Schlagwort: Hitler

Alexander Gauland: Anleitung zum Konservativsein – Zur Geschichte eines Wortes (2002 / 2017)

Pseudo-konservatives Pamphlet eines bräunlichen Preußenfeindes

Alexander Gauland sieht sich selbst als honorigen Konservativen in der Tradition des großen englischen Konservativen Edmund Burke. Doch was er hier im Jahr 2002 – mit Nachwort von 2017 – abgeliefert hat, ist ein erstaunliches Sammelsurium von Obsessionen und Selbstwidersprüchen, das eine ganz andere Gesinnung durchscheinen lässt.

Gleich das erste Kapitel – nach dem einleitenden Kapitel – ist bemerkenswerterweise niemand anderem als Adolf Hitler gewidmet. Und ebenso ist auch der letzte Satz auf der letzten Seite dieses Büchleins, im Nachwort von 2017, Adolf Hitler gewidmet: Dass man sich nur ja nicht auf Hitler fixieren dürfe! Doch genau das scheint hier durch: Eine Fixierung auf Hitler. Man kann doch am Anfang des 21. Jahrhunderts ein Buch über die Aktualität des Konservativismus nicht mit Adolf Hitler beginnen! Es ist viel Hitler in Gauland, so scheint es: Gauland denkt von Hitler her, ganz so wie Joschka Fischer von Auschwitz – also von Hitler – her dachte.

Die nächste dicke Überraschung: Gauland verwendet ein ganzes Kapitel darauf, um Friedrich den Großen als gefühlskalten Zyniker, rücksichtslosen Kriegstreiber, verantwortungslosen Hasardeur und Verächter des Rechts darzustellen. Hier werden alle Register der preußenfeindlichen Propaganda gezogen. Und überhaupt hätte Preußen angeblich keine Staatsidee gehabt. – Anderswo kann man nachlesen, dass Friedrich der Große ein Meilenstein der Aufklärung in Deutschland war. Nicht zufällig wirkte zur selben Zeit Immanuel Kant im preußischen Königsberg. Die Werke Friedrichs sind voller moralischer Überlegungen, und seine Genialität war von Erfolg gekrönt. Dass er manchmal alles auf eine Karte setzte, war den Umständen geschuldet. Die preußische Staatsidee umfasste Rationalität und Ordnung. Preußen schnitt so manchen alten Zopf ab, während das morsche Österreich dahinsiechte. Aus dem Moder der Verwesung Österreichs ging Adolf Hitler hervor – doch Gauland sieht das Böse aus Preußen kommen.

Die Rationalität Preußens gefällt Gauland nicht: Denn für ihn gehorchte sein Vorbild Edmund Burke angeblich „zuallererst“ einem „romantischen Impuls“ (S. 13). Romantik ist natürlich das krasse Gegenteil von Rationalität. Später versucht Gauland abzuschwächen: Burke hätte sich nicht gegen die Rationalität gewandt, sondern gegen die Unvollkommenheit der Rationalität (S. 16). Das überzeugt nicht, denn nicht die Rationalität kann unvollkommen sein, sondern nur deren Gebrauch. Um die Grenzen der Rationalität zu erkennen, muss man weiterhin rational sein. – Im Nachwort schreibt Gauland, dass gewachsene Strukturen des Lebens und des Glaubens „eine Quelle andersartiger Vernunft“ seien. Hier wird etwas als Vernunft bezeichnet, was keine Vernunft ist, sondern z.B. Erfahrung. Es wird so getan, als stünde „die Vernunft“ im Widerspruch mit dieser „anderen“ Vernunft. Doch das ist falsch. Vernunft, wenn sie richtig gebraucht wird, integriert Erfahrung. – Schließlich schreibt Gauland, dass der moderne Mensch in einem „versteinerten Gehäuse der Rationalität“ leben würde, und dagegen ein „konservatives Widerlager“ nötig sei (S. 85). Damit verdeutlicht Gauland einmal mehr seine Opposition gegen die Vernunft.

Außerdem ist bereits die Analyse falsch. Der moderne Mensch lebt leider nicht in einer Welt der Rationalität, sondern im Gegenteil oft genug in den Illusionswelten eines höchst irrationalen Zeitgeistes: Der Konservativismus ist es, der auf Vernunft und Realismus bestehen muss. Moderner Konservativismus kann nur vernünftig gedacht werden. Aber Alexander Gauland redet einem romantischen Traditionalismus das Wort, dessen Irrationalität beliebig irre Auswüchse haben kann. Preußen stört da nur.

