Schlagwort: Flucht

Stephen Vizinczey: Wie ich lernte, die Frauen zu lieben (1966)

Ungewollte Satire: Egomanischer Womanizer verwechselt Erotik mit Liebe

In seinem halbautobiographischen Roman „Wie ich lernte, die Frauen zu lieben“ (Originaltitel: „In Praise of Older Women“) beschreibt Stephen Vizinczey, wie ein Jugendlicher die „Geheimnisse“ der „Liebe“ lernt und dann als Erwachsener reihenweise Frauen von verschiedenstem Charakter „liebt“. Dabei wird in Tat und Theorie der „Liebe“ so dick aufgetragen, dass man manchmal meint, es handele sich um eine Satire. Doch es ist keine Satire, der satirische Effekt schwingt ungewollt mit und wird nirgends vom Autor aufgegriffen und zu echter Satire gemacht. Das Buch wird auch nicht als Satire verstanden. Es gilt als „Meisterwerk“ und „moderner Klassiker“, gewann Preise und wurde verfilmt, und ist bis heute ein internationaler Bestseller. Ein gewisser Arno Widmann nannte es laut Cover sogar „eines der weisesten Bücher der Weltliteratur“. Nun ja. Damit ist es eine ungewollte Satire auf einen egomanischen Womanizer, der sich für aufgeklärt, frauenfreundlich und erfahren in der „Liebe“ hält, ohne zu erkennen, wie er an der Liebe und den Menschen vorbei lebt.

Nur Erotik statt Liebe

Der Autor (oder sein Protagonist Andras Vajda) verwechselt systematisch Liebe mit Erotik. Nichts gegen erotische Anziehung! Und nichts gegen die Gabe, „mit Frauen umgehen“ zu können. Und auch keine grundsätzlichen Bedenken gegen Sex ohne formale eheliche Bande. – Aber eine erotische Zuneigung ist nun einmal noch keine Liebe, auch wenn das Wort „Liebe“ ständig dafür benutzt wird. Eine erotische Beziehung ist, wie das Buch korrekt wiedergibt, eine oft recht kurze und erstaunlich umstandslos wieder beendete Beziehung. Die Beziehungen in diesem Buch werden denn auch auf einer rein emotionalen Ebene geschlossen, eben der erotischen Ebene. Wie das Buch korrekt wiedergibt, ist die Entscheidung für oder wider eine solche Beziehung oft schon gefallen, bevor das erste Wort zwischen den Partnern gesprochen ist. Mehrfach heißt es, der Protagonist habe spontan „beschlossen“, mit einer Frau, die er gerade erst kennengelernt hat, zu schlafen. Sieht so Liebe aus? Es ist fast schon zum Lachen, wenn es heißt, der Protagonist habe die „Liebe“ im Bett gelernt (S. 236), und zum selben Ereignis: „Mit ihr war die Liebe eine Vereinigung, keine Selbstbefriedigung zweier Fremder im selben Bett“ (S. 97). Die Frau, in deren Bett der Protagonist die „Liebe“ als „Vereinigung“ lernte, war eine verheiratete Nachbarin, deutlich älter als er, sie machte sich nichts daraus, dass der Protagonist zwischendurch auch ihre Cousine flachlegte, und irgendwann später beendete sie die Beziehung abrupt und geschäftsmäßig, als sie einen anderen Liebhaber gefunden hatte. Später dann trifft der Protagonist auf eine frigide Frau, die sich über die Sexbesessenheit der Männer beklagt – und prompt ist der Protagonist ernsthaft gekränkt, als ihm bescheinigt wird, er sei nicht sexbesessen (S. 240 f.).

