Schlagwort: Erwachsenwerden

Uwe Tellkamp: Der Turm (2008)

Doppeltes Denkmal: Die DDR der 80er Jahre und das Milieu des Bildungsbürgertums

Mit seinem Roman „Der Turm“ hat Uwe Tellkamp ein doppeltes Denkmal gesetzt: Zum einen für die Verhältnisse und die Atmosphäre in der späten DDR der 1980er Jahre, zum anderen für das deutsche Bildungsbürgertum in der DDR, das in seinen Nischen zu überleben versuchte. Beide Themen sind in diesem Roman glänzend gestaltet worden und sind auf diese Weise für die Nachwelt bewahrt worden: Die Verhältnisse in der DDR als Dokumentation der Wahrheit gegen alle spätere Verfälschung und als Warnung. Und die Verhältnisse des deutschen Bildungsbürgertums als Vorbild und Mahnung für eine Zeit, die noch nicht einmal mehr weiß, was ein Bildungsbürger überhaupt ist und die glaubt, Schreiben, Lesen und die Aneignung von Wissen hätten sich im Zeitalter der KI erledigt.

Literarische Form

Der Roman besteht aus einzelnen Szenen, die – jede für sich – liebevoll gestaltet wurden. Die Szenen verbinden sich anfangs noch nicht zu einer durchgängigen Geschichte, wachsen dann aber langsam zu einem Geflecht und einer Geschichte zusammen. Dennoch enthalten die Szenen bis zum Schluss lauter Eigenheiten, die die Geschichte nicht vorantreiben, wohl aber für Atmosphäre sorgen. Die Atmosphäre von damals literarisch einzufangen, das ist eines der großen Hauptanliegen dieses Romans.

Dabei kommt eine Vielfalt von literarischen Formen zum Einsatz: Dialoge, Briefe, Tagebucheinträge, Protokolle, Rückblicke. Teilweise verschwimmen die Texte zu psychedelischen Assoziationen. Viele Dinge werden nicht mit ihrer wahren Bezeichnung in der DDR angesprochen, sondern mit Chiffren wie z.B. „Turm“ oder „Kohleninsel“.

Wiederkehrende Themen

Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie Hoffmann. Richard Hoffmann ist Arzt, sein Sohn Christian will später Medizin studieren. Deshalb kommen immer wieder medizinische Themen vor. Man erhält tiefe Einblicke, wie Mediziner reden und denken, wenn kein Patient im Raum ist. Wer selbst Mediziner ist, wird sich gut getroffen fühlen, und vielgeplagte Patienten werden manche wertvolle Einsicht über die „Götter in Weiß“ mitnehmen.

Da der Roman hauptsächlich in Dresden spielt, ist auch viel Dresdner Geschichte und Lokalkolorit in den Roman eingeflochten worden („Dresden … in den Musennestern wohnt die süße Krankheit Gestern“). Ein ebenfalls immer wiederkehrendes Thema sind Uhren und Zeit: Wanduhren, Standuhren, Seemannsuhren, Turmuhren, Uhren aller Art, die die Zeit anzeigen und die Stunde schlagen.

Das Thema des Archipels und vieler einzelner Inseln durchzieht den Roman wie ein roter Faden. Die Anlehnung an „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn ist offensichtlich. Bei Tellkamp bezeichnen die einzelnen Inseln die Schattenwelt, die die DDR zur DDR machte: Die Kohleninsel ist die Bürokratie, die die Bürger unerbittlich knebelte. Die Kupferinsel ist das Regierungsviertel in Berlin. Die Gelehrteninsel ist der Verlag, der Zensur ausübte. Die Askanische Insel, wo die Rechtsanwälte ihre Büros hatten. Die Karbidinsel das Karbidwerk, wo Sträflinge und Soldaten arbeiten mussten. Usw. usf.

Diese zweite Wirklichkeit unter der Oberfläche wird auch „Atlantis“ genannt. Das Thema Atlantis wird immer wieder angedeutet, teils ohne Atlantis explizit zu nennen. So z.B. durch die Erwähnung des „Goldenen Topfes“ von E.T.A. Hoffmann, in dem Atlantis eine Chiffre für die Phantasiewelt des Dichters ist. Oder es wird beiläufig erwähnt, dass auf dem Schreibtisch von Meno die beiden Dialoge „Timaios“ und „Kritias“ von Platon lagen: Es sind die beiden Atlantisdialoge Platons. Die Absicht des Autors scheint einigermaßen klar: Atlantis ist jene Insel, die eines Tages plötzlich unterging, weil ihre Bewohner nicht richtig gelebt hatten: Es ist eine Chiffre für die DDR. Etwa so, wie Viktor Ullmann in seiner Oper „Der Kaiser von Atlantis“ Atlantis als Chiffre für das untergehende Habsburgerreich verwendete.

Und natürlich ist Bildung ein wiederkehrendes Thema.

Bildungsbürgertum und Bildung

Dem Milieu des Dresdner Bildungsbürgertums hat Uwe Tellkamp mit diesem Roman ein wahres Denkmal gesetzt. Auch hier ist der Roman stark autobiographisch, denn Uwe Tellkamp wuchs selbst als Sohn eines Arztes im Dresdner Villenviertel „Weißer Hirsch“ auf. Dieses Thema setzt diesen Roman von allen anderen Werken der (Ex-)DDR-Literatur deutlich ab.

Im Roman wird das Villenviertel am Hang über Dresden mit der Chiffre „Der Turm“ angesprochen. Die weitere Familie sowie Verwandte und Bekannte wohnen in verschiedenen benachbarten Villen, die jede einen eigenen Namen, eine eigene Chiffre hat: Tausendaugenhaus, Karavelle, Haus Abendstern, usw. Dabei ist jede dieser Villen für sich mit ihrer Geschichte und ihrer Ausstattung ein Stück Bildung, sei es durch ihre Jugendstil-Ornamente oder durch die in das Glas der Türen geschliffenen Schiffe. Die Bewohner sind Mediziner, Literaten, Naturforscher, Künstler, Historiker und sonstige Gelehrte im weitesten Sinn.

Das ganze Buch hindurch werden immer wieder Bildungsinhalte reflektiert. Der junge Christian wird immer wieder angespornt: Was siehst Du hier? Beschreibe es genauer! Schau genau hin! Die „Türmer“ treffen sich, tauschen ihr Wissen aus, veranstalten Vorträge.