Gauland vollbringt sogar das Kunststück, ausgerechnet Friedrich dem Großen die Schuld dafür zuzuschreiben, dass die Ideen der Aufklärung in Deutschland nicht Fuß fassten und die Romantik an Boden gewann (S. 29). (Zumal der Romantiker Gauland diese Entwicklung doch begrüßen müsste?) Preußen hätte sich außerdem nach Osten gewandt, weg vom aufgeklärten Westen (S. 38). In Wahrheit wuchs Preußen immer weiter nach Westen in Deutschland hinein, während Österreich immer weiter aus Deutschland Richtung Osten herauswuchs. Gauland selbst zitiert die Bezeichnung „Rationalstaat“ Preußen (S. 20) und führt wiederholt an, dass die Attentäter vom 20. Juli 1944 aus dem preußischen Adel kamen (S. 34, 39). Gauland erwähnt den preußischen Klassizismus, Humboldt u.v.a.m. (schweigt aber über Kant) – doch all das lässt er nicht als kulturelle Errungenschaften gelten gegenüber den übernationalen Ideen von Frankreich, England und Spanien (S. 28). Man fragt sich, was für großartige übernationale Ideen denn Frankreich, England oder Spanien nach Meinung Gaulands gehabt haben sollen, dass davor der nicht unbeachtliche Beitrag Preußens, später Deutschlands, zur europäischen Kultur keine Geltung mehr haben soll?

Im ganzen Büchlein bleibt Österreich unerwähnt. Aber indirekt beklagt Gauland, dass Österreich nicht mehr zu Deutschland gehört. Denn darauf läuft seine Klage über Preußen hinaus. Hätte Friedrich sich nicht gegen das rückständige Österreich durchgesetzt, wäre Deutschland mitsamt Österreich in einem einzigen großen braunen Sumpf geendet. Gauland hat nicht verstanden, dass sich die Wege unwiderruflich getrennt haben, weil man völlig unterschiedliche Entwicklungspfade eingeschlagen hatte, so wie z.B. auch die Deutschschweiz aus guten Gründen nicht mehr zu Deutschland gehört. Dümmlich fragt Gauland zudem, ob man denn Schlesien anders verloren habe, als man es gewonnen habe (S. 25): Dieser zynische Vergleich zweier völlig verschiedener Vorgänge – einmal die Annexion eines deutschen Gebiets durch einen anderen deutschen Staat ohne große Behelligung der Bevölkerung, das andere Mal die völlige Vertreibung der Bevölkerung und die völlige Vernichtung der deutschen Kultur auf diesem Gebiet – ist vollkommen unpassend. Auch Gaulands Klage über Friedrichs Umgang mit Sachsen spricht Bände. Alexander Gauland, der bekanntlich AfD-Vorsitzender im preußischen Kernland Brandenburg war, ist nämlich … ein Sachse. Auch sein Vize Andreas Kalbitz, ehemaliges Mitglied in neonazistischen Vereinigungen, ist Sachse. Nicht zuletzt war auch der große Inspirator des Nationalsozialismus, Richard Wagner, ein Sachse. Manchmal werden Klischees wahr.

Die nächste Überraschung: Das deutsche Kaiserreich sei angeblich ein auf das Materielle fixierter Machtstaat gewesen, der sich keinem Dienst an einer übernationalen Sache verschrieben hatte. Da es an einer Staatsidee gefehlt habe, hätte man den Mythos Preußen als Ersatz herangezogen. (S. 20-22) Im Grunde ist das einfach die Fortsetzung von Gaulands Preußenfeindlichkeit, übertragen auf das von Preußen begründete Deutschland. Wenn Gauland schon nicht verstanden hat, was die Staatsidee Preußens war, kann er natürlich auch nicht verstanden haben, dass der Rückgriff auf den Mythos Preußen sehr wohl übernationale Ideen in sich barg.

„Am deutschen Wesen soll einmal die Welt genesen“ hieß es damals bekanntlich. Mehr übernationales Selbstbewusstsein geht nicht. Das ist eher zuviel davon als zuwenig. Durch seine AfD-Reden wissen wir heute, dass Gauland ein großer Fan von Bismarck ist. In diesem Büchlein werden Bismarcks Preußen und das von Bismarck begründete deutsche Kaiserreich jedoch nach Strich und Faden abgekanzelt. Von Bismarck selbst ist hingegen so gut wie nicht die Rede. Das ist schon sehr seltsam. Aber Gauland widerspricht sich auch explizit selbst, denn er schreibt in diesem Büchlein auch Sätze wie diesen: „Wie Goethe, so verfocht auch Humboldt die Übernationalität des Deutschtums“ (S. 11). Und weiter hinten lesen wir, dass Deutschland angeblich das einzige Land neben Frankreich sei, das Ideen von universaler Geltung erzeugt habe (S. 109). Da fragt sich der Leser: Was denn nun? Seelenloser Materialismus oder übernationale Ideen?

Gauland möchte auch, dass Preußen tot bleibt. Mit Bayern hat Gauland keine Probleme, obwohl München die „Hauptstadt der Bewegung“ war, obwohl in Nürnberg die Reichsparteitage der NSDAP stattfanden, und obwohl in Bayreuth der große Inspirator des Nationalsozialismus Richard Wagner auf dem grünen Hügel residierte. Aber mit Preußen, dem Land von Vernunft und Ordnung, hat Gauland ein Riesenproblem. Wiederholt betont Gauland, dass man auf keinen Fall und niemals nicht an Preußen anknüpfen könne, weil Preußen angeblich gesellschaftlich und territorial verloren sei (S. 34, 96). Doch im Widerspruch dazu registriert Gauland erfreut, wie die osteuropäischen Staaten nach 1990 dort wieder anknüpften, wo ihre Vergangenheit einst durch Nationalsozialismus und Kommunismus unterbrochen worden war (S. 101). Da fragt sich der Leser, warum das ausgerechnet in Deutschland nicht möglich sein soll? Länder wie z.B. Polen haben keine geringeren Verwerfungen und Gebietsverschiebungen erlebt.