Moralisch verwirrt

Es ist leider nicht mehr zum lachen, wenn es ausgerechnet in bezug auf die Verkuppelung von US-Soldaten mit Flüchtlingsfrauen, die sich aus purer Not selbst prostituieren mussten, heißt: „Meine erste Erkenntis dank dieser abenteuerlichen Beschäftigung war, dass die meisten moralischen Ansichten über Sex keinerlei Bezug zur Wirklichkeit hatten.“ (S. 34) Ausgerechnet eine Notsituation dafür zu benutzen, die Maßstäbe der Moral zu bestimmen, ist höchst irrig – und geschmacklos. Warum eine dieser Flüchtlingsfrauen es strikt ablehnte, dass sich ihre 18jährige Tochter ebenfalls prostituierte, kann der Protagonist mit seiner beschränkten Weltsicht jedenfalls nicht erklären. Auch bietet er keine Erklärung dafür an, warum eine seiner Liebhaberinnen meinte: „wenn … meine Töchter von uns erfahren, bringe ich Dich um!“ (S. 296). Warum sollten denn die Töchter nichts von ihnen erfahren, wenn es doch moralisch unbedenklich ist? Auch bleibt völlig unverständlich, warum der Protagonist es für „sexistisch“ hält, wenn Medizinstudenten ihren Kommilitoninnen anbieten, sie von der „Krankheit der Jungfräulichkeit“ zu kurieren; völlig isoliert vom Rest des Buches wird plötzlich von – sic! – „Rücksicht“ auf Gefühle und – sic! – „moralische Prinzipien“ gesprochen. (S. 165 f.). Für eine solche Aussage bietet das Buch keine Grundlage, der Protagonist kommt hier in erhebliche Selbstwidersprüche. Auch liest man nichts darüber, warum die verschiedenen Freundinnen, die der Protagonist gleichzeitig hat, besser nichts voneinander erfahren dürfen (S. 288 ff.). Der Protagonist des Buches verschwendet keinen Gedanken daran, ob es klug und gut ist, in eine intakte Ehe einzubrechen; oder die verheiratete Mutter von Kindern zu „vögeln“; oder zwischendurch eben schnell die Cousine der derzeitigen Liebhaberin. Dass die Beziehungen zwischen Liebenden, zwischen Eltern und Kindern, auch zwischen Cousinen einen höheren Wert darstellen könnten, den für das kurze Vergnügen einer erotischen Beziehung zu opfern unklug und maßlos sein könnte, ist ein Gedanke, der in diesem Buch nicht vorkommt. Dass leichthin verletzte Gefühle auf dem Gebiet von Liebe und Sexualität zu ungeahnten Gefühlsdramen bis hin zu Mord und Totschlag führen könnten, ist dem Protagonisten fremd. Kurz, der Protagonist des Buches ist moralisch verwirrt.

Extremurteil über konservatives Denken

Dennoch ist der Protagonist unerschüttert in seinem Vorurteil über Konservative, und findet Bestätigung in der einzig konservativen Person, die ihm begegnet: Der tatsächlich dummen Cousine einer Liebhaberin, die sich ihm emotional überwunden hingibt, obwohl sie ihn auf rationaler Ebene für unmoralisch hält. Aber man hat nicht deshalb Recht, weil ein Vertreter der Gegenmeinung dümmer ist als man selbst. Schließlich begeht der Protagonist Ehebruch mit einer Frau, die emotional stark hin und her schwankt, ob sie dies zum ersten Mal in ihrem Leben tun sollte, und erklärt hinterher eiskalt zu ihren Bedenken: „Verstehe. Du glaubst zwar nicht mehr an Sünde, aber der Gedanke daran macht dir trotzdem zu schaffen, sozusagen aus Gewohnheit.“ (S. 284) – Wie wenn Moral und Gewissen restlos verschwinden würden und keine Begründung mehr hätten, wenn der christliche Glaube geschwunden ist! Um so zu denken muss man schon sehr dumm sein. Eine innere, wahrhaft liebende Beziehung zwischen Partnern, aufgrund von geteilten Lebenserfahrungen, Interessen, Weltanschauungen, gemeinsamen Kindern, politischen Zielen oder was immer sonst einen Menschen tief im Inneren antreibt, gibt es nach Meinung des Protagonisten offenbar nicht, sondern ist seiner Meinung nach wohl eine Illusion von Stockkonservativen, die er einfach für dumm und unaufgeklärt hält, wie die besagte Cousine. Einzig zugute halten möchte man dem Protagonisten, dass Konservative damals noch „strenger“ und eine Ehe damals noch „fesselnder“ war als heute, aber viel Verständnis und Nachsicht lässt sich aus diesen Umständen für die grundlegenden Irrtümer nicht ableiten.