Bildung heißt konkret vor allem literarische Bildung. Goethe steht ganz oben, auch der Zauberlehrling wird erwähnt, und mit „Walpurgisnacht“ wurde Goethe ein ganzes Kapitel gewidmet. Den Anfang des Hildebrandsliedes kann man auswendig, sunufatarungo, Jakob Böhme und Empedokles sind nicht unbekannt, aber auch westdeutsche Autoren kommen vor: Hermann Hesse, Ludwig Uhland und sogar Walahfried Strabo, als Vertreter einer seltenen Traditionslinie, in der Dichtung und Wissen eine Einheit bilden: Das ist es, darum geht es. Christian liest als Schüler wie verrückt. Der Verlagsmitarbeiter Meno weiß viel von der Leipziger Buchmesse und den Begegnungen mit Westverlagen zu berichten. Von Ossip Mandelstam kann ein Gedicht über Homer auswendig gesagt werden. – Dann ist Bildung auch naturwissenschaftliche Bildung: Käfer, Zoologie, überhaupt Biologie. Haeckel als nützlicher Narr. Museen als Orte der Bildung. Und natürlich Medizin. Aber auch technisches und physikalisches Wissen. – Nicht zuletzt Musik. Schallplatten waren wahre Schätze in der DDR und wurden mit Ehrfurcht gehört. – Grundsätzlich ist ein „Türmer“ an allem (!) interessiert. Bildung ist universal und lässt sich keine Schranken auferlegen. Und seien es Ausgrabungen in Babylon.

Dieses Bildungsverständnis ist dem Rezensenten als Sohn eines Libellenforschers und einer Buchhändlerin nur allzu gut bekannt. Die Familie väterlicherseits kam einst aus dem Osten in den Westen: Ob sich mit diesem Bildungsverständnis auch hier unvermutet ein östliches Erbe entfaltet hat? Es scheint so. Hermann Hesse und Walahfried Strabo grüßen vom schönen Bodensee.

Elend und Niedergang

Doch die „Türmer“ bewohnen die Villen nicht allein. Die Villen sind von der Wohnbehörde säuberlich in Zimmer, Flure, Balkone und Kellerräume aufgeteilt worden, und jede Villa wird von mehreren Parteien bewohnt, die jede nach einem säuberlichen Schlüssel dieses oder jene Zimmer zugeschlagen bekommen hat. Manchmal wird auch ein Zimmer durch eine künstliche Wand geteilt, um den Schlüssel zu erfüllen. Die Bäder und Gärten werden gemeinsam benutzt. Durch diese erzwungene Hausgemeinschaft werden sonst fremde Menschen zum intimen Zusammenleben gezwungen.

Renovationen finden praktisch nicht statt. Die „Türmer“ müssen selbst reparieren oder mit kaputten Heizungen und Fenstern leben lernen. Generell finden den ganzen Roman hindurch immer wieder irre Tauschgeschäfte um seltene Waren statt, um Dachpappe, Bleistifte, Autoersatzteile, Weihnachtsbäume, Dresdner Christstollen, medizinische Produkte.

Telefone sind Mangelware, wer eines hat, lässt die anderen am eigenen Apparat telefonieren. In der Klinik kommt es zu einem dramatischen Stromausfall. Später dann zu einem Stromausfall in der ganzen südlichen DDR. Überall wird mit alten Geräten gearbeitet, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammen, bis sie nicht mehr repariert werden können. In der Produktion werden Sträflinge und Soldaten eingesetzt, um dem Personalmangel zu begegnen.

Über die sogenannte „Dunkelsteuerung“ der Karbid-Schmelzöfen heißt es: „In den Hauptlastzeiten, tagsüber, war oft wenig Energie vorhanden, die Öfen wurden zurückgefahren, dienten, ähnlich wie Pumpspeicherwerke, als Puffer für das öffentliche Netz – fuhren jedoch in den energiegünstigen Nacht- und Sonntagsstunden mit der vollen Last, um die Produktionsausfälle wieder aufzuholen.“ (S. 839)

Der Alltag

Der Roman ist reich an Alltagsszenen. Es wird geheiratet und Geburtstag gefeiert. Es werden beliebte Sendungen des DDR-Fernsehens genannt („Willi Schwabes Rumpelkammer“). Weihnachtsbräuche werden beschrieben. Weihnachtsbäume gestohlen. In einer der Villen ist im Keller eine Badeanstalt eingerichtet, wo den „Türmern“ Duschen und Badewannen mit heißem Wasser zur Verfügung stehen: Hier begegnet man sich, und es kommt zu Smalltalk und spontanen Tanzeinlagen.

In den Urlaub fährt man auf Hiddensee, in ein Wohnheim, dessen Plätze selten zugeteilt werden. Im Wohnheim geht es bräsig zu wie überall in der DDR, aber man ist am Meer. Als Arzt kann man einen Platz ergattern, indem man Arztdienste am Strand leistet.

Christian wird im Laufe des Romans erwachsen. Er ist vor allem an Bildung interessiert und versteht das dumme Getue der Mädels und anderer Jungs nicht. Sehr gut die Frage: Ist das jetzt Liebe? Weil ihm die Motivation fehlt, die Spielchen mitzuspielen, wird Christian zum Außenseiter. Die Mädels nennen ihn arrogant. Das wird sich wohl nie ändern.

Richard hat eine Affäre mit einer Krankenhausmitarbeiterin. Und mit einer Studentin. All das unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus. Schon Biermann klagte einst, dass er hinterher gar nicht mehr wisse, wie er das mit der Liebe in der Diktatur eigentlich geschafft hatte. Die Stasi nutzte solche menschlichen Schwächen natürlich aus.

Schließlich muss Christian zum Militär. Dort geht es recht derb zu. Die Vorgesetzten sind zynisch. Es kommt zu sexueller Gewalt. Bei einer Übung zur Flussdurchquerung ertrinkt der Panzerfahrer von Christians Panzer, weil das Gerät schlecht ist und Wasser eindrang.

Hier lohnt sich ein kleiner Vergleich zum Wehrdienst in der Bundeswehr 1991/92: Derb ging es auch dort zu, die Sprache war für den literarisch gebildeten Rekruten gewöhnungsbedürftig. Aber Gewalt gab es keine. Erst recht keine sexuelle Gewalt. Auch eine „Taufe“ gab es nicht. Und Vorgesetzte waren halbwegs vernünftig und von ihrem Tun überzeugt, ohne Zynismus. Es ging ziemlich fair zu, muss man sagen. Allerdings hörte man, dass es früher einmal auch in der Bundeswehr Gewalt gab. Vermutlich vor 1991/92, und nicht in diesen Einheiten. Ach ja, die ABC-Schutzmaske eines Kameraden hatte einen undichten Kohlefilter, so dass er Kohlestaub einatmete und auf die Intensivstation musste: Schlechtes Gerät auch hier, so scheint es. Zudem gab es einen verrückten Anti-Nazi-Fimmel. Wir durften z.B. nicht „Gasmaske“ sagen, „wegen der Geschichte“. Einmal gab es in der wöchentlichen Truppeninformation einen lächerlich lobhudelnden Film über die USA, der an Dämlichkeit nicht zu überbieten war. Es regte sich lebhafter antiamerikanischer Protest, der die Dummheit des Films spiegelte. Sowas hätte es in der DDR-Armee mit Bezug auf die „Freunde“, die Sowjetunion, natürlich nicht gegeben. In den kleinen Dingen gab es viele Ähnlichkeiten, bis hin zu den unvermeidlichen Hängolin-Gerüchten.

