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Fjodor Dostojewski: Die Brüder Karamasow (1879/80)

Dostojewskis größtes Werk: Der Seelenzustand Russlands vor Gericht

Der Roman „Die Brüder Karamasow“ ist der letzte und zugleich der großartigste Roman von Fjodor Dostojewski, in dem alle Themen seiner früheren Romane wiederkehren und zu neuen Höhen geführt werden.

Ort der Handlung ist eine russische Kleinstadt mit ihren Bewohnern, in denen sich Russland wiederspiegelt. Russland spiegelt sich auch in der Familie Karamasow wieder, die aus dem Vater Fjodor Pawlowitsch, den drei Söhnen Dimitri, Iwan und Alexei, sowie dem unehelichen Sohn Smerdiakov besteht. Die Mütter sind bereits alle verstorben. Im Vater zeigt sich der Verfall der russischen Familie, die ihre Kinder vernachlässigt. Dimitri (Mitja) ist die unverfälschte russische Seele in all ihrer Widersprüchlichkeit, ein Schuft und ein Ehrenmann zugleich. Iwan ist der Intellektuelle, der von der westlichen Aufklärung zu Materialismus, Sozialismus und Zynismus verführt wurde und über den daraus folgenden Konsequenzen in seiner Seele zerrissen ist und nervlich zu Tode erkrankt. Smerdiakov ist ungeliebt, herabgesetzt, halbgebildet und selbstverliebt, und begeht den Mord an seinem Vater, nachdem er sich von Iwan auf psychologisch subtile Weise dessen unbewusstes Einverständnis besorgt hat. Alexei (Aljoscha) ist schließlich eine sanfte und offenherzige Seele, ein Gottesnarr, der immer nur das Gute will und immer nur die Wahrheit sagt. Von ihm heißt es, er habe sich in einer Fluchtbewegung vor den Schrecken der Aufklärung dem Glauben der russischen Orthodoxie zugewandt. Seine Gefahr sei es deshalb, dem Mystizismus und Chauvinismus (Nationalismus) zu verfallen, was vielleicht noch schlimmer sei als die Irrtümer der westlichen Aufklärung, wie es im Roman heißt.

Dennoch ist Aljoscha die heilste Seele von allen. Von seinem geliebten Staretz, der zu Beginn der Handlung verstirbt, wird Aljoscha angewiesen, nicht Mönch zu werden, sondern in der Welt zu leben. Den ganzen Roman über eilt Aljoscha von Ort zu Ort, um sich mit diesem oder jenem zu treffen und etwas zu besprechen. Immer hat er noch etwas zu erledigen und muss schnell weiter. Es ist offensichtlich, dass Aljoscha die Rolle eines Vermittlers und Heilers einnimmt, an dessen Wesen Russland genesen soll. Deshalb umgibt sich Aljoscha auch mit Kindern, die eine große Rolle in diesem Roman spielen. Die Kinder sind die Zukunft, und die Erinnerung an schöne Erlebnisse in der Kindheit sind ein Mittel zur Rettung vor dem Bösen, das ist ganz klar die Botschaft. Nicht umsonst wird Aljoscha schon im Vorwort als der eigentliche Held des Romans angekündigt, gerade weil er in seiner Naivität etwas sonderlich ist, und obwohl der heilende Effekt seines Wirkens unbestimmt erscheint.

Nach einer sehr langen Vorbereitung kommt es in diesem sehr langen Roman schließlich zu einem Mord und zu einem Gerichtsprozess gegen den Angeklagten Dimitri: Es ist klar, dass hier Russland vor Gericht steht. Die Plädoyers von Ankläger und Verteidiger sind präzise Analysen der russischen Seele der damaligen Zeit anhand der Brüder Karamasow. Der Angeklagte steht unschuldig vor Gericht, und wird zu Unrecht verurteilt, doch das Urteil des Autors fällt milde aus: Trotz mancher Schuld und einigen Ungestüms hat kein Mord stattgefunden.

Im Rahmen dieser weit gespannten Handlung finden sich zahllose größere und kleinere Szenen, die diesen Roman zu einem Füllhorn an Gedanken machen, an denen man sich ein Leben lang abarbeiten kann, so z.B.:

  • Der Staretz, das Klosterleben, das einfache russische Volk. Die russische Orthodoxie als solche: Die Kirche muss zum Staat werden, nicht der Staat zur Kirche. Die Idee, dass die Rettung des Christentums aus dem Osten kommt. Der Katholizismus, in dem der römische Staat weiterlebt und die Kirche in sich abgetötet hat, sei hingegen schuld an der westlichen Aufklärung, die von Dostojewski kurzerhand mit Materialismus und Sozialismus in eins gesetzt wird.
  • Die Rede des Staretz über seinen kranken Bruder, und dass alle Menschen Schuld aneinander haben. Dazu die Geschichten von dem seltsamen Duell und von dem Fremden, der seine Schuld offenbaren muss, um davon frei zu werden. Dass alle Menschen Schuld aneinander haben, erkennt später auch Dimitri voller Reue. Ein Grundthema bei Dostojewski.
  • In Smerdiakov kehrt die Figur des Raskolnikov wieder: Er mordet aus zynischem Kalkül, kann aber mit seiner Tat nicht leben. Reue verspürt er dabei keineswegs und begeht Suizid, ohne seine Schuld zu bekennen.
  • Im Stabskapitän und dessen sterbenden Sohn Iljuscha wird das völlige Scheitern, die völlige soziale Erniedrigung und die völlige Hoffnungslosigkeit gezeigt. Sehr berührend. Und doch lässt Dostojewski aus dem vergeblichen Aufstand des kleinen Iljuscha am Ende die Gemeinschaft von Aljoscha mit den Kindern erwachsen.
  • Kolja Krassotkin ist der Prototyp des „verdorbenen“ Jugendlichen, d.h. eines altklugen, ideologisch früh verblendeten, hochnäsigen, gnadenlosen Menschen, der alle rücksichtslos quält und nur an sich denkt. Mathematik und Naturwissenschaften findet er sinnvoll, das Studium der Weltgeschichte und der klassischen Sprachen hält er hingegen für überflüssig (ist aber gut in Latein!): Sehr bezeichnend. Er ist Sozialist und wäre sicherlich ein gnadenloser Funktionär geworden, wenn er nicht durch Aljoscha pädagogisch gerettet worden wäre.
  • Miussoff ist ein selbstgefälliger, egoistischer Liberaler, Rakitin ein weiterer zynischer Sozialist.
  • Erkenntnis: „Heutzutage fürchten sich fast alle begabten Menschen am meisten vor der Lächerlichkeit“. Und: „…nur soll man nicht so sein, wie alle sind, das ist es!“
  • Lise, Gruschenka: Liebenswerte Frauen, die plötzlich aus einer Laune heraus auf böse „umschalten“.
  • Der „russische Candide“: Iwan rechnet in seiner „Empörung“ mit den sinnlosen Verbrechen ab, die in der russischen Gesellschaft an unschuldigen Kindern geschehen, die darüber vergeblich im Glauben Schutz suchen.
  • Iwans Poem „Der Großinquisitor“. Eine Polemik gegen die katholische Art des Christentums, aus dem Dostojewski die westliche Aufklärung mit Materialismus und Sozialismus entspringen sah. Aber nicht nur das.
  • Der Alptraum Iwans: Die Aufdeckung seiner Seele durch den Teufel, den seine seelische Krankheit als Abspaltung seiner selbst ins Zimmer projiziert.
  • Viele offenherzige Reden, in denen Menschen ihr Herz ausschütten, wie Marmeladow in „Schuld und Sühne“. Unübertroffen Frau Chochlakowa, die ständig neben sich steht und so manche Wahrheit über das Verhältnis von Männern und Frauen zu verkünden hat.
  • Es gibt auch einiges zu lachen in diesem Roman.
  • Wiederholt wird Schiller zitiert, ganze Passagen aus: Die Räuber. Das Eleusische Fest. Ode an die Freude.
  • Einige Seitenhiebe gegen die Deutschen und ihre Kultur: Die Deutschen seien autoritätshörig, aber gut in Wissenschaften. Deutsche Kleidung habe ein schmutziges Aussehen. Der deutsche Witz ist kartoffelig und fröhlich-selbstzufrieden.
  • Thomas Mann hat sich für seine Romane, speziell für den „Zauberberg“ offensichtlich bei Dostojewski bedient: Parallelen sind u.a. ein Duellant, der nicht schießen will, oder Träume, die Erkenntnis bringen, oder eine Romanfigur als Repräsentant eines Landes und seiner Seele.

Fazit

In seinem geistigen Kampf gegen den Materialismus ist Dostojewski in diesem Roman noch einmal zur Hochform aufgelaufen und hat zugleich ein wenig Optimismus für die Zukunft gewagt. Die Analysen und Warnungen Dostojewskis sind natürlich richtig und haben sich in der Zeit der kommunistischen Diktatur vielfach bewahrheitet. Auch heute ist die Gefahr keineswegs gebannt, weshalb der Roman auch für unsere Zeit gültige Wahrheiten und Warnungen zu bieten hat.

Allerdings hat Dostojewski für unsere Zeit – und wohl auch schon für seine Zeit – zu wenige konstruktive Vorschläge zu machen. Ein Zurück zur christlichen Religion und speziell zur russischen Orthodoxie ist weder intellektuell redlich vertretbar noch sind die Probleme des organisierten Christentums übersehbar, und das nicht nur bei der von Dostojewski so schwer kritisierten katholischen Kirche. – Der Gedanke, dass alle voreinander schuldig sind, ist zwar richtig, aber für sich allein genommen nicht zielführend sondern nur erdrückend. Hier ist Albert Schweitzer mit seiner Maxime „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ vielleicht zielführender. – Schließlich ist die Sicht auf die Aufklärung zu einseitig. Ja, die Aufklärung hat auch Materialismus und Sozialismus hervorgebracht. Sie hat aber noch viel mehr hervorgebracht. Die geistige Bewegung der Aufklärung kann nicht über einen Kamm geschoren werden.

Immerhin finden sich folgende konkrete Punkte: Zum einen die klassische Bildung, konkret werden Schiller, das Studium der Geschichte und der klassischen Sprachen genannt, aber immer wieder auch russische Klassiker. Zum anderen die Familie als Ort der gegenseitigen sittlichen Bildung von Mann, Frau und Kindern in Liebe. Und vielleicht könnte man Dostojewski mit der Aufklärung versöhnen, wenn man sie als nahtlose Fortsetzung des klassischen Humanismus deuten würde? Auf dieser Grundlage ließe sich dann leichter unterscheiden, welche Aspekte der Aufklärung humanistisch sind, und welche nicht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. November 2021)

Stefan Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (1934)

Äußerst erhellender Blickwinkel auf die Reformation

Wie immer schafft es Stefan Zweig, die von ihm skizzierte Person nicht nur in literarisch schöner und emphatischer Sprache zu zeichnen, sondern auch den moralischen Kern und ihr Dilemma mit ihrer Zeit aufzuzeigen. Wer sich mit der Reformation beschäftigt, lässt Erasmus gerne links liegen und steuert direkt auf Luther zu – ein großer Fehler. Fast möchte man meinen, dass man das Reformationsgeschehen erst durch die Person des Erasmus von Rotterdam richtig zu verstehen lernt.

Erasmus war der wichtigste Repräsentant einer geistigen Bewegung, der Humanisten, die neues Denken in die Zeit brachten, und die auch die Notwendigkeit einer Reform der Kirche klar erkannten und ansprachen. Doch die Reform blieb aus. Erasmus von Rotterdam hatte es zwar geschafft, mit seinem „Lob der Torheit“ die politischen Tabus seiner Zeit auf die Schippe zu nehmen und hatte damit einen vielbeachteten Erfolg, aber eine Reform wurde nicht bewirkt. Deshalb kam die Reform durch einen gröberen Keil zustande: Durch Luther. Der war nun leider kein guter Humanist. Das Versagen der Zeit, sich aus den Fängen ihrer politischen Tabus zu lösen einerseits, und das schlussendliche Aufbrechen der Probleme durch eine grobe Kraft andererseits, das ist die Tragik dieser Zeit, die sich in der Person des Erasmus am besten darstellen lässt.

Dieses Büchlein von Stefan Zweig fängt etwas langweilig an, entwickelt sich aber durch die Dramatik des Geschehens zu einem einzigartigen literarischen und intellektuellen Genuss.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. Januar 2014)

Daniel-Pascal Zorn: Die Krise des Absoluten – Was die Postmoderne hätte sein können (2022)

Zauberlehrling Zorn versucht die Postmoderne zu retten und enttäuscht – Eine kritische Rezension

In den Jahren 1983/1984 hielt Jürgen Habermas zwölf Vorlesungen, die unter dem Titel „Der philosophische Diskurs der Moderne“ bekannt wurden. Das zentrale Thema war gewissermaßen die „Erledigung“ der Philosophie der Postmoderne, die vor allem durch vier französische Denker markiert wurde: Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Jean-Francois Lyotard. Seit damals ist das Bild der Postmoderne äußerst negativ besetzt mit Schlagworten wie Relativismus, Irrationalismus, Antihumanismus und Nihilismus.

Der Philosoph Daniel-Pascal Zorn möchte mit diesem Buch das schier Unmögliche versuchen, nämlich zeigen, dass es sich um ein Fehlurteil handelt. Der Versuch, eine seit langem etablierte Meinung zu revidieren, noch dazu gegen eine Autorität wie Habermas, nötigt Respekt ab. Der Rezensent kennt eine solche Situation aus eigener Erfahrung durch sein Bemühen, die sogenannten Platonischen Mythen aus der über 150 Jahre alten Verständnisfalle herauszuholen, dass es sich um frei erfundene Kunstmythen handele (statt um platonische Erkenntnisgewebe von Elementen verschiedener Perspektive und verschiedener Grade von Wahrscheinlichkeit). Zudem ist Zorn ein schier unglaublich belesener Autor: Auch das nötigt Respekt ab. Es ist nicht möglich, Zorn zu lesen, ohne dabei manche interessante Anregung mitzunehmen.

Leider konfrontiert Zorn die Leser seines Buches mit einer langen Reihe von Enttäuschungen. Einige davon wurden gewiss mit voller Absicht begangen, ganz im Sinne einer postmodernen, inkommensurablen Intervention (vgl. im Buch S. 558). Zugleich macht dieses Buch den Kritikern ihre Enttäuschung zum Vorwurf (S. 543): Das ist frech. Aber so ist die Postmoderne nun einmal. Zorn scheitert, aber am Ende kann der Leser dennoch einigen Gewinn aus dem Buch ziehen.

Enttäuschung Nr. 1

Das Buch beginnt einladend mit der Jugendzeit der bekannten französischen postmodernen Denker. Doch bald kommt das Buch von ihnen ab und es folgt die Besprechung einer schier endlos langen Reihe von Denkern, die nicht zur „französischen“ Postmoderne gehören: Cusanus, Hume, Kant, Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, immer wieder Nietzsche, die US-Pragmatiker, die Logischen Empiristen, Wittgenstein, Max Scheler, Husserl, Cassirer, Heidegger, immer wieder Heidegger, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck, Tillich, Adorno, Joachim Ritter, Heinz von Foerster, Margaret Mead, Humberto Maturana, Gregory Bateson u.a. Wer etwas zu den französischen Denkern erfahren wollte, sieht über viele hundert Seiten kein Licht am Ende des Tunnels. Schließlich werden diese Denker erstaunlich knapp abgehandelt, auf insgesamt vielleicht 15% des Seitenumfangs. Der Autor möchte natürlich – ganz postmodern – „Genealogie“ und „Struktur“ der Postmoderne offenlegen, doch das enttäuscht nun einmal die Erwartungshaltung, die das Buch erweckt hat. Wer flexibel ist, wird darüber hinwegkommen und sich auf das Konzept des Autors einlassen.

Enttäuschung Nr. 2

Das Buch „Die Krise des Absoluten“ erscheint als populärwissenschaftliches Buch. Das ist leicht erkennbar an der äußeren Aufmachung, an den launigen Kapitelüberschriften, am erzählerischen Stil, der fortlaufend biographische Anekdoten einflicht und auch manches für philosophische Laien zu erklären versucht, an der Verbannung der Fußnoten ans Ende des Buches, an den fehlenden Literatur- und Autorenverzeichnissen, und nicht zuletzt am Marketing. Der Autor selbst hat Interviews zu seinem Buch auf Plattformen gegeben, die ein breiteres Publikum ansprechen (z.B. taz talk, Thilo Jung, ZDF blaues sofa). – Doch dieses Buch ist kein populärwissenschaftliches Buch. Es arbeitet ein sehr dichtes Programm an Inhalten ab, führt an die Abgründe möglichen Denkens, und nicht selten verfällt der Autor in Fachjargon. Vorkenntnisse sind für das Verständnis äußerst hilfreich. Der Fußnotenapparat am Ende umfasst 60 Seiten. Der durchschnittlich interessierte Leser dürfte dieses Buch schon nach den ersten 150 Seiten aufgeben. Der Rezensent ist drangeblieben.

Enttäuschung Nr. 3

Das Buch ist leider vielfach unverständlich. Zu viel wird vorausgesetzt. Zu viel wird knapp oder im Fachjargon abgehandelt. Zu viel bleibt ungesagt. Die launig gewählten Überschriften (z.B. „Traumzeit“, „Kambrische Explosion“ oder „Super-GAU“) geben leider überhaupt keine Hilfestellung. Zudem leidet das Buch an zu vielen erzählerischen Vor- und Rückblenden. Manchmal ist der Stoff ungünstig in Kapitel geschnitten. Mancher Cliffhanger am Ende eines Kapitels überfordert: Der Leser fragt sich, warum er es nicht versteht; manchmal kommt die Auflösung in einem späteren Kapitel. Manchmal auch gar nicht.

Immer wieder führt der Autor den Leser gezielt aufs Glatteis: Er lässt ihn das eine denken, nur um nach einigen Seiten aufzulösen: Nein, gemeint war ein anderes. So z.B. im Kapitel „Der Herr der Gegensätze“ zu den Davoser Disputen (S. 152). Der Leser denkt erst, es geht um Cassirer und Heidegger, doch nein: Es geht um Tillich und Przywara. Die Fußnoten beginnen ihre Nummerierung mit jedem Kapitel neu: Nachschlagen wird zur Qual. Hinzu kommt, dass man an vielen Stellen des Buches nicht so recht weiß, ob Zorn nun als Autor spricht, oder ob er lediglich einen Autor der Postmoderne referiert. Die Übergänge sind offenbar bewusst fließend gestaltet worden.

Wirft man hingegen einen Blick in Zorns wissenschaftliches Buch „Vom Gebäude zum Gerüst“, wird man positiv überrascht: Dort wird alles ausführlich erklärt, dort sind die Überschriften hilfreich, dort sind die Fußnoten tatsächlich am Fuß derselben Seite, und dort gibt es auch ein Literatur- und Autorenverzeichnis. Die Unverständlichkeit der „Krise des Absoluten“ ist kein Zufall, kein bloßes Versagen z.B. des Verlages (aber das auch).

Enttäuschung Nr. 4

Auch „das Absolute“, das dem Buch den Titel gegeben hat, ist eine Enttäuschung. Zunächst beginnt es noch harmlos und vielversprechend: Mit dem „Absoluten“ ist zu Beginn die Voraussetzung des Denkens gemeint, die dem Denken einerseits vorausgeht, andererseits vom Denken gedacht werden muss, um sie zu erfassen. Ein reflexives Erkenntnisproblem, ein Kernproblem der Philosophie. Doch das Absolute bleibt schillernd. Eine Definition, auf die sich dieses Buch stützen würde, wird nicht wirklich gegeben. Vielmehr kommen auf den nächsten zweihundert Seiten viele weitere Auffassungen des Absoluten hinzu, die sich keineswegs ineinander überführen lassen, doch alle werden kurzerhand als „das Absolute“ angesprochen. So z.B. Gott als das Absolute, oder auch absolute politische Geltungsansprüche. Diese Dinge sind nicht wirklich dasselbe. Man kann zwar argumentieren, dass diese Dinge miteinander zusammenhängen, aber sie sind dennoch verschiedene Dinge, und aus dem einen folgt zumindest nicht zwingend das andere. Schwerwiegende Denkfallen lauern überall hinter diesen Gleichsetzungen. Ist das Schwärmerei? Der Leser wundert sich und ist verwirrt.

Erst auf S. 235 kommt eine teilweise Auflösung: Erst jetzt macht das Buch explizit, was der Leser über 200 Seiten hinweg in schweigender Duldsamkeit erfahren hat: Es gibt drei verschiedene „Momente“ des Absoluten, liest man da. Aber sogleich wird ein Schema von vier verschiedenen Absolutheiten nachgeschoben (S. 246). Wenn man genau mitgezählt hätte, wären es sicher noch mehr. Und auch im folgenden kommen viele weitere hinzu. Und alles wird „das Absolute“ genannt. Warum, wird nicht erklärt. Da schwurbelt das Buch: Es wird in oberflächlichen Analogien geschwärmt. Ob der Autor das wirklich alles erklären könnte? Wir vermuten zudem, dass das Buch sich im Wesentlichen auf den Begriff des Absoluten bei Hegel stützt. Doch wir wissen es nicht. Es bleibt ungesagt.

Im weiteren Verlauf des Buches verflacht der Begriff des „Absoluten“ zu einem eher politischen und gesellschaftlichen Begriff. Anders, als der Leser erwartet hatte, geht es jetzt nicht mehr um einen Kernbereich der Philosophie, sondern eher um politische Philosophie. Vermutlich würde der Autor es anders sehen wollen. Doch so stellt es sich dem Leser dar. Jetzt bekommen wir eine Darstellung der gesamten Geschichte seit Platon präsentiert, in der es immer wieder um die Krise des Absoluten ging. Wir lesen davon, dass auch der Absolutismus in Frankreich das Absolute war, und dass auch die Vordenker der französischen Revolution über das Absolute nachdachten. Und jetzt ist z.B. auch der Vorgang der Industrialisierung eine Krise des Absoluten. Zuletzt wird auch die physikalische Energie von Dampfmaschine und Elektromotor als „das Absolute“ angesprochen (S. 300), zuguterletzt auch der Goldstandard des Dollars (S. 514). Im Grunde gerät nun die ganze Geschichte der Menschheit zu einer einzigen Dauerkrise des Absoluten. Und damit hat sich das Versprechen des Buchtitels von der Krise des Absoluten in philosophisches Kleingeld verwandelt. Das Absolute und seine Krise, das sind keine seltenen und unbekannten Dinge, die es durch dieses Buch neu zu erfahren gilt, sondern das ist gewissermaßen die altbekannte, stets krisenhafte conditio humana zu allen Zeiten. An dieser Stelle fragt sich der Leser: Und dafür dieses Buch?

In diesen Zusammenhang gehört auch die gebetsmühlenartig wiederholte These, dass das Absolute und die Vielfalt korrespondieren. Auch diese Beziehung wird eher schwärmerisch in assoziativen Analogien beschworen als erklärt (z.B. die vielen Währungen und der eine Goldstandard, S. 514 f.), und der Leser hat den Eindruck, dass hier Äpfel mit Birnen verwechselt werden: Mal zeigt sich das Absolute in der Vielfalt, man kann es nur in der Vielfalt erfassen (reflexive Denkvoraussetzung) – mal stehen sich Vielfalt und das Absolute antagonistisch gegenüber (Absolutheit des Geltungsanspruchs gegen die Vielfalt). Jedenfalls spricht der Autor in einer Weise von der Gefahr des Absoluten und von der Vielfalt in der Gesellschaft, dass ein Bezug zu philosophisch „flachen“ Themen wie Multikulti und Diversity nicht übersehen werden kann. Der Leser ist skeptisch, ob der Bogen von einem Kernproblem der Philosophie wirklich zu diesen Dingen geschlagen werden kann, und ob das überhaupt noch Philosophie ist oder nicht vielmehr politische Weltanschauung und Agitation. Doch weiter.

Enttäuschung Nr. 5

Chronologisch wird der Leser von dieser Enttäuschung schon früher ereilt, doch die ganze Tragweite erschließt sich erst mit der Zeit: Der Autor übernimmt keine Verantwortung für sein Buch, sondern lässt alles in der Schwebe, wie es sich für die Postmoderne gehört.

Zu Anfang wird wiederholt darauf hingewiesen, dass die vorgelegte Darstellung der Postmoderne lediglich aufzeigt, „was die Postmoderne hätte sein können“ (S. 47 f.), aber – so folgt zwingend, auch wenn es in dieser Form ungesagt bleibt – vielleicht war die Postmoderne auch etwas ganz anderes. Das ist starker Tobak. Es ist in Ordnung, wenn ein Autor seinen Text einen „Essay“ nennt, also einen „Versuch“, sich einem Thema zu nähern. Wir alle wissen, dass man sich der Wahrheit nur annähern kann, und wir alle versuchen dies, so gut wir eben können, und scheitern doch immer irgendwo. Aber was hier als Anspruch formuliert wurde, ist das Gegenteil eines Anspruchs: Wenn es doch nicht so war, dann war es halt eben anders: Pech gehabt! Diese unphilosophische Frechheit ist natürlich ein Markenzeichen der Postmoderne (Vgl. z.B. S. 350, 562 ff.).

Zugleich wird damit auch die Erwartungshaltung enttäuscht, die der Untertitel „Was die Postmoderne hätte sein können“ beim Leser aufgebaut hatte: Der Leser dachte natürlich, dass die Postmoderne etwas Wichtiges und Richtiges „hätte sein können“, aber dann vom Weg abkam, und dass dieses Buch dieses Wichtige und Richtige, das „hätte sein können“, aufzeigt und damit Ansätze und Anteile der historischen Postmoderne für die Gegenwart rettet. Aber nein, die Postmoderne wird nicht differenziert und gereinigt sondern pauschal betrachtet, und es geht nur darum, dass die Postmoderne so „hätte sein können“, wie beschrieben, was immer einschließt, dass sie vielleicht auch anders war.

Enttäuschung Nr. 6

In diesem Buch ist die Postmoderne eine durch und durch richtige und gute Sache. Sie erscheint (!) völlig rational und geradezu septisch rein von allen bösen Dingen, die wir gemeinhin mit der Postmoderne assoziieren. So ist z.B. von einer Philosophie die Rede, „die nichts mit ‚postmoderner‘ Beliebigkeit, mit bloßer Ästhetik oder wahrheitsfeindlichem Relativismus zu tun hat.“ (S. 431) In der Rezeptionsgeschichte der Postmoderne sind dann alle Kritiker der Postmoderne durch die Bank unfair und polemisch (S. 528-549). Diese allzu reine Reinheit der überguten Postmoderne und diese allzu böse Bosheit ihrer Kritiker ist vollkommen unglaubwürdig und man fragt sich, ob der Autor nicht bemerkt hat, dass er sich damit ins eigene Knie schießt?

Hier wird sogar Nietzsches Übermensch zu einem weichgespülten Multikulti-Übermenschen, der gelassen und sogar zustimmend dabei zusieht, wie seine eigenen Interessen in dem großen Gezerre der Interessen von den vielfältigen Anderen ignoriert und zertrampelt werden (S. 331). Hat man sich aber den Übermenschen nicht eher so vorzustellen, dass vor allem er es ist, der in dem Gezerre der Interessen die vielen anderen über den Tisch zieht, und ihnen seinen Willen aufnötigt? Und wo ist denn Nietzsches Idee von der Züchtung einer Herrenkaste und der Eliminierung der Entarteten? Wie auch immer: Der Autor hat in diesem Buch völlig vergessen zu erwähnen, dass Nietzsches Werk dermaßen „literarisch“ ist, dass es eben keine einigermaßen einheitliche Deutung von Nietzsche gibt. Wir sehen hier Zorns Nietzsche. Aber nicht Nietzsche. Nietzsche ist schon lange tot.