Oberflächlicher Charakter

Der ganze Lebenssinn wird in diesem Buch auf einen guten Fick mit wem auch immer reduziert. Sogar die Selbstbefriedigung wird präzise deshalb gegeißelt, weil man statt dessen doch lieber mit irgend einer Frau geschlafen hätte, welche ist dabei nicht so wichtig. Der Protagonist kommt nicht auf die Idee, eine Liebesbeziehung anzustreben, in der er sich selbst als diejenige Person angenommen fühlen kann, die er ganz allein ist. Der tiefere Grund dafür könnte sein, dass der Protagonist ein 08/15-Mensch ist, ein austauschbarer, oberflächlicher Charakter, der sich natürlich leicht damit tut, sich mit anderen austauschbaren Charakteren auszutauschen (oder mit tieferen Charakteren, falls diese vorübergehend keine Tiefe wünschen). Ein austauschbarer Charakter also, der gar keine tiefere Beziehung zu einem anderen Menschen aufbauen kann, weil er keine eigene Tiefe hat, und der auch kein Bedürfnis nach einem „inneren Kreis“ von Vertrautheit hat, weil er in seiner Austauschbarkeit und Oberflächlichkeit kein Bedürfnis nach Schutz von etwas Eigenem vor dem öffentlichen Schwachsinn hat. Der öffentliche Schwachsinn gilt einem solchen Menschen vielmehr als das Richtige, Normale und Gute; das ist seine Ebene, auf der er sich mit anderen trifft. Und hier hat auch das Leitthema des Buches seinen Platz: Die Erfahrung des Protagonisten, dass er mit gleichaltrigen jungen Mädchen nichts anfangen konnte, weil diese zickig sind, weshalb er auf ältere Frauen auswich. Kann man nicht wenigstens das nachempfinden? Nein. Denn auch unter den Gleichaltrigen gibt es immer Einzelne, die schon als junge Menschen vernünftig sind – aber das sind eben die mit Charakter. Dass die oberflächlichen Zicken erst im mittleren Alter genießbar werden, das will man gerne glauben, aber damit verrät sich der Protagonist in seiner Oberflächlichkeit einmal mehr selbst. Die Maxime der Philosophie, sich selbst zu erkennen, verwirft er denn auch, weil er darüber nur gemeiner und dümmer werden würde, wie er selbst sagt (S. 236). Vielleicht wird er dadurch aber gar nicht gemeiner und dümmer, sondern erkennt nur, dass er eben dieses ist?

Ungarn

Nebenbei wird auch noch ein wenig über die Geschichte Ungarns und das Schicksal der Flüchtlinge von 1956 erzählt. Das ist fast noch das wertvollste an diesem Buch, aber es ist nicht eben viel.

Fazit

Für viele Menschen, die sich für gebildet und aufgeklärt halten, ohne dass sie es sind, scheint dieses Buch ein Ideal von sexueller Freizügigkeit zu repräsentieren; in Wahrheit ist es jedoch eine ungewollte Satire auf maßlose sexuelle Enthemmung. Leider sind die meisten Menschen entweder maßlos enthemmt oder maßlos verklemmt, und feiern damit in ihren jeweiligen Milieus Erfolge – nur wenige sind klug und maßvoll, und müssen damit auf der Hut sein, um nicht unter die Räder der kleinen und großen Meinungsführer zu geraten, die es überall gibt. Kurz: Ein schlechtes Buch.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon mit einigen sprachlichen Glättungen am 18. März 2013)

Françoise Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten (1945/2016)

Sehr authentischer und berührender Bericht von Verfolgung und Flucht

Die polnische Jüdin Françoise Frenkel hatte in Paris studiert und dann 1921 in Berlin eine französische Buchhandlung eröffnet. In ihrem 1945 erschienenen und kaum beachteten Buch „Nichts um sein Haupt zu betten“ berichtet sie über ihre Verfolgung und Flucht in der Zeit des Nationalsozialismus: Wie alles begann, mit den Pogromen in Berlin. Wie sie nach Frankreich floh. Wie nach dem Einmarsch der Deutschen auch dort die Verfolgung begann. Und wie sie mithilfe guter Menschen sich verstecken und schließlich fliehen konnte. Weniger guten Menschen begegnete sie ebenfalls in ausreichendem Maße.

Dieses jetzt von Patrick Modiano wiederentdeckte Buch überzeugt durch die authentischen Erlebnisse der Autorin mehr als viele literarische Verarbeitungen des Themas. Die Darstellung ist erstaunlich nüchtern und sachlich. Teilweise wird die Situation mit Sarkasmus und Galgenhumor getragen. Es ist die Persönlichkeit der Autorin, die überzeugt.