Für einen Wessi oder auch einen Spätgeborenen wird es nicht immer leicht sein, alle Andeutungen und Chiffren aus den Alltag der DDR richtig zu entschlüsseln oder auch nur zu erkennen. Hier haben Literaturhistoriker ein reiches Arbeitsfeld vor sich. Bekannt ist immerhin, dass die „unvermeidliche Tschaikowski-Melodie“ die Erkennungsmelodie der „Stimme der DDR“ war. Auch der Minol-Pirol und das Sandmännchen sind bekannt.

Die Repression

Auch die Repression in der Diktatur, die die DDR war, kommt in epischer Breite zur Sprache. Wichtig ist, dass es fast nie zur Konfrontation mit der Staatsmacht kommt. Denn alle wissen, dass sie dabei nur den Kürzeren ziehen würden. Deshalb versuchen alle, die Konfrontation von vornherein zu vermeiden. Sie haben eine Schere im Kopf. Auch die Staatsmacht schlägt keinesfalls sofort zu, sondern redet scheinbar fürsorglich mit ihren Bürgern: Sie wollen doch nicht, dass wir Ernst machen müssen? Alle lügen und verbiegen sich dann, aber es ist unendlich demütigend, und in dieser Demütigung liegt der Kern der Repression. Es ist der Gesslerhut auf der Stange. Und es gibt kein Entkommen. All das geschieht durch Vorgesetzte, Offiziere oder Schuldirektoren. Die Stasi bleibt unsichtbar.

Die Eltern von Christian sorgen sich darum, dass ihr Sohn etwas Falsches sagen könnte, und unterweisen ihn, was er nicht sagen darf. Meno befragt Christian über seine Lehrer, welche davon wohl politisch gefährlich sind, und wie man sich verhalten muss, um nicht anzuecken. Eine Schülerin tut einmal etwas Verbotenes: Sofort wird eine Konferenz von Lehrern und FDJ-Jugendleitern einberufen, und auch hier das Schema: Du meintest das doch gar nicht so, oder? Die Schülerin gibt klein bei.

Auch am Arbeitsplatz immer dasselbe Spiel: Andeutungen, dass man auch anders könne, und schon spurt man. Ebenso im Verlag: Ständig arbeitet man darauf hin, mit Texten gar nicht erst anzuecken, um die Texte auf diese Weise durch den Zensor bringen zu können. Die DDR-Presse empfängt ihre Weisungen ohnehin vom Politbüro und pfeift auf Werte wie Vernunft oder Wahrhaftigkeit. Statt dessen lautet die Maxime: „Wichtigstes Kriterium der Objektivität ist die Parteilichkeit, Genosse! Objektiv sein heißt Partei ergreifen für die historische Gesetzmäßigkeit, für die Revolution, für den Sozialismus!“ (S. 965) – Aber als Judith Schevola einmal ein Buch bei einem Westverlag herausbringt, wird sie aus dem Kulturverband ausgeschlossen und zum Arbeiten geschickt, wo sie als Säuferin versackt. Erstaunlich dabei, dass es auf der Sitzung des Kulturverbandes zu einer ziemlich offenen Aussprache kam und einige sich für ihren Verbleib aussprachen. Judith Schevola verzeiht ihren Richtern: Sie wisse, dass sie so abstimmen mussten, um ihre eigene Haut zu retten. Das Opfer hat Verständnis für die Täter.

Ausreisen werden willkürlich gewährt oder verweigert. Wer ausreisen darf, muss das Land blitzartig innerhalb von 24 Stunden verlassen. Verrückt. Als ein Kollege von Richard mit Fluchtplänen auffliegt, wird auch der liebevoll von Richard gepflegte Oldtimer, ein Hispano-Suiza, der in derselben Werkstatt stand, von der Staatsmacht zertrümmert. Daran ein Zettel: Mit sozialistischen Grüßen. Selbstmorde geschehen recht häufig und sind auf das willkürliche Handeln der Staatsmacht zurückzuführen. Ein Arzt nimmt sich das Leben, als man ihm mit Renteneintritt seine gute Wohnung wegnehmen will.

Christian erhebt eine Axt gegen seinen Vorgesetzten beim Militär, nachdem sein Panzerfahrer ertrunken war. Doch im Zentrum der Anklage steht, was er dabei sagte: So etwas könne es nur in diesem Scheißstaat geben! Die Verunglimpfung des Staates wurde nach Paragraph 220 schwer bestraft. Es ist gewissermaßen der Gesslerhut-Paragraph der DDR gewesen.

Einmal stehlen russische Soldaten ein Baby aus dem Kinderwagen. Eine Strafverfolgung scheitert, denn die Russen sind in der DDR tabu. Der Höhepunkt der Repression ist jedoch dies: Das ganze Buch hindurch sorgt sich Richard, dass seine Frau von seinen Affären erfährt bzw. er überlegt, wie er es ihr beichten kann. Doch am Ende hat die Ehefrau es selbst herausbekommen und nimmt es ganz gelassen ….. und prostituiert sich bei einem DDR-Anwalt, damit ihr Sohn seinen Studienplatz wieder bekommt. Es erinnert an Voltaires „L’ingénu“: Erst macht man die Leute zu Affen, dann lässt man sie tanzen.

Die Kommunisten

Die überzeugten Kommunisten und Funktionäre werden bei Uwe Tellkamp differenziert dargestellt. Vor allem wird ihre Motivation für ihre Überzeugung vom Sozialismus herausgearbeitet: Da ist der hochgebildete Jochen Londoner, dessen ganze Familie von den Nazis ermordet wurde, während er im Exil in London überlebte. Oder der „Alte vom Berge“, der sich ständig traumatisch an seine Erlebnisse an der Ostfront erinnert. Der Oberfunktionär Barsano zeigt sich am Ende überraschend offen gegenüber den Reformen von Gorbatschow.

Die Funktionäre und Privilegierten wohnen übrigens in einem eigenen Stadtviertel direkt neben dem „Turm“, das man nur über eine Brücke und Wachtposten erreichen kann. Die Chiffre des Romans für dieses Viertel lautet „Ostrom“. Man denkt als Leser sofort an Byzanz und byzantinische Verhältnisse.