Nachdem sich Gauland ausgiebig gegen Preußen ausgetobt hat, kommt er auf die Gegenwart zu sprechen. Auch hier ist vieles seltsam: Die CDU wird von ihm als völlig unkonservative Partei beschrieben, die sich allein der Konsum- und Industriegesellschaft verschrieben hätte. Adenauer und Ludwig Erhard finden bei Gauland nicht statt. Auch der Umbruch von 1968 existiert bei ihm nicht. Gauland geht nahtlos von Adenauer zu Merkel über (S. 34 ff.). Man fasst es nicht.

Immer wieder lässt Gauland seinen Antiamerikanismus durchblicken. Der „amerikanische Kapitalismus“ ist für Gauland „eine im Ansatz nicht weniger menschenfeindliche Ideologie“ als die „autoritären Systeme von rechts und links“ (S. 42), also als Nationalsozialismus und Kommunismus. Die USA stehen für Gauland für Kulturverfall (S. 130). Der kulturelle Anspruch der USA sei auch imperialistisch (S. 124). Gauland scheint den Unterschied zwischen Hegemonie und Imperium nicht verstanden zu haben. Zudem würden die USA rücksichtslos handeln, und auf dem Balkan Multikulti-Träume ausleben (S. 113, 122 f.). In Wahrheit waren es wohl eher die Europäer, die auf dem Balkan rücksichtslos auf Multikulti gesetzt hatten, bis ein Blutbad angerichtet war und die USA dem ein Ende setzten. Jedenfalls will Gauland die EU als Gegengewicht gegen die USA aufbauen (S. 116). Damit vertritt Gauland – gemeinsam mit vielen „Europäern“ – eine Form von EU-Nationalismus, die in dieselbe Sackgasse führt wie der nationale Nationalismus. Zwar will Gauland das Bündnis mit den USA erhalten und warnt vor einem Sonderweg abseits des Westens (S. 97, 116), aber angesichts seines krassen Antiamerikanismus erscheinen solche Phrasen wie bloße Lippenbekenntnisse.

Was den Konservativismus angelangt, der ja das eigentliche Thema dieses Büchleins sein soll, versagt Gauland völlig. Wir sahen oben bereits, dass Gauland keinen modernen Konservativismus will, der Rationalität und Realismus einfordert, sondern sich einer irrationalen Romantik verschrieben hat. Hinzu kommt, dass sich Gauland das ganze Büchlein hindurch als Vertreter eines plumpen Verzögerungs-Konservativismus zeigt (z.B. S. 87 ff.).

Gauland argumentiert explizit nicht mit ewigen Werten oder mit bleibenden Errungenschaften, sondern ständig immer nur damit, dass Veränderungen nicht zu schnell vonstatten gehen dürfen. Immer wieder bringt Gauland die völlig unkonservative Argumentation vor, dass zwar die moderne Eliten mit den schnellen Veränderungen ganz gut zurecht kommen, aber die Masse der kleinen Leute nicht (z.B. S. 58, 68 ff.). Dass konservative Werte einen Wert an sich haben und auch dann noch erhaltenswert sind, wenn sich niemand durch schnelle Veränderungen überfordert sehen würde, kommt Gauland nicht in den Sinn. Ebenfalls fehlt der Gedanke, dass die modernen Eliten ebenfalls der konservativen Werte bedürfen und sich lediglich in dem Irrtum befinden, dass es auch ohne ginge.

Aber es geht noch schlimmer: Gauland argumentiert wiederholt damit, dass die kleinen Leute angeblich nur rassistisch reagieren können, wenn die Veränderungen zu schnell gehen (S. 47). Schlechter lässt sich für konservative Werte nicht mehr argumentieren. Zumal es fraglich ist, ob die kleinen Leute auf Überforderungen tatsächlich rassistisch reagieren. Je nach Propaganda könnten sie z.B. auch linksradikal reagieren.

Und so hechelt Gauland über viele Kapitel hinweg diverse konservative Werte durch: Familie, Geschichtsbewusstsein, Symbole, Mythen, klassische Bildung, Heimat, Leitkultur, Religion, Tradition, Tugend, Kunst. Doch das alles sind für Gauland keine Werte an sich! Sie sind lediglich zu beachten, um die Geschwindigkeit der Veränderungen zu verzögern. Teilweise fügt Gauland auch eine weitere, schräge Begründung für den jeweiligen Wert hinzu: Beim Geschichtsbewusstsein argumentiert Gauland, dass unsere europäischen Nachbarn darüber verfügen würden, deshalb bräuchten wir das auch (S. 48). Dass wir es aber auch an und für sich bräuchten, dieser Gedanke existiert bei Gauland nicht. Und die klassische Bildung kennt Gauland nur als Statussymbol der Elite (S. 59 ff.). Dass klassische Bildung eine unersetzliche menschliche Bildung bedeutet, und eine klassische gebildete Elite eine kulturelle Errungenschaft für ein Land darstellt, kommt Gauland nicht in den Sinn.