Eine wahre Entdeckung, eine Top-Empfehlung.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon in etwas anderer Fassung am 11. Juli 2018)

Anna Seghers: Das siebte Kreuz (1942)

Kommunistisches Zerrbild der NS-Verfolgung – dennoch lesenswert

In Anna Seghers Roman „Das Siebte Kreuz“ geht es um einen Kommunisten namens Georg Heisler, der mit sechs Mithäftlingen aus einem KZ bei Mainz ausbricht und quer durch die Rhein-Main-Region flieht, bis ihm schließlich die Flucht aus Deutschland mithilfe von ehemaligen Genossen gelingt, während die anderen sechs wieder gefangen genommen und an für diesen Zweck vorbereitete „Kreuze“ geschlagen werden: Das siebte Kreuz aber bleibt leer, die Diktatur ist nicht unbesiegbar. – Georg Heisler begegnet auf seiner Flucht den Deutschen in ihrem Alltag im Nationalsozialismus und erlebt, wie sie sich mit der Diktatur arrangieren und wie sie sich verhalten, wenn sie vor eine risikoreiche Gewissensentscheidung gestellt werden. Von der inneren Emigration über gedankenloses Mittun in der Diktatur bis hin zum überzeugten Nazi ist alles vertreten.

Kritik

Der Roman zeigt Kommunisten nur von ihrer Schokoladenseite, d.h. als idealistische Kämpfer mit einem ungebrochenen humanitären Anspruch. Doch das ist grober Unfug.

  • Seghers stellt Kritik an Stalins Sowjetunion (wo Millionen verfolgt wurden und sterben mussten) als dummes Nachgeplapper von antikommunistischer Propaganda hin (S. 239).
  • Seghers begann diesen Roman 1938 in Frankreich zu schreiben, also genau in der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, der u.a. zur Folge hatte, dass die Kommunisten in Frankreich den Einmarsch der Deutschen unterstützten. Aber kein Wort davon im Roman.
  • Viele sehen eine Quintessenz des Romans darin, dass Heisler im Gegensatz zu den anderen sechs Geflohenen die Flucht gelang, weil er Hilfe von seinen Genossen bekam. Da erhebt sich aber die Frage, warum die Genossen nur den Genossen halfen? Wäre es nicht human gewesen, wenn sie jedem geholfen hätten, ob Genosse oder nicht?
  • Mehrfach wird der Traum beschworen, nach Spanien zu fliehen, und dort im Spanischen Bürgerkrieg mitzukämpfen. Aber auch dort zeigte der Kommunismus seine hässliche Seite: Massenhaft Morde an Zivilisten, Morde z.B. an Priestern nur weil sie Priester waren, Morde an „Verrätern“, und überhaupt der Kampf nicht etwa für eine „Republik“, wie es oft heißt, sondern natürlich für die Diktatur, eben für eine kommunistische Diktatur. Auch Genosse Erich Mielke ging einst nach Spanien, nachdem er in Deutschland zwei Polizisten ermordet hatte, und begann dort seine Karriere als Stasi-Schnüffler, indem er „Verräter“ ans Messer lieferte.
  • Die überzeugte Kommunistin Anna Seghers floh 1941 nach Mexiko. In Mexiko wurde aber nur ein Jahr zuvor der kommunistische Dissident Leo Trotzki von den Häschern Stalins aufgespürt und brutal ermordet. Seghers schrieb da immer noch an diesem Buch. Hätte die Sensibilität einer Literatin nicht dazu führen müssen, dass sich diese Untaten im Namen des Kommunismus irgendwie in ihren Werken niederschlagen?

Kurz: Als Demokrat, der dem antitotalitären Grundkonsens verpflichtet ist, und ausnahmslos jede radikale Ideologie ablehnen muss, kann man diesen Roman nicht wirklich ernst nehmen. Da bekommt man also vorgeführt, wie die Genossen sich gegen eine inhumane Verfolgung wehren und sich als Idealisten rühmen, aber in Wahrheit sind sie selbst zu genau derselben Verfolgung von politisch missliebigen Personen fähig und bereit und haben sie auch aktiv begangen: Tausendfach, millionenfach, in der Sowjetunion, in Spanien, in Deutschland, weltweit.

Die Widmung des Buches an alle „toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands“ klingt da wie reiner Hohn. Denn Erich Mielke ist da mitgemeint. Nicht zufällig spielte Anna Seghers in der stalinistischen DDR-Diktatur später eine wichtige Rolle. Die Schwere ihrer Schuld gegenüber den Opfern der DDR-Diktatur vernichtet jeden Anspruch von Anna Seghers auf eine humane Gesinnung.

