schätzen lernen und sich nicht von bloßer Erotik leiten lassen, die sie „krank“ macht und ihr Leben „aussaugt“? Möglich. Gut möglich. Das wird es sein. Aber auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Roman nur flach und grotesk. Immerhin ist eine gute Absicht erkennbar.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. März 2023)

Jostein Gaarder: Das Kartengeheimnis (1990)

Genial verschränktes Werk voller Esprit – hier wird Philosophie lebendig erfahrbar

Das „Kartengeheimnis“ von Jostein Gaarder ist eine geniale Verschränkung verschiedener Handlungsstränge ineinander: Eine Reise nach Griechenland, ins Mutterland der Philosophie. Eine Reise in die Vergangenheit einer Familie und ihrer Brüche. Und eine Reise auf eine magische Insel, auf der die Phantasieprodukte eines Schiffbrüchigen plötzlich reale Gestalt annehmen und Teil der wirklichen Welt werden. Wenn die 53 Karten eines Kartenspiels lebendig werden und gemäß ihrer Funktion agieren, entsteht eine ganz eigene Welt, die uns auch über unsere wirkliche Welt einiges lehren kann. Denn wie wirklich ist eigentlich die Wirklichkeit? Und dann ist da noch der Joker im Spiel …

Diese mit viel Esprit geschriebene Geschichte ist ganz nebenbei auch eine wunderbare Vater-Sohn-Geschichte. Ebenso nebenbei leistet Jostein Gaarder dankenswerterweise auch die Aufarbeitung eines Teils der norwegischen (und europäischen) Unheilsgeschichte, nämlich die Thematisierung der Hassverbrechen der im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzten Völker an jungen Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten.

Prädikat: Sehr wertvoll. Besser als „Sofies Welt“.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Oktober 2019)

Hans Erich Nossack: Das Testament des Lucius Eurinus (1964)

Problemanalyse einer aufkommenden Religion – ohne angemessene Lösung

Das Testament des Lucius Eurinus von Hans Erich Nossack ist eine genaue Selbstanalyse der eigenen, persönlichen Situation des spätrömischen Politikers Lucius Eurinus. Zentrales Problem seiner Zeit ist das Aufkommen des Christentums. Dieses wird unter allen Gesichtspunkten beleuchtet: Die tieferen und durchaus verschiedenen Motivationen von gebildeten und ungebildeten Menschen, von Männern und Frauen, sich dem neuen Glauben anzuschließen; die Schwäche der eigenen Kultur; die Einfalt der meisten Christen; die Unmöglichkeit, mit Christen rational zu diskutieren; die Hilflosigkeit ihrer Borniertheit gegenüber; deren Heroisierung des Leidens und Opferseins, der Hang zum Beleidigtsein, und deren Habitus des Unterdrückten; deren Kollektivismus („wir“). Schließlich die Möglichkeiten, politisch darauf zu reagieren.

In einem Gespräch mit einem gebildeten Christen wird die Widersprüchlichkeit der neuen Bewegung deutlich: Wie der gebildete Christ selbst immer wieder die Irrtümer und Dummheiten der meisten seiner Glaubensbrüder verurteilen und tadeln muss. Wie er also einem Ideal von Christentum anhängt, das in der Realität schlicht nicht stattfindet. Es wird die Perspektive eröffnet, was es für das Christentum bedeuten wird, wenn es sich gesellschaftlich durchsetzt: Die Anpassung an die Notwendigkeiten, die Gestaltung des Glaubens nach dem Politischen. Am Ende wird das Christentum vielleicht dieselbe Funktion erfüllen wie seine Vorgängerkulte. Der gebildete Christ hat nicht mehr zu bieten als ein Erschrecken über dieser Perspektive.

Die Reflexion des Lucius Eurinus geht aber noch tiefer ins Persönliche hinein: Seine eigene Frau ist – fast beiläufig – Christin geworden, und für den römischen Beamten bricht damit eine Welt zusammen. Wie sich diese scheinbar kleine Veränderung gewaltig auf dessen Konzeption von Leben auswirkt, bis ins Privateste hinein, ist ebenfalls Thema. Die Ehe und das Verhältnis von Ehemann und Ehefrau werden unter einer seltenen Perspektive in den Blick genommen, was wertvoll ist. Am Ende seiner Überlegungen zieht Lucius Eurinus den Schluss aus seinen Überlegungen: In Stille aus einem Leben zu verschwinden, das nicht mehr das Seine ist.

