Schlagwort: Geschichte

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens – Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (2016)

Religion als Ursprung des Westens? No way!

Winkler baut die Entwicklung des Westens ganz auf Judentum und Christentum auf. Die Antike kommt bei ihm erst durch Hellenismus und römische Kaiserzeit ins Spiel, wegen des frühen Christentums. Stoische Philosophie ist bei ihm Beiwerk am Rande der eigentlichen Entwicklung, und fällt praktisch „vom Himmel“, ihre Herkunft bleibt tatsächlich unerwähnt. Platon, Aristoteles, Cicero: Kein Wort von ihnen.

Damit übergeht Winkler den wahren Wurzelgrund des Westens: Die griechisch-römische Antike! Es waren die griechischen Philosophen, die die erste Aufklärung in Gang brachten und humanistisches Gedankengut entwickelten. Der Aufstieg des Christentums drehte diese antike Aufklärung erst einmal wieder zurück und es folgte die dunkle Zeit des fundamental-religiösen Mittelalters. Die Religionen bedienten sich immer mehr an den antiken Denkern, und bauten sie in ihre Theologien ein, bis das antike Denken aus dem Schatten der Religion heraustreten konnte. Erst als man wieder begann, das antike Denken selbst und eigenständig zu entdecken, endete das Mittelalter und eine neue Aufklärung begann. Religionen wie das Christentum waren nicht die Quelle der Aufklärung. Es waren nicht die Religionen, die Demokratie und Menschenrechte hervorbrachten, sondern die Religionen mussten erst mühsam lernen, dass ihre religiöse Lehren mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar sind. Das ist nicht antireligiös gemeint: Religionen können an der Aufklärung teilhaben und sie sich zu eigen machen, und so ihre Wahrhaftigkeit steigern, aber dass Aufklärung und Humanismus aus Religionen hervor gegangen wären, ist historisch einfach nur falsch.

Winkler sieht im Monotheismus den Anfang des Westens. Es ist jedoch grundsätzlich die Frage, ob der Monotheismus der traditionellen Religionen wie Judentum und Christentum wirklich einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des Westens geleistet hat. Griechenland und Rom jedenfalls waren polytheistische Gesellschaften, und sie waren es, die Aufklärung und Humanismus hervorbrachten. Den „philosophischen Gott“ der griechischen und römischen Philosophen mit dem Gottesbegriff der traditionellen Religionen gleichzusetzen und deshalb zu behaupten, der Monotheismus sei eine Grundlage des Westens, ist jedenfalls unzulässig. Nebenbei: Es ist auch sachlich falsch, eine direkte Verbindungslinie vom Monotheismus eines Pharao Echnathon zum Monotheismus des Judentums zu ziehen. Sie entstanden zwar beide aus demselben von Winkler richtig benannten, politischen Grund, jedoch mit großer Sicherheit völlig unabhängig voneinander.

Das Fundament von Winklers „Westen“ wird fundamental-religiösen Menschen sehr gefallen. Aber bereits ein aufgeklärt-religiöser Mensch wird sich über dieses Werk höchst verwundern müssen. Das Buch erscheint auch etwas simpel geschrieben. Gutwillige Rezensenten nennen es „flüssig geschrieben“. Ein klarer, einfacher Stil muss kein Fehler sein, aber wenn man komplizierte Themen mit allzu wenigen Strichen zu zeichnen versucht, gerät es zur Karikatur. Soll das Buch weniger gebildete Leser ansprechen und für den „Westen“ gewinnen? Fast könnte man meinen, das Buch würde sich bewusst an einfach gestrickte religiöse Menschen wenden, um sie für den „Westen“ zu gewinnen …

Der „Westen“ ist als Begriff zudem hochproblematisch und missverständlich. Denn die Sache, um die es geht, ist nicht für eine bestimmte Himmelsrichtung reserviert. Vielmehr geht es um Aufklärung und Humanismus, die überall aufblühen können. Demokratie und Menschenrechte sind für alle Menschen da, nicht nur für den Westen. Der Westen war nur schneller als andere.

Nicht alles an Winklers Denken ist falsch, es finden sich viele gute Einzelideen in einem teilweise recht seltsamen Rahmen eingespannt. Im Lauf der Lektüre fällt auf, dass Winkler Karl Marx am häufigsten zitiert. Es fällt schwer, Winkler einzuordnen. Welche verborgene Agenda hat er damit nur verfolgt? Welche politische Lobby freut sich über dieses Werk? Linke? Religiöse? Postmoderne Kulturrelativisten? Freimaurer?! Man ist ratlos. Winklers Werk muss als „eigenwillig“ im negativen Sinn eingestuft werden, es ist verkorkst und missglückt, so viele gute Einzelideen darin auch enthalten sein mögen. Wen immer Winkler überzeugen wollte: Mit diesem Buch stößt er nur ab.