Die Judenverfolgung spielt in diesem Roman übrigens eine erstaunlich harmlose Rolle. Ganz am Rande der Handlung erfährt man, dass mit einem jüdischen Arzt rücksichtslos umgegangen wird. Mehr aber nicht: Keine Verhaftung, kein Berufsverbot. Und man liest von jüdischen Tuchhändlern, die ihren Laden ausverkaufen und auswandern. Tatsächlich gab es in den 1930er Jahren zunächst „nur“ eine Diskriminierung, aber noch keine Verfolgung der Juden in Deutschland. Die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden begann erst 1938. Also genau in dem Jahr, in dem Seghers ihren Roman zu schreiben begann! Hätte man da nicht erwarten können, dass Seghers das Schicksal der Juden etwas mehr bearbeitet? Im Roman sieht es so aus, als ob die Kommunisten die Hauptleidtragenden des Nationalsozialismus gewesen wären.

Es stimmt auch nicht, dass der Roman die ganze deutsche Gesellschaft in allen ihren Schichten abbildet, wie manche meinen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den kleinen Leuten, den Bauern, Schäfern, Handwerkern, Fabrikarbeitern, Umzugspackern und deren Ehefrauen, die fast immer Hausfrauen und sonst nichts sind. Die Mittelschicht wird höchstens gestreift. Die Oberschicht kommt nicht vor. Völlig abwesend sind auch Liberale und Konservative und deren Widerstand gegen die Diktatur. Man hört nichts von Christen, Monarchisten, Adligen, Gutsbesitzern, Beamten, Militärs und Unternehmern, die gegen den Nationalsozialismus sind. Man hört auch nichts von SPDlern, nichtkommunistischen Gewerkschaftern, Intellektuellen, Journalisten, Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern.

Das ganze Buch ist bei näherem Hinsehen ein viel zu simples Schwarz-Weiß: Auf der einen Seite die kleinen, „proletarischen“ Leute und die edelmütigen Kommunisten, auf der anderen Seite der Rest …. und der Rest zählt offenbar nicht, oder wird kurzerhand gleich ganz den Nazis zugerechnet. Dieses Zerrbild der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus ist völlig unakzeptabel!

Anna Seghers lebte von 1933 an im Exil. Das bedeutet, dass ihre Darstellung der Zustände im nationalsozialistischen Deutschland nicht auf ihre eigene, unmittelbare Erfahrung zurückgeht. Bei literarisch „aus der Ferne“ geschriebenen Werken besteht immer die Gefahr, dass Dinge verzerrt und über- oder auch unterzeichnet werden. Und wie wir sahen, ist bei Anna Seghers in der Tat eine ganze Menge verzerrt und über- bzw. unterzeichnet.

Es gibt wahrlich genügend Autoren, die ihre realen Erlebnisse schildern. Es wäre besser, sich an diese Autoren zu halten. Ein gutes Beispiel ist hier Françoise Frenkel mit ihrem bewegenden Buch „Nichts, um sein Haupt zu betten“: Eine jüdische Polin, die eine französische Buchhandlung in Berlin betrieb, vor den Nazis nach Frankreich floh, dort mit der Hilfe guter Menschen (nein, keine Kommunisten) der Verfolgung durch die französischen Behörden entkam und schließlich in die Schweiz fliehen konnte. Mit der Realität kann keine Fiktion mithalten.

Dennoch lesenswert

Es gibt dennoch gewisse Gründe, warum man dieses Buch lesen sollte:

  • Zunächst ganz einfach deshalb, weil das Buch heute vielgelesen und vielgerühmt ist. Man sollte wissen, was da gelesen und gerühmt wird. Das ist natürlich kein rühmlicher Grund, dieses Buch zu lesen.
  • Die Zeichnung des gehetzten Denkens eines Fliehenden und des vorsichtige Ratens und Ertastens, ob ein Gegenüber ebenso denkt wie man selbst und auch in Gefahr verlässlich ist, ist literarisch gut gelungen.
  • Die Zeichnung der kleinen Leute und ihres häufig sehr irrationalen Denkens und ihres oft eigenwilligen Arrangements mit der Obrigkeit ist literarisch gut gelungen und sehr lehrreich, allerdings unabhängig von der speziellen Situation der NS-Diktatur. Denn die kleinen Leute sind immer so, unabhängig von dem System, in dem sie leben. Sie machen auch Witze über andere Herrscher, und ducken sich gleichermaßen vor ihnen. Sie arrangieren sich auch mit der Demokratie nicht etwa deshalb, weil sie überzeugte Demokraten wären. Kleine Leute haben keine Überzeugungen von dieser Art. Dieses Denken der kleinen Leute wird von Anna Seghers recht gut eingefangen. Zum Vergleich könnte man etwa „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen, das dieselben kleinen Leute unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zeigt. Sie machen immer noch ihre Witze, sie arrangieren sich immer noch, sie haben immer noch keine echte Überzeugung.