Als Nossack diesen Text 1963 schrieb, dachte er wohl kaum an das Aufkommen des Islam in Deutschland, doch genau diese Perspektive gibt dem Büchlein heute (2012) eine Aktualität, die aufhorchen lässt. Schritt für Schritt begegnen dem heutigen Leser Gedanken und Probleme, die er aus seiner Gegenwart kennt.

Sehr problematisch ist die vorschnelle Resignation und Lebensverneinung, die in Nossacks Werk zum Ausdruck kommt. Auch wenn eine Lage schwierig ist, zum Davonlaufen ist sie deshalb nicht unbedingt. Man hätte gerne erfahren, welcher Philosophie und Weltanschauung Lucius Eurinus selbst anhängt, aus der er seine eigene Kraft schöpft; eine solche muss es doch offensichtlich geben, denn auf welcher Grundlage würde Lucius Eurinus die neue Religion sonst kritisieren? – Wenn Lucius Eurinus wirklich von seiner eigenen Weltanschauung überzeugt ist, dann würde er der neuen Religion gegenüber geistig standgehalten haben, und daran geglaubt haben, dass sich das Wahre und Gute langfristig durchsetzen wird – oder aber: dass sich das Wahre noch nie durchgesetzt hat und niemals durchsetzen wird, sondern immer eine Sache von Wenigen war. Also in jedem Fall kein Grund für Weltuntergangsstimmung. Lucius Eurinus denkt teilweise wie ein heutiger ungebildeter Islamkritiker, der vor lauter Jammern über den Untergang seiner Kultur und das Aufkommen einer „unbehauenen“ Kultur nicht zu einer konstruktiven Bewältigung der Situation kommt.

Wir finden hier also eine gute Aufbereitung eines Problems, aber keine befriedigende Antwort darauf. Das ist für gute Literatur zu wenig. – Richtig störend ist, dass Lucius Eurinus die Christen ständig als „religionslos“ und „Atheisten“ anredet, weil sie seine römische Religion ablehnen. Für den modernen Leser ist das kaum verständlich, dass hätte Nossack anders machen müssen.

Fazit: Sehr interessant und lesenswert, aber nicht gut genug.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. November 2012)

Martin Walser: Mein Jenseits – Novelle (2010)

Kein Jenseits, kein Glaube, sondern nur die üblichen inneren Kämpfe

Die Handlung des Büchleins ist kurz erzählt. Es geht um Augustin Feinlein, der einst verliebt und verlobt war mit Eva Maria. Doch dann wurde ihm die Freundin von einem Bekannten (Wagner-Fan, NS-Familie mit Schloss) im Handstreich ausgespannt und vor der Nase weggeheiratet. Eva Maria schreibt ihm dann noch Postkarten: „in Liebe“. Später dann, als Feinlein Direktor des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Scherblingen war, heiratete Eva Maria zum zweiten Mal, aber wieder nicht ihn, sondern ausgerechnet Dr. Bruderhofer, einen Arzt am selben Krankenhaus, der Augustin Feinlein als Direktor beerben möchte und Schritt für Schritt gegen ihn arbeitet. So macht sich Dr. Bruderhofer lustig über die Reliquienforschung von Feinlein. Als Maßnahme gegen Dr. Bruderhofer (verwirrt im inneren Kampf) stiehlt Feinlein eine Reliquie, wird überführt, und überlässt Dr. Bruderhofer, entlarvt als verwirrter alter Mann, schließlich seinen Posten: Die Niederlage ist komplett.

Wie bei Martin Walser üblich geht es um die inneren Kämpfe, die der Protagonist gegen einen Kontrahenten führt, dem er hoffnungslos unterlegen ist. Der Kampf findet kaum auf der Handlungsebene statt, sondern vor allem im Inneren des Protagonisten, dem man beim Denken zusieht: Wie er sich ausmalt, was er alles gegen seinen Kontrahenten tun könnte, wie er sich seinem Kontrahenten gegenüberstellen könnte. Aber es bleibt fast alles Phantasie. Und es geht um die innere Einstellung zum aussichtslosen Kampf, um die Interpretation einer Niederlage als insgeheimem Sieg, um das Schönreden von Verlust als bereichernder Entsagung. Am Ende bleibt dennoch die Erkenntnis, dass man sich was vormacht. Auf der praktischen Ebene bleibt nur eine hilflose, symbolische Handlung übrig, mit der sich der Protagonist vollends lächerlich macht.