Als die Wende naht, entlarven sich die Kommunisten als ratlos resignierende Zyniker: Der sonst hochgebildete Jochen Londoner meint allen Ernstes, die Flüchtlinge über Prag und Ungarn wären wie eine Abszessentlastung. Eschloraque und Barsano meinen, ihr Irrtum hätte darin bestanden, zu glauben, dass die Menschen von Natur aus gut seien. Damit ist implizit gemeint, dass sich in dem Freiheitswillen der Menschen ihre Schlechtigkeit zeige, denn „gut“ ist nur der, der willig am Sozialismus mit aufbaut, auch wenn es schwierig wird. Eschloraque meint zudem, dass die Zeit des Teufels sei, weil sie Veränderung bringe. Der völlige Stillstand der Gesellschaft ist also sein sozialistisches Ideal, also die Erstarrung. Von Erich Mielke wird der berühmte Satz zitiert, den er am Abend der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR über den Umgang mit Demonstranten gesagt haben soll, nachdem Gorbatschow die Feierlichkeiten verlassen hatte: „Jetzt ist Schluss mit dem Humanismus!“ Damit wird einmal mehr klar, dass es den Funktionären nicht wirklich um Humanismus ging.

Schließlich meint einer, dass die Deutschen ein Volk von Faschisten sind. Das deutsche Volk also als intrinsisch schlecht, ein böser Lümmel, der ständig erzogen werden muss und niemals in die Freiheit entlassen werden darf. Hier schließt sich der Kreis zum Ungeist der westdeutschen Shitbürger, die nach der Analyse von Ulf Poschardt alle Deutschen als Nazis ansahen, obwohl – oder gerade weil – sie doch selbst beim Nationalsozialismus munter mitgemacht hatten.

Die Wende

Naturgemäß kann ein Roman, der sich hauptsächlich auf die Zeit vor der Wende bezieht, die Wende nur knapp bearbeiten. Man liest, wie die Vorgänge in Moskau von den „Türmern“ zur Kenntnis genommen werden, aber noch ohne Anteilnahme oder Begreifen, dass dies Konsequenzen haben wird. Die „Türmer“ verschließen sich sogar noch mehr als zuvor.

Doch dann schlagen die Uhren, und die „Türmer“ treten aus ihren Rollen heraus: Sie sagen offen ihre Meinung, weichen nicht mehr in vorauseilendem Gehorsam vor der Staatsmacht zurück. Man organisiert sich, verteilt Druckschriften, der Pfarrer macht einen Aushang, den er auch auf Druck hin nicht mehr abhängen will, und die Dinge nehmen ihren Lauf. – Von einigen heißt es jedoch, dass sie bei all dem hinter ihren Gardinen blieben.

Fazit

Der Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp ist ein wichtiges Werk der neueren deutschen Literatur, das ein bleibendes Denkmal für die Zeit der späten DDR und für das Milieu der Bildungsbürger in der DDR und deren Bildungsverständnis geschaffen hat. Die Schilderung der Verhältnisse ist eine bleibende Warnung: Die Diktatur zeigt sich nicht erst in Verhaftungen, sondern viel früher, mit der Schere im Kopf. Zugleich wurde ein bleibendes Beispiel dafür gesetzt, was echte Bildung ist und wie sie den Geist des Widerstandes erweckt. Denn echte Bildung ist universal und zeitlos und lässt sich keine Schranken auferlegen. Sie ist auch nicht zynisch und verbohrt, sondern wird von der Liebe zu den Menschen getragen. Nur so ist echter Humanismus denkbar. In diesem Sinne kann dieser Roman als ein wahrer Klassiker Hoffnung auf eine neue Zeit machen, die sich diese Lehren zu Herzen nimmt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Per Petterson: Pferde stehlen (2003)

Reiches, atmosphärisches Buch über Väter, Einsamkeit, das Leben schlechthin

Es ist die Geschichte eines Jungen und seines Vaters, die beide 1948 einen Sommer auf einer Hütte in der norwegischen Provinz nahe der schwedischen Grenze verbringen. Es ist ein Sommer voller Abenteuer für den Jungen, ein Leben in und mit der Natur, einsam, arbeitsam und einfach, ein Leben mit glücklichen und tragischen Momenten. Vater und Sohn kommen sich dabei so nahe wie nie, und der Sohn beginnt zum Mann zu werden.

Doch was der Sohn nicht weiß: Sein Vater war schon einmal hier, im Krieg, und hatte Flüchtlingen über die Grenze nach Schweden geholfen. Und sich dabei verliebt. Es ist der letzte Sommer, den Vater und Sohn gemeinsam verbringen, bevor der Vater die Familie endgültig verlassen und ohne Wiederkehr zu seiner Geliebten gehen wird.

Die Geschichte wird aus der Perspektive des Sohnes erzählt, wie er nun seinerseits als alter Mann erneut in eine Hütte in derselben Gegend zieht, um seine letzten Jahre in jener arbeitsamen Einsamkeit zu verbringen, die er damals von seinem Vater kennengelernt hatte. Auch jetzt sind Glück und Tragik nahe beieinander: Ehefrau und Schwester sind gestorben, aber seine Tochter besucht ihn überraschend. Die Einsamkeit tut gut und wird mit der Lektüre von Charles Dickens abgerundet, sie wird aber auch als Risiko empfunden. Aber da ist noch sein Hund Lyra, und ein guter Nachbar, den er noch aus dem Sommer 1948 im Zusammenhang mit tragischen Ereignissen kennt.

Per Petterson ist ein sehr atmosphärisches, ruhiges Buch gelungen, das den Leser teilhaben lässt an den Gedanken und Gefühlen der Protagonisten. Ein Buch über Väter und Söhne, über Einsamkeit und Freundschaft, über Liebe und Verlassenheit, über Stadt und Land, über Krieg und Frieden, über Jugend und Alter, über unmittelbares Erleben und späteres Erinnern, über das Leben schlechthin, kurz: Es ist ein sehr reiches Buch.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. August 2018)

J.J. Abrams und Doug Dorst: S. – Das Schiff des Theseus, von V.M. Straka (2013)

Wirklich ein intelligentes Buch – mit Potential zum Kultbuch

— — — Was den Leser zunächst erwartet — — —

Der Leser hat mit dem Buch „Das Schiff des Theseus“ ein altes Bibliotheksexemplar dieses Werkes in der Hand. Der Autor nennt sich V. M. Straka. Es handelt sich um eine hochsymbolische Erzählung, die in allegorischer Form die Geschichte der Geheimorganisation S darstellt, und wie die Hauptperson S., die sich an ihre Vergangenheit nicht erinnern kann, zum ausführenden Arm dieser Organisation wird. In den einzelnen Kapiteln dieses Buches befinden sich außerdem teils verschlüsselte, teils im offenen Text versteckte Botschaften, die sich der Autor und seine Übersetzerin Kapitel für Kapitel gegenseitig zusandten.