An einer Stelle heißt es beiläufig: „Nur wenn man davon ausgeht, dass es nur die eine Wahrheit geben kann, wird die Pluralität der Philosophie zu einem unlösbaren Problem.“ (S. 397) Dass damit die Einheit der Wahrheit aufgegeben wird, der wir alle gemeinsam nachstreben und um die wir alle gemeinsam ringen, bleibt ungesagt. Die Konsequenzen dieser beiläufig referierten postmodernen These, dass es die eine gemeinsame Wahrheit nicht geben würde, sind absolut dramatisch und dramatisch absolut – und bleiben hier völlig unbesprochen! Honi soit qui mal y pense?

Um die Akzeptabilität der Postmoderne zu untermauern, werden zahlreiche Autoren an die Postmoderne „rangepflanscht“, die wir keinesfalls zur Postmoderne zählen wollen. Darunter Joachim Ritter und seine Schule oder Theodor W. Adorno.

Andere Autoren mit starkem Bezug zum Thema fehlen, und es ist völlig unverständlich. So z.B. Hannah Arendt, die immerhin als wichtige Denkerin zum Totalitarismus gilt und damit eine Hauptautorin zum „Absoluten“ ist! Noch dazu hatte sie bei Heidegger studiert. Auch Zorn selbst verwendet das Wort „totalitär“ immer wieder zur Beschreibung des Absoluten (z.B. S. 120, 125, 216, 332), doch Hannah Arendt kommt nicht vor. Ob die Idee des Antitotalitarismus nicht in das Konzept des Autors passte? Karl Jaspers, ein berühmter Existenzphilosoph im Umfeld von Heidegger und Hannah Arendt, wird nur einmal erwähnt, aber nicht als Philosoph, sondern als „Psychiater“ (S. 88). Auch die Phänomenologin Edith Stein fehlt, immerhin Assistentin Husserls und in dieser Rolle direkte Vorgängerin Heideggers, die sich Gott zuwandte und in Auschwitz ermordet wurde: Mehr Krise des Absoluten geht gar nicht. Aber sie fehlt. Blankes Schweigen herrscht über den „Prager Frühling“ 1968. Wer von Paris 1968 spricht, darf von Prag 1968 nicht schweigen. Zudem hätte sich eine Erwähnung besonders angeboten, denn mit Jan Patocka spielte ein Phänomenologe eine wichtige Rolle. Patocka war auch der geistige Ziehvater von Vaclav Havel, der 1989 eine erfolgreiche bürgerliche Revolution anführte. Aber Schweigen.

Enttäuschung Nr. 7

Wenn der Leser gegen Ende des Buches auf Zorns vernichtende Kritik an Habermas und anderen Kritikern der Postmoderne stößt, ist er geradezu daraufhin konditioniert, um nicht zu sagen: manipuliert worden, diese Kritiker nicht verstehen zu können. Der unkritische Leser wird deren Kritik für genauso unfair und polemisch halten, wie das Buch sie darstellt.

Dieses Gefühl, manipuliert worden zu sein, gefällt überhaupt nicht. Überdies fühlt sich der Leser hilflos. Denn obwohl man sich gerade durch ein sehr dickes und schwieriges Buch zur Postmoderne hindurchgequält hat, fühlt man sich nicht hinreichend und auch nicht verlässlich informiert, um eine eigene Abschätzung abgeben zu können, ob und inwieweit die Kritiker irren. Man traut der Sache nicht, kann ihr gar nicht trauen. – Und über allem schwebt das Diktum, dass dieses Buch ja nur sagen will, was die Postmoderne vielleicht hätte sein können, vielleicht aber dann doch nicht war.

Enttäuschung Nr. 8

Was dieses Buch hätte leisten müssen, wäre ein großes Aussortieren, Reinigen und – wo möglich – teilweises Erneuern der Postmoderne gewesen: Aus den rauchenden Trümmern der Postmoderne mit all ihren Fehlern und Maßlosigkeiten hätte herausgearbeitet werden müssen, was aus dem Schutt gerettet werden kann und Bestand hat. Doch von dieser notwendigen Kritik fehlt in diesem Buch jede Spur. Der Leser ist ja durchaus bereit, sich auf vieles einzulassen. Es ist offensichtlich, dass nicht alles schlecht war an der Postmoderne. Aber ohne dieses Sortieren geht es nicht. Denn so sicher, wie die Postmoderne manchen wertvollen Gedanken formulierte, so sicher schoss sie auch über das Ziel hinaus.

Wir würden z.B. gerne davon hören, warum Foucault Freiheit im Traum zu finden glaubte (S. 93 f.). Der Leser findet bei eigener Introspektion nämlich, dass Träume zwar sehr phantasievoll sein können, frei jedoch fühlt man sich in ihnen keinesfalls. Es wäre auch interessant herauszufinden, ob das Ereignis, das dieses Buch mit den Worten „Foucaults Hass kennt keine Grenzen“ beschreibt (S. 344), völlig unverbunden zu Foucaults Denken sein konnte? Wir verstehen die Motivation Foucaults sehr gut, aber Hass? „Grenzenloser“ Hass?! Nein. Wir würden auch gerne wissen, warum Foucault die mörderische Tyrannei von Khomeini im Iran verharmloste, und ob das nicht doch sehr viel mit seinem Denken zu tun hatte. Von seinem teils fragwürdigen Sexualverhalten, das Foucault teilweise selbst mit seinem Denken in Verbindung brachte, mal ganz abgesehen. Doch davon kein Wort in diesem Buch.

Es ist zu fragen, warum die Zielrichtung der Kritik der Postmoderne immer fundamental gegen die bestehende Ordnung gerichtet war, gegen „das System“, wie dieses Buch sehr gut herausarbeitet. Ist das nicht ein wenig kindisch? Irgendeine Ordnung muss es ja geben. Vielleicht hat die bestehende Ordnung auch ihr gutes? Und vielleicht kommt nach der erfolgreichen „Überwindung“ der bestehenden Ordnung nichts besseres nach? Hier fehlt doch einfach der Blick auf das Ganze. – Und wenn es der Postmoderne wirklich darum ginge, die herrschende Ordnung zu hinterfragen, und „das System“ mit inkommensurablen Interventionen zu irritieren, warum wird dann die irritierende Frage nach Gott nicht gestellt, sondern abgeräumt? (S. 235, 330) Ist das die Inkohärenz der Inkohärenz der Postmoderne?

Ebenso auffällig ist die völlige Verhaftetheit dieser Denker in ihrer Zeit und ihrem Zeitgeist. Es ist eine seltsame Verschränkung von Philosophie und Zeitgeist, also eine Philosophie, die gar nicht nach der Wahrheit an sich fragt, sondern nach der geistigen Stimmung zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt. Da ist z.B. Nietzsches Gejammer über den Tod Gottes, den „wir“ angeblich getötet haben. Damit reflektiert Nietzsche den Geist seiner Zeit. Aber sollen denn auch wir, die wir sowohl die vielfältigen Verläufe der Geschichte überblicken, als auch besser über die Gottesfrage Bescheid wissen als jene Menschen, die dem Zeitgeist ausgeliefert sind, uns diesem Diktum anschließen? Nein. Das Gejammere Nietzsches über den Tod Gottes ist unter philosophischen Gesichtspunkten dumm und kindisch. Ein Gegenbeispiel ist Platon, der die Zyklen der Zeit zu überblicken versuchte.

Wir würden auch gerne wissen, ob es nicht eine maßlose Übertreibung ist, hinter dem reflexiven Wechselgeflecht des Strukturalismus eine völlige Ablösung von den zugrunde liegenden Realitäten zu sehen. Das Buch zieht eine Analogie zu den Finanzmärkten, an denen Derivate gehandelt werden, also Preise und Preiserwartungen, aber keine echten Waren mehr: „Es ist nicht so, als ob es die Welt, auf die diese Werte sich beziehen, nicht gäbe. Sie existiert. Doch sie spielt für die Bewertung keine Rolle mehr.“ (S. 523 f.). – Doch das ist falsch. Die den Derivaten zugrunde liegenden Realitäten spielen für die Bewertung sehr wohl eine Rolle. Es ist vielmehr eine fahrlässige Risikokontrolle, die dazu führt, dass sich Finanzmärkte allzu weit von der Realität entfernen und in luftige Höhen abheben – und dann irgendwann zwangsläufig eine sehr harte Landung erleben. Mit den Finanzmärkten ist es wie mit der Fliegerei: Runter kommen sie immer. Damit verkehrt sich das gegebene Beispiel zu einem Argument gegen (!) die Postmoderne: Wurde nicht auch hier allzu leichtfertig die zugrunde liegende Realität vergessen und zu Höhenflügen angesetzt, die mit einer harten Landung enden müssen? Derselbe Irrtum unterläuft dem Autor noch ein zweites Mal beim Thema der Ablösung der Währungen vom Goldstandard (S. 515, 522): Es ist falsch, dass Währungen sich losgelöst von jeder Realität nur noch gegenseitig bewerten. Denn jeder Ausgabe von Geld steht die Einlage eines Wertpapiers bei einer Zentralbank gegenüber: Das ist harte Realität. Zentralbanken können natürlich dazu übergehen, wertlose Wertpapiere als Einlagen zu akzeptieren. Aber das führt dann in die Inflation. Runter kommen sie immer. Nichts schwebt frei.

Stellvertretend für alles, was der Autor über die Postmoderne ungesagt lässt, möchte der Rezensent das Büchlein „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ von Paul Veyne 1983 anführen, das er selbst gelesen und rezensiert hat. Paul Veyne war mit Foucault eng befreundet und übertrug das postmoderne Denken 1971 in seiner Schrift „Comment on écrit l’histoire“ auf die Geschichtsschreibung. Paul Veyne ist ein Urgestein der Postmoderne. Das Büchlein wird u.a. auch von Slavoj Zizek empfohlen, der wiederum von Zorn geschätzt wird. Es ist ein Machwerk voller maßloser und falscher Ideen, eine Orgie der Anti-Rationalität und des Relativismus, des Zynismus und der Menschenfeindlichkeit. Alle Vorurteile gegen die Postmoderne werden hier bestätigt. Doch dieser Realität stellt sich das Buch von Zorn nicht. Das wäre aber verlangt gewesen.

Enttäuschung Nr. 9

Dieses Buch realisiert nicht, dass die Postmoderne keinesfalls ein Antidot gegen das Absolute ist, sondern dass die Postmoderne selbst zu einem Absoluten geworden ist, das unerwünschte Extreme hervorbringt. Das ist fast schon tragisch. Zorn beschönigt die Postmoderne absolut.

Da ist zunächst die maßlose Überziehung und Übertreibung von an sich richtigen Grundgedanken durch die Postmoderne. Doch der Mensch ist ein begrenztes Wesen. Komplexität muss reduziert werden. Es ist nicht möglich, Rücksicht auf alles zu nehmen, selbst wenn man das wollte. Noch zu Anfang des Buches wird auf Nietzsches Erkenntnis verwiesen: „Das Absolute ist nur das Missverständnis einer Vielfalt, die so radikal ist, dass sich das alltägliche Denken bei ihr nicht lange aufhalten kann.“ (S. 48) Am Ende des Buches fehlt diese Einsicht. Gutes Denken denkt die Praktikabilität immer mit. Wer hingegen versucht, auf Teufel komm raus Probleme mithilfe filigraner Theorien zu lösen, die an der groben Praxis scheitern müssen, endet zwangsläufig in Extremen. Man muss die Kirche im Dorf lassen können.

Die Postmoderne ist keine Philosophie nach menschlichem Maß. Und der Mensch wird immer das Maß für den Menschen bleiben, eben weil der Mensch ein Mensch ist. Die Vorstellung, dass der Mensch den Menschen erst vor wenigen Jahrhunderten als Maßstab entdeckt hat, und dass es jetzt gilt, den Menschen wieder zu verabschieden, ist unsinnig, falsch und extrem. Das Ringen um das Wesen des Menschen wird kein Ende nehmen, solange es Menschen gibt. Die Idee des Menschen ist vielleicht die einzige Idee, die man getrost zum Absoluten machen kann, eben weil der Mensch ein Mensch ist. Vielleicht auch noch ein dazu korrespondierender Gott, vielleicht. Auf diese Weise wird das Absolute als Trennendes unter den Menschen neutralisiert. Die Absolutheit der Menschenrechte rührt daher. Aber ein solcher Gedanke fehlt in diesem Buch.

Statt dessen wird der Leser mit Deleuze und Guattari konfrontiert, die in einer kommunistischen Klinik die „originelle“ Idee aushecken, dass der Kapitalismus die Krankheit der Schizophrenie hervorbringe (S. 455 ff.). Später liest man dann, dass die beiden eigentlich gar nicht die Krankheit Schizophrenie meinten, sondern mit diesem Wort etwas anderes meinten (S. 466). Typisch Postmoderne. Oder da ist Lyotard, der das Bündnis mit den Arbeitern gegen die herrschende Klasse sucht (S. 476): So flach kann Postmoderne sein.

Überhaupt das fundamentalistische Aufbegehren gegen die herrschende Ordnung, gegen „das System“. Es geht immer ums Kaputtmachen. Nie ums Aufbauen. So einfach kann man es sich aber nicht machen. Wir erinnern daran, dass z.B. auch die Menschenrechte „zum System“ gehören. Lyotard meint, dass es völlig sinnlos sei, über eine Reform der Universität und ihrer Lehrinhalte nachzudenken, denn der Dozent würde immer nur konsumierte Lehrinhalte reproduzieren und auf diese Weise Studenten zu Arbeitskräften für den Kapitalismus ausbilden (S. 480). Abgesehen davon, dass Lyotard hier eine sehr zynische Auffassung seines eigenen Lehrberufes zu erkennen gibt: Ist es nicht maßlos übertrieben, dass Lyotard trotzig auf einer utopischen Fundamentalkritik beharrt und darüber womöglich nützliche Reformen pauschal verwirft? Gewisse Defizite von Foucault sprachen wir oben schon an. – Es gibt gute Gründe, solchen Menschen nicht zu vertrauen.

Es wird auch die Wende zur völligen Dominanz des Marktes unter Reagan und Thatcher beklagt (S. 519 ff.). Doch es wird kein Grund dafür angegeben, wieso es eigentlich dazu kommen konnte. Wäre es nicht möglich, dass gerade linke und postmoderne Denker den Boden dafür bereitet haben? Denn sie waren es, die die klassische bürgerliche Bildung diskreditiert haben, die ein Gegengift gegen die Verabsolutierung der Märkte gewesen wäre. Sie waren es, die den Fokus völlig auf das Ökonomische und den Hedonismus gelenkt haben. Sie haben Sinnangebote jeglicher Art zerstört, bei Gott angefangen (S. 330), und sich als erste dem Konsum hingegeben. Sie sind schuld daran, dass die Menschen über keine eigenen geistigen Ressourcen mehr verfügen, mit denen sie den Vereinnahmungen des Marktes und des Konsums entgegentreten könnten. „Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los!“, ruft Goethes Zauberlehrling.

Der Rezensent verweist noch einmal auf das Beispiel des Büchleins „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ von Paul Veyne, dessen Lektüre eine traumatische Erfahrung war. Es ist wirklich ein Machwerk voller maßloser und falscher Ideen, eine Orgie der Anti-Rationalität und des Relativismus, des Zynismus und der Menschenfeindlichkeit. Kurz: Die Postmoderne ist selbst extrem und „absolut“, daran kann kein Zweifel sein. Doch Zorn scheint das nicht zu sehen. Oder nicht sehen zu wollen.

Enttäuschung Nr. 10

Ein wirkliches Antidot gegen die Gefährlichkeit des Absoluten wäre eine klassische, bürgerliche, humanistische Bildung. Auch und gerade in einer „Massengesellschaft“, die ihre „Vermassung“ ja gerade nicht ihrer großen Zahl verdankt, sondern eben dem Verlust der höheren Bildung als Ideal und der Orientierung auf Konsum. Doch diese Idee wird in diesem Buch in Form des Ansatzes von Joachim Ritter (S. 269, 510 f.) nur sehr zurückhaltend behandelt. Im Epilog, auf der vorletzen Seite und als letzte inhaltliche Botschaft des gesamten Buches, reibt Zorns Adorno Joachim Ritter noch einmal kräftig unter die Nase, warum er davon nicht viel hält (S. 580). Der Zauberlehrling mag die Weisheit des alten Meisters nicht. Er wird immerhin noch geduldet.

Der Rezensent möchte an der Idee des gebildeten Menschen als einem selbständigen Leser und Denker festhalten. Platon und Kant, Goethe und Schiller, Thomas Mann und Hermann Hesse, Cicero und die Federalist Papers, um es einmal ganz platt zu sagen. Eine solche Bildung schützt allein durch ihre Vielheit vor Absolutheiten, indem sie viele Facetten des Denkens und Lebens kennengelernt hat. Indem sie viele Beispiele aus der Geschichte kennt, wie sich anfänglich gute Gedanken verabsolutierten. Und indem sie durch ihr vieles Weltwissen Probleme richtig einzuordnen weiß. Der gebildete Mensch wird niemals den Markt oder die Ökologie oder die Wissenschaft verabsolutieren, wie es heute geschieht, sondern er wird immer sagen: Marktwirtschaft ist sehr nützlich, aber nicht hier. Oder: Naturschutz ist wichtig, aber nicht so. Oder: Wissenschaft ist unverzichtbar, aber der real existierende Wissenschaftsbetrieb ist kein unfehlbares Konzil, das gläubige Unterwerfung verlangen könnte.

Eine solche Bildung ermöglicht erst eigenes weltanschaulich-philosophisches und politisches Denken. Schon mit Platon lernen wir, dass wir im Grunde nichts wirklich wissen, und wie wir der Wahrheit schrittweise durch Argumente nachstreben. Erkenntnis ist ein Riesennetzwerk von sich gegenseitig stützenden Einzelerkenntnissen verschiedener Wahrscheinlichkeit, und jede neu hinzukommende Erkenntnis verändert die Gewichte in diesem Netzwerk aufs neue. Die Wahrheit selbst ist nur schwierig oder gar nicht zu erlangen. Statt dessen muss man sich wie Münchhausen an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf der Erkenntnis ziehen, indem man Vieles mit Vielem abgleicht. Intellektuelle Demut ist angesagt. Wir können nicht alles verstehen, und es gibt Probleme, die wir nicht lösen können. Wer sie dennoch zu lösen versucht, muss in Extremen enden. Die Welt ist komplexer als wir erfassen können. Das ist triviale Allgemeinbildung. Aber darauf kann man aufbauen.

Gesellschaften brauchen ein gewisses Maß an Freiheit, sonst sind sie zu eng, aber auch ein gewisses Maß an Zusammenhalt, sonst fallen sie auseinander. Dass aus der allzu großen Freiheit der Tyrann wie ein frischer Trieb aus einem totgeglaubten Wurzelstock hervorschießt, lesen wir schon bei Platon und Cicero. Konsequentes Multikulti kann es paradoxerweise nur in einem autoritären Staat geben, wie Helmut Schmidt schon feststellte. Zorn selbst beschreibt mit Koselleck, wie sich der politische Absolutismus zur Befriedung der vielfältigen konfessionellen Gegensätze herausbildete (S. 493). Ungebildete Menschen plärren für Multikulti oder für Monokulti. Der gebildete Mensch sucht nach integrativen Lösungen praktischer Natur, z.B. Transkulturalismus statt Multikulturalismus, damit das absolut notwendige Gemeinsame über dem Vielen nicht verloren geht, und umgekehrt. Ideale Lösungen allzu filigraner Natur gibt es aber nicht. Gesellschaft und Demokratie werden immer holprig und grob geschnitzt bleiben, denn der Mensch ist selbst aus krummem Holz geschnitzt. – Solche Probleme werden bei Zorn aber nur ganz kurz und kryptisch angedeutet (S. 559 unten), und es ist wieder einmal nicht sehr klar, was er da eigentlich meint. Es bleibt auch unverständlich, wie denn das Gemeinsame kein Absolutes sein soll.

Richard Rortys Metaphilosophie meint man schon in Albert Schweitzers Kulturphilosophie begegnet zu sein, sowie in dem trivialen Gedanken, dass auch ein pluralistisches Gemeinwesen nicht alles akzeptieren kann, sondern nur das, was den Zusammenhalt des Gemeinwesens nicht sprengt. Und dazu gehört weit mehr als nur Verfassung und Vernunft, denn es geht um Menschen, nicht um Roboter.

Dass Systeme die Tendenz haben, einzurosten und sich von ihrer ursprünglichen Zielsetzung zu entfernen, gehört zum kleinen Einmaleins der Gesellschaftskunde. Systeme brauchen von Zeit zu Zeit eine Reform, sonst erstarren sie. Dasselbe gilt für Denksysteme. Wichtig ist der offene Diskurs, dass alles auf den Tisch kommt. Konsequenz ist gut, aber Fanatismus ohne Selbstkorrekturfähigkeit ist schlecht. Man hätte in diesem dicken Buch über das Absolute gerne auch die Weisheit gefunden, dass sich die Extreme gegenseitig wie kommunizierende Röhren aufschaukeln. Doch sie fehlt. Linke, die sich z.B. über die rechtsradikal gewordene AfD von Gauland und Höcke beklagen, sollten sich zuerst einmal an die eigene Nase fassen: Der ungebremste Durchmarsch linker Politik übersah, dass politisch Andersdenkende nicht verschwinden, wenn man ihnen die politische Vertretung wegnimmt. Die Idee einer Demokratie, in der es nur noch Linke gibt, ist eine granatenmäßige Schnapsidee. Ganz zu schweigen davon, dass die ungebremst durchgezogene linke Politik zwangsläufig mit der Realität kollidiert. All das schafft Radikalismus von der anderen Seite her, den es sonst nicht gegeben hätte. Umgekehrt wäre es übrigens genauso. – Damit genug der einfachen Wahrheiten, die wir in diesem Buch über Vielfalt und das Absolute so leider nicht finden konnten.

Enttäuschung Nr. 11

Der Autor des Buches ist selbst „absolut“. Das enttäuscht natürlich sehr, denn ist dies nicht ein Buch gegen das Absolute? Sowohl dieses Buch als auch andere öffentlich zugängliche Quellen machen deutlich, dass der Autor die Thesen der Postmoderne in ihrer Absolutheit, siehe oben, gar nicht reformiert. Zwar zählt der Autor ganz zu Anfang in knapper Form einige heutige Übertreibungen der Postmoderne auf (S. 9 f.), doch bei genauem Lesen erkennt man, dass er hier lediglich Meinungen über die Postmoderne referiert, aber seine eigene Meinung offenlässt. Zorn lässt den Leser denken, dass auch er diese Übertreibungen als Übertreibungen sieht, doch tatsächlich hat er nichts dergleichen gesagt. Nirgends in diesem Buch leistet Zorn die nötige Aussortierung von Übertreibungen und Brauchbarem. Im Grunde werden die anfangs referierten „Vorurteile“ gegen die Postmoderne im Verlauf des Buches nicht widerlegt sondern bestätigt. – In einer Talkshow sagte Zorn: „Ich bin … ich weiß nicht … ich bin selber kein postmoderner Philosoph … Ich habe nicht das Denkproblem, das die haben. Ich begnüge mich damit, die Geschichte zu erzählen.“ Wir können das nur so deuten, dass er über die Postmoderne hinaus will, aber sehr wohl mit und auf der Grundlage der Postmoderne. Insofern ist er natürlich sehr wohl postmodern. Wer nur das Buch gelesen aber nicht diese Talkshow gesehen hat, wird Zorn ohne weiteres für einen postmodernen Denker halten bzw. für einen post-postmodernen, „bildenden“ Philosophen im Sinne Rortys (S. 562). Es wäre ja seltsam, wenn Zorn auf der einen Seite die Postmoderne rehabilitiert, auf der anderen Seite aber sagen würde: Ich selbst halte nichts davon.

Politisch steht Zorn offenbar sehr weit links. Zu Marx scheint er ein tiefenentspanntes Verhältnis zu haben. Sein Geschichtsbild legt Zorn selbst in diesem Buch dar (vor allem S. 484-486). Wir haben es jedenfalls als Zorns Geschichtsbild gelesen. Liberale und Konservative kommen darin nicht gut weg. Habermas ist ihm zu konservativ, wie der frontale Angriff auf Habermas in diesem Buch und Aussagen in Talkshows deutlich machen. Das Milieu, in dem Zorn sich bewegt, spricht Bände. Auf Twitter pflegt Zorn mit Andersdenkenden einen teils inquisitorischen (vgl. Derridas zwängende Lektüre S. 360 f.), teils auf hanebüchene Irritation setzenden Gesprächsstil. Die Postmoderne lässt grüßen. Es ist auch befremdlich, wie „Rechte“ automatisch als Problemfälle der Demokratie, also als „Rechtsradikale“ eingeordnet werden, während für „Linke“ ganz andere Maßstäbe angelegt werden. Jeder kann sich in Zorns Büchern, in Medien und auf Twitter selbst davon überzeugen. Der Punkt ist: Wir sehen eine Absolutheit, die uns erschreckt.

So stellt es sich uns dar: Mit Daniel-Pascal Zorn ist wieder einmal ein Intellektueller der Versuchung erlegen, die innere Schlüssigkeit seines großartigen Gedankengebäudes für wahr zu halten, ohne dabei hinreichend auf die Rückbindung an die Realität geachtet zu haben. Und in diesem Gedankengebäude ist er nun gefangen wie die Kindliche Kaiserin in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ in ihrem Elfenbeinturm. Das ist es im Kern. Das ist die Entzauberung Zorns.

Die Abgehobenheit Zorns von der Realität zeigt sich auch in folgenden Aussagen: Seiner Meinung nach ist die menschliche Gesellschaft durch die Dominanz des Marktes in einen Zustand der „Künstlichen Intelligenz“ eingetreten, die unaufhaltsam ein Programm hin zu mehr Freiheit, Emanzipation, Vielfalt und Identität abarbeitet (S. 559). Mit anderen Worten: Die Entwicklungen rund um den Wokismus, mit ihren maßlosen Übertreibungen, deutet Zorn zwar noch nicht als die Erfüllung seiner wahren Utopie, aber doch immerhin als eine Zunahme an Freiheit. (Ein Blick auf seine Twitter-Tweets und seine Aussagen in Talkshows bestätigen das.) – Da kann man nur staunen: So „zwängend“ hatten wir uns Freiheit nicht vorgestellt. Was für Untiefen lauern da in Zorns Denken?

Oder ein anderes Beispiel: Zorn übersieht völlig die Entwicklungen, die durch eine Zuwanderung ohne hinreichende Integration vonstatten gehen, wie wir sie den Vielfalt-Schwärmern zu verdanken haben: Immer mehr Menschen in unserem Land haben kein hinreichend aufgeklärtes mind-set mehr. Immer mehr Frauen und junge Männer in unserem Land stehen unter der Knute eines Patriarchen. Während diese Rezension entsteht, wird Salman Rushdie bei einem Messerangriff schwer verletzt. Und in Dortmund nehmen Politiker an einer großen, öffentlichen Trauerfeier teil, auf der ein Gewalttäter (er hatte Polizisten mit einem Messer angegriffen) wie ein Märtyrer gefeiert wird – nur um die „Community“ zu beschwichtigen. Immer mehr Stadtteile verschwinden in dem nebelhaften Nichts vormoderner Zustände: Phantásien in Not! Doch Zorn ist ein Meister im Wegsehen und formuliert, wie wenn es die Realität nicht gäbe: „Gott, das religiöse Absolute, hat seine Macht über die Menschen verloren, zugunsten von Säkularisierung, Aufklärung und Fortschritt.“ (S. 235) und: „Die progressive, an Freiheit und Emanzipation orientierte Weiterentwicklung der Gesellschaft ist längst ein Operationsmodus dieser Künstlichen Intelligenz geworden“ (S. 559).