Im Hintergrund dieses Büchleins schwelt die Ur-Niederlage, dass Feinlein für Eva Maria nicht als Mann infrage kommt. Dass er tun und sein kann, was er will, und dennoch nicht infrage kommt. Andere hingegen schon. Schließlich stürzt er sich in den selbstbetrügerischen Glauben an die Wahrheit von Eva Marias Postkarten-Floskel: „in Liebe“. Dieses Thema wird ständig mit den anderen Konflikten und Themen verschränkt. Aber auch solches kennen wir aus anderen Werken.

Ganz neu ist in diesem Buch vielleicht der Aspekt des Glaubens. Der Glaube als Helfer in der Not, in der Not der Ausweglosigkeit und der hoffnungslosen Niederlage. So wird der Glaube für die Vorfahren beschrieben, so nimmt der Protagonist auch den Glauben für sich in Anspruch. So wird auch der Glaube an die Reliquien verhandelt: Es gehe nicht darum, dass die Reliquie echt sei, sondern dass der Glaube echt sei. So findet z.B. auch der alljährliche Blutritt statt, obwohl die Reliquie gestohlen ist – niemand merkt es, die Kirche nimmt einfach eine ähnlich aussehende Monstranz. Glaube heiße, sich die Welt so schön zu machen, wie sie nicht ist. Hier dichtet Walser sogar einen eigenen Psalm der selbstbetrügerischen Hoffnung (S. 113 f.). Aber am Ende wird man durch das „Unerklärliche“ doch völlig zurückgewiesen und alleingelassen. Das Unerklärliche: Gemeint ist nicht Gott, sondern dass er, Feinlein, für Eva Maria nicht infrage kam. Damit war sein Leben aus den Angeln gehoben und seine Existenz gescheitert. Unerklärlich. Endgültig. Kafkaesk. „Ich ging immer an einer Wand entlang, die würde aufhören, dann begänne das Leben, die volle Berührung. Das war ein Irrtum. Die Wand war das Leben.“

Es handelt sich natürlich um eine völlig unterbelichtete Sichtweise auf den Glauben. Am Anfang denkt man noch, es gehe darum, dem Unerklärlichen vorsichtig nachzuspüren, dem Glauben einen gewissen Raum zu geben. Auch um nostalgischen Katholizismus scheint es anfangs zu gehen, der in katholischen Symbolen, Ritualen und Kirchenräumen Kontakt zu einem wie auch immer gearteten „Jenseits“ bekommt. In Rom geht Feinlein immer in die Augustinus-Kirche und betrachtet dort ein Madonnenbild von Caravaggio. In Scherblingen sitzt er gerne in der Kirche und genießt die Atmosphäre. Doch im Laufe der Geschichte wird klar, dass es überhaupt nicht um Glaube und Jenseits geht, sondern um eine schnöde Indienstnahme des Glaubens als irrationale Ausflucht und gewissermaßen „Opium des Volkes“ vor der schrecklichen Welt. Mehr nicht. Der selbstbetrügerische Glaube an das Gute im Täter und in dem, was einem angetan wurde, wird hier zur höchsten Form der Niederlage. Dass es tatsächlich metaphysische Wahrheiten geben könnte, darum geht es in diesem Büchlein keine Sekunde lang. Im Gegenteil, es ist sogar regelrecht ausgeschlossen, denn nur dann ist die Ausweglosigkeit, in der sich Walser hier suhlt, wirklich völlig ausweglos.

Fazit:

Was die Kämpfe und Niederlagen anbelangt, ist es ein echter Walser, und man kann alles wie immer mit der eigenen Lebenserfahrung abgleichen, manches wiedererkennen, und so sein eigenes Scheitern besser verstehen und tragen. Was das Glaubensthema anbelangt, ist es unter Niveau und enttäuschend. Immerhin nimmt sich Walser auch ein klein wenig selbst auf die Schippe: Seine subtilen inneren Kämpfe und Befindlichkeiten wiesen ihn als „Luxustyp“ aus. Und am Anfang wird beschrieben, wie man im Dorf mit jemand umgeht, der „komisch“ wird. Das war’s dann aber auch. Kein wirklich gutes Buch. – Es soll sich übrigens um einen „ausgelagertes“ Kapitel des Romans „Muttersohn“ handeln, ein Versuchsballon, ob die Leser ein „Glaubensbuch“ von Walser akzeptieren würden. Nun, es ist ja gar kein Glaubensbuch. Es tut nur so.