Erst auf der buchstäblich allerletzten Seite – vor dem Nachwort von 2017 – kommt der Satz, dass das Konservative nicht ein Hängen an dem ist, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt (S. 133). Mit dem, was Gauland auf den 132 Seiten davor geschrieben hatte, hat dieser Satz nichts zu tun. Ohne weitere Erklärung wird dieser Satz dem Leser lapidar vor den Latz geknallt.

Gauland versäumt es in seiner Analyse der Gegenwart auch völlig, konservative Gegenkräfte zu benennen. Statt dessen schlägt Gauland alle möglichen politischen Maßnahmen zur Stärkung der Familie, der Bildung usw. vor (z.B. S. 75 ff.). Doch diese politischen Maßnahmen können von der Politik natürlich erst durchgeführt werden, nachdem (!) konservative Kräfte zur politischen Macht gelangt sind. Wie es aber dazu kommen könnte, dass der linke Zeitgeist sich wieder konservativem Denken zuwendet, dazu sagt Gauland nichts. Religion wird von Gauland zwar als eine der möglichen konservativen Gegenkräfte kurz angesprochen (S. 76), aber dann nirgendwo besprochen. Auch das ist seltsam.

Gaulands Büchlein ist voll von kleinen und großen Irrtümern. So spricht Gauland z.B. davon, dass der Westen den Islam gedemütigt habe, und dass man die Eigenständigkeit des Islam respektieren müsse (S. 124 ff.). Damit werden antiamerikanische Narrative bedient und völlig verkannt, dass der Nahe Osten nichts dringender braucht als eine rationale Modernisierung, einschließlich des Islam. – Ähnlich falsch ist Gaulands Analyse der politischen Kultur der osteuropäischen Länder. Diesen spricht er die Fähigkeit zu einer westlichen Gesinnung grundsätzlich ab (S. 100-104). Er übersieht dabei völlig die Möglichkeit und die Realität von Entwicklungen. – Entsprechend meint Gauland, dass die Ukraine keine eigene Identität hätte, und dass der Westen keine künstliche Staatenbildung betreiben solle (S. 105 f.). – Falsch ist auch die Analyse, dass Deutschland deshalb ein so schwaches nationales Selbstbewusstsein habe, weil es im 19. Jahrhundert als verspätete Nation gegründet wurde (S. 81). In Wahrheit ist die Schwäche des heutigen deutschen Nationalbewusstseins natürlich vor allem eine Überreaktion auf den Nationalsozialismus. – Gauland meint auch, es gäbe keine konservative Außenpolitik, sondern nur eine richtige oder eine falsche Außenpolitik (S. 98 ff.). Im Widerspruch zu sich selbst schreibt Gauland wenige Seiten später, dass Geschichte der Schlüssel zu einer konservativen Außenpolitik sei (S. 107). Natürlich! Denn für die Außenpolitik gilt dasselbe wie für die Innenpolitik: Sie ist zwischen den politischen Lagern umstritten. – Ganz analog falsch ist Gaulands Behauptung, dass sich die Einteilung der politischen Lager in Links und Rechts erledigt hätte, denn jetzt ginge es um Konservativ vs. Liberal (S. 97 f.). Aber auch das ist nur eine Variante von Links vs. Rechts, abgesehen davon, dass heutige „Liberale“ oft sehr links sind. – Falsch ist auch die Analyse, dass die Wirtschaft nach 1989 ins linke Lager gewechselt wäre (S. 51 ff.). Einerseits ist die Wirtschaft an der Förderung einer linksliberalen Gesinnung interessiert, denn enthemmte Linksliberale sind die besten Konsumenten. Aber das war schon vor 1989 so. Andererseits hat sich die Wirtschaft irgendwann lange nach 1989 tatsächlich dem linken Spektrum zugewandt, aber nur deshalb, weil das der Zeitgeist ist. Die Wirtschaft folgt immer dem, was „angesagt“ ist, das hat nichts mit Links oder Rechts zu tun.

Nur in ganz wenigen Punkten hat Gauland Recht. So war die alte BRD tatsächlich eine Art Auszeit von der Geschichte, so dass sich in der (west-)deutschen Gesellschaft Blütenträume entwickeln und festsetzen konnten (S. 66 ff.). Richtig ist auch, dass Angela Merkel den deutschen Rechtsstaat schwer beschädigt hat (S. 135 f.). Und Frankreich nutzt die EU tatsächlich zur Durchsetzung seiner nationalen Interessen (S. 111 f.), alles andere wäre ja auch unklug. Und die geschichtlichen Gewordenheiten der europäischen Staaten tragen auch heute noch, es gibt kein europäisches Staatsvolk (S. 115).

Unter formalen Gesichtspunkten lässt sich sagen, dass Gauland häufig nur in Andeutungen spricht. Ständig lässt er irgendwelche Namen fallen, ohne deren Bedeutung zu erklären. Das macht es manchmal schwierig, seine Gedankengänge nachzuvollziehen.