Sein Programm für die Gegenwart und die Utopie für die Zukunft hat Zorn (mit Lyotard und Rorty) auf den Seiten 558-564 beschrieben. Oder ist es doch nicht sein Programm? Wir haben es so gelesen, denn Zorn spricht auf S. 560 von „man“: „Man bräuchte die Postmoderne …“, und: „Bis es so weit ist, kann man sich an die zweite Bestimmung der Postmoderne halten.“

Wer auf Twitter genau aufpasst, erfährt, dass der Romantiker Novalis für Zorn der wichtigste Denker überhaupt zu sein scheint, der am weitesten gedacht habe (in Sachen Reflexivität, das große, alles überspannende Thema Zorns). Zorn will Novalis nicht als Romantiker verstanden wissen. Doch romantischer als Novalis geht es kaum. In seinen „Lehrlingen zu Sais“ hat der Romantiker Novalis einen Gegenentwurf zum „Verschleierten Bild zu Sais“ des Klassikers Schiller gewagt. Das verschleierte Standbild zu Sais verkörpert symbolisch die Erkenntnis letzter Wahrheit, also das Absolute. Doch die Gottheit hat verboten, den Schleier zu lüften. Diesen Schleier lüften: Genau das tut Novalis. Und Zorn gefällt’s. Aber ist Zorn damit nicht offensichtlich auf dem Weg zum … Absoluten?!

Bei Schiller geht die Sache (natürlich) nicht gut aus, und Schiller gibt uns die bedenkenswerten Worte mit auf den Weg:

Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe
.

Enttäuschung Nr. 12

Enttäuschend ist auch, in wie viele Selbstwidersprüche sich der Autor verwickelt. Da wird z.B. Vielfalt und Emanzipation befürwortet (für wen eigentlich? Das Wort Feminismus wird konsequent vermieden). Zu diesem Zweck vollführt der Autor einige moderate sprachliche Verrenkungen, bleibt dabei aber inkonsequent: So schreibt er meistens das gestelzte „Studierende“ (S. 155), manchmal aber einfach „Studenten“ (S. 154). Meistens ist von „Philosophen“ die Rede (S. 422), manchmal von „Philosophinnen und Philosophen“ (S. 424). Ganz selten findet sich ein kontraintuitives generisches Femininum statt eines generischen Maskulinums (S. 13). Doppelpunkte, Sterne, Unterstriche oder Binnen-I gibt es zum Glück keine (nur in einem Zitat). In Talkshows bemüht sich Zorn jedoch um die Doppelpunkt-Sprechpause. Allerdings muss er sich dabei immer wieder hastig selbst korrigieren. Zorn denkt sichtlich in normaler Sprache. – Aber derselbe Autor, der sich sprachlich so sehr bemüht, hat die Frauen unter den Philosophen völlig vergessen! Hannah Arendt und Edith Stein fehlen auffällig, wie schon gesagt. Auch im symbolischen Schlussbild des Buches kommen nur Männer vor. Acht alte, weiße Männer. (Ja, Derrida ist auch einer.)

Man hätte auch nicht erwartet, dass Zorn eurozentrisch denkt. Aber er tut es. Sogar eurozentrisch in den Kategorien von vor 1989. Denn auch der „Prager Frühling“ und Jan Patocka sowie die osteuropäischen bürgerlichen Revolutionen von 1989 fehlen bei ihm. In seiner Darstellung der Geistesgeschichte seit der Antike kommt nur der lateinische Westen vor (S. 239 ff.). Byzanz und die islamische Welt mit ihren eigenständigen Debatten und die gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Welten fehlen völlig bzw. werden mit einem kurzen Satz abgehandelt (S. 239 f.). Auch die völlig Absage an Gott ist sehr eng gedacht. Man hätte z.B. Mohamed Arkoun erwähnen können, der die Philosophie von Foucault und Derrida auf die religiösen Texte des Islam anwandte. Es ist auch fragwürdig, den Eindruck zu erwecken, als gehörte die Antike vor allem zu „Europa“ (um S. 242). Ist die Antike nicht eine versunkene Welt, die niemandem „gehört“, und die (zunächst) nicht nur vom lateinischen Westen, sondern auch von Byzanz und der islamischen Welt beerbt wurde, und die (heute) für die ganze Welt als gemeinsames Erbe der Menschheit offensteht? Doch der Autor bleibt völlig dem lateinischen Westen verhaftet. Nur in der Person von Pico della Mirandola werden dann auch Texte von Arabern und Ägyptern erwähnt (S. 568 f.). Averroes findet bei Zorn nicht statt. (Er kann auch gar nicht stattfinden, denn Averroes hat die Majestät der Vernunft aufgerichtet, was sich mit der Postmoderne wenig verträgt. Thomas von Aquin fehlt deshalb natürlich auch. Spätestens das ist sehr auffällig. Aber Augustinus, der Gottes Willen unvernünftig sein lässt, der kommt vor.) – Insgesamt verfehlt der Autor den Anspruch von Vielfalt jenseits des Eurozentrismus völlig.

Es ist auch fragwürdig, dass Zorn die Postmoderne (mit Rorty) permanent am Rand stehen sieht (S. 561). Denn Foucault war und ist ein Pop-Star! Postmoderne war und ist groß in Mode, man denke nur an völlig überzogene Maßlosigkeiten wie Gender, Diversity, Multikulti-Vielfalt, Critical Race Theory, Decolonialisation, oder „No borders no nations“ und „Refugees welcome bring your families“. Vieles, was manche etwas hilflos als „Kulturmarxismus“ bezeichnen, ist ganz oder in Teilen postmodern motiviert. Zorn selbst zählt es zu Anfang des Buches auf (S. 9 f.). – Aber Zorn sieht die Postmoderne am Rand stehen. Vielleicht ist das dank Habermas tatsächlich noch im engeren deutschen philosophischen Wissenschaftsbetrieb so.

Ein weiterer Widerspruch ergibt sich daraus, dass die Postmoderne als Kritik an der herrschenden Ordnung verstanden wird. Aber wenn die Menschen hilflos staunend mitansehen müssen (hilflos wie Lyotard nach 1968 S. 484), wie die herrschende Ordnung Gender und Diversity in völlig überzogener Weise auf den Thron hebt, ist die Postmoderne dann nicht zur Philosophie „des Systems“ geworden, und Zorn zu einer intellektuellen Stütze der Macht?

Den Kritikern der Postmoderne wirft der Autor vor, sie wollten sich selbst beweihräuchern, indem sie lieber sich selbst als die aktuelle Speerspitze der Philosophiegeschichte darstellen (S. 549). Aber ist der Autor hier nicht selbst polemisch? Die Schwarz-Weiß-Zeichnung von guter Postmoderne einerseits und bösen Kritikern andererseits ist ihrerseits überhaupt nicht postmodern, insofern völlig undifferenziert – andererseits auch wieder höchst postmodern, insofern Frechheit ein Markenzeichen der Postmoderne ist. Auf diesen Seiten wimmelt es jedenfalls nur so vor frechen Selbstwidersprüchen: Zorn stylt die postmodernen Philosophen (mit Rorty) als rebellische Außenseiter (S. 561-564), aber in Wahrheit ist es nur Style, denn die selbsternannten Außenseiter sind heute vielfach selbst in Machtpositionen, und zudem leistet die „normale“ Philosophie die nötige Kritik am „System“ auch selbst, ohne dazu der Postmoderne zu bedürfen.

Zorn kritisiert auch ausgiebig die gutaussehenden, sprachbegabten Populärphilosophen, die ein Bedürfnis des Marktes befriedigen (S. 549). Aber ist Zorn nicht selbst auch ein solcher? Er hat jetzt schon mehrere Bücher geschrieben, mit denen er in Talkshows kam, und auch für das neueste Buch sitzt er wieder in Talkshows bis hinauf zum Blauen Sofa des ZDF. Zorn platziert sich mit seinen Büchern definitiv am Markt.

Zu Anfang des Buches heißt es, dass mit der Postmoderne „ein letztes Mal“ alles auf den Tisch gekommen sei (S. 14). Wie wenn mit dem Ende der Postmoderne das Ende der Geschichte gekommen wäre. Doch viel weiter hinten hören wir: „Das Absolute ist nicht so leicht totzukriegen.“ (S. 414, 418) Die Geschichte ist also doch noch nicht zu Ende.

Was gelungen ist

  • Am wertvollsten ist sicher die mikroskopische Nachzeichnung dieses Ausschnitts der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts, die die Motivation der einzelnen Denker teilweise gut herausarbeitet und in den größeren Zusammenhang der anderen Denker stellt. Wer dieses Buch gelesen hat, wird andere Darstellungen immer daran messen.
  • Es konnte gezeigt werden, dass die Postmoderne durchaus einige bedenkenswerte Ansätze vorzuweisen hat. Es fehlt zwar ein Aussortieren und Reinigen dieser Ansätze, aber diese Botschaft ist trotz allem angekommen.
  • Immer wieder wird auf die Strukturähnlichkeit von Problemen und Sachverhalten hingewiesen. Dies zwar oft nur knapp, aber das Gespür dafür wurde dennoch geschult.
  • Sehr interessant ist die Berücksichtigung der Kybernetik. Der Rezensent ist Informatiker und bedankt sich.
  • Natürlich ist auch die Warnung vor der Versuchung des Absoluten richtig. Allerdings wird sie durch die Absolutheit des Verfassers und seiner unbereinigten Postmoderne konterkariert. Unkritische Leser werden durch dieses Buch leider nicht gegen die Gefahren des Absoluten immunisiert werden, im Gegenteil.

Schluss

Der Zauberlehrling Zorn hat eine allzu pauschale Rettung der Postmoderne versucht, hat dabei auch manches unter den Tisch fallen lassen, und ist damit notwendig gescheitert. Leider zeigt er sich schwärmerisch in seinem Denkgebäude gefangen, so genial es in Teilen auch ist. Der Eindruck drängt sich auf, dass sich Philosophie und politische Einstellung bei Zorn gegenseitig im Wege stehen.

In der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende heißt es: „Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen, und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. … Und die machen beide Welten gesund.“ – Es ist Zeit, Phantásien den Rücken zu kehren: Es fehlt ein echtes Aussortieren und Reinigen des postmodernen Denkens. Es fehlt eine Klärung des Verhältnisses zur Vielfalt und zum Absoluten (z.B. gesellschaftspolitische Vielfalt-Schwärmerei? Streben nach dem Absoluten mit Novalis?). Es fehlt an simpler Menschenfreundlichkeit auch und gerade im Umgang mit Andersdenkenden.

Mit Goethe sagen wir: „Es muss auch solche Käuze geben.“ Zorns Belesenheit ist in jedem Fall ein Gewinn, und auch sein philosophisches Denken verschafft manche Anregung. Aber am Ende ist es mehr Wasser als Wein. „Welch‘ entsetzliches Gewässer!“ klagt der Zauberlehrling, bevor er den Meister zu Hilfe ruft.

Wer ein Antidot nötig hat, könnte z.B. diese Werke lesen (die Vielfalt macht’s):

  • Empedokles, Fragmente.
  • Platon, Apologie des Sokrates.
  • Xenophon, Symposion.
  • Goethe, Faust I + II.
  • Albert Schweitzer, Kulturphilosophie.
  • Hermann Hesse, Siddhartha.
  • Thomas Mann, Joseph und seine Brüder.
  • Walter Nutz, Vom Mythos der Freiheit.
  • Neil Postman, Building a Bridge to the 18th Century: How the Past Can Improve Our Future.
  • Durs Grünbein, Die Bars von Atlantis.

Epilog

Menschen sind im Garten des Akademos zusammengekommen, um ihre Gedanken auszutauschen. Kein Gebäude umgibt sie, man befindet sich in freier Natur. Es ist auch nicht kalt, sondern angenehm warm. Die Sonne steht im Meridian, nicht im Zenith, den die Sonne in diesen menschenfreundlichen Breiten niemals erreichen kann. Statt der eintönigen Weißheit der Eiswüste erfreut sich das Auge an der Buntheit einer vom Menschen wohlgeordneten Natur. Wind streicht durch die Bäume und lässt ihre Blätter leise rascheln: Die Welt ist offen. Doch niemand muss irgendwohin gehen. Man begegnet sich freundlich und bleibt beisammen. Auch Frauen und Fremdländische sind darunter. Die Gedanken schweifen frei, verzweigen und überkreuzen sich phantasievoll, und werden immer wieder von der Vernunft neu eingefangen und auf die eine, gemeinsame Wahrheit hingeordnet, um dann aufs neue auszuschweifen. Die Zyklen der Zeit und das Wesen des Menschen sind in Grundzügen längst durchschaut. Und dennoch ist alles ein großes Mysterium. Und wird es ewig bleiben, auch wenn die Erkenntnis nie aufhört. Der Turmbau zu Babel: Dieses absolute Projekt vielfältiger Hybris verfolgen nur die Narren. Wo die beste Polis als irrige Utopie erkannt wurde, so folgerichtig sie auch gedacht war, wird die zweitbeste Polis zum realistischen Ideal wahrer Menschenfreunde.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Thorwalds Internetseiten August 2022; zudem eine stark gekürzte Fassung auf Amazon am 25. August 2022)

Anhang

Einige zumindest zunächst sehr unverständliche Sätze

S. 170: Kants „Tertium ist die transzendentale Einbildungskraft. Sie ist die ‚ursprüngliche Zeit‘ und ‚bildet‘ so ‚die Wesensstruktur der Subjektivität‘.“

S. 318: Zu Nietzsche: „Um der reaktionären Einebnung der Differenz zu entgehen, entwirft Nietzsche ein Modell von Sinn und Wert, das nicht von Substanz und Sein ausgeht, sondern von Relation und Werden. Was sich in Sinn und Wert zum Ausdruck bringt, das sind aufeinander bezogene Relationen, die in Bewegungen des Werdens eingebunden sind, die maximale und minimale Spannungen ausbilden.“

S. 334: „Doch gerade die Philosophie ‚hat sich in ihr‘, der anthropologischen Illusion, ‚eingeschlossen, indem sie die Subjektivität verdichtete, hypostasierte und in der uneinholbaren Struktur des ‚menschlichen Wesens‘ einschloss.'“

S. 424: Unvermittelt: „Was ist die Bedingung?“ Tja, von was?

Diverse Mängel

S. 38: „Frankfurt“. Wünschenswert wäre: „Frankfurt am Main“. Mehrere Stellen im Buch.

S. 128: Lenins „berühmte Studie“. – Die weltanschauliche Studie eines Massenmörders aus Weltanschauung „berühmt“ zu nennen, ist unstatthaft. „Bekannt“ wäre besser.

S. 139, 239: „Kaiserzeit“: Gemeint ist die „römische Kaiserzeit“. Mehrere Stellen im Buch.

S. 146: „‚Jede Epoche ist unmittelbar zum Dasein‘ – so könnte man diese Position mit dem Historiker Leopold von Ranke zusammenfassen.“ – Doch bei Ranke ist es „unmittelbar zu Gott“, deshalb sollte es z.B. heißen: „Leicht abgewandelt könnnte man mit Ranke sagen …“

S. 194: „jüdische Kollegen denken über Migration nach“. – Wieso Migration? Emigration!

S. 199: Der Begriff „Metaphysik“ hätte erklärt werden sollen. Nicht jeder benutzt ihn so.

S. 201: Der Begriff „Weltanschauung“ hätte erklärt werden sollen. Nicht jeder benutzt ihn so.

S. 217: An der geheimen Konferenz in Princeton 1945 haben gewiss keine „Informatiker“ teilgenommen, der Begriff entstand erst später.

S. 219: Dass Mark I „der erste einsatzfähige digitale Großrechner“ war, darf bezweifelt werden. Zuses Z3 war auch digital und einsatzfähig. Der Umstand, dass der Rechner „groß“ war, erscheint hingegen wenig bedeutend.

S. 239: „Übersetzungen der über Bagdad und Kairo überlieferten Texte“ – Die weitaus meisten philosophischen Texte der Antike wurden über Byzanz wiedergewonnen, nicht durch arabische Rückübersetzungen. Das aber auch.

S. 282 f., 286: Mehrfach konsequent falsch: „Victor Emerita“, richtig: „Victor Eremita“.

S. 378: Es geht um die Logischen Empiristen, aber das Stichwort „Logischer Empirismus“ fällt erst auf S. 395.

S. 477: In Sätzen Lyotards werden „flics“ mit „Cops“ ins Deutsche übersetzt. Das geht nicht. Flics sind Flics.

S. 479: Trotsky mit s und y geschrieben: Mehrere Stellen. S. 483 Trotzki mit z und i.

S. 487: „Germanistisches Nationalmuseum“. Eine postmoderne Irritation?

S. 489: Beispiele für Geschichtsphilosophien, die Freiheit versprechen, aber faktisch Unfreiheit schaffen: „Drittes Reich“, „Ideologien von Stalin und Mao“. – Das sind aber gar nicht die Geschichtsphilosophien. Es hätte heißen müssen: Nationalsozialismus, Marxismus-Leninismus, Maoismus. Und wer von Stalin spricht, darf von Lenin nicht schweigen.

Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit – Grundzüge einer modernen Religion (2012)

Echter Reformer – aber teilweise noch zu kurz gesprungen

Ja, anders als manche andere Muslime, die nur deshalb von Reform reden, weil sie damit ihren traditionalistischen Islam verschleiern wollen, ist Mouhanad Khorchide in der Tat ein echter Reformer. Und was ebenso wichtig ist: Seine Reformideen sind kein Wunschdenken sondern funktionieren theologisch tatsächlich. Im Prinzip macht Khorchide mit dem Islam das, was christliche Theologen mit dem Christentum in den letzten Jahrhunderten getan haben: Er bringt die Vernunft in den Glauben und dessen Interpretation zurück, und drängt traditionalistische Elemente zurück.

Es ist in der Tat möglich, im Koran zwischen ewig gültigen und kontextbedingten Aussagen zu unterscheiden, und man kommt damit in der Tat zu einem Islamverständnis, das Allbarmherzigkeit (bzw. Liebe) und Gnadenbarmherzigkeit ins Zentrum rückt. Ja, die problematischen Koranverse werden durch ihre historische Kontextualisierung entschärft. Ja, man kann bei Mohammed unterscheiden zwischen verschiedenen Rollen als Gesandter bzw. Staatsoberhaupt. „Islam“ im Kontext des Koran bedeutet auch noch nicht „den“ Islam als eigene Religion, sondern Religion im Allgemeinen. Diese Unterscheidungen lassen sich sogar sprachlich im Koran festmachen. Es funktioniert wirklich. Khorchide „verbiegt“ den Islam also nicht, sondern man kann mit Fug und Recht sagen, dass Khorchide den Islam wieder auf seinen eigentlichen Sinn zurückführt.

Und dieser Sinn ist mit westlichen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten hinreichend kompatibel. Die Auffassungen von Khorchide sind zudem nicht brandneu, sondern haben in der islamischen Theologie schon immer eine gewisse Tradition gehabt. Soweit so gut.

Kritikpunkte

Die historische Kontextualisierung bei Khorchide beschränkt sich auf eine Kontextualisierung im Rahmen der überlieferten Mohammed-Legenden (Propheten-Biographie und Hadithe). Das ist theologisch nicht illegitim, aber dann hätte Khorchide mehr dazu sagen müssen, wie er denn unterscheidet, welche Überlieferungen glaubwürdig sind und welche nicht. (Die Frage nach menschlichen Einflüssen im Korantext lässt Khorchide gleich ganz aus, sie ist aber durch die Idee eines Gottes, der in einen historischen Kontext hinein spricht, praktisch mit abgedeckt.)

Khorchide wird, wenn er konsequent bleibt, nicht darum herum kommen, so manche liebgewordene Mohammed-Überlieferung als Legende zu entlarven. Insbesondere zu zwei dieser Legenden hat Khorchide nichts gesagt, obwohl er beide Ereignisse in seinem Buch berührt: (1) Das Massaker an den Juden von Banu Quraiza. Dieses Massaker ist nach historisch-kritischer Auffassung zum Glück nur eine böse Legende. Wer den Islam reformieren will, muss die Überlieferung dieses Massakers entschärfen. (2) Die Zerstörung der Götterbilder in der Kaaba durch Mohammed. Wenn Mohammed es ernst gemeint hätte, Toleranz im Glauben zu üben, dann hätte er diese Götterbilder von Andersgläubigen wohl kaum zerstört, sondern er hätte sie z.B. an einem anderen Ort wieder aufstellen lassen, damit sie dort weiter angebetet werden können. Auch diese Überlieferung muss entschärft werden.

Khorchide spricht über den zur Unbarmherzigkeit verfälschten Islam an vielen Stellen des Buches so, wie wenn dies nur eine Minderheit von „Fundamentalisten“ wäre. Erst am Ende des Buches kommt er darauf zu sprechen, dass nicht nur einige „Fundamentalisten“ das Problem sind, sondern der ganz normale traditionalistische Mainstream des Islam. Leider hat der verfälschte, unbarmherzige Islam die Mehrheit und die Haupttradition des Islam seit über 1000 Jahren auf seiner Seite. Die humanistische Interpretation des Islam hat hingegen fast immer nur als Nebenlinie der Haupttradition existiert. Das ist ein nicht unwesentlicher Gesichtspunkt, den Khorchide hätte mehr berücksichtigen und besprechen müssen.

Wenn wir das Spektrum der Glaubensrichtungen grob in die vier Kategorien traditionalistisch – konservativ – liberal – modernistisch unterteilen, gehört Khorchide zu den Liberalen. Er verbiegt und bricht den Glauben durch seine Reformen also nicht, wie es anpasserische Modernisten tun würden, und sein Fundament ist für einen vernünftigen Glauben von Konservativen und Liberalen gleichermaßen geeignet, gegen die Irrationalitäten von Traditionalisten und Modernisten.

Allerdings ist die Liberalität von Khorchide auch ein pädagogischer Schwachpunkt. Für traditionalistische Muslime ist der Schritt vom Traditionalismus zu einem aufgeklärten Konservatismus vielleicht gangbar. Aber der Schritt zu einem liberalen Verständnis von Religion könnte für viele zu weit sein, weshalb das Buch von Khorchide hier kontraproduktiv wirken könnte.

Das Ideal eines Glaubens, bei dem alles aus Gefühl und Neigung heraus geschieht, ist schön, aber oft ist es einfach nur rationale Pflichterfüllung. Bei Khorchide gibt es keinen aufgeklärten Begriff von Pflicht, Gehorsam und Autorität, er verwendet dieses Worte so gut wie nicht. Das Vollziehen von Ritualen, auch wenn es schwer fällt, kann zudem auch etwas Heilsames haben. Der Vorwurf von „Fundamentalisten“ (so nennt sie Khorchide), dass ein Muslim, der nicht betet, kein echter Muslim ist, ist im Prinzip durchaus berechtigt, was Khorchide verkennt. Schließlich ist Khorchides Auffassung zu hinterfragen, dass der Glaube allein zum Seelenheil nicht genügen würde. Dazu hat Luther bereits das Nötige gesagt. Khorchide hätte besser so formuliert, dass der Glaube zwar genügt, aber nur dann echt sein kann, wenn er auch zu Taten führt. Khorchide pflegt auch eine sehr modische Sprache: Es ist etwas zu viel von Liebe und Dialog, von Dynamik, Kritik und Dialektik die Rede, zu wenig von Pflicht, Vertrauen, Autorität und Glaubensgehorsam in einem aufgeklärten Sinn.

Schließlich taucht die Toleranz gegenüber Agnostikern und Atheisten bei Khorchide mit keinem Wort auf. Er spricht immer nur von Religionen, die alle der Weg zu Gott seien, und dass alle diese Religionen auf ihre Weise im Prinzip „Islam“ = „Hingabe an Gott“ seien. Nichtmonotheistische Weltanschauungen wie z.B. polytheistische Neuheiden, Agnostiker oder Atheisten hat Khorchide leider nicht in sein System der Toleranz eingebaut. Auch das ist ein deutlicher Schwachpunkt. – Zu Khorchides Verwendung von Koranvers 2:256 („Kein Zwang im Glauben“): Khorchide bezieht diesen Vers auch auf andere Religionen. Das ist problematisch, denn der Satz bezieht sich nach allgemeiner Auffassung nur auf den islamischen Glauben und die Art seiner Praktizierung, nicht aber auf Religionen im Allgemeinen. Das zerstört aber seine Argumentation nicht grundsätzlich.

Grundsätzlich gilt, dass Khorchide ein echter Reformer ist, dessen Weg vernünftig und tragfähig ist und in die richtige Richtung geht. Er ist deshalb zu unterstützen, er muss aber noch in einigen Punkten nachliefern.

Als gut lesbare Einführung in die historische Kritik der Ursprünge des Islam für jedermann sei folgendes Buch empfohlen, dessen martialischer Titel völlig in die Irre führt: Tom Holland, Im Schatten des Schwertes.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. April 2014)

Paul Veyne: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft (1983)

Glaubt Paul Veyne eigentlich an seine eigenen Mythen?! Postmoderne Hardcore-Ideologie statt lehrreicher Mythenforschung

Wer sich mit Deutung und Funktion von Mythen befasst, wird immer wieder über eine ganz bestimmte Literaturangabe stolpern: Paul Veyne, „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“. Der geneigte Leser erwartet bei einem solchen provokant-launigen Titel einerseits kundige Anleitung und Aufklärung über das schillernde Phänomen der Mythen und deren variationsreiche Wahrnehmung schon zu Zeit der alten Griechen, andererseits aber auch einen vergnüglichen und geistreichen Essay zum Thema, dessen Lektüre die reine Freude ist. Manche Literatur empfiehlt diese Schrift ganz in diesem Sinne, womit offenbar zugleich die Bildung und Gelehrsamkeit des Empfehlenden demonstriert werden soll.

Doch je weiter man in dieses Büchlein hineinliest, desto krasser die Enttäuschung des Lesers. Es handelt sich nicht um das erwartete lehrreiche Lesevergnügen, sondern – o Schreck! – um die Deklaration einer postmodernen, anti-rationalistischen und sogar anti-humanistischen Hardcore-Ideologie. Das eigentliche Thema des Buches, die Mythen der alten Griechen, dient offenbar lediglich als Kulisse zur Manifestation dieser Ideologie, und wird dieser brutal untergeordnet. Soviel Unsinn zur Antike wie hier hat man selten gelesen. Und dem philosophisch Gebildeten rollen sich sämtliche Fußnägel auf.

Daran, dass dieses Büchlein in den Literaturangaben zum Thema Mythologie immer wieder „mitgeschleift“ wird, obwohl praktisch kein Autor auf die eigentlichen Aussagen Veynes eingeht, kann man erkennen, dass die wenigsten es gelesen haben, und dass das Büchlein nur wegen seines schönen und interessanten Titels angeführt wird, und vielleicht deshalb, weil man dem Autor einen gewissen Ruf zubilligt, ohne Näheres über ihn zu wissen. Es scheint bislang nur recht kurz angebundene Rezensionen zu geben, die dieses Büchlein kritisch in den Blick nehmen. So z.B. die deutlich ablehnende Rezension von Simon Goldhill vom King’s College, Cambridge, in „The Classical Review“ von 1990. Es ist also Zeit für eine gründliche Besprechung.

Worin besteht die Ideologie von Paul Veyne?

Paul Veyne glaubt, dass die Menschen – schon immer, jetzt, und für alle Zukunft – in völlig willkürlichen Illusionen leben, die sich allein und ausschließlich der Einbildungskraft verdanken. Ob etwas Realität oder Fiktion sei, liege allein im Auge des Betrachters (S. 33 f.). Die „Wahrheit“ umschließe sowohl Mythos als auch Fiktion (S. 27). Der Glaube an „Alice im Wunderland“ beim Lesen dieses Buches wird gleichgesetzt mit dem Glauben an die Erkenntnisse der Physik (S. 34). Statt von Wahrheit spricht Veyne lieber von Wahrheitsprogrammen oder Wahrheitspalästen, die viel größer sind als die Gegensätze von Wahrheit und Irrtum, Vernunft und Mythos, Imagination und Wirklichkeit; obwohl sich die Wahrheiten der verschiedenen Wahrheitspaläste vielfach widersprechen, widersprechen sie sich doch nicht, denn in sich sei jeder von ihnen vernünftig und wahr (S. 105, 146 f.). So Paul Veyne.