Fazit

Heinrich August Winkler hat mit seiner „Geschichte des Westens“ ein seltsam verkorkstes Buch geschrieben, das den absonderlichen Versuch unternimmt, die Geschichte von Aufklärung und Humanismus ohne Platon, Aristoteles und Cicero zu erklären. Den wahren Ursprung des Westens verschleiert Winkler in einer unglaublich sträflichen Weise. Nein, so geht es nun einmal nicht. Deshalb schlechtestmögliche Note.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Juli 2012)

Manfred Fuhrmann: Bildung – Europas kulturelle Identität (2002)

Fetter Bildungshappen mit erstaunlichen Defiziten

Mit seiner kurz gehaltenen Streitschrift „Bildung“ hat Manfred Fuhrmann eine weithin beachtete Debatte angefacht: Inwieweit gehört das Hergebrachte, die Tradition, die Geschichte und das Bewusstsein um Geschichtlichkeit und der Umgang mit ihm noch zur Bildung dazu, bzw. was steht auf dem Spiel, wenn wir es vernachlässigen?

Zu diesem Zweck skizziert Fuhrmann in äußerst dichter Form den Werdegang der europäischen Bildungsgeschichte von der Antike über das Mittelalter, Renaissance und Reformation, die Goethezeit, das 19. Jahrhundert und die 68er-Bewegung bis heute. Allein dafür hat sich die Lektüre schon gelohnt. Auch die daran anschließende Diskussion orientiert sehr grundlegend.

Problematisch ist Fuhrmanns Sicht auf die moderne Gesellschaft als Erlebnisgesellschaft, die sich nur noch in Strömungen des gehobenen oder trivialen Konsums von Kultur einteilen lasse. Denn völlig vergessen wird dabei, dass die europäischen Gesellschaften zu einem immer größer werdenden Anteil aus Menschen bestehen, die die überlieferte Kultur nicht etwa trivialisieren, sondern diese vielmehr – bis jetzt jedenfalls – überhaupt nicht zu ihrer Kultur zählen, nämlich ein großer Teil der Zuwanderer aus nichtwestlichen Ländern, insbesondere natürlich viele Muslime.

Und dadurch ist Manfred Fuhrmann auch eine mögliche Sinngebung für humanistische Bildung völlig entgangen: Die Integration dieser Zuwanderer in unsere westliche Gesellschaft. Denn die antiken Denker wurden in der islamischen Welt teilweise ebenfalls rezipiert, wodurch sich ein erstklassiger Anknüpfungspunkt für Integration in die westliche Kultur ergäbe, auf dem man aufbauen könnte. Außerdem kann nur in eine Kultur aufgenommen werden, wer sich über deren Werdegang definiert, und dazu muss man diesen kennen. Das gilt für Einheimische wie Zuwanderer gleichermaßen.

Ebenfalls befremdlich erschien mir, dass Manfred Fuhrmann die fehlenden Kenntnisse über Bibel und Christentum in den Mittelpunkt stellt. Meine Wahrnehmung aus der reformierten gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg (um 1990 mit großem Latinum) ist rückblickend, dass man von der Bibel immerhin noch wusste, was man nicht wusste, aber bezüglich antiker Texte wusste man noch nicht einmal das. So habe ich z.B. von der Existenz der Gefallenenrede des Perikles, die für unsere westliche Welt von Bedeutung ist und von Karl Popper in seiner „Offenen Gesellschaft“ zitiert wird, erst lange nach dem Abitur durch eigenes Weiterlesen erfahren.

Wer sich für Bildung, für Identität, für Kultur, für Integration, für Humanismus, für Aufklärung, für Weltanschauung, für gesellschaftlichen Niedergang bzw. für gesellschaftliche Reformen interessiert, der sollte dieses Büchlein unbedingt lesen, und dann selbst weiterdenken.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2011)

Jan Assmann: Weisheit und Mysterium – Das Bild der Griechen von Ägypten (1999)

Ein schönes, kenntnisreiches Büchlein – Anwendungsfall Atlantis

Dieses Büchlein überrascht zunächst durch seine Aufmachung: Obwohl ein Taschenbuch, hat es ein edles Cover mit Goldprägung. – Im Inneren erwarten einen dann kenntnisreiche Ausführungen von Assmann zum Beziehungsverhältnis zwischen Griechenland und Ägypten. Dabei pflegt Assmann seinen bekannt angenehmen Plauderton, der den Stoff gefällig präsentiert. Leider fallen dabei ein paar harte Fragen unter den Tisch, wie z.B. die Diskussion, ob wirklich alle griechischen Ägyptenreisenden auch tatsächlich in Ägypten waren.