Aperçu: „Neger“-Debatte

Auch in Anna Seghers Buch „Das Siebte Kreuz“ taucht das Wort „Neger“ auf. Es dient zur Beschreibung der rußgeschwärzten Gesichter von Schweißern in einer Werkstatt, Zitat: „… Blicke, aus schrägen Augen, in denen sich die weißen Augäpfel drohend zu rollen schienen, wie die Augen von Negern, …“ (S. 331)

Interessanterweise ist aber noch niemand auf die Idee gekommen, dieses unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Political Correctness äußerst delikate Zitat aus diesem Buch tilgen zu wollen. Man vergleiche mit dem harmlosen „Negerkönig“ aus Pippi Langstrumpf. Ob es wohl daran liegt, dass Anna Seghers eine Säulenheilige der Linken ist?

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Juli 2018)

Hans Rosling: Factfulness – Ten Reasons We’re Wrong About The World – And Why Things Are Better Than You Think (2018)

Justified 3rd-world optimism, guide to skeptical thinking, although somewhat biased itself

This is an amazing book, amazing under several aspects:

First, it is amazing, because you think that most human beings live in poverty, that the increase of population is eating up all successes in development, and that there is no improvement at the horizon – and then you see: By silent development, by small steps over long times, and without media attention, this world has become a better place, and many problems are already solved, or will soon be solved. Change is possible, is already on its way, or is even already reality. Some major examples:

  • World’s population is no longer living in great poverty. Most countries managed to reach a medium level of development.
  • World’s population is not just increasing without limits. Instead, „peak child“ is already reached!
  • The number of children has almost nothing to do with religion, but is clearly related to the level of development.
  • The visualisation of life circumstances on the author’s „Dollarstreet“ Web site is very valuable.

This book is also amazing in giving its readers a lecture in skeptical thinking. There are so many mistakes you can make when following mainstream thoughts. Here, you learn to develop a sense of skepticism, and to ask the right questions to debunk easy and popular answers. The book is a plea for rationality, against emotional judgements. It also teaches skepticism towards a belief in experts. Experts e.g. are only experts for their field, not for other fields. And it teaches how to interpret statistics correctly: You shall not interpret data out of context, expect linear increase instead of curves, ignore the possibilty of change, e.g. by still working with statistics from the 1960s – which are simply wrong because unexpected change has arrived!

Amazing is also, that the author can provide first-hand experience from poor countries about the mindset of poor people, and about their real needs, since he worked there as a doctor. Many valuable experiences from his eventful life are openly presented, including fatal mistakes he made. Priorities are different, if living in poor circumstances. And development depends on things you would not imagine. E.g. saving the children of the poor by modern medicine does not mean to increase world’s population without limits. Because the children’s health security is an important step towards parents having fewer children. If you want to put a limit on the world’s population, save the children! Human life in past centuries had a balance in population numbers only because so many children were dying. It was not paradise, as some imagine.

Not everything in this book is convincing:

  • The problems of immigration from underdeveloped countries into developed countries are very generally downplayed.
  • The book concentrates on the decrease of the number of children, yet it completely ignores that in the meantime, childlessness in developed countries has become a new problem on its own. Closing the gap of births by immigrants from poorer countries is highly problematic, since so many immigrants are needed to fill the gap that they cannot integrate into the developed culture any more. Furthermore, there is the problem that emigration of educated citizens from poorer countries into developed countries deprives the poorer countries from the fruits of their development.
  • „Peak child“ is reached also because of the childlessness of developed countries. This means that still too many children are born on a lower level of development. Especially in Africa, „peak child“ is by far not reached, yet, and as the book itself says, Africa’s population will increase from one billion to three billion, if slow but steady development in Africa will do its work as expected.
  • More developed countries means more need for natural resources, and indeed the rivalry over the natural resources of the planet is increasing. China e.g. is on a big „shopping tour“ in Africa, while at the same time building a fleet of aircraft carriers to fight for its interests in the world. Wars could be the consequence, and are likely. Especially the development of middle-developed countries can quickly be destroyed by war. The author ignores the not-at-all linear but disruptive quality of the statistics of war casualties which he himself presents.
  • The author suggests that companies should strip off their national roots and pretend to be „global“, although this deprives them of their identity, their traditions, and creates anonymity and informal cultural power structures.
  • Concerning the media (and schools!), the author sees no politically intended bias as driver of wrong information, but only a bias because of ignorance and dramatization.
  • The author is a strong advocate for the idea that climate change is man-made, that it will have catastrophic effects, and that quick and strong measures are needed to tackle the problem.