Die Realität zählt bei der Feststellung von Wahrheit nicht. Mit Nietzsche sagt Paul Veyne: „Die Tatsachen existieren nicht“ (S. 52 f.), denn Tatsachen existieren nicht für sich allein, sondern müssen immer interpretiert werden. Die Wahrheit stamme nicht aus der Realität (S. 105). Paul Veyne meint, dass Husserl irre, wenn er Imaginäres und Erfahrung zu trennen versuche, denn das Imaginäre sei letztlich genauso wahr (S. 108). Zwar gäbe es tatsächlich eine materielle Wirklichkeit, so Veyne, doch diese werde immer interpretiert oder ignoriert (S. 129). Für ihn steht alles auf einer Stufe: Religiöser Glaube, ein Roman, oder die physikalischen Theorien Albert Einsteins; Empirismus sei eine Größe, die man vernachlässigen könne, meint Veyne (S. 140).

Auch die Vernunft sei ganz nutzlos und eine Illusion. Statt der Vernunft würden die Menschen von ihren Interessen geleitet. Alle Wahrheiten kämen von der Einbildungskraft her, nicht von der Vernunft (S. 35). Deshalb entschuldigt Veyne auch das interessegeleitete Lügen, und es sei ganz falsch, einen Gegensatz von Philosophie und Rhetorik zu sehen, denn auch die Philosophie folge weder der Vernunft noch der Wahrheit, sondern allein dem Interesse (S. 72). Das sei auch dann so, wenn wir uns über uns selbst täuschen und unsere eigenen interessegeleiteten Motive nicht erkennen würden (S. 72). Es würden auch niemals Argumente miteinander ringen, sondern immer nur verschiedene Wahrheitsprogramme. Es gäbe gar keine Vernunft, sondern nur Interessen (S. 102-104). Auch hinter den Mythen oder den Menschenrechten stünden nur Interessen bzw. „Kräfte“; das alles habe keine Wahrheit sondern sei rein geschichtlich, das Denken des Menschen gehorche dem Willen zur Macht, womit Veyne wieder bei Nietzsche ist (S. 110). Wahrheit sei zu nichts zu gebrauchen, sie entspräche nur unseren Vorlieben, sie sei nur ein Deckmantel für den Willen zur Macht (S. 153).

An manchen Stellen nennt Paul Veyne statt Interessen und Vorlieben plötzlich den Zufall als die Ursache unserer Wahrheitspaläste, ohne diesen Widerspruch aufzulösen. Der Prozess der Geschichte sei eine Abfolge von Zufällen und basiere nicht auf Vernunftgründen oder den Produktionsverhältnissen (S. 142 f.). Alle geschichtlichen Prozesse jenseits von Ökonomie und Ideologie, also Mythos, Kunst und Wissenschaft, könne man nur beschreiben, wenn man Rationalität und Wahrheit fallen lasse; und auch die Sozial- und Ökonomiegeschichte sei ohne Wahrheit und Vernunft (S. 143 f.). Alles sei irrational, es gäbe keinerlei Determinismus, die Geschichte ist eine zufällige Abfolge von Wahrheitspalästen, ohne Vernunft (S. 145 f.; 153 f.).

Diese Verhältnisse bezieht Paul Veyne immer auf „uns“, also auf alle Menschen. Alle Menschen würden diesen Gesetzen quasi willenlos unterliegen, ohne Ausnahme. Wir alle würden nur Interessen verfolgen, auch wenn wir uns selbst über unsere Motive täuschen würden (S. 72). Unser Geist tue es ohne Unterlass, das sei unser Alltagsleben (S. 105 f.). Unsere Wahrheitsprogramme veränderten sich ohne unser Wissen, der Mensch sei kein denkendes Schilfrohr im Wind (S. 141). Damit ist gemeint: Das Schilfrohr kann sich nur passiv im Wind neigen, und der Mensch wisse noch nicht einmal, dass er nur wie ein Schilfrohr sei. Veyne meint auch, dass es gar nicht unaufrichtig sei, verschiedene Wahrheitsprogramme im Kopf zu haben, die sich widersprechen, denn auch das würden wir alle so tun; unser Geist täte dies ohne Unterlass (S. 105 f.).

Warum das falsch ist, und wie es eigentlich ist

Diese Grundideologie von Paul Veyne ist natürlich extrem zynisch und sinnleer. Man muss sich das nur einmal vorstellen! Aber natürlich ist diese Grundideologie vor allem auch einfach nur falsch. Es beginnt damit, dass Paul Veyne die Empirie für vernachlässigbar hält. Das ist natürlich Unsinn. Die Erfahrung lehrt uns alle, dass diese Welt kein Wunschkonzert ist. Wenn wir uns nicht gemäß der Realität verhalten, dann werden wir hart mit der Realität zusammenstoßen. Die Empirie erkennt diese Realität, und die Vernunft ordnet die einzelnen Erkenntnisse, so dass wir uns orientieren können, um es einmal ganz einfach auszudrücken. Und nicht nur die Umwelt, sondern auch das Wesen des Menschen selbst ist teilweise vorgegeben. Realität ist nicht beliebig konstruierbar. Das „Ding an sich“ von Immanuel Kant ist zwar letztlich nicht erkennbar, aber es ist vernünftig anzunehmen, dass es doch existiert. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“, dichtete schon Friedrich Schiller im Wallenstein.

Natürlich ist es vernünftig anzunehmen, dass es eine Realität gibt, und damit auch eine echte Wahrheit. Und zwar genau eine in sich konsistente Wahrheit, und nicht zwei Wahrheiten, die sich widersprechen. Natürlich kennen wir alle die eine, echte Wahrheit nicht, und wir alle sind immerzu auf dem Weg, uns der Wahrheit anzunähern, und natürlich begehen wir dabei auch Irrtümer, die uns wieder von der Wahrheit entfernen, aber deshalb ist es noch lange nicht vernünftig, Vernunft und Wahrheit kurzerhand ganz fallenzulassen. Das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Ja, die Tatsachen existieren nicht „einfach“, sondern bedürfen der Interpretation, das ist schon richtig. Aber das ist kein Grund, die Existenz der Tatsachen selbst anzuzweifeln. Zudem: Würde es weder Vernunft noch die Annahme einer gemeinsamen, anstrebbaren Wahrheit geben, dann würde der Diskurs unter den Menschen unmöglich werden, der eine wesentliche Eigenschaft des Menschen und der menschlichen Gesellschaft ist. Veyne stellt hier die Menschlichkeit des Menschen infrage.

Natürlich wird menschliches Denken und Handeln vielfach durch Interessen und durch Zufall bestimmt, und natürlich ist das dem denkenden Menschen oft nicht bewusst – aber zu behaupten, dies sei immer und grundsätzlich so, ist entschieden zuviel behauptet. Es ist doch gerade die Bildung, die den Menschen über sein bloßes materielles Dasein hinaus erheben möchte. Es ist doch ein Kennzeichen von Bildung, sekundäre Motivationen wie Interessen und Vorlieben zu erkennen, und die Vernunft besser und richtiger zu benutzen. Bildung ist es, an sich selbst zu arbeiten und innere Widersprüche im eigenen Denken aufzudecken und auszuräumen. Doch Paul Veyne tut so, als seien alle Menschen nur ungebildete, bornierte Kleinbürger. Aber selbst diese sind noch reflektierter als Veyne es zugeben möchte, deshalb noch niedriger: Als seien alle Menschen – alle! – Menschen nicht viel besser als Tiere, die nur ihren Reflexen gehorchen. Wer nach Vernunft und Moral strebe, der täusche sich nur über seine wahren Motive, meint Veyne. Für Veyne ist der gute, nach Vernunft, Moral und Wahrheit strebende Mensch praktisch nur ein unaufgeklärter Idiot, über den er müde lächelt. Veyne untergräbt hier die Grundlagen von Bildung und Kultur, und rührt mit diesem Weltbild auch an die Grundfesten des Humanismus. Es ist einfach nur verantwortungslos und falsch.

Das zynische Geschichtsbild von Paul Veyne

Auf der Grundlage der dargestellten Ideologie ist dann auch das Geschichtsbild von Paul Veyne einfach nur zynisch und sinnlos zu nennen. Es gäbe keine Kausalität im Ablauf der Geschichte, sie sei unvorhersagbar, meint Veyne. Alle Versuche, den Lauf der Geschichte im Nachhinein zu erklären, seien unglaubwürdig, weil selektiv. Es sei geradezu verwunderlich, dass es so etwas wie geschichtliche Kontinuitäten gäbe. Man müsse jedes geschichtliche Ereignis als Einzelereignis für sich allein betrachten, und dann könne man auch keine Erklärung mehr dafür geben.(S. 49-54)

Geschichtsschreibung sei ein Mittel der Glaubensbildung, wie – so Veyne – der Journalismus auch (S. 15). Reporter würden nicht glaubwürdiger, wenn sie die Quellen ihrer Recherchen nennen würden, meint Veyne (S. 21). Was sei die geschriebene Geschichte? Es sei einfach die Politik von früher (S. 82). Wo die Moderne in der Geschichte ein Ringen um Aufklärung sieht, sieht Paul Veyne nur ein rationales Mäntelchen zur Fortsetzung des Wunderbaren (S. 62).

Das Ideal der Geschichtsschreibung des Historikers Paul Veyne besteht darin, den zufälligen Verlauf der Geschichte nachzuzeichnen. Es ginge darum zu beschreiben, was die Menschen sich jeweils als Wahrheitspalast errichtet hätten, und wie sie die materielle Realität selektiv wahrgenommen hätten (S. 150). Die Menschen könnten aus der Geschichte aber nichts lernen; eine reflexive Analyse führe nicht zu einer Annäherung an die Wahrheit, sondern nur zu einem anderen Wahrheitsprogramm (S. 150). Die Reflexion des Historikers ist somit nicht als ein Licht auf dem Weg zu verstehen, ein Blick zurück in die Geschichte würde in keiner Weise dabei helfen, den richtigen Weg zu finden (S. 153 f.). Die Wahrheit sei, dass die Wahrheit veränderlich sei, und das könne man ohne Selbstwiderspruch sagen, meint Paul Veyne (S. 141, 152). Die Aufgabe des Historikers sei es, Wahres über Wahrheitspaläste zu sagen (S. 152).

Man fragt sich natürlich, was eine solche Geschichtsschreibung noch für einen Sinn macht. Lernen soll man also nichts können aus der Geschichte. Soll der Geschichtsschreiber dann also mit einer Tinte schreiben, die sich sofort wieder selbst auslöscht, und nur leere Seiten bleiben, wie beim „Alten vom wandernden Berge“ in der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende? Oder soll man sich den Geschichtsschreiber wie Sisyphos vorstellen, als einen glücklichen Menschen mit sinnloser Aufgabe? Und der Gipfel ist ja, dass Paul Veyne für sich als „Geschichtsschreiber neuen Typs“ in Anspruch nimmt, er könne echte Wahrheiten über die Pseudo-Wahrheiten aller anderen aussagen, und dass das kein Widerspruch sei. Sein hilfloser Versuch, dies mit dem Dilemma „Alle Kreter lügen, sagte ein Kreter“ zu begründen, verfängt nicht beim gebildeten Leser, der den Unsinn von Paul Veyne an dieser Stelle schon längst nicht mehr mit gnädigen Augen liest. Er, Paul Veyne, stehe also irgendwie über den Dingen, und wenn er in diesem Buch ständig von „wir“ und „uns“ spricht, die wir alle ungebildet und dumm unseren tierischen Reflexen folgen, dann hat er sich selbst immer ausgenommen? Aha. Ist das jetzt das „Interesse“ und der „Wille zur Macht“ von Paul Veyne?

Falsche und zynische Darstellung der antiken Geschichtsschreibung

Nach einer langen, langen Einleitung kommen wir in dieser Rezension jetzt zum ersten Mal auf die Antike zu sprechen, um die es ja eigentlich gehen sollte, aber offensichtlich nicht geht. Noch vor den Mythen widmet sich Paul Veyne der antiken Geschichtsschreibung. Dreiviertel der Texte antiker Geschichtsschreiber gingen allein auf deren Einbildungskraft zurück, meint Veyne allen Ernstes (S. 124). Bei der antiken Geschichtsschreibung habe es sich um ein Mittel der Glaubensbildung gehandelt (S. 15). Das Wort „historia“ wird von Veyne als „Ermittlung“ im Sinne einer schlechten journalistischen Recherche gedeutet (S. 20).

Das kritische Denken, das wir bei Autoren wie Herodot sehr wohl finden, wird von Paul Veyne niedergemacht und schlechtgeredet, ohne Herodot beim Namen zu nennen (S. 18 f.). Die Aussage von Herodot, dass er sich verpflichtet fühle, die Dinge so wiederzugeben, wie er sie hörte, auch wenn er selbst nicht daran glaube, wird von Veyne nicht als ein Fortschritt von Vernunft und Kritik gefeiert, sondern als angebliches Eingeständnis, dass alles, was Herodot bis zu diesem Punkt berichtet habe, eine unkritische Wiedergabe der Quellen gewesen sei (S. 23). Paul Veyne hegt eine ganz grundsätzliche Skepsis gegen die guten Absichten von antiken Geschichtsschreibern (S. 101 f.).

Die Bitte Ciceros, dass man seine Taten propagandistisch aufwerten möge, ohne dabei allzusehr auf die Regeln der historischen Gattung zu achten, wertet Veyne als Hinweis auf die Verlogenheit der Zeit, übersieht aber völlig, dass in dieser Bitte die Aussage enthalten ist, dass die historische Gattung Regeln kennt (S. 24). Und die Kritik, die Cicero und Livius an den Überlieferungen der Frühzeit üben, sei in keiner Weise eine historische Kritik, meint Veyne (S. 67). Der Geschichtsschreiber, der die Genealogie der Könige von Arkadien niederschrieb, habe wie ein Romanautor gehandelt, glaubt Veyne zu wissen (S. 125).

Wir können uns dieser zynischen, schiefen und falschen Sichtweise auf die antike Geschichtsschreibung natürlich nicht anschließen. Es tut weh, diesen üblen und unfairen Rabulismus auf Autoren wie Herodot angewandt zu sehen.

Schief und falsch verwendete Begriffe senden unterschwellige Botschaften

Während der Lektüre fällt immer wieder auf, dass Paul Veyne bestimmte Worte nicht gemäß ihrer eigentlichen Bedeutung verwendet. Seine teils schiefe, teils falsche Verwendung von Begriffen ist nicht etwa bloße Ungeschicklichkeit, und auch kein abkürzendes, „faules“ Sprechen, wie es dem Leser beim Beginn seiner Lektüre noch erscheinen will, sondern offenbar ganz bewusst so gewählt, um den Leser dadurch zu manipulieren. Zum einen verschwimmen die verschiedenen Begriffe in ihrer Bedeutung, so dass die Klarheit der Bedeutung der Begriffe unterminiert wird. Auf diese Weise wird dem Leser Glauben gemacht, die Begriffe hätten keine hinreichend klare Bedeutung, so dass die Glaubwürdigkeit von Veynes vernunftwidrigen Thesen bei weniger gebildeten Lesern erhöht wird. Zum anderen werden durch die falsche Verwendung der Begriffe unterschwellige Botschaften transportiert. Wahres und Gutes erscheint als verlogen und schlecht, Schlechtes und Verlogenes als gut und wahr, ganz wie es die Ideologie von Paul Veyne fordert. Und nein: Diese Phänomene verdanken sich nicht einer schlechten Übersetzung; sie sind auch im französischen Originaltext vorhanden.

So spricht Veyne z.B. gerne kurzerhand in absoluter Weise von „Wahrheit“, wo er besser von „damals geglaubter Wahrheit“ gesprochen hätte (S. 9 f., 105). Ob mit dem Wahrheitsbegriff die Realität oder eine Bedeutung im übertragenen Sinn gemeint ist, wird von Veyne ebenfalls nicht unterschieden (S. 32 f.). Mit Nietzsche sagt er kurzerhand: „Die Tatsachen existieren nicht“ (S. 52 f.). Aber um genau zu sein, hätte er besser davon gesprochen, dass sie nicht „einfach“ existieren, sondern – obwohl sie nämlich sehr wohl existieren – nicht ohne Interpretation zu haben sind. Vom Mythos meint Paul Veyne, dass er weder wahr noch falsch sei (S. 41). Aber das kann man so nicht sagen. Denn natürlich gibt es Mythen, die einfach nicht wahr sind, und dann gibt es wiederum Mythen, die einen beachtlichen wahren Kern haben. Aber Veyne interessiert das offenbar nicht. Dann meint Veyne, dass eine Lüge im Mythos solange nicht als Lüge gelte, solange der Erfinder der Lüge daraus keinen Vorteil ziehe (S. 41). Das ist eine sehr ungewöhnliche Definition von Lüge, die dem allgemeinen Verständnis von Lüge zuwiderläuft. Für gewöhnlich knüpft man das Wesen der Lüge an das Bewusstsein des Autors, ob er denn weiß, dass er lügt.

Völlig gegen das allgemeine Verständnis wird auch das Phänomen des Fälschers aufgefasst. Paul Veyne nennt auch das eine Fälschung, was ihr Autor völlig ernst meinte, und erst später als falsch erkannt wird (S. 126). Der Vorgang des Fälschens wird konsequent relativiert: Eigentlich sei doch jeder der Fälscher eines anderen Wahrheitsprogrammes, meint Veyne (S. 128). Der Fälscher sei gewissermaßen ein Fisch im falschen Gefäß (S. 130), und überhaupt seien die Grenzen zwischen Information und Unterhaltung reine Konvention (S. 125). Man könne einfach nicht zwischen dem Imaginären und dem Wirklichen unterscheiden, das ginge gar nicht, meint Veyne (S. 124). Paul Veyne vermeidet konsequent, den zentralen Gedanken des Fälschens auszusprechen: Dass sich ein Fälscher nämlich bewusst sein muss, dass er eine Unwahrheit produziert. Dass es so etwas überhaupt geben könnte, dass jemand bewusst fälscht und deshalb mit Recht ein Fälscher genannt wird, und dass jemand, der nicht bewusst fälscht, auch nicht Fälscher genannt zu werden verdient, egal wie falsch seine Worte auch immer sein mögen, diese Idee wird bei Paul Veyne konsequent ausgeblendet, sie existiert gar nicht. Für Paul Veyne sind Fälscher und Lügner Menschen, die die Wahrheit sprechen, nur in einem anderen Bezugssystem. Was für ein Unsinn.

Für einen Historiker wie Paul Veyne besonders bezeichnend ist die ständig wiederholte Verwendung des Wortes „Geschichte“, wo man besser von „Geschichtsschreibung“ gesprochen hätte (z.B. S. 15, 125 f.). Dahinter steckt natürlich seine Idee, dass es keine echte Wirklichkeit gibt, sondern nur Wahrheitspaläste, die mit einer empirischen Realität nicht das Geringste zu tun haben. Das allgemeine Verständnis des Wortes „Geschichte“ als dem, was wirklich passiert ist, wird deshalb von Veyne mit der Bedeutung des Wortes „Geschichtsschreibung“ überschrieben, also dem, was die Leute glauben, dass angeblich passiert sei. – Auch die Vernunft erleidet bei Paul Veyne dieses Schicksal: Überall dort, wo er eigentlich von einer „Rationalisierung“ sprechen müsste, nämlich einer rationalisierenden Deutung von Mythen, spricht Veyne konsequent von „Rationalismus“ (z.B. S. 84, 134). Nun ist aber nicht jede rationalisierende Deutung von Mythen auch rational(istisch). Im Gegenteil, oft ist eine rationalisierende Deutung von Mythen falsch und irrational. Aber für Paul Veyne gibt es ja keinen echten Rationalismus, und so spricht er kurzerhand von „Rationalismus“, wo er Rationalisierung meint. Dadurch wird die Rationalität, die Vernunft selbst, der Lächerlichkeit preisgegeben, und von ihrer eigentlichen Bedeutung entfremdet.

Ähnliches geschieht auch, wo Paul Veyne von den „verantwortungsbewussten“ Leuten spricht, die im Glauben an die vermeintlich gute Sache mit der Wahrheit nicht pingelig sind (S. 98). Natürlich sind Menschen, die es mit der Wahrheit nicht genau nehmen, alles andere als „verantwortungsbewusst“. Solche Leute halten sich vielleicht selbst für verantwortungsbewusst und sie stellen sich vielleicht selbst als verantwortungsbewusst heraus (man vergleiche den Unbegriff des „Gutmenschen“), aber sie sind natürlich nicht wirklich verantwortungsbewusst. Paul Veyne hätte das Wort „verantwortungsbewusst“ an dieser Stelle in Anführungszeichen setzen müssen, um Ironie deutlich zu machen. Aber er hat es nicht getan. Denn für ihn ist es keine Ironie. Für ihn ist es ernst. – Und schließlich wird so auch der Begriff des „Patriotismus“ unterminiert. Paul Veyne verwendet das Wort „Patriotismus“ konsequent im Sinne von „Nationalismus“ (S. 100, 151). Auf diese Weise wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen einem Menschen, der sein Land liebt, und einem hässlichen Nationalisten. Für Paul Veyne ist das offenbar dasselbe. Wie primitiv.

Die Gefährlichkeit der Ideologie von Paul Veyne

Der gebildete Leser hat natürlich längst erkannt, wie gefährlich die Ideologie von Paul Veyne ist. In ihr ist das Potential zu jedem beliebigen Unsinn und damit zu jedem beliebigen Verbrechen angelegt. Wir sind jedoch nicht darauf angewiesen, solche Auswüchse lediglich theoretisch zu schlussfolgern, nein, Paul Veyne präsentiert uns noch in demselben Büchlein mehrere bedauerliche Anwendungsfälle seiner Ideologie, wo es richtig gefährlich wird.

Zunächst steht die Ideologie von Paul Veyne jeder Form von Wissenschaft diametral entgegen. Wenn es keine Annäherung an die Wahrheit geben kann, keinen Rückbezug zur Empirie, und alles nur frei schwebende Illusion ist, dann kann es auch keine Wissenschaft geben. So meint Paul Veyne denn auch konsequenterweise, dass religiöser Glaube, ein Roman, oder die physikalischen Theorien Albert Einsteins auf einer Stufe stünden (S. 140). Die Erfindung des Mikroskops durch Leeuwenhoek und die dadurch möglich gewordene Entdeckung der Mikroben seien nach Meinung von Paul Veyne außer zur Konversation zu nichts gut gewesen (Fußnote 215). So spannt er auch das naturwissenschaftliche Prinzip der Auffindung immer besserer Erkenntnisse in das Prokrustes-Bett seiner Ideologie und spricht auch hier von der „wissenschaftlichen Wahrheit, die dauernd provisorisch ist“, obwohl das Wort „Wahrheit“ hier natürlich nicht hingehört, das ist der springende Punkt, und er spricht vom „Mythos der Wissenschaft“ (S. 138). An einer Stelle verteidigt Veyne auch eine rhetorisch interessegeleitete Lüge von Galen (S. 72), und wie gesehen gibt es für Paul Veyne eigentlich keine Fälscher. Letztlich stellt Paul Veyne damit auch seine eigene Profession infrage, denn wie will er unter diesen Voraussetzungen Geschichtsschreibung als Wissenschaft betreiben?

Zum Nationalsozialismus finden wir bei Paul Veyne besonders unappetitliche Aussagen. Auch der Nationalsozialismus war nach Meinung von Paul Veyne eine „Erfindung“ aus heiterem Himmel, und lasse sich nicht auf auf wesentliche Gründe und Ursachen zurückführen, sondern sei in keiner Weise vorhersagbar gewesen (S. 52), woran kleine Kausalitäten nichts ändern, die Paul Veyne immerhin doch sieht. Ganz so aus heiterem Himmel wurde der Nationalsozialismus dann aber wohl doch nicht „erfunden“, wie Veyne meint, auch wenn eine starke Kausalität ebenfalls eine Übertreibung wäre. Da Veyne die Empirie für vernachlässigbar hält, kommt er konsequent zu der Ansicht, dass allein das Interesse, nicht an Auschwitz glauben zu wollen, genüge, um alle Zeugnisse über Auschwitz unglaubwürdig werden zu lassen (Fußnote 8). Folgerichtig wird dann der Holocaustleugner Faurisson nicht als Fälscher gedeutet – wir sahen oben schon, dass es für Veyne gar keine Fälscher im eigentlichen Sinne gibt – sondern als Mythenmacher (!), dessen Fehler allein darin bestand, zu argumentieren, und eben nicht, wie es ein guter Mythenmacher im Sinne von Paul Veyne hätte tun sollen, einfach apodiktische Behauptungen zu verbreiten (S. 127 f.). Paul Veyne findet es zudem angebracht, einen dummen Witz über den Holocaustleugner Faurisson zu reißen: Auch der Fälscher selbst sei eine Fälschung gewesen, denn es gäbe gar keine Holocaustleugner, wenn man nur aufhören würde, an die Existenz solcher mythischen Wesen zu glauben (S. 126 f.). Aber da müssen wir mit Bertrand Russell kontern: Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört daran zu glauben. Schließlich witzelt Veyne auch noch dumm über das Thema Verantwortung herum: Verantwortungslosigkeit sei ja sooo schlimm, und deshalb „sicherlich“ auch falsch; Diodor könne das bestätigen, meint er nur sarkastisch-ironisch (S. 142). Mit anderen Worten: Das ganze Geschwätz von der Verantwortung ist genauso Unfug wie das Geschwätz über geschichtliche Wahrheit, denn beides gibt es für Veyne nicht. Gott sei Dank geht es darum ja gar nicht, meint Paul Veyne. Das ist nur logisch: Wo es keine Wahrheit gibt, kann es keine Verantwortung und auch keine Schuld geben. Wir müssen uns Paul Veyne als glücklichen Kollaborateur des Vichy-Regimes vorstellen – oder was sollte man von jemandem erwarten, der Wahrheit und Vernunft beiseite wischt und statt dessen vom „Willen zur Macht“ spricht?

Wir sahen oben schon, dass die Ideologie von Paul Veyne – horribile est dictu – ein Angriff auf den Humanismus ist. Wenn es keine Wahrheit gibt und die Empirie vernachlässigbar ist, dann kann der Mensch auch nichts lernen, und es sind auch keine vernünftigen Diskurse unter den Menschen möglich. Auch Wissenschaft ist ohne Humanismus nicht möglich. Der Gedanke, dass es gerade die Bildung ist, die den Menschen über seine Abhängigkeiten, über seine Interessen und Vorlieben erhebt und zu einem selbstbestimmten, vernunftgeleiteten Menschen macht, fehlt bei Paul Veyne völlig. Für Veyne muss man gleich ein „Genie“ sein, um aus einem Wahrheitsprogramm, in dem man sich befindet, wieder herauszukommen (S. 141). Bloße Bildung reicht offenbar nicht bzw. existiert in Veynes Welt nicht. Es gibt natürlich auch keine Moral. Allein die moralische Grundfrage, was denn zu tun ist, sei schon verfehlt; nur der Anthropozentrismus glaube an eine Antwort auf diese Frage, so Veyne (S. 151). Die meisten Jahrhunderte hätten sich diese Frage zudem gar nicht gestellt, meint Veyne (S. 151). Wirklich? Da haben wir die Geschichte aber ganz anders verstanden. Veyne meint auch, dass es keine der Natur der Dinge einbeschriebene Struktur gäbe, die eine Moral begründen könnte: Auch Kritiken wie Entmystifizierung, Sprachkritik und Ideologiekritik seien nur Romane (S. 151). Vorstellungen von Sinn und Moral seien immer Fälschungen und als solche leicht erkennbar: Sie verströmen menschliche Wärme, und das sei per se schon falsch (S. 151). Wahrheit sei einfach zu nichts zu gebrauchen (S. 153). Im vorletzten Absatz des Buches schreibt Veyne: „der Mensch ist eben kein denkendes Schilfrohr. Habe ich deshalb dieses Buch auf dem Lande geschrieben? Ich beneidete die Tiere um ihre Gelassenheit.“ (S. 154) Das ist eine unmissverständliche Absage an den Humanismus, in Form der Bevorzugung des Nichtdenkens der Tiere.