Fazit: Ein anti-konservatives, unangenehm bräunliches Buch.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 24. März 2022)

Stefan Zweig: Die Kunst ohne Sorgen zu leben – Letzte Aufzeichnungen und Aufrufe (2023)

Stefan Zweig en miniature

Dieses schmale Insel-Bändchen versammelt einige kurze Texte, die Stefan Zweig in seinen letzten Lebensjahren verfasste, die aber bislang nirgendwo greifbar veröffentlicht worden waren. Es handelt sich um einige weitere Perlen aus der Feder des Verfassers, ganz im Stile der „Welt von gestern“, an der er zur selben Zeit arbeitete.

Einige Texte sind Charakterstudien und Beobachtungen menschlichen Verhaltens. Da ist der Habenichts Anton in Salzburg, der sich aber nützlich zu machen weiß und sich dadurch Dank und Anerkennung verdient, mehr noch als materielle Gegenleistungen, die er souverän nur nach Bedarf in Anspruch nimmt. Die Schilderung der Erlebnisse mit diesem Lebenskünstler gab dem Büchlein den Titel. Ein anderer Text reflektiert die Beobachtung, dass menschlicher Zuspruch spontan und sofort erfolgen sollte. Da ist auch die wunderbare Begegnung mit dem Künstler Rodin, bei dem Stefan Zweig lernte, dass wahre Kunst nur aus der völligen Versenkung in Konzentration auf die Sache erwächst. Oder es ist die tröstliche Geschichte von den Anglern an der Seine, die uns zeigt, dass kein Mensch das Geschehen in seiner Gegenwart ständig mit voller Anteilnahme verfolgen kann, sondern dass ein „Abschalten“ und der Rückzug ins Private hin und wieder eine innere Notwendigkeit sind. Die Inflation lehrte Zweig, dass Geld an sich keinen Wert hat, sondern nur das, was wir sind. Auch die Totenrede auf Alfonso Hernández-Catá ist enthalten, von der es im Nachwort heißt, dass sich Stefan Zweig in dieser Rede auch unfreiwillig selbst portraitiert habe.

Schließlich sind noch drei Stücke zum Nationalsozialismus von 1940, 1941 und 1942 enthalten. Stefan Zweig macht darauf aufmerksam, dass Diktatur Schweigen bedeutet, und wie bedrückend dieses Schweigen ist, und dass er sich anstelle derer zum Reden verpflichtet fühlt, die schweigen müssen. Er verteidigt auch die deutsche Sprache und die deutsche Kultur gegen ihre Beschmutzung durch den Nationalsozialismus. Schließlich weist Stefan Zweig darauf hin, dass der Schriftsteller Vicente Blasco Ibáñez schon 1916 in seinem Roman „Los cuatro jinetes del apocalipsis“ mit der Romanfigur Hartrott einen Charakter erschuf, dessen wahnwitzige Ideologie die Ideologie Hitlers vorwegnahm. Was als absurde Satire gedacht war, traf die kommende Wirklichkeit nur zu gut.

Es fällt auf, dass in allen drei Stücken kein Wort über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zu finden ist. Obwohl Stefan Zweig in Freiheit lebte und die westliche Presse nicht damit sparte, dem Feind jedes nur erdenkliche Übel zuzuschreiben, wusste damals offenbar niemand von diesem Verbrechen. Auch Hannah Arendt hielt 1945 die ersten Berichte von US-Korrespondenten aus befreiten KZs für alliierte Propaganda, bis sie begriff, dass es die Wahrheit ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Thomas Mann: Der Zauberberg (1924)

Aufforderung zur politisch-weltanschaulichen Selbstprüfung mit Neigung zu Liebe und Liberalismus

Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ erscheint zunächst als Bildungsroman im klassischen Sinn, doch entpuppt er sich im Laufe der Handlung immer mehr als eine Aufforderung des Autors an seine Zeitgenossen, ihre politisch-weltanschaulichen Ansichten zu überprüfen.

Inhalt

Hauptperson ist der junge Hans Castorp, der einen jugendlich-unreifen „Herrn Jedermann“ aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg repräsentiert. Unverkennbar sind Züge Kaiser Wilhelms II. eingearbeitet. Gewisse nekrophile Züge aufgrund von Naivität und Nostalgie sind ebenfalls vorhanden. Dieser Hans Castorp reist zu Besuch in ein Tuberkulose-Sanatorium nach Davos, bleibt dann aber wegen vermeintlicher Krankheit volle sieben Jahre dort.

Hans Castorp durchläuft in diesen sieben Jahren nur wenige eindeutige Entwicklungsschritte seiner Persönlichkeit; in der ersten Hälfte des Buches dominiert die Begegnung mit Madame Chauchat, der Hans Castorp als erster Frau in seinem Leben seine Liebe gesteht. Er entwickelt Eigeninitiative und besucht Sterbende. In der zweiten Hälfte des Werkes geht er unerlaubterweise Skifahren und findet in dem berühmten Schneetraum für sich die Formel, dass der Tod zum Leben gehört, und Leben und Liebe über den Tod zu stellen sind. Diese Entscheidung wird im Rahmen einer Séance noch einmal deutlich erneuert und bekräftigt. Schließlich übt Hans Castorp eine gewisse Autorität auf die übrigen Bewohner des Sanatoriums aus.