All in all, the author favours sometimes a naive optimism, and has a clear political left-wing bias. Indeed, the author has a left-wing background. He is e.g. member of IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War). This organization helped Soviet Union during Cold War to spread FAKE NEWS creating irrational fears of nuclear war in Western countries, in order to „democratically“ dismantle the West from its nuclear defence, and thus to ensure the victory of communism over the West. Hans Rosling himself tells in this book how his fears of nuclear war are irrational and deeply rooted in his family. IPPNW got the Noble Peace Prize in 1985. Former US president Obama, Noble Peace Prize in 2009 and himself known to be a left-wing politician, is advocating Rosling’s book.

Yet amazing again, the author is excused:

Reading this book it becomes clear that the author got over the usual politically biased propaganda. This becomes especially clear when he advocates against typical left-wing notions: For example, he explicitly rejects emotionalized „thinking“ about immigration as created by pictures of drowned children. Or he explicitly says that in Fukushima nobody was killed by radioactivity, but by senseless evacuations driven by irrational fear of radioactivity. Or he explicitly advocates against „thinking“ under the pressure of alleged urgency when it comes to climate change. And he strongly rejects the idea that overdramatization is justified to make politicians act on climate change! This is great.

And last but not least: Yes, the author is basically right to have a certain optimism, and he is right in his basic idea, that only development is the solution, and nothing else, and that development is indeed possible, despite all pessimists.

Summary

This is an amazing book. Not only that it gives you a much more optimistic view of the world. It teaches you also to think on your own. And while you cannot agree with the author in all questions, his way of thinking is still convincing. This is really amazing.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Mai 2019)

Friedrich Christian Delius: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (1995)

Ein „Ausflug“ aus der DDR in den dekadenten, linksliberalen Westen

Friedrich Christian Delius ist wie immer ein Meister der Introspektion: Man sieht bei ihm, wie „es“ im Menschen denkt. Das macht die Lektüre allerdings auch anspruchsvoll. Diesmal geht es um einen DDR-Bürger, der ohne politische Absichten einfach nur auf den Spuren Seumes nach Italien reisen und dann wieder zurückkehren möchte.

Die erste Hälfte des Buches über erlebt man mit, wie die Flucht geplant wird, wie dabei ein Gedanke den nächsten jagt, wie das Denken vorwärts auf das eine Ziel hin drängt. In der zweiten Hälfte des Buches erlebt man die Begegnung mit dem Westen. Das völlige Unvermögen der dekadenten, linksliberalen Wessis, den unpolitischen Ossi zu verstehen, ist sehr gut getroffen. Erst in Italien fühlt sich der DDR-Bürger als Deutscher und Diktaturopfer ernst genommen.

Das Buch wäre in besagtem dekadenten Westen vor 1989 wohl ein Skandalbuch geworden; da es aber erst in den 90er Jahren geschrieben wurde, winken viele heute nur ab: Stasi und Mauer gelten als ferne Vergangenheit. Sie begreifen nicht, dass das dekadente, linksliberale Denken, das vor 1989 im Angesicht der DDR-Diktatur versagte, auch heute noch herrscht, und immer wieder aufs neue an immer wieder neuen Themen versagt; oder sie begreifen es, und wollen nicht mit Kritik belästigt werden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. August 2012)

Rafik Schami: Die dunkle Seite der Liebe (2004)