Am Rand der Buchseiten dieses Bibliotheksexemplars befinden sich die Randnotizen der Studentin Jen und des Doktoranden Eric, die gemeinsam das Geheimnis von S ergründen, indem sie sich über diese Randnotizen austauschen. Diese Randnotizen sind nach vier verschiedenen Zeitebenen in vier verschiedenen Farbkombinationen gehalten. Hinzu kommen Einleger von Jen und Eric wie Briefe oder Postkarten, die im Zusammenhang mit den Randnotizen stehen.

Wer dieses Buch lesen will, sollte vor allem Geduld mitbringen. Notizen sind kein Muss, können aber helfen, den Überblick zu behalten (dafür gibt es aber inzwischen auch zahlreiche Internetseiten). Der Aufwand lohnt sich! Selten konnte der Leser eines Buches so unmittelbar erfahrbar an der Geschichte teilhaben.

— — — SPOILER-WARNUNG: Lese-Methode — — —

Um das Buch zu lesen, muss man zunächst das (gedruckte) Buch von vorne bis hinten lesen, und danach jeweils die Randnotizen mit den zugehörigen Einlegern mehrfach, je Zeitebene, von vorne nach hinten. Man kann aber z.B. auch die erste Zeitebene der Randnotizen zusammen bei der Lektüre des gedruckten Buches Kapitel für Kapitel mit erledigen. Es empfiehlt sich, die Information über die Farben der vier Zeitebenen der Randnotizen aus dem Internet zu besorgen, da sie sich dem Leser nur schlecht aus dem Kontext erschließen, zumal sich die verwendeten Farben der Zeitebenen teilweise überschneiden.

Anders als man vielleicht vermuten könnte, muss der Leser bei der Lektüre dieses Buches so gut wie keine Rätsel lösen. Vielmehr schaut der Leser passiv dabei zu, wie die Protagonisten des Buches die Rätsel lösen. Das Buch ist also im Prinzip wie ein ganz normaler Roman zu lesen, nur dass die Lesereihenfolge der einzelnen Passagen kein einmaliges Durchlesen von vorne nach hinten erfordert, sondern ein mehrfaches Lesen von vorne nach hinten auf den verschiedenen Zeitebenen.

— — — SPOILER-WARNUNG: Inhalte — — —

Die symbolische Erzählung des gedruckten Buches handelt von S., der eines Tages ohne Erinnerung an seine Vergangenheit auf ein Schiff entführt wird. Auf diesem Schiff haben alle Matrosen bis auf einen zugenähte Münder. Das Schiff bringt S. zu verschiedenen Orten, wo er verschiedene Dinge erlebt und verschiedene Aufträge zu erfüllen hat. Das Schiff erneuert sich immer wieder, deshalb die Anspielung auf das „Schiff des Theseus“. (Und wegen Theseus und Ariadne; aber eine Anspielung auf die Rolle des Schiffs des Theseus beim Tod des Sokrates findet sich nicht.) – Der große Gegenspieler von S. ist der Waffenfabrikant Vévoda, der unbotmäßige Arbeiter verschwinden lässt, ein Massaker unter streikenden Arbeitern anrichtet, und eine neue Massenvernichtungswaffe entwickelt hat: Die Schwarzranke, oder Schwarzrebe. Sie tötet mit klebriger Tinte. Ebenso mit klebriger Tinte schreiben die Matrosen im Bauch des Schiffes endlose Texte, die sie bisweilen an Land bringen. S. wird auch zu verschiedenen Mordaufträgen geschickt, und auch Vévoda ermordet Mitglieder der Organisation S.

Diese symbolische Erzählung verschlüsselt eine echte Geheimorganisation von Schriftstellern von Anfang / Mitte des 20. Jahrhunderts, die sich mit Vogelnamen tarnen und gegen den Waffenfabrikanten Bouchard zusammengetan haben. Mit ihm befinden sie sich in einem „Krieg der Erzählungen“. Während sie wie Enthüllungsjournalisten arbeiten bzw. Samisdat-Literatur verbreiten, hat Bouchard die Presse in der Hand, die die Menschen mit Tinte in Massen belügt. Die gegenseitigen Morde sind leider nicht symbolisch zu verstehen, sondern real. Bouchard kann auch einige Überläufer gewinnen. Straka und seine Übersetzerin FXC waren die Hauptpersonen von S.

Im Heute von Jen und Eric, 2012, scheint es ruhig um S. geworden zu sein, und nur noch wenige Literaturwissenschaftler wie Eric und sein Doktorvater Moody befassen sich mit V.M. Straka und seinen Werken, um die wahre Geschichte von Straka und der Organisation S zu ergründen. Als Jen und Eric Erfolge bei ihren Recherchen erzielen, werden ihnen plötzlich Steine in den Weg gelegt. Es entwickelt sich eine spannende Geschichte um Recherche, Widerstand und Liebe, gedoppelt auf der Zeitebene von Straka und FXC, sowie auf der Zeitebene von Jen und Eric.

Das Buch schlägt u.a. folgende Themen an:

  • Erwachsenwerden, Eltern, Kindheit, Studium, Job, seinen Weg finden, eine Identität bilden, eine Aufgabe finden.
  • Beziehungen aufarbeiten, Liebe finden, Stärken und Schwächen kennen, zusammenwachsen, gemeinsam etwas erschaffen.
  • Wie soll man in Welt etwas bewegen, bzw. kann man überhaupt etwas bewegen?
  • Soll man sein Leben für eine Aufgabe opfern? Oder soll man einfach nur sein Leben genießen? Oder etwas dazwischen?
  • Der Einfluss von Industrielobbies auf das Weltgeschehen, hier speziell die Rüstungsindustrie.
  • Geheimorganisationen als Möglichkeit, das Weltgeschehen zu beeinflussen. (Man denke an: Freimaurer. Ku-Klux-Klan. Terrorgruppen. Kommunistische Partei.)
  • Krieg der Erzählungen, Worte als Waffe.
  • Literarische und philologische Analyse von Texten: Sehr gut.
  • Konstruktion und Dekonstruktion von Identität durch Erzählen.
  • Wahrnehmung von Zeit, das Vergehen des Lebens.

Es gibt eine ganze Reihe von Running Gags in diesem Buch, die teils anspielungsreich sind, teils geheimnisvoll bleiben, so z.B.:

  • Immer wieder taucht die Zahl 19 auf.
  • Vögel tauchen immer wieder auf, Chiffren für die S-Mitglieder.
  • Überall findet sich das Symbol „S“, und man weiß nicht, wie es dahin kam.
  • Sola, die Geliebte von S., taucht immer wieder auf, bleibt jedoch unerreichbar.