Bewertung: 3 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 2. Oktober 2020)

Paolo Cognetti: Acht Berge (2016)

Gelebtes Leben, aber ohne Sinn und Ziel

Im Roman „Acht Berge“ von Paolo Cognetti geht es um Pietro, der als Kind von seinen Eltern immer wieder mit in die Berge genommen wird, wo sie ganze Sommer lang in einem halb verfallenen Bergbauerndorf in den italienischen Alpen leben und hohe Berge besteigen. Pietro freundet sich dabei mit dem Bergbauernsohn Bruno an. Die erste Hälfte des Romans dreht sich um diese Kindheitserinnerungen und die Eltern, um das Erwachsenwerden und den Tod des Vaters. Auf einem Grundstück hoch oben im Tal, das der Vater Pietro hinterlässt, bauen Bruno und Pietro eine einfache Berghütte. Bis hierhin ist es ein typischer Familienroman, der dem Leser vielerlei Möglichkeiten zur Identifikation bietet. Auch die Beschreibung des Lebens in den Alpen ist gut gelungen.

Doch dann entwickeln sich die Dinge zum Schlechten. Pietro studiert nicht, wie es sein Vater gewollt hatte, sondern lebt ein armes Leben als Filmemacher. Sinn- und ziellos irrt er durch die Welt und kommt dabei auch nach Nepal, wo er wiederum Berge besteigt. Frauen lässt er nur kurzzeitig in sein Leben. Eine davon wird später zur Gefährtin von Bruno. Bruno baut hoffnungsfroh eine Käserei auf und handelt damit erfrischend konstruktiv. Zusammen mit der ehemaligen Freundin von Pietro hat er ein Kind. Doch die Käserei geht pleite, ein konstruktiver Umgang mit dem Versagen unterbleibt, und die Partnerschaft zerbricht. Pietro spielt Seelentröster, ändern tut das aber nichts. Später wird Bruno in den Bergen vermisst. Vermutlich Suizid.

Alles in allem ein Roman, der eine überraschend deprimierende Wendung nimmt, und das ohne jeden Sinn und Zweck. Was will dieser Roman sagen? Wir bekommen Charaktere vor Augen geführt, die aus eigener Schuld versagen. Und irgendwie hat man das Gefühl, dass der Romanautor möchte, dass man darin doch noch einen Sinn erblickt – dass wir diese Versager und ihr gelebtes Leben irgendwie doch noch anerkennen. Dem muss sich der aufgeklärte Leser jedoch konsequent verweigern. Überzeugend ist einzig die Nebenfigur der Freundin, die einen der beiden nach dem anderen – aus guten Gründen – verlässt, und mit Kind ihr eigenes Leben vernunftgeleitet lebt.

Auch dramaturgisch ist das Buch misslungen. Die Verknüpfung der nepalesischen Legende von den Acht Bergen mit der Handlung bleibt höchst unklar. Die Legende stellt die Frage, ob die Besteigung des Heimatberges oder die Besteigung von acht fernen Bergen die größere Tat ist. Doch hier hat keiner der beiden „seinen“ Berg wirklich bestiegen. Nach dem Tod von Bruno wird eine dünne Verbindungslinie zu Pietros Vater gezogen, der ebenfalls nicht zu den Bergen seiner Jugend zurückkehren wollte, wegen dunkler Erinnerungen. Mehr als ein einziger Satz wird dazu aber nicht gesagt. Ganz am Ende ist dann noch von einem Geheimnis die Rede, dass es zwischen Bruno und Pietro gegeben hätte. Der Leser ist ratlos.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. März 2022)

Martin Mosebach: Westend (1992)

Frankfurter Buddenbrooks: Leben und Fall zweier Familien im Westend 1945-1960

Der Roman „Westend“ hat gewisse Ähnlichkeiten zu Thomas Manns „Buddenbrooks“. Es wird das Leben und der Verfall zweier alteingesessener Frankfurter Familien von ca. 1945 bis 1960 beschrieben.