In der Hauptsache werden im Laufe der Handlung verschiedene Charaktere vorgestellt, die als Lehrer und Vorbilder Einfluss auf die Hauptperson auszuüben versuchen. Dabei handelt es sich zunächst um den klassischen Liberalen Settembrini, der Rationalität, Demokratie, Marktwirtschaft und einen etwas naiven Fortschrittsglauben vertritt, und um Naphta, einen zum Katholizismus konvertierten Juden, der als Jesuit und Fortschrittsskeptiker die geschlossenen Weltbilder der Religion oder des Kommunismus lobt. Es ist recht interessant zu lesen, wie Naphta die Positionen Settembrinis geschickt zu unterlaufen versucht. Man könnte Naphta auch als einen Vertreter des Absoluten, Settembrini als einen Vertreter des Relativen sehen – deren Standpunkte bei tieferem Denken vielleicht zusammen fallen würden. Man könnte sie grob als konservativ vs. progressiv sehen (sofern man den Kommunismus nicht als progressiv in die Rechnung nimmt), oder als „links“ gegen „rechts“ (wobei sehr die Frage wäre, wer von beiden hier eigentlich was wäre!). Das ungewöhnliche Duell der beiden am Ende des Buches bringt deren Positionen in ungeahnter Weise auf die Spitze.

Als gelungene Überraschung präsentiert Thomas Mann als dritten Charakter Mynheer Peeperkorn, der überhaupt keinen rational fassbaren Standpunkt vertritt, sondern ganz aus seinem Gefühl heraus lebt. Er nimmt alle Menschen um ihn herum durch sein Charisma für sich ein, redet aber praktisch ohne Inhalt und Zusammenhang. Er ist ist einerseits ganz Gentleman, andererseits übt er auch unausgesprochenen Zwang auf die ihm ergebene Gesellschaft aus, unter anderem auch durch seine Freigiebigkeit. Und er hat keine Hemmungen gegen inhumane Gefühlsregungen. Das Gespräch von Settembrini und Naphta verstummt in seiner Gegenwart – sie denken, aber er lenkt, und kümmert sich nicht um Gründe, Argumente und Bedenken. In moderner Sprache ist Mynheer Peeperkorn gut in der inhaltsleeren, einwickelnden Sprache der „Sozialen Kompetenz“. Und in der Tat: Er ist ein erfolgreicher Manager. Auch seine Freundin, Madame Chauchat, ist anti-rational: Sie mag Settembrini nicht. Was die Persönlichkeit anbetrifft, kann Hans Castorp von Mynheer Peeperkorn zwar eine Menge lernen, aber wo Mynheer Peeperkorn ist, da leiden die beiden alten Freunde von Hans Castorp, Settembrini und Naphta.

Hans Castorp entscheidet sich weder für noch gegen eine der drei Positionen, sondern zeigt sich allen drei gegenüber offen, ohne sich vereinnahmen zu lassen. Am Ende des Romans findet er in dem Lied „Am Brunnen vor dem Tore“ sein Credo beschlossen: Leben und Tod gehören zusammen, das Leben steht über dem Tod. Dann entschwindet Hans Castorp in den Wirren des Ersten Weltkrieges, und der Leser bleibt mit der Frage zurück, was der Roman ihm sagen will, ähnlich dem Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht, an dessen Ende das Publikum aufgefordert wird, sich selbst eine Lösung für die gezeigten Probleme zu suchen.

Aussage

Es gibt genügend Fingerzeige und Tendenzen, die die Aussage des Romans erschließen. Ganz offensichtlich will Thomas Mann mit diesem Roman (1924) eine Mitteilung an die deutsche Gesellschaft nach dem ersten Weltkrieg machen, die in der Person von Hans Castorp repräsentiert wird. Thomas Mann verlangt, dass die Untertanen von einst erwachsen werden, dass sie in ihrer Persönlichkeit reifen. Er zeigt, dass in dem Widerstreit der verschiedenen politisch-weltanschaulichen Richtungen ein Wert an sich liegt, und dass es eine Gefahr ist, dass ein Mynheer Peeperkorn kommen könnte, der diesen nützlichen Streit beendet und offene Rationalität durch zwingendes Gefühl ersetzt: Ein Tyrann, der weder Rechts noch Links ist, dem sich die Deutschen unterwerfen. Was Naphta und Settembrini anbetrifft, neigt Thomas Mann ganz eindeutig eher zu Settembrini, denn dieser wird wesentlich sympathischer gezeichnet. Er ist nicht auf kalte Weise rational, sondern hat ganz offensichtlich auch ein gutes Herz. Er wird als erster eingeführt, er hat nie aufgehört, an Hans Castorp zu glauben, und er ist der einzige der drei Charaktere, der am Ende noch lebt und Hans Castorp ins Leben verabschiedet.