Das große Fazit am Ende des Buch ist die Erkenntnis, dass die Liebe im Zweifelsfall wichtiger ist als die „Sache“. Einen Beweis für die Identität Strakas haben Eric und Jen bis zum Schluss nicht gefunden, sie arbeiten aber weiter daran. Solange sie sich lieben, ist der Weg das Ziel.

— — — Bewertung — — —

Dieses Buch ist ein Volltreffer! Das originelle Buchkonzept lässt den Leser haptisch an der Story teilhaben, wie es nur ein echtes, gedrucktes Buch bieten kann. Es geht um eine düstere Story und zwei junge Leute, die nicht nur ein vergangenes Geheimnis, sondern auch das Leben und die Liebe erkunden. Der Leser ist in akuter Gefahr, sich in dieser Welt zu verlieren und paranoid zu werden: Dieses Buch hat das Potential zu einem Kultbuch! Die Welt scheidet sich fortan in Menschen, die es gelesen haben, und solche, die es nicht gelesen haben.

Es werden eine Menge Themen auf intelligente Weise bearbeitet. Hier wird Bildung auf interessante und vergnügliche Weise geboten! Und zwar eine Bildung, die den Menschen als ganzes erfasst, in allen Facetten seines Daseins. Eine wahrhaft humanistische Bildung. Unbedingte Leseempfehlung! Jedoch mit einem deutlichen Caveat, siehe die Kritik.

— — — Kritik — — —

Zunächst: Keine nennenswerte Kritik sollte man an dem Umstand üben, dass die Geheimorganisation S offensichtlich eine „linke“ Gruppierung ist. Straka versteht sich zwar nicht als Kommunist (S. 222), hat aber Sympathien für Trotzki (S. 363). Die Stoßrichtung der Organisation ist simpel gegen Kapitalismus und Waffenhandel und für die Arbeiterschaft. Das ist nicht per se kritikwürdig, denn irgendeine Geheimorganisation musste es nun einmal sein, und da ist jede auf ihre Weise einseitig. „S“ könnte man übrigens auch als Chiffre für „Sozialismus“ lesen. So konkret wird das Buch aber an keiner Stelle.

Sehr kritikwürdig ist hingegen der Umstand, dass die „andere“ Seite, der Bösewicht Bouchard, allzu simpel gezeichnet wird. Hier hätte man sich mehr von jener Lebensweisheit gewünscht, dass jede Seite einen Zipfel der Wahrheit in Händen hält. Die Menschlichkeit der „anderen“ Seite bleibt völlig unterbelichtet. Sie wird nur an wenigen Stellen thematisiert (Suizid der Ehefrau von Bouchard; Liebe unter Agenten).

Sehr kritikwürdig ist, dass die Geheimorganisation S mordet. Denn immerhin zeigen die Protagonisten Jen und Eric klare Sympathien für Straka und FXC. Das wäre völlig in Ordnung, wenn S wirklich nur einen „Krieg der Erzählungen“ geführt hätte. Ein Kampf mit den Mitteln des Wortes und der Überlegenheit der Intelligenz. Sympathie für diese Methode des Kampfes, und für die Tatsache an sich, dass man für irgendetwas kämpft, ist immer angebracht. Aber S begann auch zu morden. Damit hat S sich nicht nur von den Prinzipien des Humanismus abgewandt, sondern zudem auch die Intelligenz verraten, denn man tötet die Hydra nicht, indem ihr einige Köpfe abschlägt.

Damit weckt dieses Buch Sympathien für eine höchst einseitige „Sache“, und senkt bei den Lesern zugleich die Hemmschwelle, auch Mord als politisches Mittel zu begreifen. Denn eine klare Absage an Straka aufgrund seiner Morde findet sich in diesem Buch nirgends. FXC formuliert sogar den unglaublichen Satz, dass solche Dinge zwar vorgekommen seien, dass sie aber darüber hinweggesehen habe (S. 300). Und die Sympathie von Jen und Eric für FXC und Straka bleibt ungebrochen. – Mit diesem anti-humanistischen mindset sind einst die linksradikalen Massenmörder um Pol Pot von westlichen Universitäten (namentlich Paris) nach Kambodscha aufgebrochen, um dort ihr ideologisches Werk in den Killing Fields zu beginnen. Auch bloße Worte können reale Folgen haben, deshalb klarer Widerspruch!

Ebenfalls kritikwürdig sind einige Passagen, in denen behauptet wird, wir könnten uns selbst völlig frei definieren. Wir seien die Erzählungen, die wir über uns erfinden (S. 430 Brief Jen, S. 452, u.a.). Hierzu gehört auch der völlige Gedächtnisverlust von S. am Anfang der Geschichte, mit dem er zu leben lernt. Dabei handelt es sich offenbar um die im linken Milieu der US-Universitäten verbreitete Ideologie des Poststrukturalismus [Postmoderne; 29.09.2023]. Auch das ist eine Einseitigkeit, die man von zwei Seiten her hätte beleuchten sollen. Den meisten Lesern wird es aber kaum aufgefallen sein.

Die Umsetzung des Buchkonzepts ist teils etwas unglücklich. Die verschiedenen Zeitebenen erschließen sich nicht so einfach, zumal für verschiedene Zeitebenen teilweise dieselbe Farbe verwendet wird. Auch der Code des 10. Kapitels ist nicht wirklich einfach zu knacken. – An einigen Stellen wurde die falsche Schriftfarbe verwendet, so dass es kleine Brüche in der Chronologie der Ereignisse gibt. Insbesondere die Schriftfarben der Postkarten verwirren. – Das alles berührt das Lesevergnügen aber nur am Rande.

— — — Anschlussempfehlung — — —

Ein gutes, aber einseitiges Buch darf legitimerweise mit einer ebenso einseitigen, guten Buchempfehlung gekontert, nein besser: ergänzt werden, nämlich mit „Atlas wirft die Welt ab“ von Ayn Rand. Auch in diesem Buch geht es um eine Geheimorganisation, deren Umfang und wahres Ziel sich erst im Laufe einer spannenden Geschichte enthüllt. Auch diese Geheimorganisation verwendet antike Chiffren, doch anders als S mordet diese Geheimorganisation nicht, sondern hat einen genialischen Plan, sich der „anderen“ Seite zu erwehren. Doch die Akteure sind nicht „links“, sondern im Gegenteil Unternehmerpersönlichkeiten (übrigens auch Frauen, während S ziemlich patriarchalisch erscheint), die sich gegen die Zerstörung von Wohlstand und Gerechtigkeit durch linke Akteure zur Wehr setzen! Natürlich: Auch hier liegt die Schwäche des Buches in der Einseitigkeit. Doch wer von S redet, kann zu Atlas nicht schweigen. Die Ähnlichkeiten von S und Atlas sind so groß, dass man sich fragt, ob Abrams und Dorst sich ihre Inspiration für S bei Ayn Rand geholt haben?