Der ideologische Hintergrund

Paul Veyne kommt oft auf Nietzsche zu sprechen, erwähnt hin und wieder Max Weber, lobt den Rationalismus-Gegner Paul Feyerabend (Fußnote 166), und nennt einmal die Kontroverse zwischen Rationalismus und Irrationalismus, konkretisiert in der Auseinandersetzung von Habermas und Foucault (S. 143). Hier sind wir genau beim Punkt. Das postmoderne Denken von Michel Foucault ist die Quelle von Paul Veynes Ideologie. Es war Foucault, der statt Vernunft und Wahrheit Interessen und Machtverhältnisse ins Zentrum rückte. Es war Foucault, der Begriffe und Werte beliebig umdefinierte: Wahrheit gab es nicht mehr, Kranke galten nicht mehr als krank, Wahnsinnige nicht mehr als wahnsinnig, Kriminelle nicht mehr als kriminell. Und Foucault stützte sich auf den Nihilismus Nietzsches und dessen radikale Vernunftkritik.

Michel Foucault fand viele Anhänger, stieß aber auch auf heftige Kritik: Schon Sartre warf ihm vor, den Humanismus zu verwerfen und die Grundlagen des aufklärerischen Denkens infrage zu stellen. Foucault wurde vorgeworfen, unklare und konfuse Begriffe zu verwenden und selbstwidersprüchlich zu sein. Außerdem habe er historische Fakten unzuverlässig verwendet. Für den Historiker Hans-Ulrich Wehler war Michel Foucault „ein intellektuell unredlicher, empirisch absolut unzuverlässiger, kryptonormativistischer ‚Rattenfänger‘ für die Postmoderne“.

Auch das Denken von Michel Foucault hatte gefährliche Konsequenzen: So unterstützte bzw. verharmloste Michel Foucault sowohl die Errichtung eines totalitären Gottesstaates im Iran als auch die massenmörderische Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha.

Warum Paul Veyne seine eigene Ideologie nicht glaubt

Es gibt einige Stellen und Aspekte, wo deutlich wird, dass Paul Veyne offenbar nicht wirklich von seiner eigenen Ideologie überzeugt ist. Da ist zunächst der Umstand zu nennen, dass Paul Veyne dieses Büchlein geschrieben hat. Wozu, wenn es keine Wahrheit gibt, an die man sich annähern kann? Wozu, wenn argumentieren nicht hilft? Wozu, wenn man aus der Geschichte nichts lernen kann? Und wozu, wenn Veyne in seinem ganzen Wissenschaftsverständnis nicht ernst genommen werden kann? Im Grunde hat er ja gar kein Wissenschaftsverständnis, sondern das Gegenteil davon: Ein Verständnis, dass Wissenschaft unmöglich und sinnlos ist. – Und dennoch hat Paul Veyne dieses Büchlein geschrieben, das er als wissenschaftlicher Historiker geschrieben hat, und in dem er keine apodiktischen Mythen verbreitet sondern teilweise argumentiert. Wie sollen wir ihm da glauben, dass er an seine eigene Ideologie glaubt?!

Wir sahen schon eine Reihe von Beispielen, wo Paul Veyne selbstwidersprüchlich argumentiert. Aber vielleicht glaubt er ja wirklich an die Möglichkeit seiner Selbstwidersprüche. Interessant ist jedoch, dass er bei der Frage nach der Entstehung des Nationalsozialismus entgegen seiner vollmundigen Thesen, dass Geschichte sich rein zufällig ereigne, und dass der Nationalsozialismus gewissermaßen eine zufällige Erfindung der Geschichte sei, dennoch „kleine kausale Serien“ sehen will (S. 52). Wie das? Woher kommt jetzt diese kleine Kausalität?! So klein sie auch sein mag, ist es doch eine Kausalität. Hier ist Veyne nicht konsequent. – Nachdem Veyne zunächst erklärt hatte, dass die verschiedenen Wahrheitsprogramme sich gar nicht widersprechen könnten, weil es eben nicht um Wahrheit ginge, und ein Mensch auch völlig widerspruchsfrei mehrere sich gegenseitig (dann also wohl nur scheinbar?) widersprechende Wahrheitsprogramme zugleich im selben Kopf haben könne, erklärt Veyne, dass ein vernünftiges Ringen von Argumenten in Wahrheit ein Kampf verschiedener Wahrheitsprogramme miteinander sei (S. 92). Doch wie das, wenn sie sich gar nicht widersprechen? Können sich verschiedene Wahrheitsprogramme nun widersprechen oder nicht? Paul Veyne klärt dieses Rätsel an keiner Stelle auf.

Immer wieder stellt Paul Veyne in diesem Büchlein klare Behauptungen mit Wahrheitsanspruch auf, obwohl es doch seiner Auffassung nach gar keine Wahrheit geben kann. Besonders deutlich in seiner apodiktischen Aussage „Die Wahrheit ist einfacher: ….“ (S. 104, „La verité est plus simple“), die ausgerechnet inmitten einer Orgie von Aussagen getätigt wird, dass es keine Wahrheit gäbe. Auf den Doppelpunkt folgt zudem ein Argument – wie aber kann Veyne argumentieren, wo das doch seiner Auffassung nach nichts bringt? Vom „Patriotismus“ behauptet Veyne, dass er Millionen Tote gefordert habe (er meint natürlich den Nationalismus, aber lassen wird das jetzt), und gibt sich sehr überzeugt davon (S. 151). Der Wahrheitsanspruch ist auch hier nicht übersehbar. Auch der Satz „Die zweite Interpretation ist die einzig richtige“ formuliert eine überraschend klare Wahrheitsbehauptung (S. 131). Und wenn es um Heidegger geht, den er offenbar nicht mag, ist plötzlich wieder Kritik gefragt, obwohl die doch laut Veyne gar nicht möglich ist: „Man hat den Verdacht, dass ein wenig historische und soziologische Kritik besser wäre als noch so viel Ontologie.“ (S. 130).

Wir erinnern uns auch, dass Paul Veyne sich sehr viel Mühe damit gegeben hatte, den Menschen als von Motiven geleitet darzustellen, über die er sich selbst gar nicht bewusst ist: Nicht Vernunft, Wahrheit und Moral würden den Menschen leiten, sondern Interesse, Vorlieben und Zufälle. Doch in Fußnote 33 erfahren wir plötzlich, dass Kinder, Primitive und Gläubige nicht naiv seien: Sie würden Imaginäres und Wirkliches gar nicht verwechseln, obwohl Veyne uns doch glauben machen wollte, dass man das gar nicht unterscheiden könne. Wir erfahren auch von einem Stamm, der Menschen, die sich aus religiös-rituellen Gründen für Wildschweine halten, klar von echten Wildschweinen zu unterschieden weiß. Sieh an, wer hätte das gedacht! Ist die Empirie also doch nicht vernachlässigbar?!

Und im Schlusssatz dieses Büchleins meint Paul Veyne dann: „Schon beim Lesen des Titels wird jeder, der auch nur die geringste historische Bildung besitzt, vorweg geantwortet haben: ‚Aber natürlich haben sie an ihre Mythen geglaubt!‘ “ Hier nun endlich, im letzten Satz, taucht sie doch noch versteckt auf, die Bildung! Die Bildung, die es angeblich gar nicht geben soll. Die Bildung, die es uns ermöglicht, aus unserem modernen Bezugssystem auszubrechen, in dem die antiken Mythen keine Wahrheit mehr haben, und uns in das Bezugssystem antiker Menschen zu versetzen, die natürlich in verschiedentlichster Weise an ihre Mythen glaubten. Es ist diese Bildung, die diese Transferleistung im Denken ermöglicht, mithilfe der Vernunft und der Wahrheit als Ziel, und man muss dazu noch nicht einmal ein Genie sein, wie Paul Veyne behauptete.

Wir glauben nicht, dass Paul Veyne wirklich ungebrochen an seine eigene Ideologie glaubt. Es ist ein Mythos, dass Veyne im „ungebrochenen Mythos“ seiner Ideologie lebt. Wir glauben dies nicht, erstens, weil dies gar nicht geht. Theoretisch nicht. Und praktisch erst recht nicht. Wir glauben es aber auch zweitens nicht, weil Paul Veyne – wie gezeigt – mehrfach deutlich erkennen ließ, dass er nicht daran glaubt. Die Frage ist, inwieweit sich Paul Veyne darüber im Klaren ist? Wir fühlen uns unwillkürlich an Erich von Däniken erinnert, dessen saftige Selbstironie ja auch nicht zu übersehen ist: Auch er glaubt und glaubt doch nicht wirklich an seine eigenen Mythen. Beide, Paul Veyne und Erich von Däniken, sind in einer bedauernswerten Gemengelage von Irrtum und Durchschauen des Irrtums gefangen. Das Durchschauen des Irrtums hat aber den Durchbruch zur Dominanz im Denken beider nicht geschafft.

Endlich: Das Thema Mythen!

Jetzt endlich kommen wir in dieser Rezension zu dem eigentlichen Thema von Veynes Büchlein, das im Titel angekündigt wurde, und wegen dessen die meisten Leser dieses Büchlein zu lesen begonnen haben werden – zu Ende gelesen werden es aber nur die wenigsten haben, denn es geht, wie gesehen, zuerst um ganz andere Themen, und dann erst um Mythen.

Leider ist Paul Veyne nicht in der Lage, die bei den Griechen entstehende Mythenkritik angemessen zu würdigen. Denn für Paul Veyne gibt es ja keine Annäherung an eine Wahrheit, und man könne auch nichts lernen, und es würde immer nur ein Wahrheitspalast durch einen anderen ersetzt, ohne Beteiligung der Vernunft. Deshalb wohl macht sich Paul Veyne lustig darüber, dass die Griechen die Frage nach der Wahrheit stellten, und redet von „Denkpolizist“ (S. 76). Die geistige Leistung der Griechen und der kulturelle Fortschritt sind für Veyne nur ein Witz. Er meint in unverständlichen Worten, dass die Kritik am Mythos durch die Transformation der Zeitlichkeit entstand, aber wie das zuging, wolle er eigentlich gar nicht wissen (S. 47). Der Leser ist schockiert: Das ist doch genau sein Thema, und er will es nicht wissen?! An anderer Stelle wendet er sich ebenfalls gegen Versuche, die Mythenkritik zu erklären, weil sie ein Ergebnis vieler Zufälle sei (S. 48 f.). In Fußnote 210 erfahren wir dann, dass sich Paul Veyne Hampl anschließe, demzufolge – angeblich – Mythos, Sage und Märchen nicht unterscheidbar seien. Das ist eine weitreichende Aussage, warum nur in einer späten Fußnote? Und nirgendwo finden wir eine saubere Unterscheidung verschiedener literarischer Gattungen: Sage, Legende, Mythos, Märchen, usw. – Wir sehen, dass sich die Ideologie von Paul Veyne äußerst negativ auf seine Behandlung des Themas auswirkt.

Tatsächlich werden alle Fragestellungen, die man zu Mythen haben kann, bei Veyne in der ein oder anderen Weise aufgeworfen und angesprochen. Doch die Perspektive ist häufig schräg, und es wird selten hinreichend differenziert. Oft wird rabulistisch über die verschiedenen Zeiten hinweggegangen, und viel zu weitreichende Pauschalurteile gefällt („die Griechen glaubten …“). Man könnte immerhin sagen, dass Paul Veyne eine Fundgrube für interessante Gedanken zum Thema Mythen ist. Das ja. Man kann dieses Büchlein zur Anregung lesen, um auf Gedanken zu kommen, auf die man sonst nicht gekommen wäre. Wir zählen nur kurz einige Themen auf, die angesprochen werden:

  • Das mythische vs. das historische Zeitalter.
  • Mythos und Logos seien nicht einfach ein Gegensatz.
  • Glaube variiert in Graden und Formen.
  • Glaube variiert nach sozialer Schicht, Bildung.
  • Glaube variiert je nach Jahrhundert, von Homer bis Pausanias.
  • Text ohne Autor; Tradition schafft Autorität.
  • Mythen haben soziale Funktionen.
  • Kriterium Entmythologisierung: Vergangenheit nicht wunderbarer als Gegenwart.
  • Kriterium Entmythologisierung: Wahren Kern herausschälen.
  • Dass Mythen völlig unwahr sind, also Lüge, hätten „die Griechen“ nicht erkannt.
  • Pausanias mache dann den Schritt zur allegorischen Deutung.
  • Der Entmythologisierer begründet selbst einen neuen Mythos.
  • Mythensammler schufen Kanon, Varianten, verursachten einen Kahlschlag der Varianten.
  • Mythen können Chiffren in diplomatischer Sprache sein.
  • Problem der Entmythologisierung wurde nie gelöst, sondern wurde durch Christentum obsolet.

Paul Veyne kommt immer wieder darauf zurück, dass die Griechen nie erkannt hätten, dass die Mythen einfach Lügen seien (z.B. S. 136). Der Leser fragt sich: Kann man das denn so pauschal sagen? – Immer wieder kommt Veyne darauf zurück, dass die heute gültige, moderne Deutung von Mythen die Deutung als Archetypen sei, also eine psychologisierende Deutung im Sinne von C.G. Jung (z.B. S. 26 f., 39, 75, 94). Doch das ist nur eine mögliche moderne Deutung von vielen! Wie kommt Paul Veyne darauf, dass es nur diese eine gäbe?! – Wiederholt meint Veyne, dass die griechische Skepsis, Rationalität und Geschichtsschreibung nicht so sei wie die unsere (S. 13, 115). Doch in welcher Weise? Das ist doch im Kern sehr zu bezweifeln, dass ihre Rationalität eine völlig andere war als unsere. – Einmal sagt Veyne, dass die Griechen bis zur Entmythologisierung unkritisch gläubig und unkritisch skeptisch gegenüber ihren Mythen gewesen wären (S. 26). Ein andermal sagt er, dass man mit Mythen bis zu Nietzsche und Max Weber unkritisch umgegangen sei. Weder das eine noch das andere kann den Leser überzeugen. Hier wird viel zu wenig differenziert. – Veyne behauptet, dass Hesiod seine Werke frei erfunden und zugleich daran geglaubt habe (S. 42). Das kann er einem gebildeten Menschen nicht erzählen. – Cicero hätte nicht an die Götter geglaubt (S. 65). Das bezweifle ich doch sehr. Es kommt darauf an, was man unter „Glaube“ und unter „Göttern“ versteht. – Autoren, die die Wahrheit von Mythen hochhalten, seien wie Philologen, die die erhaltenen Textstellen eines antiken Textes hochhalten (S. 91). Der Vergleich hinkt schwer.

Platon und Mythen

Geradezu dramatisch ist der Umstand, dass Paul Veyne in einem Werk über antike Mythen allen Ernstes glaubt, Platon auslassen zu können: „Doch überschlagen wir dieses Kapitel, vor dem selbst die kühnsten Kommentatoren zurückschrecken würden“; denn Platon mache alles, er deute Mythen allegorisch, oder mit geschichtlich wahrem Kern, oder er mache sogar eigene Mythen (S. 81). Das ist natürlich gar zu schrecklich, sich mit so einem wetterwendischen Wicht wie Platon zu befassen, das lässt man dann lieber gleich bleiben als Wissenschaftler, nicht wahr? Dass Platon eine absolut zentrale Rolle im antiken Diskurs über Mythen spielt, fällt für Paul Veyne offenbar nicht ins Gewicht. Er spricht diesen Umstand noch nicht einmal aus. Auch wegen dieses kühnen Übergehens von Platon ist Paul Veyne einfach nicht ernst zu nehmen. Dabei ist Paul Veynes Furcht nur allzu verständlich, denn Platon steht für alles, was Veyne ablehnt: Für Vernunft und das Streben nach der Wahrheit.

Durch die Hintertür hat sich Paul Veyne natürlich trotzdem mit Platon befasst. Es finden sich ungefähr zehn Stellen in diesem Büchlein, an denen Veyne auf Platon eingeht. Nur gibt Paul Veyne nicht zu, dass Platon wichtig ist. Offenbar will Paul Veyne Platon „vernichten“, indem er ihn lächerlich macht, systematisch fehlinterpretiert und vor allem ausblendet. Das ist dann fast schon kindisch.

Veyne unterstellt, dass Platon geglaubt habe, dass alle Mythen von Dichtern erfunden worden seien (S. 77). Das ist natürlich Unsinn, aber ganz im Sinne von Veyne. – Platons Diktum, dass man die Unwahrheit der Wahrheit so gut wie möglich nachbilden müsse, deutet Veyne so, dass jede Unwahrheit eigentlich nur eine Ungenauigkeit sei (S. 87). Auch das ist falsch, denn es gibt für Platon auch die klare Unwahrheit, Lüge und Fälschung, die kein Annäherungsversuch an die Wahrheit ist. Aber Veyne, für den es keine echten Fälscher gibt, sieht das natürlich anders. – In Platons Aussage zur Kriegstauglichkeit von Frauen deutet Veyne die Aussage zu den Sauromaten so, als würde Platon die Sauromaten als Kern des Amazonen-Mythos deuten (S. 112 f.; Nomoi VII 806ab). Doch das ist falsch. Es wird nur verglichen, „wie die Sauromatinnen“, aber es findet keine Ausdeutung des Mythos im Sinne von Paul Veyne statt. – An einer Stelle meint Veyne, die Griechen hätten sich nie mit dem Problem der Überlieferung befasst (S. 85). An einer anderen Stelle schreibt Veyne, dass man die Prinzipien der Kritik der Überlieferung bei Platon finden könne (S. 68). – Meistens wird die Zeitlichkeit der Mythen mit der Zeit bis zum Trojanischen Krieg angegeben (S. 11, 55, 92 ff.). An einer Stelle wird die Zeitlichkeit der Mythen jedoch lapidar „platonisch“ genannt (S. 40). Die platonische Vorstellung von Zeit war aber eine ganz andere als die der traditionellen Mythologie, nämlich zyklisch, wie Paul Veyne wiederum an anderer Stelle richtig erkannt hat (S. 64). Auch hier also eine flapsige Ungenauigkeit. Für Paul Veyne ist das aber vermutlich egal, und Flapsigkeit völlig gerechtfertigt, da ja ohnehin alles nicht wahr ist, da ja ohnehin kein Wert auf Vernunft gelegt werden kann, usw. usf.

In Fußnote 5 nennt Paul Veyne das Werk „Greece before Homer: Ancient Chronology and Mythology“ von John Forsdyke 1957 als eine seiner Quellen. Wir haben die Vermutung, dass Paul Veyne sich bei der Abfassung seines Büchleins allzu sehr auf dieses Werk gestützt haben könnte. „Allzu sehr“ nicht im Sinne eines Plagiates, aber in dem Sinne, dass auch bei Forsdyke Platon mehr oder weniger ausgeblendet wird, und dass auch bei Forsdyke eine übertriebene Schwerpunktbildung auf Pausanias zu beobachten ist, ganz wie bei Veyne.

Platons Atlantis

In Fußnote 89 kommt Paul Veyne sehr versteckt auch auf Platons Atlantis zu sprechen. Dort heißt es: „Zu den mythischen Zeitaltern bei Platon (Politik [Politeia] 268-269b; Timaios 21a-d; Gesetze 677d-685e), der sie richtig stellt und nicht mehr oder weniger daran glaubt als Thukydides oder Pausanias, vgl. Raymond Weil, Archéologie de Platon, Paris 1959, S. 14, 30, 44.“

Mit den „mythischen Zeitaltern bei Platon“ ist zunächst nur von Platons zyklischem Geschichtsbild die Rede, auch wenn dies eng mit Platons Atlantis zusammenhängt. Doch mit der Stellenangabe Timaios 21a-d, in der nicht von Zeitaltern sondern von Ur-Athen und Atlantis zu erzählen begonnen wird, und dem Verweis auf Raymond Weil, in dessen Werk es zentral um Platons Atlantis geht, ist der Bezug zu Platons Atlantis dann unmissverständlich hergestellt. Und Platons Auffassung über – unter anderem – Atlantis ist Paul Veyne zufolge also, dass Platon „nicht mehr oder weniger daran glaubt als Thukydides oder Pausanias“.

Wir könnten daraus jetzt ohne weiteres ableiten, dass Paul Veyne glaubt, dass Platon seine Atlantisgeschichte völlig ernst gemeint hat. Ohne weiteres könnten wir sagen, dass Paul Veyne damit gegen die Mehrheit der Historiker und Philologen steht, denenzufolge Atlantis eine Erfindung von Platon ist. – Doch halt! Paul Veyne verwischt ja gerade den Unterschied von Erfindung und Wahrheit. Für Paul Veyne gibt es auch keinen Fälscher, sondern nur verschiedene Wahrheitspaläste – die sich aber allesamt wiederum nur unserer Einbildungskraft verdanken. Die Empirie ist für Veyne vernachlässigbar. Wenn man dies bedenkt, dann ist Paul Veyne natürlich wieder ganz anders einzuordnen. Veyne glaubt vielleicht tatsächlich, dass Platon an Atlantis glaubte, aber Veyne glaubt zur gleichen Zeit auch daran, dass Platon Atlantis erfand. Ganz so, wie Veyne es auch für Hesiod sagt (S. 42). Das ist zwar Unsinn, aber Veynes Meinung. Mit anderen Worten: Paul Veyne hat eine Meinung, die wie ein Pudding ist, den man nicht an die Wand nageln kann. Auch der Verweis auf Raymond Weil ist vielsagend. Denn anders als Paul Veyne, demzufolge Platon daran glaubt, auch wenn er es erfunden hat, ist Raymond Weil ein ganz entschiedener Verfechter der These, dass Platon die Atlantisgeschichte sehr bewusst erfunden hat.

Immerhin können wir trotz allem eines ganz klar festhalten: Paul Veyne glaubt gewiss und sicher daran, dass Platon an seine Atlantisgeschichte glaubte. Veyne glaubt zwar zugleich auch, dass Platon die Atlantisgeschichte erfand, doch ändert das nichts daran, dass Paul Veyne sich in ganz klarem Widerspruch zu den meisten Historikern, Philosophen und Philologen befindet, die meistens der Auffassung sind, dass Platon die Atlantisgeschichte sehr bewusst erfunden hat. Wenigstens diesen Widerspruch zur vorherrschenden Meinung können wir aus der Meinung von Paul Veyne herausdestillieren. Da gibt es nichts zu rütteln.

Merken wir noch an, dass Paul Veyne seine Meinung über Atlantis säuberlich in eine Fußnote versteckt hat, und auch innerhalb dieser Fußnote nur implizit durch einen Stellenverweis auf Platons Timaios und den Literaturverweis auf Raymond Weil deutlich werden lässt. Offenbar war es Paul Veyne unangenehm, seine eigene Ideologie auf das Thema Atlantis angewendet zu sehen. Er hätte ja auch ganz einfach explizit schreiben können: Platon glaubte an Atlantis und erfand es zugleich, so wie er es bei Hesiod ja auch macht. Aber vermutlich fürchtete er, es könne ihn jemand beim Wort nehmen: „Platon glaubte an Atlantis“, ohne den ganzen Wahnwitz seiner Ideologie zu erfassen: „und erfand es zugleich“. Es ist doch immer wieder interessant, was Wissenschaftler zum Thema Atlantis nur in Fußnoten zu schreiben wagen.

Formale Kritik

Da wir jetzt schon soviel Text in diese Rezension investiert haben, sollten wir auch vor einer Kritik formaler Aspekte nicht zurückschrecken. Wie viele Autoren hat Paul Veyne zahlreiche Informationen in Fußnoten gepackt, die man gerne im Haupttext gesehen hätte. Angenehm ist aber, dass die Fußnoten nicht für jedes Kapitel, sondern für das ganze Buch durchgängig nummeriert sind. Das erleichtert den Umgang mit ihnen erheblich. Andererseits sind die Fußnoten leider nicht als Fußnoten gesetzt, sondern am Ende des Buches als Endnoten gesammelt. Das erschwert die Arbeit mit ihnen wiederum deutlich.

Einige Kapitel sind mit Überschriften versehen, in denen thematisch etwas ganz anderes zur Sprache kommt, als die Überschrift erhoffen lässt. Es gibt bei Veyne zahlreiche Wiederholungen von Aussagen, was ein Hinweis darauf ist, dass er sein Buch nicht hinreichend durchstrukturiert hat.

Der deutsche Übersetzer hat einige Fehler begangen. So schreibt er z.B. Titus-Livius und Sextus-Empiricus mit Bindestrich. Euhemeros wird zu Ephemerios – wie ephemer? – und Euhemerismus zu Ephemerismus. Auf S. 138 wurde statt mit DNA mit ADN übersetzt.

Wertvolle Gedanken

Es gibt auch einige wenige wertvolle Gedanken in Paul Veynes Büchlein. Die Frage, woher der Brauch kam, seine Quellen anzugeben, wird mit der Kontroverse beantwortet (S. 22 f.). Die Konkurrenzsituation ist es, die den Autor zwingt, seine Belege anzugeben. Das ist auch ganz mein Gedanke zu Herodot: Herodot war deshalb nicht konsequent in der Anwendung seiner Methode (zu der allerdings mehr gehört als nur Quellen anzugeben), weil er noch außer Konkurrenz stand. Thukydides verzichtet allerdings noch weit mehr auf Quellenangaben.

Das Wissen darum, dass man etwas wissen kann, genügt bereits, um dorthin zu gelangen (S. 112). D.h. es gibt zumindest im Prinzip kein unerreichbares Wissen, das nur Privilegierten und Eingeweihten offensteht. – Der Zweck eines Studiums besteht nicht nur darin, die Inhalte eines Fachs zu lernen, sondern auch darin, den Autoritätsglauben bezüglich dieses Faches abzulegen (S. 114). Im Idealfall ja. – Schließlich der Gedanke, dass die Naturwissenschaften grundsätzlich auch nicht seriöser sind wie die Geisteswissenschaften, weil der Umgang mit „Fakten“ kein Erkenntnisprivileg bedeutet, denn auch Fakten müssen interpretiert werden (S. 139).

Schluss

Dies ist ein richtig schlechtes Buch, das das gewählte Thema nicht nur für die Darlegung einer abseitigen Ideologie missbraucht, sondern auch das Thema selbst schlecht darstellt. Statt etwas über Mythen zu erfahren, wird der Leser im Laufe der Lektüre immer tiefer in eine ideologische Wahnwelt verstrickt und hat das Gefühl, einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden. Im Grunde ist es geradezu frech, was Paul Veyne hier vorgelegt hat. Es ist gewissermaßen das Paradebeispiel für ein Produkt der Geisteswissenschaften, das diese wie „Geschwätzwissenschaften“ aussehen lässt. Paul Veyne ist bestallter Professor und wird vom Steuerzahler bezahlt – da hätte man sich etwas mehr Ernsthaftigkeit und Qualität schon erwarten können. Fehlt Paul Veyne der Bezug zu den arbeitenden Menschen, die seinen Posten finanzieren?

Fast kann Paul Veyne einem leid tun. Was für ein Selbstbild muss ein Mensch haben, der die Welt so zynisch sieht, dass Vernunft und Wahrheit und Moral absolut gar nichts zählen, sondern nur und ausschließlich Zufälle, Interessen und der Wille der Macht? Oder ist Paul Veyne ein Blender? Müssen wir dieses Machwerk als den „Willen zur Macht“ und als das „Interesse“ von Paul Veyne interpretieren? Oder ist es beides: Paul Veyne glaubt diese Dinge wirklich, aber er hat sie zugleich auch erfunden. Im Sinne der Ideologie dieses Büchleins wird es wohl beides sein, so wie Paul Veyne es auch von Hesiod glaubt (S. 42). Wir erinnern erneut an die oben gezogene Parallele zu Erich von Däniken.

Da ist es tröstlich, wenn wir in diesem Büchlein wenigstens Spuren finden, die uns erahnen lassen, dass Paul Veyne nicht ungebrochen an den Unfug glaubt, den er uns hier aufgetischt hat. Diese Spuren könnten Ansätze zur Heilung von Paul Veyne sein, damit die Einsicht in ihm wächst, dass er auf dem Holzweg ist, und dass sein Büchlein leider nur den Geist der Holzsprache atmet. Wir erwarten Paul Veyne zurück auf dem Pfad der Menschlichkeit, der Vernunft und der ewigen Suche nach der einen Wahrheit.

* * *

Die genannten Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Ausgabe.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Atlantis-Scout im September 2020)

Bibliographie und externe Links

Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft, übersetzt von Markus May, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987. Original: Les Grecs ont-ils cru à leurs mythes? Essai sur l’imagination constituante, Éditions du Seuil, Paris 1983. Englisch: Did the Greeks believe in their Myths? An essay on the Constitutive Imagination, translated by Paula Wissing, The University of Chicago Press, Chicago / London 1988.