Literarisches

Der Zauberberg liest sich wesentlich flüssiger als Buddenbrooks, und es ist eindeutig das bedeutendere Werk Thomas Manns. Angeblich hat Thomas Mann den Nobelpreis in Wahrheit für den Zauberberg erhalten, und nur wegen des Einspruchs eines Jury-Mitgliedes verlieh man den Preis offiziell für den Buddenbrooks.

Thomas Mann hat dieses Werk ursprünglich als Kurzgeschichte geplant, und wie man es von vielen Kurzgeschichten her kennt, hat jedes Wort eine Bedeutung, und alles steht mit allem in einem symbolischen Zusammenhang. Weil diese Kurzgeschichte nun aber 1000 Seiten umfasst, ist die Zahl der Anspielungen schier unausschöpflich. Man wird vermutlich auch bei einem dritten und vierten Lesen nicht alles entschlüsseln können. Es gibt viele Anspielungen auf Goethes Faust. Aber auch auf die Völker Europas und ihre Charaktere und Besonderheiten. Die Rolle der Musik. Oder der Gegensatz von Bergwelt und Flachland (nicht zufällig kommt Mynheer Peeperkorn aus dem flachesten aller Flachländer). Jede Kleinigkeit bekommt in diesem Roman eine symbolische Bedeutung, selbst so unbedeutende Dinge wie die Betätigung eines Lichtschalters oder die Wahl des Picknickplatzes. Es ist wirklich unglaublich.

Bemerkenswert sind die immer wiederkehrenden Betrachtungen zum Thema Zeit. Thomas Mann experimentiert literarisch mit verschiedenen Zeiterfahrungen und Zeitbetrachtungen, und nimmt den Leser in diese mit hinein.

Nationalsozialismus

In bezug auf den späteren Nationalsozialismus eröffnet das Werk eine völlig neue Sicht, und man kann sagen, dass es für das Jahr 1924 ein wahrhaft prophetisches Werk ist. Hitler sitzt 1924 gerade im Gefängnis und schreibt an „Mein Kampf“; von seinem späteren Format ist praktisch noch nichts zu sehen. Hitler wird natürlich in der Person von Mynheer Peeperkorn vorausgesehen. Im Lichte von Thomas Manns Zauberberg wird klar: Alle Interpretationsversuche, Hitler politisch nach Kategorien wie „rechts“ oder „links“ interpretieren zu wollen, müssen fehlschlagen. Wie Mynheer Peeperkorn war Hitler nämlich weder-noch, sondern lebte hauptsächlich anti-rational aus seinem Gefühl heraus. Aus dem vermeintlichen Gefühl seines vermuteten „arischen Blutes“ heraus, könnte man sagen. Hitler sah den Vorzug der „arischen Rasse“ nicht so sehr in einer höheren Intelligenz (wie viele heute fälschlich meinen!), sondern vor allem in dem „richtigen“ Gefühl bzw. Charakter: „Arier“ sind mutig, treu, ehrlich usw., während Slaven, Juden usw. feige, treulos und Hitlers Meinung nach vielleicht gerade wegen ihrer Intelligenz (!) „verschlagen“ seien. Intelligenz-Tests waren für Hitler „jüdische Tests“, ihn interessierte Intelligenz, Rationalität und Bildung nicht nur nicht, er lehnte sie ab!

In einem bekannten Zitat Hitlers kommt die Nähe von Hitler und Peeperkorn besonders zum Ausdruck: „Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. … Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. … Ich will eine athletische Jugend. Das ist das Erste und Wichtigste. So merze ich die Tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus. So habe ich das reine, edle Material der Natur vor mir. … Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend. Am liebsten ließe ich sie nur das lernen, was sie ihrem Spieltriebe folgend sich freiwillig aneignen. … Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen.“ – Für Hitler zählt der Trieb, das Gefühl, das Leben aus dem Gefühl, das richtige Gefühl, und in keiner Weise Wissen, Intelligenz, Rationalität, Intellektualität, Bildung. Und so wie Hitler das „herrliche Raubtier“ sehen will, so möchte auch Mynheer Peeperkorn im Zauberberg gerne sehen, wie ein herrlicher Adler seine Krallen in ein Beutetier schlägt, wie es seiner Natur entspricht.

Mithilfe des Zauberberges erkennt man nun klarer: Es ist kein Zufall, dass es niemals eine ausformulierte Ideologie des Nationalsozialismus gab. Es kann auch gar keine geben. Vielmehr versprach Hitler wie Mynheer Peeperkorn allen alles, „rechts“ wie „links“ wurden gleichermaßen bedient, was schon der Name „Nationalsozialismus“ andeutet. Zudem wurde mit sozialen Gaben nicht gespart, wie wir heute wissen, woran auch Peeperkorn es nicht fehlen ließ. Das Chaos in der NS-Regierung rührte nicht nur von verqueren Charakteren und Machtkalkül her, sondern auch ganz einfach daher, dass es von Anfang an keinen Plan gab, was „Nationalsozialismus“ eigentlich sein sollte, so dass jeder darin etwas anderes erblickte. Selbst der Plan zur Ermordung der Juden existierte zum Zeitpunkt der Machtergreifung noch nicht, sondern entwickelte sich erst im Laufe der folgenden Jahre. Die Ermordung der Juden kann zudem nur sehr begrenzt rational erklärt werden; es handelt sich vielmehr ganz offensichtlich um eine irrationale Entscheidung, wie so vieles am Nationalsozialismus. Ein anderes Beispiel: Bis heute debattiert man, ob Hitler an Gott glaubte oder nicht, weil widersprüchliche Aussagen dazu von ihm existieren. Man kommt der Wahrheit näher, wenn man begreift, dass Hitler kein rational wohlgeordnetes Weltbild hatte, sondern es jeweils aus dem Gefühl heraus entschied, was er gerade glaubte.