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21.01.2019)

Martin Mosebach: Westend (1992)

Frankfurter Buddenbrooks: Leben und Fall zweier Familien im Westend 1945-1960

Der Roman „Westend“ hat gewisse Ähnlichkeiten zu Thomas Manns „Buddenbrooks“. Es wird das Leben und der Verfall zweier alteingesessener Frankfurter Familien von ca. 1945 bis 1960 beschrieben.

Handlung

Da ist zum einen die Familie Labonté, die aus zwei Tanten und dem elternlosen Großneffen Alfred besteht, den die beiden großziehen. Diese Familie repräsentiert die Tradition. Im Haus Labonté scheint die Zeit stehen geblieben. Vom Mobiliar über die Lieblingsbeschäftigungen der Tanten bis hin zur Haushälterin Fräulein Emig ist alles so wie zu Kaisers Zeiten, als die Welt „noch in Ordnung“ war. Man fühlt sich an Joseph Roths „Radetzkymarsch“ erinnert. – Zum anderen ist da die Familie Olenschläger-Has: Die verstorbene Patriarchin Olenschläger hat den Vetter Fred Olenschläger zum Verwalter des Familienvermögens bestimmt, von dem der Haupterbe Eduard Has nur Renten ausgezahlt bekommt.

Die Familie Labonté entwickelt sich bürgerlich und abwartend. Im wesentlichen sieht man Alfred älter werden und seine Beobachtungen machen. – Eduard Has hingegen treibt es toll: Er luchst dem Kunsthändler Guggisheim die Ehefrau Dorothée ab (bzw. sie läuft zu ihm aus gewissen Gründen über), baut mithilfe von Guggisheim eine bedeutende Sammlung expressionistischer Gemälde auf, und lässt die alte Familienvilla im Westend abreißen und durch einen modernen, kalten Glastempel ersetzen, in dem er die Sammlung aufhängt. Nebenher hat er ein Verhältnis mit Etelka, der verstoßenen Ehefrau des Schrotthändlers Kalkofen. In die Familie drängt sich mehr und mehr der steirische Architekt Szépregyi, der ein Verhältnis mit Has‘ Tochter Lilly beginnt.

Am Ende scheitert Has völlig: Er kann sich nicht mehr von Etelka lösen, Dorothée lässt sich von ihm scheiden, Fred Olenschläger jubelt ihm durch Winkelzüge soviel Schulden unter, dass er seine Gemäldesammlung wieder abgeben muss, und seine geliebte Tochter brennt mit Szépregyi durch.

Alfred hingegen muss erleben, wie seine heile Welt sturzartig in sich zusammenbricht, als jene der beiden Tanten stirbt, die ihn eigentlich geliebt hatte. Denn die verbliebene andere Tante – von der wir durch die Blume erfahren, dass sie einst für Hitler war – macht reinen Tisch: Der Haushalt in der Westend-Villa wird aufgelöst, alle vertrauten alten Möbel, Bilder und Haushaltsgegenstände verkauft, die Haushälterin entlassen, und die Tante zieht in ein Altersheim nach Kronberg, während Alfred allein und verlassen in der Mansarde der leeren Westend-Villa zurückbleibt.

Doch es gibt einen Lichtblick: Alle Verwicklungen scheinen darauf hinauszulaufen, dass Lilly am Ende Alfred zufällt, und Alfred entschlossen zugreift, und beide ein neues Leben beginnen können, losgelöst von den Trümmern der Vergangenheit. Dieses Happy End wird allerdings nur angedeutet. Und auch hier gilt: Es ist offenbar nicht reine Liebe, sondern Lilly fällt Alfred zu, weil sich anderes zerschlägt. Zudem ist Alfred überzeugt, dass Lilly flach und albern ist.

Zeitbezüge

Sehr interessant ist die Phase unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir erfahren von Bombennächten, Zerstörungen im Krieg, Einweisungen der Ausgebombten, dem neu aufblühenden Leben in den Ruinen, und nicht zuletzt auch von Vertriebenen: Schlesier sind zweimal ein Thema. Einmal in der Person der Kehrfrau Scharnhorst, eine verkniffene, Wagnersche Zwergenfigur. Und einmal bei der Suche nach einer Köchin, wo man zur Not auch eine Schlesierin nehmen würde … – Sie kommen also nicht gut weg, die Schlesier. Immerhin wird Eduard Has kräftig auf die Schippe genommen, als er Etelka gegenüber von „Pack aus dem Osten“ spricht, denn Etelka selbst kommt ebenfalls aus dem Osten, in ihrem Fall aus Zoppot in Westpreußen.

Zur Entwicklung des Westends erfährt man, wie die Menschen damals die historistische Architektur der alten Gründerzeit-Villen geringschätzten, und die Politik die Immobilienspekulation im Westend anheizte. Kunsthistoriker verachteten die Villen als eklektisch. Mancher schlug die Ornamente von der Fassade, warf seine alten Möbel hinaus, und schaffte sich Nierentische an. Geduldet durch die Politik bildete sich ein Straßenstrich, Villen verfielen, Gastarbeiter wurden einquartiert, Schimmel und Ratten breiteten sich aus: Man versuchte, die restlichen Bewohner zu vertreiben. Hochfliegende Pläne einer „Bürostadt Schubertstraße“ wurden geschmiedet. – Doch dann schwenkte die Politik unter dem Druck der Bürger um, und die Immobilienspekulation ging schief. Die Kunsthistoriker passten ihr Urteil flugs der Zeit an.

Wir lernen durch dieses Buch auch, dass es nicht erst die 1968er waren, die mit den Traditionen brachen und sich von ihrer Vorgängergeneration abwandten. Das geschah schon eine Generation zuvor! Die 1968er haben in diesem Sinne eher zu Ende geführt, was ihre Elterngeneration im Grunde auch wollte. Wie so oft war diese Jugendbewegung keine reine Jugendbewegung, sondern führte lediglich das aus, was die Elterngeneration ihr mit auf den Weg gegeben hatte, und rannte damit offene Türen ein. Der Bruch von 1968, er muss also mindestens 1945 angesetzt werden. – Aber auch die Nazis waren schon ein Bruch mit der Tradition und der Vergangenheit, auch hier schon eine Generation in Ablösung von einer verpönten Vergangenheit. Im Grunde muss man wohl das Jahr 1918 als das große Jahr des Traditionsbruchs ansetzen, und 1968 ist sozuagen die letzte Konsequenz von 1918.