Französische Originalversion, teilweise zugänglich:
https://books.google.de/books?id=ZX6BAAAAQBAJ&pg=PT1
Englische Version, teilweise zugänglich:
https://books.google.de/books?id=EpbZLRPGgBsC&hl=de&pg=PP1
Deutsche Version, nicht zugänglich:
https://books.google.de/books?id=q3iYAAAACAAJ

Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller, Postmodernismus: Status quo einer philosophischen Strömung. Einleitung – Überblick der Beiträge, in: Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller (Hrsg.), Kritik der postmodernen Vernunft – Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt WBG, Darmstadt 2007; S. 7-28.

Simon Goldhill, Review of: Paul Veyne, Did the Greeks Believe in their Myths? An Essay on the Constitutive Imagination, translated by Paula Wissing, University of Chicago Press, 1988, in: The Classical Review Vol. 40 Issue 1 (April 1990); S. 172.

Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Veyne

books & ideas: The Curious Monsieur Veyne
https://booksandideas.net/The-Curious-Monsieur-Veyne.html

Samira El Ouassil & Friedemann Karig: Erzählende Affen – Mythen, Lügen, Utopien – Wie Geschichten unser Leben bestimmen (2022)

Die links-ideologische Bildungsillusion hinter dem aktuellen Zeitgeist

Der Leser erwartet sich von diesem Buch – nach einem kurzen Blick auf Titel, Klappentext und Inhaltsverzeichnis – eine hilfreiche Aufklärung über das Phänomen der Narrative, d.h. über die Kraft und die Macht von Erzählungen: Wie wirken sie? Warum wirken sie? Wie können wir sie zum Guten nutzen? Was können wir gegen Missbrauch tun? Und das im Kontext der neuen sozialen Medien?

Doch das ist nur der Köder, mit dem der Leser eingefangen werden soll. Es geht um etwas ganz anderes. Weil dieses Buch auf den ersten Blick so sympathisch daher kommt, weil es den aktuellen Zeitgeist in manchen Milieus so gut trifft, und weil es eine weite Verbreitung gefunden hat – selbst Denis Scheck hat es empfohlen – lohnt es sich, dieses Buch sehr gründlich zu besprechen. Denn es ist gefährlich und böse.

Der Inhalt

Alles beginnt recht erfrischend und informativ. In der ersten Hälfte des Buches erfährt der Leser sehr viele Dinge aus der Welt der Geistes- und Naturwissenschaften über Literatur, Narrative und ihre Wirkung. Dazu gehört das Ur-Narrativ der klassischen „Heldenreise“, aber auch typische Denkfehler und Denkfallen, sowie Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie. Vieles davon hat man selbst schon irgendwo gelesen, manches aber nimmt man gerne neu in seinen Wissensschatz auf. Die Autoren schreiben aus Überzeugung und mit großer Lebendigkeit.

Etwas unangenehm fallen allerdings viele sachliche Fehler und schiefe Perspektiven auf, die jedoch vereinzelt bleiben. Befremdlich wirkt mit der Zeit auch, wie die Autoren den Leser non-stop mit vorgefertigtem Wissen füttern, Häppchen für Häppchen, wie in einem Was-ist-Was Buch: Seite für Seite werden immer neue Autoren und ihre Werke aufgezählt, und was sie zu diesem oder jenem Thema zu sagen haben. Dennoch: Die erste Hälfte des Buches kann noch viel Sympathie einfangen, und der Leser glaubt vielleicht noch, dass die Irrtümer nur unverbundene Einzelfälle wären.

Spätestens in der zweiten Hälfte des Buches wird dann klar, wohin die Reise geht, nämlich hinein in das gigantisches Rabbit Hole jener irrigen Ideologien, die aktuell unseren Zeitgeist beherrschen. Der Leser soll sichtlich Schritt für Schritt in dieses Rabbit Hole hineingeführt werden. Es hat seine eigene Ironie, dass die Autoren dieses Buches selbst davor warnen, in irgendein narratives Rabbit Hole abzugleiten (S. 303), denn genau das haben sie mit dem Leser vor.

In aller Kürze geht es um folgendes (mehr dazu im Einzelnen unten): Die Menschheit befindet sich, so die Autoren, kurz vor dem Untergang. Die Klimakatastrophe wird in allerschwärzesten Farben gemalt. Hinzu kommen Rassismus und Hass. Schuld an der Misere haben der Kapitalismus und das Patriarchat. Und falsche Narrative. Deshalb werden die traditionellen Narrative analysiert und hinterfragt. Die Autoren glauben, dass eine Änderung der Narrative die Rettung in Form einer radikalen, großen Transformation der Gesellschaft bringen wird. Wir brauchen, so die Autoren, neue Erzählungen von vernetzten Heldinnen, nicht von einzelnen Helden, und wir brauchen neue Erzählungen von schlimm-schrecklichen Öko-Katastrophen aller Art, sowie natürlich neue Erzählungen von paradiesischen Öko-Utopien in der Zukunft, garniert mit sozialistischer Gleichheit für alle Menschen und „fluider“ Geschlechtsidentität für alle Kinder im Sinne der woken Identitätspolitik.

Ideologie statt Bildung

Eines fehlt in diesem Buch penetrant: Nämlich der Gedanke, wie man überhaupt erst herausfindet, welche Narrative wahr und welche falsch sind. Dabei wäre das doch die erste und entscheidende Frage, die geklärt werden müsste! Also die Frage nach der skeptischen Vernunft und nach der philosophischen Methode, mit der wir uns im Dschungel der Narrative orientieren können. Doch diese Frage wird das ganze Buch über konsequent nicht gestellt. Im Gegenteil: Die Autoren gehen Seite für Seite mit größter Autorität davon aus, dass sie immer bereits wissen, was wahr und richtig ist. In diesem Sinne werden auch die vielen Autoren und ihre Werke Seite für Seite präsentiert und ihre Thesen vorgestellt: Nämlich so, wie wenn sie uns die reine Wahrheit offenbaren würden. Nirgends findet sich eine Präsentation verschiedener Sichtweisen, nirgends eine Abwägung verschiedener Argumente, nirgends eine Einschränkung, dass man einem Autor nur teilweise folgt. Und die Antwort auf die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet und ihn befähigt, Probleme zu lösen, lautet in diesem Buch explizit nicht „Vernunft“, sondern „Narrative“ (S. 471 f.).

Hier zeigt sich die ganze Bildungsillusion derer, die dem aktuellen Zeitgeist anhängen: Sie kennen so viele Autoren und haben so viele Bücher gelesen, aber sie lesen sie, als ob es scholastische Autoritäten des Mittelalters wären, denn sie haben offenbar das eigene Denken nicht gelernt. Dabei gäbe es zu jedem Thema tausend Varianten und Nuancen, wie sich eine eigene Meinung entwickeln könnte! Doch dieses Buch bleibt völlig stromlinienförmig und konform bei den Aussagen der zitierten autoritativen Autoren. Wo gibt es denn sowas?! Damit müssen wir leider das Urteil fällen, dass die Autoren dieses Buches nicht wirklich gebildet sind. Die Kenntnis von „Gelesenem“ ist immer nur Anfang und Grundlage von Bildung. Sich dazu seine ganz eigenen Gedanken gemacht zu haben, quer zu allen Autoritäten, ist jedoch die wahre Bildung. Und daran fehlt es hier dramatisch.

Andersdenkende und alternative Meinungen kommen in diesem Buch immer nur als Verführte vor, die sich von falschen Narrativen zu Verschwörungstheorien haben verleiten lassen. Das Recherchieren im Internet, ob eine Story stimmt oder nicht stimmt (wahrlich eine der Segnungen unserer Zeit für alle denkenden Menschen!), wird in diesem Buch verächtlich in Anführungszeichen geschrieben: „Recherchieren“ (S. 301). – Und wenn die Andersdenkenden keine verführten Seelen sind, dann sind es Bösewichte, die wider besseren Wissens gegen die Wahrheit reden, z.B. „Zweifelhändler“ im Auftrag der Ölindustrie gegen das Narrativ der großen Klimakatastrophe (S. 235 ff.). Auf diese Weise verschließen sich die Autoren aber gegen jede Kritik und gegen jeden Diskurs. Sie gehen nie auf Argumente ein. Das ist weder gebildet, noch aufgeklärt, noch vernünftig, noch demokratisch. So mancher Leser wird vielleicht auf Antworten gehofft haben, wie eine demokratische Gesellschaft mit dem Chaos der verschiedenen Narrative im Spannungsfeld von Freiheit und Lüge umgehen soll. Doch diese Frage erübrigt sich unter der dogmatischen Perspektive dieses Buches vollständig.

Zudem werden alle Argumente ideologisch „enggeführt“. Das bedeutet, dass alles immer dermaßen auf die Spitze getrieben wird, dass stets nur Radikalität als Ausweg bleibt. Nie ist davon die Rede, dass es sich lediglich um worst-case-Szenarien handelt, die wahrscheinlich niemals eintreten. Nie wird die alte Erfahrung reflektiert, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Szenarien werden als Prognosen fehlinterpretiert und Risiken stets auf die Spitze getrieben. Die Unfähigkeit zum vernünftigen Umgang mit Risiken ist aus der Öko-Szene wohlbekannt. Aber auch Rechtsradikale handeln so, wenn sie z.B. mit Scheuklappen vorrechnen, dass sie „nur noch zehn Jahre Zeit“ haben, um die angeblich drohende finale Überfremdung ihres Landes zu stoppen. Doch diese auf die Spitze getriebenen worst-case-Szenarien und Risiko-Erwartungen sind grundfalsch und völlig unrealistisch. Mit diesem Mindset wird jeder Gang vor die Tür zum lebensgefährlichen Risiko. Zuletzt erlebten wir diesen irrigen Umgang mit Risiken in der Corona-Krise, wo Maßnahmen und Risiken oft in keinem guten Verhältnis mehr zueinander standen. So geht es in diesem Buch Seite für Seite zu, und nicht zufällig schlägt sich dieses Buch en passant auf die Seite derer, die überstrenge Corona-Maßnahmen befürworteten.

Unwahrhaftigkeit und Manipulation

Hinzu kommt, dass die Autoren dieses Buches immer wieder bei offensichtlichen Unwahrheiten ertappt werden können. Ob es die völlige Negierung der Wahrheit in der Geschichte der 300 Spartaner ist, oder die Verdrehung eines Zitates von Sebastian Haffner über die Selbstlosigkeit der Deutschen in sein Gegenteil (siehe Details unten): Es sind zu viele Fälle, um noch glauben zu können, dass die Autoren es ernst mit ihren Lesern meinen. Hierher gehört auch die weichgespülte Darstellung des Wokismus, der angeblich lediglich auf Gleichberechtigung und Toleranz aus sei, oder das Verschweigen der ideologischen Hintergründe dieses Buches, die nie offen angesprochen werden sondern immer nur in Andeutungen zum Ausdruck kommen, wie z.B. linksradikale politische Vorstellungen oder die postmoderne Philosophie und ihre radikalen Thesen. Nicht zuletzt ist hier auch der Aufbau des Buches als einer schrittweisen Einführung in ein ideologisches Rabbit Hole zu nennen. Es ist fast wie die Initiation in eine Geheimsekte, in der auf jeder Einweihungsstufe mehr über die wahren Inhalte der Sektenlehre verraten wird. Es ist offensichtlich, dass die Autoren die Leser nicht von Anfang an offen informieren, sondern Schritt für Schritt auf ein Ziel hin manipulieren wollen.

In Zusammenhang mit der fehlenden Vernunft und Wahrhaftigkeit wird dann auch der Titel des Buches im Laufe der Lektüre immer fragwürdiger: „Erzählende Affen“. Denn der Mensch wird in diesem Buch durchgängig als erzählender Affe angesprochen, den es zu „zähmen“ gelte (S. 480). Wie wenn der Mensch keine Vernunft hätte. Von Vernunft ist nie die Rede. Es wird immer nur über Narrative gesprochen, mit denen man die Menschen unterschwellig zu einem gewünschten Verhalten bewegen möchte. An einer Stelle ist auch von Moral und Ehre als Motivation die Rede: Aber nur im Sinne eines Gesichtsverlustes! (S. 463) Wie wenn Menschen nicht auch aus einer inneren Moral heraus richtig zu handeln imstande wären, sondern immer nur zur Vermeidung eines Gesichtsverlustes. Was für ein Menschenbild ist das? Sind wir wirklich nur Affen, die Narrative nachplappern? Die keine Moral kennen, sondern nur die Angst vor Strafe? Haben wir nicht Vernunft und können wir nicht Argumente abwägen? Sind wir nicht souveräne, verantwortungsbewusste Bürger eines demokratischen Staates?!

Gewiss, die Psychologie spielt uns manchen Streich und die Vernunft hat es oft schwer. Dennoch hat uns die Vernunft dazu geführt, solche überaus komplexen Problemlösungen wie z.B. Demokratie, Marktwirtschaft, Wissenschaft und moderne Technik hervorzubringen. Man sollte die Vernunft also nicht unterschätzen. Der Mensch ist definitiv mehr als nur ein erzählender Affe, und er verdient es, gemäß seiner Würde als Mensch ernst genommen zu werden. Die Autoren dieses Buches kritisieren den Erfinder der „Public Relations“ Edward Louis Bernays scharf, weil er ein zynisches Menschenbild hatte, demzufolge die Menschen eine Herde sind, die gelenkt werden muss (S. 222). Und sie zitieren Hannah Arendts Kritik an den Mächtigen, die glauben, die Menschen mit psychologischen Tricks manipulieren zu können (S. 231). Aber sie selbst wollen ganz offenbar nichts anderes.

Den Menschen überwinden

Zum Ende des Buches hin gehen die Autoren sogar noch einen Schritt weiter. Zum Schluss stellen die Autoren fest, dass es gar nicht darum geht, eine neue Erzählung zu finden, in der der Mensch zu einem „guten“ Protagonisten im Einklang mit seiner Umwelt wird. Sondern es gehe darum, dass der Mensch selbst der Antagonist der Natur sei, d.h. der inhärente Feind der Natur (S. 475). Damit sind wir in der tiefsten Höhle des Rabbit Hole angelangt: Denn die Überwindung des Menschen ist das Anliegen der Postmoderne, und die postmoderne Philosophie von Foucault & Co. liegt diesem ganzen falschen Denken natürlich zugrunde. Und wie immer in solchen Büchern wird das Ziel der Überwindung des Menschen nur auf den letzten Seiten angedeutet. Es wird nie ausformuliert, was es konkret heißen soll. Die Richtung ist aber klar.

Philosophisch ist die Aufgabe der menschlichen Perspektive völliger Unsinn und gefährlich. Der Mensch kann sich nicht aus seiner eigenen Perspektive lösen. Eine Landschaft wird immer nur durch das Auge des Betrachters schön. Ohne das Auge des Betrachters ist niemand da, der eine Landschaft schön finden könnte. Der Mensch kann sich nicht selbst aus dieser Rechnung herausnehmen. Diese Welt hat entweder einen Sinn mit und für den Menschen, oder sie hat eben keinen Sinn für den Menschen. Wozu sollte ein Mensch Rücksicht auf die Natur nehmen, wenn er selbst aus dem Spiel herausgenommen wird? Ohne den Menschen ist die Natur eine öde Gegebenheit ohne Sinn und Schönheit. (Zumal für unsere Autoren, die aus ihrem Materialismus keinen Hehl machen, dazu weiter unten mehr.) Und überhaupt: Wie weit will man darin eigentlich gehen, den Menschen als inhärent böse anzusehen und ihn deshalb aus dem Spiel zu nehmen?

Verdeutlicht wird dieser Schwenk in der Deutung des Menschen vom Protagonisten zum Antagonisten anhand der Ilias des Homer: Hier ginge es angeblich um Gewalt, und zwar um maßlose Gewalt. Und so sei der Mensch eben, und deshalb sei der Mensch selbst das Problem (S. 473-475). Man stelle sich vor: Homers Ilias als „Beleg“ für diese Wahnsinnsthese! Und das von Autoren, die sich für literarisch gebildet halten: Ha! Denn die Ilias ist nicht nur das erste und zentrale literarische Werk der mittelmeerischen Kulturen, sondern ein Werk, dessen Kulminationspunkt eben gerade nicht (!) die maßlose Gewalt ist, sondern die Erkenntnis – in der Begegnung von Priamos und Achill – dass auch der Feind ein Mensch ist und Empathie verdient, wie auch Hannah Arendt einst herausstrich. Wie konnten die Autoren das nur übersehen!

Damit ignorieren sie 3000 Jahre humanistische Kultivierung des Menschen hin zu Vernunft und Empathie. Statt dessen räumen sie Vernunft, Diskurs, Aufklärung, Humanismus, Empathie im Rahmen ihres postmodernen Wahnes einfach komplett ab, und setzen ganz auf die Manipulation des „erzählenden Affen“ durch Narrative, von deren „Richtigkeit“ die Autoren dogmatisch überzeugt sind. Wie jämmerlich. Fast möchte man den Umstand, dass die Autoren dieses Buches ausgerechnet an der Deutung von Homer, der Grundfeste der klassischen humanistischen Bildung, gescheitert sind, als ein prophetisches Zeichen deuten: Am Ende werden Vernunft und Bildung obsiegen, und das Reich der erzählenden Affen wird untergehen.

Es gibt keine Wahrheit

Zum postmodernen Denken gehört natürlich auch die Überzeugung dazu, dass es so etwas wie Wahrheit im Grunde gar nicht gibt, und die Frage nach der „Wahrheit“ durch Machtspiele entschieden wird: Es gilt das Recht des Stärkeren. Es gibt keine wahren Narrative, die man durch Nachdenken finden könnte, sondern nur Narrative, die sich durchsetzen. Die Autoren sprechen das nie so explizit aus, aber diese Ideologie zeigt sich in allem.

Deshalb wird in diesem Buch gar nicht erst nach Wahrheit gesucht. Deshalb wissen die Autoren immer schon autoritativ, was „richtig“ ist. Und tatsächlich schreiben die Autoren dieses Buches, dass das Erzählen des Menschen von jeher zwischen Wahrheit und Fiktion changiert habe, und sie fügen hinzu, dass wir uns im Laufe der Zeit kaum verändert hätten (S. 226). Dass sie damit ein unglaublich zynisches und antihumanistisches Menschenbild bedienen, fällt ihnen nicht auf! Ist es nicht Teil der menschlichen Bildung und Aufklärung, sich so gut es geht über die bloßen Reflexe zu erheben und nach Wahrheit zu streben, auch wenn sie nicht gefällt? Der gebildete Mensch weiß, dass es keine gute Idee ist, die Wirklichkeit zu ignorieren, weil man sonst früher oder später unsanft mit der Wirklichkeit zusammenstoßen wird. Aber schlimmer noch: Die Autoren dieses Buches zitieren selbst Viktor Klemperers Kritik am Nationalsozialismus mit den Worten: „Entthronung der Vernunft, die Animalisierung des Menschen, die Verherrlichung des Machtgedankens“ (S. 284) In diesen Spiegel sollten die Autoren dieses Buches einmal selbst schauen. Sie selbst führen auch Timothy Snyder an: „Wenn nichts wahr ist, dann kann niemand die Macht kritisieren“ (S. 293) Aber um die Frage nach der Wahrheit kümmern sich die Autoren das ganze Buch hindurch nicht.

Es ist kein Zufall, dass die Autoren am Ende ihres Buches das Bild von der blauen und der roten Pille verwenden (S. 477), das sie in vorigen Kapiteln immer als Symbol von üblen Verschwörungstheorien gedeutet hatten, deren Anhänger glauben, mehr zu wissen als andere: Denn nun sind es die Autoren dieses Buches selbst, die von ihren Lesern die Entscheidung verlangen, die rote Pille zu schlucken, ihre Ideologie zu glauben und sich „erweckt“ (woke) zu fühlen.

Fazit

Wer wissen möchte, welches falsche Denken und welche falschen Gedankeninhalte zur Zeit in den Köpfen vieler linker Zeitgenossen ihr Unwesen treiben und auf diese Weise unsere Kultur Schritt für Schritt zerstören, der ist mit diesem Buch gut bedient. Wohl kaum an einer anderen Stelle wird das ganze Spektrum dieses ideologischen Irrsinns so breit entfaltet wie hier. Thema für Thema werden viele jener Autoren aufgezählt, denen wir den jeweiligen Irrsinn zu verdanken haben. Allerdings bleiben die eigentlichen Urheber, wie z.B. Judith Butler oder die postmodernen Philosophen, unerwähnt. Hinzu kommt die Unwahrhaftigkeit der Autoren dieses Buches und ihre manipulative Absicht.

Dieses Werk ist ein eindrückliches Zeugnis jener links-ideologischen Bildungsillusion, die aktuell unseren Zeitgeist bestimmt. Und das, was in diesem Buch konsequent fehlt, macht sich dem kundigen Leser geradezu schreiend als schmerzliche Lücke deutlich: Echte Bildung! Echte klassische, humanistische, aufgeklärte Bildung. Gut, dass wir auf diese Weise daran erinnert wurden, was Bildung ist und welchen Wert sie hat.

Einzelnes

Im folgenden werden wir einzelne Aspekte aus der schier unendlichen Fülle von Irrtümern dieses Buches herausgreifen, thematisch sortieren, und mit Seitenzahlen versehen näher beleuchten, damit Interessierte es leichter haben, sich selbst ein Bild zu machen.

Die Macht der Narrative

Die Autoren überschätzen die Macht und die Kraft von Narrativen maßlos. Sie glauben allen Ernstes, dass sie durch die richtigen Narrative erreichen könnten, dass freie Menschen deutliche Wohlstandsverluste zugunsten eines fragwürdigen Klima-Narrativs hinnehmen werden (S. 398, 467, 477). Sie bemerken nicht, wie unrealistisch das ist, selbst wenn das schwarzmalerische Klima-Narrativ überzeugender wäre, als es tatsächlich ist. Gleichzeitig berichten die Autoren, dass immer noch 20-50% der Bevölkerung mehr oder weniger an Astrologie glauben (S. 427). Das ist dieselbe Bevölkerung, von der die Autoren glauben, sie wäre mit veränderten Narrativen zu großen Verzichtsleistungen bereit.

Aber die Autoren glauben ja auch, dass man das Wesen von Mann und Frau drastisch verändern könnte, wenn man nur die Narrative ändert, und so auch die Monogamie überwunden werden könnte (siehe später). Sie glauben auch, dass „selbst bisher von Ideologien unbeeindruckte Menschen“ in das Rabbit Hole einer Verschwörungstheorie hineinstolpern können (S. 303). Doch das ist nur im Einzelfall richtig, in der Tendenz jedoch falsch. Es gibt durchaus eine innere Immunität gegen falsche Narrative, nämlich Bildung und Bodenständigkeit. Aber von Bildung und Bodenständigkeit verstehen die Autoren dieses Buches nicht viel.

Die Autoren dieses Buches meinen, dass der „erzählende Affe“ lernen müsste, mit Komplexität und Uneindeutigkeit umzugehen, und Verschiedenheiten mit Ambiguitätstoleranz zuzulassen (S. 443 f.). Damit ist an dieser Stelle allerdings nicht die Toleranz in einer Demokratie gemeint. Zur Toleranz in der Demokratie haben die Autoren eine ganz andere Meinung, siehe unten. Was sie hier meinen, ist, dass der Mensch lernen muss, in unsicheren Verhältnissen zu leben, in denen es normal ist, dass alles Gewohnte wegbricht. Doch das ist utopisch. Vielmehr wird umgekehrt ein Schuh daraus: Gerade dann, wenn Menschen sich sicher fühlen, gerade dann sind sie besonders bereit dazu, sich zu öffnen und tolerant zu sein. Die Vorstellung, dass man den Menschen alles wegnimmt und ein großes Babylon erschafft, und sich daraufhin die radikal verschiedenen Menschen friedlich um ein gemeinsames Lagerfeuer scharen, ist utopisch. Babylon funktioniert nur als Diktatur. Darauf hatte schon Helmut Schmidt hingewiesen.

Die Klimakatastrophe

Die Autoren beginnen ihr Buch mit der Erklärung: „Wir sind uns darüber im Klaren, dass unsere Welt ungerecht ist und schlichtweg langsam kaputtgeht“, und: „Unsere epische Entwicklung als Spezies stellt uns vor die größte Herausforderung unserer Geschichte: die fortschreitende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.“ (S. 18 f., 20). An anderer Stelle werden alle möglichen Wetterkatastrophen aufgezählt und pauschal als Folgen des Klimawandels gedeutet (S. 447), so wie es uns der öffentlich-rechtliche Journalismus in seiner Qualitätslosigkeit ständig vorführt. Auch die Klima-Kipppunkte werden als wissenschaftlich gesichertes Argument genannt (S. 391), obwohl nur eine Minderheit von Wissenschaftlern vor Klimakipppunkten warnt.

Die Bilder eines brennenden Gaslecks im Ku-Maloob-Zaap-Komplex des staatlichen Energiekonzerns Pemex im Golf von Mexiko vom Juli 2021 werden hysterisch dramatisiert: „ein kreisrundes Inferno, von Menschen gemacht, aber von Menschen kaum mehr beherrschbar“ (S. 470). In Wahrheit wurde das Leck nach wenigen Stunden erfolgreich verschlossen. Niemand wurde verletzt, es musste nicht einmal jemand in Sicherheit gebracht werden. Es entstand auch kein Ölteppich. – Auch der Fleischkonsum wird ins Extrem gezogen: Tiere würden gequält, Tiere würden willkürlich getötet, und Fleischkonsum sei generell unsozial, klimaschädlich und hochsubventioniert (S. 464). Dass der Mensch für eine ausgewogene, natürliche Ernährung auch Fleisch benötigt, bleibt hingegen ungesagt.

Schließlich wird auch die These verbreitet, der Klimawandel wäre am Auftreten von Corona schuld. Angeblich würde der Klimawandel dazu führen, dass immer mehr Tiere ihren angestammten Siedlungsraum verlassen. Das würde zu Stress führen, und der Stress mache die Tiere anfälliger für Viren (S. 449-452). Obwohl die Autoren anfangs auch einen Laborursprung des Corona-Virus für möglich hielten (S. 448), schreiben sie nur wenige Seiten später über die Corona-Pandemie: „Wir wissen sehr genau, wie wir sie uns eingehandelt haben, wir kennen die Auslöser“ (S. 452), nämlich den Klimawandel. So geschieht es in diesem Buch oft: Erst wird der Anschein der Offenheit erweckt, doch dann wird rigoros auf eine dogmatische Linie eingeschwenkt.

Die These vom Klimawandel als Ursache der Corona-Pandemie ist jedenfalls Unfug. Denn der Klimawandel setzt den Tieren derzeit noch kaum zu. Vielmehr sind es Vorgänge wie z.B. Abholzung, unter denen die Tiere womöglich leiden. Schließlich kommt hinzu, dass Viren vor allem dort auf den Menschen überspringen, wo illegal Wildtiere gefangen und verzehrt werden. Diese traditionelle Sitte ist wesentlich eher verantwortlich für das Überspringen von Viren als alles andere. Schließlich gab es auch in der Vergangenheit immer wieder Pandemien, und das ganz ohne menschengemachten Klimawandel: Ob Spanische Grippe, Asiatische Grippe, Hongkong-Grippe oder Schweinegrippe, Aids nicht zu vergessen – es ist normal, dass es ab und zu eine Pandemie gibt, genauso wie es normal ist, dass es in einem naturbelassenen Wald ab und zu einen Waldbrand gibt. Aber diese einfachen Wahrheiten will man nicht hören. Die Autoren ziehen folgendes Narrativ vor: Es sei so, als hätte die „Wirtschaft“ beschlossen, „den mit Coronaviren und anderen Krankheitserregern gefüllten Behälter in die Höhe zu heben und die ganze Ladung anschließend über sich selbst zu vergießen.“ (S. 452) Das ist irrationale Panikmache pur!