Handlung

Da ist zum einen die Familie Labonté, die aus zwei Tanten und dem elternlosen Großneffen Alfred besteht, den die beiden großziehen. Diese Familie repräsentiert die Tradition. Im Haus Labonté scheint die Zeit stehen geblieben. Vom Mobiliar über die Lieblingsbeschäftigungen der Tanten bis hin zur Haushälterin Fräulein Emig ist alles so wie zu Kaisers Zeiten, als die Welt „noch in Ordnung“ war. Man fühlt sich an Joseph Roths „Radetzkymarsch“ erinnert. – Zum anderen ist da die Familie Olenschläger-Has: Die verstorbene Patriarchin Olenschläger hat den Vetter Fred Olenschläger zum Verwalter des Familienvermögens bestimmt, von dem der Haupterbe Eduard Has nur Renten ausgezahlt bekommt.

Die Familie Labonté entwickelt sich bürgerlich und abwartend. Im wesentlichen sieht man Alfred älter werden und seine Beobachtungen machen. – Eduard Has hingegen treibt es toll: Er luchst dem Kunsthändler Guggisheim die Ehefrau Dorothée ab (bzw. sie läuft zu ihm aus gewissen Gründen über), baut mithilfe von Guggisheim eine bedeutende Sammlung expressionistischer Gemälde auf, und lässt die alte Familienvilla im Westend abreißen und durch einen modernen, kalten Glastempel ersetzen, in dem er die Sammlung aufhängt. Nebenher hat er ein Verhältnis mit Etelka, der verstoßenen Ehefrau des Schrotthändlers Kalkofen. In die Familie drängt sich mehr und mehr der steirische Architekt Szépregyi, der ein Verhältnis mit Has‘ Tochter Lilly beginnt.

Am Ende scheitert Has völlig: Er kann sich nicht mehr von Etelka lösen, Dorothée lässt sich von ihm scheiden, Fred Olenschläger jubelt ihm durch Winkelzüge soviel Schulden unter, dass er seine Gemäldesammlung wieder abgeben muss, und seine geliebte Tochter brennt mit Szépregyi durch.

Alfred hingegen muss erleben, wie seine heile Welt sturzartig in sich zusammenbricht, als jene der beiden Tanten stirbt, die ihn eigentlich geliebt hatte. Denn die verbliebene andere Tante – von der wir durch die Blume erfahren, dass sie einst für Hitler war – macht reinen Tisch: Der Haushalt in der Westend-Villa wird aufgelöst, alle vertrauten alten Möbel, Bilder und Haushaltsgegenstände verkauft, die Haushälterin entlassen, und die Tante zieht in ein Altersheim nach Kronberg, während Alfred allein und verlassen in der Mansarde der leeren Westend-Villa zurückbleibt.

Doch es gibt einen Lichtblick: Alle Verwicklungen scheinen darauf hinauszulaufen, dass Lilly am Ende Alfred zufällt, und Alfred entschlossen zugreift, und beide ein neues Leben beginnen können, losgelöst von den Trümmern der Vergangenheit. Dieses Happy End wird allerdings nur angedeutet. Und auch hier gilt: Es ist offenbar nicht reine Liebe, sondern Lilly fällt Alfred zu, weil sich anderes zerschlägt. Zudem ist Alfred überzeugt, dass Lilly flach und albern ist.

Zeitbezüge

Sehr interessant ist die Phase unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir erfahren von Bombennächten, Zerstörungen im Krieg, Einweisungen der Ausgebombten, dem neu aufblühenden Leben in den Ruinen, und nicht zuletzt auch von Vertriebenen: Schlesier sind zweimal ein Thema. Einmal in der Person der Kehrfrau Scharnhorst, eine verkniffene, Wagnersche Zwergenfigur. Und einmal bei der Suche nach einer Köchin, wo man zur Not auch eine Schlesierin nehmen würde … – Sie kommen also nicht gut weg, die Schlesier. Immerhin wird Eduard Has kräftig auf die Schippe genommen, als er Etelka gegenüber von „Pack aus dem Osten“ spricht, denn Etelka selbst kommt ebenfalls aus dem Osten, in ihrem Fall aus Zoppot in Westpreußen.