Bürgerlichkeit

Interessant sind die verschiedenen Auffassungen von Bürgerlichkeit: Im Hause Labonté ist man ganz klar bildungsbürgerlich orientiert und hat eine Vorstellung von Weltanschauung. Um Geld geht es nicht. Man fühlt sich aufgeklärt und ist nur noch pro forma Mitglied in der Kirche. Labonté senior war Freimaurer und einst an der Gründung des Vereins für Feuerbestattung beteiligt. Die konservativen Tanten werden als „atheistische Beginen“ beschrieben. Bei der Haushaltsauflösung bekommen wir zu hören, welche Bücher in „solchen“ Haushalten üblicherweise zu finden sind:

  • Die Heine-Ausgabe von 1890.
  • Haeckels „Welträtsel“.
  • Die Novellen von Paul Heyse.
  • Brehms Tierleben.
  • Heykings „Briefe, die ihn nicht erreichten“.
  • Das Herrnhuter Gesangsbuch.

Auch Eduard Has prüft überall, wo er hinkommt, welche Bücher er dort vorfindet. Aber sie sind für ihn offenbar immer nur Statussymbol. Man sieht nirgends, dass er selbst liest, oder irgendeine innere weltanschauliche oder moralische Haltung hätte. Offenbar fährt er nach Bayreuth zu den Wagnerfestspielen. Eduard Has ist ein verwöhntes Kind, musste sich offenbar nie anstrengen, scheint auch kein schwieriges Studium oder dergleichen absolviert zu haben, war den Krieg über sicher in der Schweiz untergebracht, und ist völlig unstet in seinem Willen. Geld spielt in der Familie Olenschläger-Has eine große Rolle.

Einzelnes

Es gibt verschiedene Running Gags. So z.B. das Gemälde „Der Aufbruch des Ritters von Cronberg ins Heilige Land“ von Viktor Müller im Hause Labonté. Immer wieder spiegelt sich die Geschichte in der Betrachtung dieses Gemäldes, das am Ende im Städel landet. Man erfährt dabei einiges über die Kronberger Malerschule. Ebenfalls interessant sind wiederkehrende Überlegungen zum Charakter von Privatsammlern, deren Kunsthändlern, deren Verhältnis zueinander, und wie sich eine Sammlung entwickelt. Immer wieder taucht auch Frau Trumfeller, die Sekretärin von Fred Olenschläger auf. Eine Frau mit Haaren auf den Zähnen.

Sexualität wird im ganzen Buch offenbar nirgends unter der Perspektive von Liebe durchbuchstabiert. Es geht bei Sexualität immer um ein Geschäft von Geben und Nehmen bzw. um Unterwerfung oder gar Demütigung. Es hat den Anschein, als sei dies nicht nur die Auffassung der Protagonisten, sondern auch die Auffassung des Autors. Unpassenderweise spricht der Autor heute bei diesem Roman von „Liebesgeschichten“. Klar erkennbar wird die lieblose Haltung z.B. an dem geschäftsmäßigen Umgang mit Gefühlen durch Lilly, und vor allem an Alfreds Erfahrungen bei einer Prostituierten, die ihn zu der aufschlussreichen Überlegung führen, dass es wohl schwierig werden würde, dass Lilly sich zu so etwas herablässt: Denn das ist sein Ziel. Auch Eduard Has denkt nur in Termini von Eroberung und dergleichen. Die Frauen ihrerseits geben sich den Männern ebenfalls nirgends aus Liebe hin, sondern immer nur aus den verschiedensten gefühligen Berechnungen.

Fazit

Das Buch ist zweifelsohne interessant, sowohl was Frankfurt, die Geschichte der BRD und „das Leben“ im allgemeinen anbelangt, aber es ist leider auch sehr freudlos und eine zähe Kost.

Enttäuschungen, schließlich Enttäuschung vom Leben insgesamt, sind ein großes, etwas verborgenes Thema des Buches. Und wie sich die Protagonisten mit ihrer Enttäuschung im Leben einrichten. Wie sie sich mit Situationen und Verbindungen arrangieren, weil ihre Wünsche sich zerschlagen haben, und sie nun nach Schutz und dem kleineren Übel suchen.

Auch formal ist das Buch etwas problematisch. Schon der Einstieg ist ein hartes Brot, da etwas zusammenhang- und ziellos. Es dauert eine Weile, bis der Leser Orientierung findet, und die ein oder andere Perle erkennen kann. Es nerven die ständigen nahtlosen Übergänge zwischen den Handlungssträngen. Zudem sind einige auffällige Rechtschreibfehler zu beklagen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Mai 2019)

Ewald Arenz: Alte Sorten (2019)

Zwei beschädigte Seelen treffen aufeinander und finden aneinander Heilung

Die Jugendliche Sally tut sich schwer damit, sich in die „vernünftige“ Welt einzuordnen, ist wahnsinnig misstrauisch gegen alles und jeden, reagiert hysterisch, ritzt sich, wird deshalb von ihren aalglatten und verständnislosen Eltern von Klinik zu Klinik geschickt, und reißt eines Tages aus – da trifft sie auf Liss, die alleinstehend und schon über 40 einen Bauernhof mit allem drum und dran umtreibt. Liss nimmt Sally bei sich auf, sagt nicht viel, lässt sie gleichmütig gewähren und an den Arbeiten des Bauernhofes teilhaben. Sally erfährt zum ersten Mal die Freiheit, die sie benötigt, und beginnt Interesse an dem ihr völlig unbekannten Landleben zu zeigen. Aber Liss ist keineswegs die heile Seele, als die sie zunächst erscheint. Nach und nach zeigen sich ihre Beschädigungen, und nun ist es an Sally, Liss vor dem Abgrund zu retten.

Eine wunderschöne Geschichte von zwei Menschen, die aneinander ihr Glück finden und beste Freunde werden. Es sind genau die richtigen zwei aufeinander gestoßen. So ist es auch im richtigen Leben. Wir wollen und sollen alle freundlich und hilfsbereit zueinander sein, aber das alles muss dennoch an der Oberfläche bleiben. Nur in seltenen Fällen geschieht es, dass sich zwei Seelen treffen, die sich mehr zu sagen haben als das. Und manchmal trifft man eben keine. Dann bleibt man allein. So wie Liss, die immer an die Falschen geriet, und sich daraufhin in ihrem Leben durchaus sinnvoll eingerichtet hatte, soweit es ihr möglich war, mit ihrer Arbeit, mit ihren Büchern, und mit ihrem stoischen Gleichmut.

Der Roman wird ruhig erzählt und entfaltet mit einfachen Worten eine eindrucksvolle Geschichte. Neben dem eigentlichen Thema ist der Leser mindestens genauso fasziniert wie Sally von den Einzelheiten des Landlebens. Ein wahres Lesevergnügen, das zum Nachdenken über das Leben anregt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Verfasst Februar 2022.