Lösungsvorschläge zur Klimakatastrophe

Konkrete Lösungsvorschläge zur Klimaproblematik gibt es in diesem Buch fast keine. Der Schwerpunkt wird woanders gesetzt: Der gegenwärtige Zustand der Menschheit sei suizidal, und deshalb seien nicht irgendwelche Öko-Utopien utopisch, sondern im Gegenteil sei vielmehr der aktuelle Zustand der Menschheit die böse Utopie, die es um jeden Preis zu vermeiden gelte. Und deshalb sei jede Öko-Utopie, und sei sie noch so unwirklich, besser, als nichts zu tun (S. 468-470). Ja, in der Tat: So flach und so klischeehaft gehen die Autoren vor, man glaubt es kaum. Dieses Buch schafft es tatsächlich, dass sich jedes Vorurteil gegenüber Öko-Utopisten in ein wohlbestätigtes Urteil verwandelt.

An einer einzigen Stelle wird kurz der „endgültige Umstieg auf erneuerbare Energien“ beschworen, also Sonne und Wind allein (S. 465). Dass das aus rein technischen Gründen gar nicht geht (Dunkelflaute, Flächenbedarf, Speichermangel, Wandlungsverluste bei Wasserstoff, usw. usf.) haben die Autoren dieses Buches nicht begriffen. Es wird nirgends explizit gesagt, aber alles läuft auf ein gigantisches Degrowth-Programm von Verbot und Verzicht hinaus. Die Idee, dass Technologie uns retten könnte, wird explizit als Märchen verworfen (S. 365). Von Atomkraft ist gar nicht erst die Rede. Mit keinem Wort. Dieses viele Schweigen und die eingeschlagene Richtung lässt wenig Raum für Spekulation, was die Autoren tatsächlich wollen: Die Rückkehr in vorindustrielle Zustände. Mindestens.

Nicht zufällig wird explizit die Parallele zwischen der Corona-Pandemie und der Klimakatastrophe gezogen (S. 447, 456 f.; um S. 466). Die Autoren dieses Buches meinen, dass man in beiden Fällen der Wissenschaft hätte folgen müssen. Wie wenn sie von der Gewaltenteilung zwischen Wissenschaft und Politik nie etwas gehört hätten: Wissenschaft berät, aber Politik wägt ab und entscheidet. Dass „die Wissenschaft“, so wie sie von Politik und Medien beschworen wurde, weder die Wissenschaft in ihrer Breite war, und dass die real existierende „wissenschaftliche Beratung“ in der Corona-Pandemie mangelhaft etabliert war und eine ganze Reihe von schwerwiegenden Irrtümern beging, bleibt ebenfalls ungesagt. In beiden Fällen, Corona und Klima, sei der Rückgriff auf die Eigenverantwortung ein Märchen, meinen die Autoren. Und in beiden Fällen sei es ein Märchen, dass Einschränkungen der Wirtschaft unwirtschaftlich seien, denn ohne Überleben gäbe es keine Wirtschaft mehr: Wie wenn es bei Corona oder dem Klimawandel um das nackte Überleben der Menschheit ginge! Doch eine solche radikale Prognose hat weder Christian Drosten für Corona noch der IPCC für das Klima behauptet. Die Autoren beklagen, dass in beiden Fällen diejenigen, die das „Richtige“ fordern, als Feinde der Freiheit verschrieen würden, obwohl sie doch nur das Beste für die Menschen wollten. Ausdrücklich gelobt wird deshalb die harte Corona-Politik von Jacinda Ahern in Neuseeland. Dass es durchaus fragwürdig war, wie in der Corona-Pandemie manche Grundfreiheiten mit einem Federstrich beseitigt wurden, bleibt ungesagt. Dass Jacinda Ahern am breiten Unmut der Bürger gescheitert und zurückgetreten ist, bleibt ungesagt.

Es ist enttäuschend. Wer wirklich glaubt, dass jetzt dringend CO2 reduziert werden muss, der würde doch wenigstens priorisieren. Der würde sagen: Wir müssen jetzt in manchen Politikfeldern in den sauren Apfel beißen, damit wir in diesem einen überlebenswichtigen Punkt zu Potte kommen. Das würde z.B. bedeuten, die Atomkraft wenigstens als Übergangslösung zu akzeptieren. Oder CO2-Abscheidung an Kohlekraftwerken einzuführen. Auch mit dem Ziel, dieses Verfahren in der ganzen Welt zu praktizieren, denn die Welt wird noch lange nicht auf Kohle verzichten. Es würde auch bedeuten, sich manche abschreckende gesellschaftspolitische Pirouette zu verkneifen, um möglichst viele Menschen mit an Bord zu holen. Aber nichts davon. Die Autoren dieses Buches träumen von einer utopischen Zukunft, in der nicht nur das Klimaproblem gelöst ist, sondern alle möglichen anderen woken „Gerechtigkeitsfragen“ gleich mit, denn alles hängt hier angeblich mit allem zusammen: Das Patriarchat, der Kapitalismus, die Monogamie, die Klimakatastrophe, der Rassismus, Corona, usw.

Wer wirklich an die drohende Klimakatastrophe glaubt, der muss an diesem Buch verzweifeln, denn solche utopistischen „Klimakrieger“ wie die Autoren dieses Buches werden in jedem Fall scheitern. Das einzige, was ihnen gelingen könnte, ist die Zerstörung von Demokratie und Wohlstand.

Öko-Totalitarismus

Die Autoren sind Träumer. Träumer mit totalitären Öko-Vorstellungen. Wir sahen bereits, dass sie die totalitären Züge mancher Corona-Maßnahmen kritiklos bejubelten. Aber mehr noch: Sie beschwören doch tatsächlich das Bild einer statischen, unveränderlichen Natur, die nur durch den Menschen in Ungleichgewicht geraten würde. Über die Natur wird Unglaubliches gesagt, nämlich folgendes: „Als System ist diese ja (ohne unser Eingreifen) ein stabiles [sc. System] … In einem intakten Ökosystem stehen die dort vorkommenden Arten untereinander und die Individuen in einer Art Miteinander in Beziehung und regulieren sich gegenseitig … Je komplexer das Ökosystem … desto stabiler ist das ökologische Gleichgewicht.“ (S. 472)

Das ist natürlich völlig falsch und himmelschreiend unwissenschaftlich. Die Natur wälzt sich ständig um. Stabilität stellt sich immer nur vorübergehend ein, oder nur in komplexen Zyklen. Arten entstehen und vergehen. Auch das Klima unterliegt einem natürlichen Wandel (was nicht heißen soll, dass nicht auch der Mensch seinen Anteil daran hat). All das hätten die Autoren z.B. im Anhang des Romans „Welt in Angst“ von Michael Crichton lernen können! Doch sie zogen es vor, Michael Crichtons Roman als „berüchtigt“ zu bezeichnen und vor dessen nonfiktionalen Anhängen zu warnen (S. 381 f.). Wer so direkt gegen offensichtliche Wahrheiten spricht, wie glaubwürdig ist der eigentlich?

Aber mehr noch: Diese statische Vorstellung von Natur entspricht natürlich ganz jenem rechtsradikalen Ungeist von Unberührtheit und Reinheit, der im Nationalsozialismus ganz hervorragend mit der Naturschutzbewegung zusammenging. Ja, im Nationalsozialismus erfuhr die deutsche Naturschutzbewegung ihre erste Blütezeit. Doch davon schweigen die Autoren.

Die Idee, dass der Mensch sich die Natur nach seinen Bedürfnissen einrichtet, wird praktisch verworfen. Die Natur wird überhöht, der Mensch negiert. Explizit negiert im Sinne der Postmoderne (siehe oben), denn es heißt, die Natur kenne keine Narrative, so schreiben die Autoren, und könne sich also nicht anpassen, und deshalb müsse der Mensch seine Rolle in einer als unberührt gedachten Natur finden (S. 472). Diese Idee ist nicht nur völlig überzogen und nicht praktikabel. Sie ist auch rechtsradikal. Ja, tatsächlich: Die Postmoderne hatte ihren Ideen u.a. auch von Martin Heidegger, der für den Nationalsozialismus Partei ergriff. Bei Heidegger geriet der Mensch ebenfalls ins Abseits und der Humanismus wurde verworfen. Diese ganze philosophische Strömung ist auf einer sehr tiefen und elementaren Ebene falsch und irrig und bietet ideologisch das Potential zu den schlimmsten Entgleisungen. Was es bedeutet, vom Humanismus abzuweichen, haben wir im zwanzigsten Jahrhundert zur Genüge erfahren.

Ebenfalls totalitär ist der Umstand, dass Andersdenkende in diesem Buch immer nur als Verführte oder als Verführer wahrgenommen werden. Alternative Meinungen zur Klimakatastrophe werden üblen „Zweifelhändlern“ zugeschrieben (S. 235 ff.). Die Gegner sind laut diesem Buch „raffgierige Konzerne, verantwortungslose Politiker[…], gekaufte Wissenschaftler“, namentlich auch Ölkonzerne (S. 393, 399), die angeblich in den 1970ern und 1980ern die wissenschaftliche Erkenntnis unterdrückt hätten, dass der CO2-Ausstoß zu einer Klimakatastrophe führt. Das ist natürlich ebenfalls falsch. Denn damals existierte dieses Thema noch als Forschungsfrage, aber noch nicht als Forschungsergebnis. Die Konsolidierung zu einem Forschungsergebnis und die öffentliche Aufmerksamkeit begannen Ende der 1980er Jahre, als eine Reihe von Politikern das Thema zu puschen begannen, um damit Werbung für die CO2-freie Atomkraft zu machen. Darunter Margaret Thatcher, Franz-Josef Strauß und Olof Palme. Und die bösen Energiekonzerne sind heute ganz vorne mit dabei beim Bau von Windrädern und Solaranlagen, und ihr Führungspersonal hat heute nicht selten ein grünes Parteibuch. – Wer Andersdenkende nur noch als Dummköpfe oder Bösewichter, nicht jedoch als legitime Andersdenkende im Rahmen eines demokratischen Diskurses wahrnimmt, sollte sich fragen, wie demokratisch er noch ist. Insbesondere sollte, wer von „Zweifelhändlern“ spricht, sich die Frage stellen, ob es nicht ebenso „Gewissheitshändler“ gibt, die Propaganda für das Gegenteil machen, und zwar ebenfalls aus politischen und ökonomischen Interessen.

Öko-Propaganda

Mit „Gewissheitshändlern“ haben die Autoren dieses Buches offenbar kein Problem. Denn sie fordern Journalisten dazu auf, durch Geschichten und Bilder vor der Klimakatastrophe zu warnen (S. 384, 398), wörtlich ist von „affektgeladener Berichterstattung“ und „Einsatz von Bildern“ die Rede, also ausdrücklich nicht von sachlicher Information. Weiter heißt es: „Visuelle Eindrücke wie die vom brennenden Amazonas-Regenwald, von Bränden in Australien, Griechenland, Kalifornien und Kanada, von versehrten Tieren, Menschen und Architekturen“. Dass diese Beispiele aber keinesfalls so einfach in einen direkten Zusammenhang mit dem Klimawandel gebracht werden dürfen, bleibt ungesagt. Eine Studie wird zitiert, dass die Wahrnehmung des Wetters sich verändert, je nachdem, ob man an die Klimakatastrophe glaubt oder nicht (S. 388). Das Manipulationspotential wird also klar erkannt und benannt.

Dass man mit dieser Art von „Public Relations“ den Rubikon zu Manipulation und Propaganda überschritten hat, dass die Autoren dieses Buches damit nicht anders handeln als der von ihnen selbst scharf kritisierte Erfinder der „Public Relations“ Bernays, wird nicht reflektiert. Die Autoren beklagen auch den Betrug des Spiegel-Reporters Claas Relotius, und analysieren richtig, dass sein Betrug funktionierte, weil Relotius genau die Stories lieferte, nach denen das Publikum gierte (S. 229). Dass es sich dabei aber u.a. um genau solche Öko-Stories handelte, die es mit der Sachlichkeit nicht mehr so genau nahmen, bleibt ungesagt.

Die Autoren werden aber noch deutlicher: „Lange Zeit (und stellenweise noch heute) kam in der Berichterstattung über die menschengemachte Klimakrise auf jede Aussage eines Klimaforschers ein Vertreter der Öllobby oder ein reaktionärer Politiker zu Wort.“ (S. 390) Dieser Satz lässt den Leser fassungslos zurück. In welcher Welt leben diese Autoren? Denn es ist einfach nicht wahr, dass in den vorherrschenden Medien diese Parität vorhanden gewesen wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Fast immer sprechen die Medien völlig einseitig zugunsten der Klima-Alarmisten. Vermutlich gilt diesen Autoren bereits ein CDU-Politiker, der dasselbe wie die Grünen will, nur langsamer, bereits als „Reaktionär“. Und dass die Ölkonzerne von einst dieselben Konzerne sind, die heute Windräder und Solaranlagen in großem Stil bauen, ist den Autoren offenbar völlig entgangen. In den großen Energiekonzernen sitzen längst Funktionäre mit grünem Parteibuch. Es ist zwar in der Theorie richtig, vor einer „false balance“ (S. 390) zu warnen, aber in der Praxis ist das genaue Gegenteil zu beobachten, nämlich eine „false balance“ zuungunsten von Kritikern: Kritiker und Zweifler sind nicht etwa gleichrepräsentiert, sondern überhaupt nicht repräsentiert. Sie werden als Schwurbler aus dem Diskurs gedrängt. Und das schon lange. Es wäre ein echter Fortschritt, wenn Kritiker überhaupt wieder einmal zu Wort kommen dürften.

Es ist deshalb eine böse Drohung, wenn die Autoren fordern, man müsse den „Vernunft“-Begriff zurückerobern (S. 393). Damit meinen sie nicht die Vernunft im demokratischen und humanistischen Sinne, sondern den Ausschluss all derer, die nicht mit den Ergebnissen ihrer „Vernunft“ übereinstimmen, also die Aufkündigung der angeblich vorherrschenden Parität, der angeblich existierenden „false balance“. Konkret würde das wohl bedeuten, dass in Zukunft dann auch kein CDU-Laschi mehr in der Talkshow sitzen darf, sondern nur noch ideologisch gefestigte Klimagläubige, für die es stets 5 vor 12 ist. Dass die Demokratie erfordert, dass auch Meinungen zu Wort kommen dürfen, die von keinem Wissenschaftler vertreten werden, und zwar in dem Proporz, den diese Meinungen im Staatsvolk haben, ist ein Gedanke, der den Autoren dieses Buches offenbar fremd ist. Sie glauben an die Heiligkeit des angeblichen „wissenschaftlichen Konsenses“ wie man im Mittelalter an die Unfehlbarkeit der kirchlichen Lehre glaubte: Wer abweicht, muss mit dem Satan im Bunde sein und als Ketzer auf den Scheiterhaufen gebracht werden.

Öko-Autoritäten

Auf welche Autoritäten berufen sich die Autoren eigentlich? Nur zwei Namen fallen auf: Maja Göpel (S. 402) und Greta Thunberg (S. 404 f.).

Maja Göpel ist eine „Klimaexpertin“ vom Schlage einer Claudia Kemfert, bei der Propaganda alles und Substanz nichts ist. Sie hat weder Klima noch Technik noch Volkswirtschaft studiert, sondern Medienwirtschaft. Eine echte Professorin ist sie auch nicht, sondern nur eine Honorarprofessorin, und zwar an der Leuphana Universität Lüneburg. Diese Universität entstand aus der Fusion einer kleinen Universität mit der lokalen Fachhochschule und gilt als Modell für die Umsetzung des Bologna-Prozesses. Was nichts Gutes heißt. Zuletzt wurde bekannt, dass Maja Göpel ihre Bücher gar nicht selbst geschrieben hat, sondern einen Klima-Journalisten als Ghostwriter engagiert hatte. Wahrlich eine wissenschaftliche Autorität, der man gerne Vertrauen schenkt. Auf dem Schutzumschlag dieses Buches befindet sich ganz groß ein Zitat von Maja Göpel, wie sie dieses Buch lobt. Eine Hand wäscht die andere, offenbar auch unter Ökos.

Greta Thunberg wird in diesem Buch romantisch verklärt. Der Leser bekommt die kitschige Erzählung serviert, dass ein einsames, kleines Mädchen eines Tages beschloss, für das Klima die Schule zu bestreiken, und damit unverhofft eine weltweite, spontane Umweltbewegung junger Menschen inspirierte. Der Leser erfährt nichts von der Agentur, die Greta Thunberg gemanagt hat, und nichts davon, dass die Fridays-for-Future-Bewegung teilweise ein exemplarischer Fall des Astroturfing ist, teilweise aber auch von Linksradikalen unterwandert wurde. Astroturfing bedeutet, dass der Anschein einer Graswurzelbewegung erweckt wird, in Wahrheit aber gewisse Kräfte zentral die Strippen ziehen.

Kennzeichen totalitärer Bewegungen ist die Beschwörung von Mythen und einsamen Helden. Allerdings nicht von irgendwelchen Mythen, sondern insbesondere von falschen Mythen. Und nicht irgendwelche Helden, sondern von Helden, die kompromisslos sagen, wo es langgeht. Lässt sich ein besseres Bild für das totalitäre Denken finden, als die Simplizität, mit der ein Kind die Welt betrachtet? Nur, dass Kinder natürlich keine Antidemokraten sind, sondern einfach nur Kinder. Aber Erwachsene, die sich auf ein kindisches Niveau begeben, die kommen dem totalitären Denken schon recht nahe.

Verantwortliche Medien hätten niemals zugelassen, dass gewisse Erwachsene einen Hype um Greta Thunberg herum aufbauen, um damit ihr Süppchen zu kochen. Greta Thunberg war fachlich zu inkompetent und als Kind menschlich zu unerfahren, um die Komplexität der Problematik auch nur ansatzweise überblicken zu können. Da sie noch nicht erwachsen war, hätte man sie vor sich selbst (und vor allem vor ihren Managern) schützen müssen.

Gegen die Marktwirtschaft

Die Autoren bringen gleich an mehreren Stellen ihres Buch zum Ausdruck, dass sie die Wahrnehmung, dass in der westlichen Welt jeder seines Glückes Schmied ist, und dass, wer sich anstrengt, auch belohnt wird, für einen großen Irrtum halten. Sie gebrauchen dafür sehr harte Worte, z.B. „Märchen“ und „Lüge“, und sehen darin nur die vorgeschobene Legitimation für ein System der Ausbeutung (S. 235 ff., 252 ff., 234 ff., 429).

Sie begreifen nicht, dass die westlichen Systeme tatsächlich viele Chancen zum Aufstieg bieten, durch Bildung und die freie Marktwirtschaft. Und dass Anstrengung sich in der Regel auch tatsächlich auszahlt. Natürlich ist das System nicht perfekt und nicht völlig gerecht. Aber es ist besser als alles andere. Und genau das haben die Autoren nicht verstanden. Deshalb ist auch das Gedankenmodell des „homo oeconomicus“ nicht falsch, wie sie meinen (S. 235 ff.), sondern ein nützliches Modell. Das seine Grenzen hat, wie jedes Modell. Es ist aber keine Lüge. Und natürlich wird auch nicht jeder Tellerwäscher zum Millionär. Das hat aber auch niemand behauptet. Sondern die bloße Möglichkeit, dass auch ein Tellerwäscher theoretisch zum Millionär aufsteigen kann, ist bereits das Wunder. Aufstiege sind möglich und sie finden auch statt. Oder eine Nummer kleiner gedacht: Dass Anstrengung in der Schule in der Regel dazu führt, dass später auch das Gehalt besser ist, ist kein Märchen, sondern eine statistisch belegte Realität. Aber die Autoren vergleichen den Glauben daran, dass man sein Los durch Anstrengung verbessern kann, mit dem Glauben an Astrologie (S. 429).

Auch andere Grundtatbestände der Marktwirtschaft werden als „Märchen“ bezeichnet, so z.B. das Prinzip der „unsichtbaren Hand“ (S. 239 f.). Es besagt, dass in einer freien Marktwirtschaft durch den Wettbewerb die Ressourcen wie durch Zauberhand halbwegs optimal allokiert werden, ohne dass es eine zentrale Planungsbehörde gibt. Vermutlich denken die Autoren dieses Buches an Fälle, wo es gar keinen Wettbewerb gibt. Aber das ist dann keine Marktwirtschaft mehr. So unterstellen die Autoren z.B. den großen Sozialen Netzwerken eine „Marktlogik“ (S. 195). Aber das ist ein Irrtum. Denn die großen Sozialen Netzwerke sind bekanntlich Monopolisten.

Auch die Finanzkrise (S. 240) und natürlich die Öko-Katastrophe werden der Marktwirtschaft zugeschrieben. Aber wurden die Grundlagen für die Finanzkrise nicht durch Politiker gelegt, deren Politik gegen die Gesetze der Marktwirtschaft verstießen? O doch! Und dass die Menschen gerade heute bemerken, dass sie am Wirtschaftswachstum nicht mehr teilhaben (S. 422), liegt das nicht vor allem an einer falschen, linken Politik? Und waren es nicht die westlichen Systeme, die ökologisch am saubersten waren, während der real existierende Sozialismus ökologische Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes mit sich brachte, u.a. die Austrocknung des Aralsees, den Super-GAU von Tschernobyl oder die Verschmutzung der Flüsse in der ehemaligen DDR?

Zahlreiche ökonomische Irrtümer werden begangen. So heißt es z.B., dass die Fortschrittserzählung der westlichen Welt eine Lüge sei (S. 418). Aber der Fortschritt in Technik und Wohlstand, von Demokratie und Umweltschutz, den die Marktwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert ermöglicht hat, kann nicht geleugnet werden. Man könnte höchstens darüber philosophieren, ob der viele Wohlstand nicht zu Dekadenz-Phänomenen führt, aber das ist ein anderes Thema. Überhaupt sei auch die Idee des „Wirtschaftswachstums“ eine Lüge (S. 418). Am Ende würde das „Wachstum“ den Planeten verbrauchen (S. 420). Es ist zwar richtig, dass man „Wachstum“ auch sehr plump auffassen kann, aber dass ein nachhaltiges und qualitatives Wachstum der Wirtschaft möglich und nötig ist, ist nicht zu bestreiten. An zwei Stellen wird der Trickle-Down-Effekt als Lüge bezeichnet, die „nachgeplappert“ wird (S. 418, 460 Fußnote). Aber es ist unbestreitbar, dass es diesen Effekt gibt. Natürlich sind manche reicher als andere und es kommt nicht alles Geld „unten“ an. Aber es hat auch niemand behauptet, dass alles Geld „unten“ ankäme. Denn es kommt genug „unten“ an, damit es allen insgesamt besser geht, und darum geht es. Wieder haben die Autoren nicht verstanden, dass es nicht darum geht, eine perfekte Welt zu schaffen, sondern einfach nur die praktisch bestmögliche Welt.

Schließlich träumen die Autoren von einem Bruttonationalglück-Index und meinen, dass Wohlstand nicht alles sei, denn auch Gesundheit gehöre dazu (S. 420, 403). Aber wie misst man Glück? Ein Bruttonationalglück-Index öffnet der politischen Manipulation Tür und Tor. Wohlstand hingegen kann man in Währungseinheiten messen. Auch das ist nicht optimal, aber auch hier gilt: Es ist das beste, was wir haben. Und vor allem: Das persönliche Glück hängt zu einem guten Teil eng mit dem Wohlstand zusammen. Die Gesundheit, von der die Rede war, kann in einer Welt mit einem gut finanzierten Bildungs- und Gesundheitssystem viel besser erhalten werden, als in Armut. Und am Ende ist letztlich jeder Herr seiner eigenen Definition von Glück. Es ist richtig, darauf zu achten, dass jeder zu seinem verdienten Geld kommt. Wie aber der Einzelne sein Geld einsetzt, um sein Glück zu machen, das sollte doch besser jedem selbst überlassen bleiben. Aber auch das haben die Autoren nicht verstanden, denn sie beklagen den Konsum von Luxusgütern, die man nicht bräuchte (S. 422). Aber was sind Luxusgüter? Gehören warme Winterstrümpfe, die nicht kratzen, auch schon dazu, oder sind die „erlaubt“? Und wenn jemand ein schnelles Auto zu seinem Seelenheil benötigt, darf der das dann? Die Autoren haben ganz grundsätzliche Verständnisprobleme, was Freiheit, Markt, und persönliches Glück anbelangt.

Kryptowährungen werden als anarchischer Widerstand der „digital natives“ gefeiert (S. 460). Seltsam. Denn Kryptowährungen sind harte, kalte Marktwirtschaft ohne jede soziale Abfederung. Und der Widerstand der Krypto-Fans ist doch wohl Widerstand gegen einen Staat, der aus sozialen und ökologischen Gründen vieles falsch macht mit dem Geld seiner Bürger, bis hin zur Staatsfinanzierung durch die Druckerpresse. Der Widerstand, den die Autoren dieses Buches da feiern, ist ein Widerstand gegen sie selbst! Auch das haben sie also nicht verstanden. Zudem: Auch die Mafia mag Kryptowährungen sehr. Und woher kommt eigentlich der viele Strom, der zur Generierung von Kryptowährungen benötigt wird? Auch davon schweigen die Autoren eisern.

Über einen Gedanken lässt sich reden: Menschen neigen dazu, sich die Verhältnisse schön zu reden. Weder sehen sich Ausbeuter als Ausbeuter, noch Ausgebeutete als Ausgebeutete (S. 419). Wenn man diesen Gedanken von der Radikalität der Systemkritik befreit, macht er Sinn. Im Rahmen des Systems der Marktwirtschaft gibt es natürlich viele kleine Ungerechtigkeiten, an deren Verbesserung ständig gearbeitet werden muss. So könnte man z.B. die Bezahlung von Pflegekräften und den Personalschlüssel in der Pflege erhöhen. Aber das ist keine Systemkritik. Und kommt deshalb in diesem Buch nicht vor. Unterhalb von Systemkritik machen es die Autoren nicht. Weil sie glauben, dass mit dem Umsturz des Systems alles besser würde. Wie naiv.

Für Marxismus

Eine linke Grundausrichtung des Buches wird allein schon anhand der Sprache erkennbar. Die Autoren reden nie von „Marktwirtschaft“, sondern immer nur von „Kapitalismus“. Dass die Marktwirtschaft in der westlichen Welt zudem in einen demokratischen und sozialen Staat eingebettet ist, erwähnen sie ebenfalls nicht. Und sie reden ständig vom „Faschismus“. Wer immer nur gegen den „Faschismus“ wettert, ist als Demokrat definitiv zu einseitig unterwegs. Der Demokrat wendet sich gegen jede totalitäre Ideologie, ob von rechts oder von links. Der Demokrat bekennt sich zum „antitotalitären Grundkonsens aller Demokraten“. Doch nicht die Autoren dieses Buches. Außerdem ist die pauschale Bezeichnung „Faschismus“ für die verschiedenen Formen von Rechtsradikalismus etwas fragwürdig, denn es war die kommunistische Propaganda des Kalten Krieges, die den westlichen „Kapitalismus“ gerne als „faschistisch“ bezeichnete und mit dem Nationalsozialismus in einen Topf warf. Doch das nur am Rande.

Im Zusammenhang mit ihrer Kritik an der Vorstellung, dass man sein Los durch eigene Anstrengung verbessern könnte, sprechen die Autoren explizit aus, was ihrer Kritik zugrunde liegt: „Karl Marx“ (S. 429). So knapp, so deutlich. Und auch dieses sagen sie: „die schönste und wichtigste Erzählung der Menschheit besagt: Alle Menschen sind gleich“ (S. 438). Hier wird also die Gleichheit gefeiert, ohne die Freiheit auch nur zu erwähnen. An anderer Stelle schreiben die Autoren, dass eine ungleiche Verteilung des Vermögens ungerecht sei, und deshalb durch Lügen legitimiert werden müsse, z.B. durch Religion und Monarchie (S. 247).