Ein Meisterwerk der Erzählkunst – eine Warnung vor schrankenlosem Multikulti

Der Roman „Die dunkle Seite der Liebe“ von Rafik Schami ist ein Glanzstück erzählerischer Prosa und sprachlich ein wahrer Hochgenuß. Voller Geduld und in aller Seelenruhe entspinnt sich vor den Augen des Lesers ein gigantisches Geflecht von ineinander greifenden Einzelerzählungen, die sich unendlich langsam aber doch beharrlich zu einem gewaltigen Gesamtbild zusammenfügen. In weiten Bögen schweift die Erzählung vom roten Faden ab, verliert sich scheinbar im Unendlichen, und kommt doch immer wieder überraschend treffsicher zum Ausgangspunkt zurück. Durch dieses Umkreisen und Vor- und Zurückblenden entfaltet sich ein großer Bilderbogen der arabischen Kultur in Syrien Mitte des 20. Jahrhunderts. Dieser Roman ist eine wahre Bereicherung der deutschen Literatur durch die Synthese von orientalischer Erzählkunst und der deutschen Sprache.

Handlung des Romans ist eine Familienfehde zwischen zwei christlichen arabischen Clans über mehrere Generationen hinweg, die die Liebe zwischen Farid und Rana, die jeweils einem der beiden Clans angehören, zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit macht.

Thema des Romans ist damit die Familiensoziologie der arabischen Kultur. Und hier ist alles drin: Ob Ehrenmord oder Zwangsverheiratung, nicht nur an Frauen, auch an Männern, ob Verhätschelung des Sohnes und Demütigung der Tochter, ob Machokultur und Patriarchat oder Verrat der Mütter an ihren Töchtern, ob Familienfehde oder Blutrache über Jahrzehnte hinweg, ob unhinterfragte Religiosität oder Aufklärungsfeindlichkeit: Hier ist einfach alles drin. Es ist eine schlichtweg verrückte Welt, ein einziges Irrenhaus, und je aufgeklärter die Protagonisten im Roman sind, desto mehr empfinden sie es ebenso: Es ist eine einzige Katastrophe, einfach nur zum Davonlaufen.

Interessant für den europäischen Leser ist, dass sich hier in christlichen Familien all die Phänomene wieder finden lassen, die man sonst eher in islamischen Familien vermuten würde. Die Ursache für solche Zustände ist ein Gesamtkonglomerat aus unaufgeklärter Religiosität und kulturellem Traditionalismus, Bildungsferne und dem Leben in einem islamisch dominierten Land. Das Fehlen von Aufklärung und humanistischer Bildung ist das Hauptproblem.

Interessant ist auch, wie sich die syrische Gesellschaft aufspaltet: Es sind dort nicht alles traditionalistische Muslime, wie manche vielleicht meinen, sondern es gibt dort alle politischen und weltanschaulichen Schattierungen, die es auch im Westen gibt. Nur, dass das Spektrum anders proportioniert ist, so dass moderate, aufgeklärte Demokraten keine Chance haben.

Viele europäische Intellektuelle scheinen diesen Roman falsch verstanden zu haben: Sie loben ihn als Werk des Multikulturalismus, der uns durch orientalische Sprache bereichere und der zeige, dass in der islamischen Welt auch vernünftige Menschen lebten bzw. dass auch Christen traditionalistisch sein können. Das ist alles nicht falsch, aber doch haarscharf an der Wahrheit vorbei gedacht: Der Roman zeigt doch vielmehr, dass man Christentum und Islam nicht gegeneinander ausspielen sollte, sondern unabhängig von der Väterreligion das Fehlen von Aufklärung und humanistischer Bildung das Problem sind.

Man kann diesen Roman auch als eine Warnung an Europa lesen, die von europäischen Intellektuellen gerne übersehen wird: Wollen wir wirklich tatenlos dabei zusehen, dass sich im Namen der Toleranz und der kulturellen Vielfalt auch diese arabische Familienkultur bei uns einnistet? Vor der so viele arabische Intellektuelle zu uns geflohen sind, darunter auch der Autor dieses Romans, Rafik Schami? Wollen wir Zufluchtsort sein, oder ein Ort, von dem man flüchtet?

Der Leser sollte für dieses Werk viel Zeit mitbringen: Das ganze erste Drittel des Romans ist der Vorgeschichte der beiden Clans gewidmet, es ist eine einzige schier endlose Orgie aus Ehrenmorden und Zwangsheiraten. Danach folgt bis zur Mitte des Romans die Kindheit der Hauptperson. Bis zu diesem Punkt muss man einfach durchhalten, die Schönheit der Sprache wird es einem erleichtern. Und es lohnt sich! Denn auf dieser notwendigen Grundlage kommt die Geschichte dann in Fahrt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Geschrieben 27. November 2001.