Im Lichte von Thomas Manns Zauberberg ist es ein Grundirrtum, den Nationalsozialismus mit dem Links-Rechts-Schema erklären zu wollen, und es ist ein noch größerer Irrtum, den Nationalsozialismus einseitig der „rechten“ (oder auch der „linken“) Seite zuschlagen zu wollen. Der Nationalsozialismus im Lichte von Thomas Manns Zauberberg ist nicht diese oder jene erfolgreiche oder irrige Variante von Zivilisation, wie man es von „rechts“ und „links“ sagen könnte, er ist vielmehr der Bruch mit der Zivilisation selbst: Der Streit von Settembrini und Naphta kommt zum Schweigen unter der Wucht von Mynheer Peeperkorn. Auch das Wort „Wucht“, das für die Propaganda von Goebbels eine zentrale Rolle spielte, wird bei Thomas Mann mehrfach im Zusammenhang mit Mynheer Peeperkorn verwendet. Die Voraussicht auf die kommende Gefahr, die Thomas Mann hier 1924 zeigte, ist in der Tat erstaunlich. Interessant allerdings auch, dass das Buch das Kommende nicht verhindern konnte, obwohl es rechtzeitig Aufmerksamkeit bei vielen fand. Die süße Versuchung durch das Gefühl scheint oft stärker zu sein als die Rationalität, wie der Roman selbst sagt.

Man beachte: Die Exzesse des real existierenden Kommunismus können nicht damit entschuldigt werden, dass sie „rationaler“ als die Verbrechen des Nationalsozialismus gewesen wären. Die Irrationalität lauert hier nur an einer anderen Stelle, in einer anderen Weise. Mordtaten sind stets irrational und ein Zivilisationsbruch, sonst wären es keine Mordtaten. In der Aufteilung von politischen Positionen auf die Charaktere überzeugt Thomas Mann gerade dann nicht ganz, wenn man an den Kommunismus denkt. Weil Thomas Mann ein Dichter und kein Philosoph war, ist mit solchen Schwächen zu rechnen. Hier gilt das Wort Goethes: Literatur kann begleiten, nicht jedoch leiten.

Gegen heutigen Unsinn

Leider sind die genannten Einsichten über den Nationalsozialismus heute verschüttet. Der Nationalsozialismus gilt zur Zeit einseitig als rechtsradikale Ideologie. Die „linken“ Aspekte des Nationalsozialismus werden oft bewusst „übersehen“ oder heruntergespielt. Die Interpretation der damaligen Ereignisse wird heute höchst simpel betrieben, wie wenn „die“ Deutschen oder „die“ Konservativen damals Hitler gewählt hätten, und das mit dem erklärten Ziel, die Juden zu ermorden – was für ein Unsinn! Zudem ist heute ein Leben „aus dem Gefühl heraus“ durchaus in Mode, Rationalität gilt heute gerne als „kalt“ – viele wissen gar nicht, wie nahe sie mit dieser Haltung an Hitler sind. Manche sehen heute in Naphta eine Vorwarnung vor Hitler, doch das ist großer Unsinn.

Unsinn ist es auch, den Zauberberg mit dem Wissen von heute interpretieren zu wollen. Dass gegen Ende des Buches ein Antisemit auftaucht, bedeutet nicht, dass Thomas Mann gerade dies als große Gefahr erkannt hätte; es ist nur eine der Gefahren im Jahr 1924. Dass Thomas Mann in der Beschreibung von Naphta gewisse Vorurteile gegenüber Juden aufgreift, bedeutet nicht, dass Thomas Mann Antisemit gewesen wäre; vor dem Nationalsozialismus bedeutete das Aufgreifen eines Vorurteiles gegenüber Juden etwas anderes als danach. Es ist bedauerlich, dass heute viele solche Zusammenhänge nicht erkennen können oder erkennen wollen. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus ist heute von großer Simplizität geprägt, die von politisch interessierter Seite betrieben und ausgeschlachtet wird. Gerade zur Durchbrechung dieser Simplizität kann der Zauberberg einen Beitrag leisten.

Im Zauberberg liegt zudem ein Werk aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus vor, das den Deutschen einen besseren Weg aufzeigt, einen Weg, den Deutschland hätte gehen sollen, aber nicht gegangen ist. Wer die Zukunft Deutschlands nicht primitiv und einzig auf die Negation des Nationalsozialismus aufbauen möchte, sondern nach konstruktiven Werten sucht, die vor dem Nationalsozialismus da waren aber durch diesen verschüttet wurden, der wird hier fündig werden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 09. Juni 2013)