Zur Entwicklung des Westends erfährt man, wie die Menschen damals die historistische Architektur der alten Gründerzeit-Villen geringschätzten, und die Politik die Immobilienspekulation im Westend anheizte. Kunsthistoriker verachteten die Villen als eklektisch. Mancher schlug die Ornamente von der Fassade, warf seine alten Möbel hinaus, und schaffte sich Nierentische an. Geduldet durch die Politik bildete sich ein Straßenstrich, Villen verfielen, Gastarbeiter wurden einquartiert, Schimmel und Ratten breiteten sich aus: Man versuchte, die restlichen Bewohner zu vertreiben. Hochfliegende Pläne einer „Bürostadt Schubertstraße“ wurden geschmiedet. – Doch dann schwenkte die Politik unter dem Druck der Bürger um, und die Immobilienspekulation ging schief. Die Kunsthistoriker passten ihr Urteil flugs der Zeit an.

Wir lernen durch dieses Buch auch, dass es nicht erst die 1968er waren, die mit den Traditionen brachen und sich von ihrer Vorgängergeneration abwandten. Das geschah schon eine Generation zuvor! Die 1968er haben in diesem Sinne eher zu Ende geführt, was ihre Elterngeneration im Grunde auch wollte. Wie so oft war diese Jugendbewegung keine reine Jugendbewegung, sondern führte lediglich das aus, was die Elterngeneration ihr mit auf den Weg gegeben hatte, und rannte damit offene Türen ein. Der Bruch von 1968, er muss also mindestens 1945 angesetzt werden. – Aber auch die Nazis waren schon ein Bruch mit der Tradition und der Vergangenheit, auch hier schon eine Generation in Ablösung von einer verpönten Vergangenheit. Im Grunde muss man wohl das Jahr 1918 als das große Jahr des Traditionsbruchs ansetzen, und 1968 ist sozuagen die letzte Konsequenz von 1918.

Bürgerlichkeit

Interessant sind die verschiedenen Auffassungen von Bürgerlichkeit: Im Hause Labonté ist man ganz klar bildungsbürgerlich orientiert und hat eine Vorstellung von Weltanschauung. Um Geld geht es nicht. Man fühlt sich aufgeklärt und ist nur noch pro forma Mitglied in der Kirche. Labonté senior war Freimaurer und einst an der Gründung des Vereins für Feuerbestattung beteiligt. Die konservativen Tanten werden als „atheistische Beginen“ beschrieben. Bei der Haushaltsauflösung bekommen wir zu hören, welche Bücher in „solchen“ Haushalten üblicherweise zu finden sind:

  • Die Heine-Ausgabe von 1890.
  • Haeckels „Welträtsel“.
  • Die Novellen von Paul Heyse.
  • Brehms Tierleben.
  • Heykings „Briefe, die ihn nicht erreichten“.
  • Das Herrnhuter Gesangsbuch.

Auch Eduard Has prüft überall, wo er hinkommt, welche Bücher er dort vorfindet. Aber sie sind für ihn offenbar immer nur Statussymbol. Man sieht nirgends, dass er selbst liest, oder irgendeine innere weltanschauliche oder moralische Haltung hätte. Offenbar fährt er nach Bayreuth zu den Wagnerfestspielen. Eduard Has ist ein verwöhntes Kind, musste sich offenbar nie anstrengen, scheint auch kein schwieriges Studium oder dergleichen absolviert zu haben, war den Krieg über sicher in der Schweiz untergebracht, und ist völlig unstet in seinem Willen. Geld spielt in der Familie Olenschläger-Has eine große Rolle.

Einzelnes

Es gibt verschiedene Running Gags. So z.B. das Gemälde „Der Aufbruch des Ritters von Cronberg ins Heilige Land“ von Viktor Müller im Hause Labonté. Immer wieder spiegelt sich die Geschichte in der Betrachtung dieses Gemäldes, das am Ende im Städel landet. Man erfährt dabei einiges über die Kronberger Malerschule. Ebenfalls interessant sind wiederkehrende Überlegungen zum Charakter von Privatsammlern, deren Kunsthändlern, deren Verhältnis zueinander, und wie sich eine Sammlung entwickelt. Immer wieder taucht auch Frau Trumfeller, die Sekretärin von Fred Olenschläger auf. Eine Frau mit Haaren auf den Zähnen.