Auch Platons Atlantis-Erzählung wird kurz angesprochen, um die Beziehungen der Griechen zu Ägypten zu verdeutlichen. Allerdings lässt Assmann zu Platons Atlantis viele Fragen offen und verfolgt so manchen Gedankenfaden nicht weiter. Wer in diesem Punkt wissen möchte, was man aus dem Wissen in Assmanns Büchlein in bezug auf Platons Atlantis machen kann, sei verwiesen auf: Franke: „Mit Herodot auf den Spuren von Atlantis“. – Empfehlung!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Januar 2007)

Jostein Gaarder: Sofies Welt – Roman über die Geschichte der Philosophie (1991)

Genialer Roman, geniale Philosophie-Einführung, nicht nur für Jugendliche

Die Grundidee von Jostein Gaarders „Sofies Welt“ ist genial: Philosophie wird nicht nur trocken abgehandelt, sondern auch gleich praktisch vorgeführt. Dabei ist dem Autor auch eine bemerkenswerte Buch-im-Buch-Konstruktion gelungen, die ihresgleichen sucht. Die Darlegung der philosophischen Ideen ist zudem sehr überzeugend und ausgewogen gelungen. Auch die Auswahl der dargestellten Philosophen geht in Ordnung und wird sinnvoll durch einen Gang in eine Buchhandlung und den Blick zum Sternenhimmel ergänzt. Die Story hat Esprit und saugt einen in sich hinein.

Wichtigster Schwachpunkt ist eine zu sanfte Kritik gegenüber Gottesglaube und Religion, die einen jungen Ministranten aus behütetem Hause kaum ins Grübeln bringen dürfte. – Gleich das nächste Problem ist die affirmative Übernahme des Zeitgeistes der 1980er Jahre, die mit den Stichworten „Öko“ und „Uno“ bezeichnet sei. Ein Philosoph ist eher linksliberal, so scheint es, während auf gesellschaftliche Ordnung bedachte Menschen eher keine Philosophen sind. Aber diese Ausfälle halten sich in Grenzen und haben teils ein inzwischen schon nostalgisches Flair an sich.

Zu Beginn des Romans hat man den Eindruck, dass zu wenig geschieht und zuviel über Philosophie doziert wird. Doch das legt sich schnell. – Schließlich scheint das Entkommen der beiden Hauptpersonen aus der Gedankenwelt des Majors nicht völlig überzeugend zu sein, da sie in einer Phantasiewelt landen; es wäre vielleicht besser gewesen, wenn sich Sofie und Alberto als Alter Egos von Hilde und dem Major herausgestellt hätten, dann wäre ihr Entkommen aus einer unterbewussten Existenz überzeugender gewesen.

Fazit: Genial mit kleinen Schwächen, ein guter Einstieg in die Philosophie nicht nur für Jugendliche, und eine verrückte, lesenswerte Geschichte. Lesen!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

Jonas Grethlein: Die Odyssee – Homer und die Kunst des Erzählens (2017)

Umfassende Analyse zu Homers Odyssee, die viele Bezüge eröffnet

Jonas Grethlein hat mit „Die Odyssee – Homer und die Kunst des Erzählens“ eine Analyse zu Homers Odyssee vorgelegt, die den gebildeten Leser wirklich glücklich macht. Nicht nur, weil das Werk Homers unter verschiedensten Gesichtspunkten beleuchtet wird (Geschichte, Kunst, Literatur, Ethik, usw.), sondern auch, weil immer wieder sehr erhellende Bezüge zu alten und neuen Denkern, Literaten u.a. Autoren gezogen werden, die den Leser ungemein anregen und bereichern. Viele Fragestellungen der Homer-Forschung werden angesprochen und durch kluges Abwägen auf überzeugende Weise beantwortet.

Im Mittelpunkt von Grethleins Analyse steht das Erzählen als solches. Die Odyssee ist eine Erzählung, und sie handelt von Erzählungen, und im Modus des Erzählens sind erstaunlich viele Dinge möglich: Nicht nur die simple Kommunikation, sondern auch die Bildung einer Identität, das Wiedererkennen und Identifizieren, die Vorstrukturierung erst noch zu machender Erfahrungen, das Durchstehen schlimmer Leiden, die Verarbeitung eigenen Erlebens, die Aufhebung der Zeit, das Bilden von Beziehungen, die Erfahrung von Lust, usw.

Man lernt hier nicht nur etwas über die Odyssee, sondern über Literatur insgesamt, und man staunt einmal mehr, wie ein so reiches Werk wie Homers Odyssee ganz am Anfang der griechischen Literaturgeschichte entstehen konnte.

Etwas unterbelichtet bleibt die Frage, ob und inwieweit bereits Homer den Pfad gebahnt hat, der die griechisch-römische Welt zur Philosophie, zur Rationalität und zur Herausbildung demokratischer und republikanischer Staatsordnungen führte. Ein Verweis auf die „Dialektik der Aufklärung“ und deren These, dass die Konzentrationslager des Nationalsozialismus gewissermaßen Endziel und Gipfelpunkt von Rationalität und Aufklärung gewesen wären, erscheint unpassend; diese These hat sich nicht bewährt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. September 2018)