Sexualität wird im ganzen Buch offenbar nirgends unter der Perspektive von Liebe durchbuchstabiert. Es geht bei Sexualität immer um ein Geschäft von Geben und Nehmen bzw. um Unterwerfung oder gar Demütigung. Es hat den Anschein, als sei dies nicht nur die Auffassung der Protagonisten, sondern auch die Auffassung des Autors. Unpassenderweise spricht der Autor heute bei diesem Roman von „Liebesgeschichten“. Klar erkennbar wird die lieblose Haltung z.B. an dem geschäftsmäßigen Umgang mit Gefühlen durch Lilly, und vor allem an Alfreds Erfahrungen bei einer Prostituierten, die ihn zu der aufschlussreichen Überlegung führen, dass es wohl schwierig werden würde, dass Lilly sich zu so etwas herablässt: Denn das ist sein Ziel. Auch Eduard Has denkt nur in Termini von Eroberung und dergleichen. Die Frauen ihrerseits geben sich den Männern ebenfalls nirgends aus Liebe hin, sondern immer nur aus den verschiedensten gefühligen Berechnungen.

Fazit

Das Buch ist zweifelsohne interessant, sowohl was Frankfurt, die Geschichte der BRD und „das Leben“ im allgemeinen anbelangt, aber es ist leider auch sehr freudlos und eine zähe Kost.

Enttäuschungen, schließlich Enttäuschung vom Leben insgesamt, sind ein großes, etwas verborgenes Thema des Buches. Und wie sich die Protagonisten mit ihrer Enttäuschung im Leben einrichten. Wie sie sich mit Situationen und Verbindungen arrangieren, weil ihre Wünsche sich zerschlagen haben, und sie nun nach Schutz und dem kleineren Übel suchen.

Auch formal ist das Buch etwas problematisch. Schon der Einstieg ist ein hartes Brot, da etwas zusammenhang- und ziellos. Es dauert eine Weile, bis der Leser Orientierung findet, und die ein oder andere Perle erkennen kann. Es nerven die ständigen nahtlosen Übergänge zwischen den Handlungssträngen. Zudem sind einige auffällige Rechtschreibfehler zu beklagen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Mai 2019)

Ewald Arenz: Alte Sorten (2019)

Zwei beschädigte Seelen treffen aufeinander und finden aneinander Heilung

Die Jugendliche Sally tut sich schwer damit, sich in die „vernünftige“ Welt einzuordnen, ist wahnsinnig misstrauisch gegen alles und jeden, reagiert hysterisch, ritzt sich, wird deshalb von ihren aalglatten und verständnislosen Eltern von Klinik zu Klinik geschickt, und reißt eines Tages aus – da trifft sie auf Liss, die alleinstehend und schon über 40 einen Bauernhof mit allem drum und dran umtreibt. Liss nimmt Sally bei sich auf, sagt nicht viel, lässt sie gleichmütig gewähren und an den Arbeiten des Bauernhofes teilhaben. Sally erfährt zum ersten Mal die Freiheit, die sie benötigt, und beginnt Interesse an dem ihr völlig unbekannten Landleben zu zeigen. Aber Liss ist keineswegs die heile Seele, als die sie zunächst erscheint. Nach und nach zeigen sich ihre Beschädigungen, und nun ist es an Sally, Liss vor dem Abgrund zu retten.

Eine wunderschöne Geschichte von zwei Menschen, die aneinander ihr Glück finden und beste Freunde werden. Es sind genau die richtigen zwei aufeinander gestoßen. So ist es auch im richtigen Leben. Wir wollen und sollen alle freundlich und hilfsbereit zueinander sein, aber das alles muss dennoch an der Oberfläche bleiben. Nur in seltenen Fällen geschieht es, dass sich zwei Seelen treffen, die sich mehr zu sagen haben als das. Und manchmal trifft man eben keine. Dann bleibt man allein. So wie Liss, die immer an die Falschen geriet, und sich daraufhin in ihrem Leben durchaus sinnvoll eingerichtet hatte, soweit es ihr möglich war, mit ihrer Arbeit, mit ihren Büchern, und mit ihrem stoischen Gleichmut.

Der Roman wird ruhig erzählt und entfaltet mit einfachen Worten eine eindrucksvolle Geschichte. Neben dem eigentlichen Thema ist der Leser mindestens genauso fasziniert wie Sally von den Einzelheiten des Landlebens. Ein wahres Lesevergnügen, das zum Nachdenken über das Leben anregt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Verfasst Februar 2022.

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