Ganz offensichtlich haben die Autoren grundsätzlich nicht verstanden, dass Gleichheit und Freiheit zwei Prinzipien sind, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen. Man kann nicht beides zugleich in vollem Umfang haben. Radikale Gleichheit zerstört Freiheit. Radikale Freiheit zerstört Gleichheit. Die westliche Welt beruht auf einer Balance von beidem. Aber die Autoren reden, wie wenn sie von diesen Überlegungen nie gehört hätten, und setzen radikal und einseitig auf die Gleichheit. Das ist sehr bedenklich, und insofern die Autoren die Leser nicht auf die dahinter liegende Problematik aufmerksam machen, ist es auch manipulativ.

Im Zusammenhang mit ihrer Kritik an der Marktwirtschaft (s.o.) sprechen die Autoren von einer Reihe von großen Lügen, die sie auch „Märchen für Erwachsene“ nennen (S. 234 ff.). Doch einige der größten Lügen fehlen auf dieser Liste: Sozialismus, Kommunismus, Marxismus, Postmoderne, Identitätspolitik. All das sind für die Autoren also keine Lügen. Demgegenüber könnte man eine Liste von großen Wahrheiten aufmachen: Demokratie, Menschenrechte, Marktwirtschaft, Sozialstaat, Humanismus, Aufklärung. Aber diese Dinge kommen in diesem Buch nicht vor oder werden abgelehnt: Marktwirtschaft? Lüge und Ausbeutung. Humanismus? Der Mensch muss überwunden werden. Aufklärung? Nicht Vernunft, sondern Narrative kennzeichnen den Menschen. So sehen es die Autoren dieses Buches.

Teilweise wird ein sozialistischer Hintergrund der vorgestellten Ideen verschwiegen. Bei der Vorstellung des Gründungsdokumentes der Identitätspolitik, dem Manifest des sogenannten Combahee River Collective von 1977 (S. 442), wird unterschlagen, dass es sich um eine erklärtermaßen sozialistische Organisation handelte, die sowohl Patriarchat als auch Kapitalismus überwinden wollte.

Mit Bezug zum Kalten Krieg sprechen die Autoren von „vermeintlichen Einflussnahmen“ der Sowjetunion überall auf dem Planeten (S. 219). Wieso „vermeintlich“? Dass der Westen und der Kommunismus in einem Systemwettbewerb standen und beide Seiten versuchten, ihren Einfluss überall auf der Welt geltend zu machen, ist doch wohl bestens bekannt. Was gibt es hier zu zweifeln?! Wollen die Autoren den Kalten Krieg etwa ein zweites Mal durchfechten? Finden sie es etwa schade, dass der Westen gewonnen hat?

Im Zusammenhang mit der Geschichte von Edward Bernays, dem zynischen Erfinder der „Public Relations“, wird auch die Geschichte des „Bananenstaates“ Guatemala erzählt. Angeblich hätte Bernays den Präsidenten von Guatemala, Jacobo Árbenz Guzmán, fälschlicherweise als Kommunisten dargestellt, um einen von der CIA 1954 orchestrierten Putsch zu rechtfertigen (S. 218 f.). Dabei werden aber eine Reihe von Informationen unterschlagen, die man höchst einfach bei Wikipedia finden kann: Biographisch ist bekannt, dass die Ehefrau von Árbenz Guzmán einen großen Einfluss auf ihn hatte. Sie gab ihm das Kommunistische Manifest zu lesen, und Árbenz Guzmán sei davon „bewegt“ gewesen. Beide glaubten, dass es viele Dinge erklären würde. Daraufhin begann Árbenz Guzmán, Werke von Marx, Lenin und Stalin zu lesen. In den späten 1940ern tauschte er sich regelmäßig mit einer Gruppe Guatemaltekischer Kommunisten aus. 1952 legalisierte er die kommunistische Guatemaltekische Arbeiterpartei, wodurch die Kommunisten Einfluss auf Bauernverbände, Gewerkschaften und die regierende Partei bekamen. Árbenz Guzmán versuchte, die amerikanische United Fruit Company zu enteignen. Die dem Konzern zustehende Entschädigung für die Enteignung wurde aber viel zu niedrig angesetzt. Dass der Konzern den Wert des Landes selbst zu niedrig ansetzte, entschuldigt das nicht. Einige Berater dieser Agrarreform waren Kommunisten. Doch von all dem hört man nichts in diesem Buch.

Statt dessen setzen die Autoren noch eins drauf und berichten von dem späteren Bürgerkrieg in Guatemala, der 200.000 Tote forderte (S. 221). Auch hier unterschlagen sie wesentliche Dinge. So z.B., dass der „Widerstand“ der Guerilla gegen die Regierung u.a. von Kuba unterstützt wurde. Die Kommunisten waren sehr wohl präsent und können keinesfalls als demokratischer Widerstand bezeichnet werden, aber der Leser dieses Buches erfährt nichts davon.

Generell sind die Autoren der Auffassung, dass die USA durch „brutale Kriege, Sanktionen und Geheimdienstoperationen gegen fremde souveräne Staaten“ Schuld auf sich geladen hätten (S. 220). Neben Guatemala wird auch Vietnam als Paradebeispiel genannt. Es geht also immer um den Kampf gegen die Ausbreitung des Kommunismus. Das ist es offenbar, was die Autoren stört. Über Kriege und Geheimdienstoperationen der Sowjetunion zur Zerstörung demokratischer Staaten beklagen sich die Autoren hingegen nicht. Hannah Arendt wird als Gewährsfrau angeführt, die angeblich der Meinung war, dass die „Domino-Theorie“, derzufolge ein Land nach dem anderen dem Kommunismus anheim fallen wird, wenn man nicht Einhalt gebietet, falsch war (S. 220). Wir haben nicht überprüft, ob Hannah Arendt dies wirklich gesagt hat. Fast immer wird Hannah Arendt von interessierter Seite falsch zitiert. Aber selbst wenn: Auch eine Hannah Arendt ist nicht unfehlbar. Schließlich aber nennen die Autoren die Domino-Theorie eine „Halb-, vielleicht auch eher Viertelwahrheit“ (S. 220). Der Leser fragt sich überrascht: Was denn nun? Eben noch völlig falsch und jetzt doch ein wenig wahr?!

Es wird auch das ewig falsche Märchen verbreitet, dass der Vietnamkrieg ein verlorener Krieg war (S. 220 f.) bzw. dass er nicht zu gewinnen war (S. 231). In Wahrheit war der Vietnamkrieg mit der TET-Offensive militärisch gewonnen. Es war die Heimatfront, die genau in diesem Moment wegbrach. Die Manipulation der öffentlichen Meinung in den USA zur Beendigung eines im Grunde gewonnenen Krieges, als ob der Krieg verloren wäre, und die Überlassung des Landes Vietnam an den Kommunismus war einer der größten Propagandasiege des Kommunismus. Die Linken zehren bis heute davon. Auch dieses Buch reproduziert diesen Propagandasieg.

Zuguterletzt wird der Marxismus noch einmal deutlich als Ziel ausgegeben, aber für ungenügend erklärt: „Für Karl Marx etwa war die Utopie gleich ‚Uchronos‘, die Zeit nach dem Kapitalismus, in der man seine Stunden und Tage nicht mehr verkaufen muss, wie das im Kapitalismus der Fall ist. … Die Voraussetzungen dafür seien im Schoße der Gesellschaft vorhanden und müssten nur vom Schleier der kapitalistischen Herrschaft befreit werden“ (S. 469). Die Autoren fahren fort: „Die ökologische Krise hat den Marxismus wenn nicht widerlegt, so doch zumindest vor neue Aufgaben gestellt: Nur die Produktionsmittel zu vergesellschaften kann nicht die Lösung sein“. – Das ausgegebene Ziel ist also noch radikaler als der klassische Marxismus. Na denn, Prost Mahlzeit!

Anti-Konservativismus

Wir sahen bereits oben, wie die Autoren dieses Buches die klassische Bildung in Form der Ilias des Homer ablehnten, in dem sie darin eine einzige Orgie der Gewalt sahen. Was falsch ist. Noch deutlicher wird es, wenn sie von der „sogenannten klassischen Bildung“ reden (S. 43). Die Autoren haben nicht begriffen, dass die klassische Bildung wirklich klassisch, also zeitlos und tiefgründig, ist. Und damit natürlich auch konservativ im besten Sinne. Konsequenterweise schweigen die Autoren über die Odyssee als dem großen Urbild jeder Heldenreise, obwohl das ganze Buch voll ist mit Besprechungen und Anwendungen der Heldenreise. Aber Mentor erwähnen sie doch (S. 31), denn es ist nicht möglich, über die Heldenreise zu sprechen und sich völlig an der Odyssee vorbeizumogeln.

Griechenland wird als die Entdeckung des Individuums und der Selbstverwirklichung dargestellt, die griechische Demokratie als die maximale Freiheit, die zu diesem Zweck ersonnen wurde (S. 126 f.). Das ist natürlich eine Geschichtsklitterung, die die Autoren begehen, um den westlichen Menschen als egoistischen Zerstörer darstellen zu können. Was die Autoren bei Griechenland unerwähnt lassen, ist die Entwicklung der Philosophie, insbesondere der Rationalität, als der Methode zur Wahrheitsfindung. Aber mit der Auffindung der Wahrheit halten sich die Autoren bekanntlich nicht auf. Was fehlt ist auch die Kulmination des antiken politischen Denkens nicht etwa in der Demokratie Athens, sondern in der Staatsform der Republik, wie sie von Platon vorgedacht und in Ciceros Rom praktische Anwendung fand. Dass die Antike eine Balance zwischen Individuum und Kollektiv suchte, und nicht die radikale Selbstverwirklichung des Egos, bleibt ungesagt. Den Autoren fehlt es ganz offensichtlich an klassischer Bildung. Oder sie stellen es bewusst falsch dar.

Konsequenterweise machen die Autoren wenige Seiten später eine völlig falsche Alternative zwischen dem griechisch geprägten Westen und Konfuzius auf: Hier der angeblich aufdringliche, egoistische, prahlerische Westen, dort der achtsame, zurückhaltende Weise, der eine Balance zwischen Individuum und Kollektiv kennt (S. 130). Quatsch mit Soße.

Dort, wo das Wechselverhältnis von Mensch und Technik diskutiert wird (S. 212), hätte man erwarten können, dass Neil Postman zitiert wird. Aber über Neil Postman wird eisern geschwiegen. Der war ja auch konservativ.

Der Generation der „Boomer“ wird ein unterkomplexes, tendentiell konservatives Weltbild unterstellt (S. 434). Und zwar deshalb, weil sie aus einer Zeit kommen, in der geordnete Verhältnisse herrschten. Deshalb seien sie nicht flexibel genug zur Bewältigung der Herausforderungen unserer unübersichtlichen Welt. – Die Autoren sollten sich fragen, ob sie da nicht einem gewaltigen Denkfehler aufsitzen. Denn die „Boomer“ wissen um den Wert einer geordneten Welt, und sie wissen auch, wie man Ordnung herstellt. Dass die Welt heute so unübersichtlich geworden ist, verdankt sich nicht zuletzt dem rücksichtslosen Wirken vieler Linker, die überall in der Gesellschaft heilsame Gewissheiten über Bord geworfen haben: An den Grenzen wird nicht mehr richtig kontrolliert, in den Schulen nicht mehr richtig unterrichtet, in den Medien nicht mehr richtig informiert, in der Zentralbank nicht mehr richtig auf Geldwertstabilität geachtet, in der Bundeswehr nicht mehr richtig für den Ernstfall geplant, usw. usf.

Konservative solle man lieber „Destruktive“ nennen, meinen die Autoren (S. 468). Die Autoren schreiben „Konservative“ in Anführungszeichen, denn ihr Vorgehen sei eine einzige, große Lebenslüge (S. 469). Doch dass Menschen, die im 21. Jahrhundert immer noch an den Unsinn von Karl Marx aus dem 19. Jahrhundert festhalten, und die es nicht verwinden können, dass der Kommunismus im 20. Jahrhundert krachend gescheitert ist, vielleicht ebenfalls auf eine gewisse Weise „konservativ“ sein könnten und vielleicht ihrerseits nicht flexibel genug sein könnten, um eine Gesellschaft zu ordnen und Probleme zu lösen, auf diese Idee kommen die Autoren nicht.

Religionsfeindlichkeit

Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass die Autoren nicht religiös sind. Es ist auch in Ordnung, wenn ein Buch wie dieses konsequent säkular bleibt. Politik und Wissenschaft sind in der westlichen Welt per se säkular, und das ist auch gut so. Aber dabei bleibt es nicht. Dieses Buch zeigt immer wieder seine Religionsfeindlichkeit.

Sehr deutlich zeigt sich die Religionsfeindlichkeit z.B. in der Bezeichnung des bekannten Songs „Imagine“ von John Lennon als „einem der wichtigsten Songs der Musikgeschichte“ (S. 357). Der Text sagt alles: „Imagine there’s no heaven / It’s easy if you try / No hell below us / Above us only sky / Imagine all the people living for today / Imagine there’s no countries / It isn’t hard to do / Nothing to kill or die for / And no religion too / Imagine no possessions / I wonder if you can / No need for greed or hunger / Our brotherhood of man / Imagine all the people sharing all the world“.

Nationen und Religionen und das Privateigentum werden in diesem Lied nur als störende Elemente wahrgenommen, ohne die sich ein paradiesischer Weltfrieden einstellen würde, in dem alle mit allen teilen. Das ist ungefähr dasselbe intellektuelle Niveau, das von jenen markiert wird, die sagen: Lasst uns das Geld abschaffen, dann ist niemand mehr arm!

Religionen, namentlich auch Götter, werden als mythische Vorstellungen unwissender Menschen gedeutet, die zudem die wichtige Aufgabe haben, die Herrschaftsverteilung unter den Menschen zu kontrollieren (S. 241-243). Die Hölle wird als eine bloße Erfindung bezeichnet, um damit den Menschen Angst zu machen und sie so zu beherrschen (S. 250 f.). – Religions- und Kirchenkritik in Ehren, aber das sind doch allzu weit reichende Aussagen. Für Religion gibt es durchaus auch andere Antriebe als nur die Bemäntelung von Machtverhältnissen. Und die Hölle als bloße Erfindung zur Herrschaftssicherung zu deuten, ist doch etwas einfältig. So primitiv kam die Religion nicht in die Welt. Es gibt einen Unterschied zwischen der Religion und ihrem Missbrauch. Die Autoren lassen bewusst offen, wie weit sie gehen wollen, aber man ahnt es. Ironischerweise halten die Autoren an dieser Stelle Vernunft und Aufklärung als Kräfte gegen religiösen Aberglauben hoch, während sie mit Vernunft und Aufklärung sonst nicht viel am Hut haben.

Wiederholt kommen die Autoren auf den bekannten Satz „Macht Euch die Erde untertan“ aus dem ersten Buch der Bibel zurück (z.B. S. 16, 400 f.). Darin sehen die Autoren eine (Selbst-)Beauftragung des biblisch geprägten Menschen, die Erde rücksichtslos auszubeuten und sich verfügbar zu machen. Doch diese Deutung ist falsch. Sie entspringt jener modernen Unbildung, die sich Königsherrschaft nur als Tyrannei und Religion nur als Machtsicherungsinstrument denken kann. Doch historisch gesehen hat ein König natürlich die Aufgabe, sein Land zu hegen und zu pflegen und das Wohl seiner Untertanen zu mehren. Die Bibel beauftragt den Menschen also keineswegs mit der rücksichtslosen Ausbeutung der Erde. Im Gegenteil. Nur dass unsere pseudogebildeten Autoren das nicht verstehen.

Der Leser fragt sich, ob sich die Autoren im klaren darüber sind, dass ihre tappsige Religionskritik nicht nur das Christentum trifft, sondern auch den Islam und am Ende natürlich auch das Judentum? Auch jegliche nicht-traditionell und philosophisch motivierte Theologie ist bei diesem Rabulismus außen vor. Der Leser fragt sich auch, ob die Autoren noch nie etwas von religiösen Reformen gehört haben? Dass Religionen im Laufe der Jahrhunderte und durch den Einfluss von Macht deformieren, und von Zeit zu Zeit neu justiert, d.h. reformiert, werden müssen? Und wie realistisch ist es eigentlich, die Rettung des Planeten organisieren zu wollen, wenn man gleichzeitig derart plumpe und radikale Religionskritik übt? Denn immerhin ist die übergroße Mehrzahl der Menschen auf dem Planeten religiös.

Es werden auch viele weitere Fehler im Umgang mit Religion begangen. Die Autoren machen einen Gegensatz auf zwischen einer „hedonistischen, freien, griechischen Narrativik“ und einem mittelalterlichen, sündenbeschwerten Christentum (S. 127). Aber weder kann die griechische Antike auf Hedonismus reduziert werden, noch war das frühe Christentum mittelalterlich. – Von Petrus heißt es, er hätte den Christen befohlen, den römischen Kaiser zu ehren (S. 248). Kein Wort davon ist wahr. Man kann nur raten, welchem Irrtum die Autoren aufgesessen sind. Meinten sie etwa das Jesuswort „Gebt dem Kaiser …“? Es ist die Religionsfeindlichkeit, die die Autoren blind dafür gemacht hat, ihren Irrtum zu erkennen. – Die Autoren glauben auch, die katholische Kirche hätte die Monarchie erfunden (S. 248), schreiben dann aber selbst nur eine Seite später, dass Monarchie eine Konstante in der Menschheitsgeschichte ist. Gesellschaften hätten erst vor 200 Jahren damit begonnen, die Monarchie infrage zu stellen (S. 249). Auch das ist Unsinn, denn hier wird die Antike ausgeblendet. Und die Monarchie wurde in England schon vor 350 Jahren infrage gestellt und sogar vorübergehend abgeschafft.

Ersatzreligion

Die Autoren bemerken gar nicht, wie sie selbst mit ihrem Buch eine wahre Ersatzreligion zu etablieren begonnen haben. Sie schreiben, dass heute jede Meta-Erzählung entzaubert und gescheitert sei (S. 418), aber in Wahrheit entwerfen sie mit diesem Buch natürlich selbst eine einzige, große Meta-Erzählung. Am Ende des Buches wird jeder Leser durch die symbolische Entgegennahme der roten Pille aufgefordert (S. 477), diese Meta-Erzählung als seine Wahrheit anzunehmen, was selbst fast schon wie ein religiöser Akt wirkt.

Die Autoren beklagen auch, dass die Religion früher manche Ungerechtigkeit aufgefangen hätte, während man heute Sündenböcke sucht (S. 431 f.). Aber das ist doch genau das, was die Autoren selbst tun: Sündenböcke suchen! Der Kapitalismus, das Patriarchat, die Religion, die raffgierigen Konzerne usw. usf.: Sie alle seien schuld, so schreit es einem aus diesem Buch entgegen, und dass man all das beseitigen und durch ein öko-marxistisches Wokeness-Paradies ersetzen müsse, weil sonst die Klimahölle droht. Wenn das keine Sündenbocksuche mitsamt Hölle und Paradies ist …

Das Flow-Erlebnis wird von den Autoren zu „unserem sichersten Glücksspender“ hochstilisiert (S. 413). Dass das Glück aber vor allem auf einem geordneten Weltbild beruht, in dessen Rahmen man sich dann produktiv entfalten kann, bleibt unerwähnt. Vermutlich deshalb, weil für die Autoren völlig klar ist, wie ihr Weltbild aussieht. So klar, dass sie gar nicht in der Lage sind, das zu reflektieren.

Der Höhepunkt des religionsfeindlichen Denkens ist jedoch die Feststellung, dass der Mensch eine Maschine sei, und dass diese Maschine ihre Lebenswelt kollektiv erfindet (S. 471). Auch diese Aussage wird, wie fast alles in diesem Buch, nach irgendeinem Autor zitiert. Unwidersprochen, und damit zustimmend, natürlich. Der Mensch sei also nur eine seelenlose Maschine: das war die Idee des Buches „L’homme machine“ von Julien Offray de La Mettrie im Jahre 1748. Dafür wurde er von den meisten Aufklärern, u.a. auch von Voltaire, scharf kritisiert. Die Idee, dass die Aufklärung gottlos ist, ist völlig falsch.

Wir haben es also mit Autoren zu tun, die kein Problem mit dem Gedanken haben, dass der Mensch nur eine Maschine ist, und die ganz offen sagen, dass der Mensch überwunden werden muss: Warum also nicht der „Maschine Mensch“ den Stecker ziehen? Wir hatten bereits das zweifelhafte Vergnügen mit solchen Ideen im 20. Jahrhundert. Die marxistischen Schreckensherrschaften lassen grüßen. Die Autoren fragen (in Bezug auf den Nationalsozialismus), wie es möglich war, dass „die Menschlichkeit“ vergessen wurde? (S. 312) Die Antwort ist einfach: Natürlich durch eine Ideologie, die die Menschlichkeit vergessen machte! Die Autoren müssten einfach mal in den Spiegel schauen.

Aber auch der postmoderne Gedanke, dass der Mensch seine Lebenswelt kollektiv „erfindet“, ist gefährlich. Der Mensch gestaltet seine Umwelt, das ist wahr, und manchmal befindet er sich auch in Illusionen über seine Umwelt, aber dass der Mensch seine Umwelt „erfinden“ (!) könnte, ist ein postmoderner Gedanke, der für Mensch und Umwelt nur ins Verderben führen kann. Die christliche Religion mit ihrem „Macht Euch die Erde untertan“ war hier eindeutig realistischer und maßvoller.

Deutsche Schuld

Die Autoren behaupten immer wieder, „die Deutschen“ hätten bei den nationalsozialistischen Verbrechen bereitwillig mitgemacht (S. 283, 333, etc.). Sie schreiben hemmungslos immer wieder „die Deutschen“. Spätestens im Sommer 1943 hätte die große Mehrheit der Deutschen „damit gerechnet“, dass die Juden ermordet werden (S. 337). Das alles wäre aber nach dem Krieg verdrängt worden (S. 333), und daraus resultiere dann die gebrochene Selbsterzählung der Deutschen (S. 328).

Es ist die ewig falsche Erzählung von „den“ Deutschen als einem Volk von Verbrechern. Man kann den meisten Deutschen gewiss eine schuldhafte Naivität zuschreiben, aber keine verbrecherische Gesinnung. Bei den letzten freien Wahlen erhielt die NSDAP jedenfalls 33%, und nicht 100%. Und was soll das heißen, dass die Deutschen spätestens im Sommer 1943 von der Ermordung der Juden wussten (oder „rechneten“, wie es hier heißt)? Von welcher Qualität war dieses „Wissen“? Die gerüchteweise durchsickernde Information, dass eine völlig aberwitzige, millionenfache Mordaktion an Unschuldigen, Frauen und Kindern eingeschlossen, vor sich ging, kann man kaum als „Wissen“ bezeichnen. Selbst Hannah Arendt hielt die ersten Berichte von US-Korrespondenten aus deutschen KZs für alliierte Propaganda. Wie sollen dann erst die „normalen“ Deutschen es „gewusst“ und geglaubt haben, als es nur ein Gerücht war? Und darüber hinaus: Selbst wenn man im Sommer 1943 verlässlich davon erfahren hätte, dass die Juden ermordet werden, was hätte daraus für eine Konsequenz folgen sollen? Demonstrationen, Aufstand, Verweigerung? Nicht in einer Diktatur, in der Menschenleben nicht zählen. Das Narrativ, dass „die Deutschen“ es wussten und dass „die Deutschen“ es wollten, ist einfach falsch. Allen Ernstes behaupten die Autoren, dass Theodor Heuss, Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt schlicht gelogen hätten, als sie sagten, die NS-Führung hätte die Verbrechen erfolgreich geheim gehalten (S. 336). Das seien nur Schutzbehauptungen gewesen, meinen sie. Doch das ist naseweiser Unfug.

Die Autoren verschweigen völlig, dass es natürlich die linksradikalen 68er waren, die das Narrativ in die Welt setzten, dass die Deutschen es wussten und die Deutschen es wollten. Diese ungerechte These von der Kollektivschuld, diese ungerechte und unwahrhaftige Selbstanklage, die aus rein politischen Motiven erfolgte und im Kalten Krieg durch die kommunistischen Geheimdienste unterstützt wurde, um den Westen und den „Kapitalismus“ moralisch als durch und durch „faschistisch“ zu diffamieren, ist es, die zu der gebrochenen Selbstwahrnehmung der Deutschen geführt hat. Dass der Nationalsozialismus möglich war, stellt einige berechtigte Anfragen an das nationale Selbstverständnis. Aber das hemmungslose Pauschalurteil, dass „die“ Deutschen es wussten und wollten, lässt keinen Raum mehr für ein selbstkritisches, nationales Selbstbewusstsein. Es zerstört zwingend jede Form von Selbstbewusstsein, denn „der“ Deutsche und „das“ Deutsche wird damit zum Bösen schlechthin erklärt. Unter dieser Prämisse ist einzig die Abschaffung von allem Deutschen die Lösung. Und darauf wollen die Autoren dieses Buches auch hinaus. Das ist doch klar, auch wenn sie es nicht so offen sagen.

Deutsches Pflichtgefühl

Es sei das Pflichtgefühl gewesen, das „die Deutschen“ zu Tätern werden ließ, schreiben die Autoren. Durch einen Appell an ihr Pflichtgefühl, das in der Tiefengeschichte Deutschlands wurzele, hätte Heinrich Himmler seine SS-Männer zum Morden gebracht, dokumentiert in seiner Posener Rede vom 04.10.1943 (S. 312, 329). Und nach 1945 hätten sich die Täter dann alle auf ihre Pflicht, Befehlen zu gehorchen, herausgeredet (S. 343). – Auch das ist großer Unfug.

Denn es war gerade das Pflichtgefühl, das viele in den Widerstand gegen Hitler trieb. Es war auch das Pflichtgefühl, das dazu führte, dass mörderische Befehle Hitlers in der Wehrmacht nicht ausgeführt wurden. Das Pflichtgefühl, das auf den antiken Humanismus zurückgeht, namentlich auf Cicero, das Pflichtgefühl, das auf den christlichen Protestantismus zurückging, das Pflichtgefühl, das von Friedrich dem Großen, Immanuel Kant oder den Gebrüdern Humboldt vertreten wurde, verpflichtete gewiss nicht zu Kadavergehorsam und erst recht nicht zum millionenfachen Massenmord.

Die Autoren dieses Buches übernehmen bereitwillig das nationalsozialistische Konzept des Kadavergehorsams, das den Pflichtbegriff völlig pervertierte und bedingungslosen Gehorsam dem Führer gegenüber verlangte, wie wenn es sich um den Inbegriff des deutschen Pflichtbegriffs handeln würde. Das war aber niemals der preußische und deutsche Pflichtbegriff! Damit bewegen sich die Autoren dieses Buches ungefähr auf demselben Niveau wie deutsche Rechtsradikale, wenn diese sagen, dass Präsident Erdogan und sein Regime der Inbegriff des Türkentums sei. Quatsch natürlich. Die Idee, man habe einem Deutschen nur einen Mord befehlen müssen, und schon habe er gemordet, weil er Kadavergehorsam für seine Pflicht gehalten hätte, ist einfach aberwitzig und lächerlich falsch. Und dass sich Täter – Täter! – hinterher unter Verweis auf ihre angebliche Gehorsamspflicht herauszureden versuchten, ist kein Beweis dafür, dass dies tatsächlich ihre wahre Motivation war. Im Gegenteil.

Unfreiwillig enthüllen die Autoren dieses Buches den wahren Grund für den Massenmord: Es war natürlich nicht das historisch gewachsene Pflichtgefühl, sondern die Ideologie des Nationalsozialismus, die zum Morden motivierte. Es war diese Ideologie und ihre radikale Engführung, dass es nur einen Ausweg gäbe, nämlich die Juden zu ermorden. Die Autoren wissen das ebenfalls, wie sie in diesen Worten unfreiwillig zeigen: „… eine Erzählung, die ihnen das Morden leichter machte, ja, ihnen sogar als einzig denkbarer Weg erscheint.“ (S. 312) Nur, dass diese Erzählung natürlich nicht die deutsche Erzählung von der Pflicht war, wie die Autoren behaupten, sondern die nationalsozialistische Erzählung von der angeborenen Schlechtigkeit der Juden, die angeblich aus der Welt geschafft werden müssten, damit Deutschland und die Welt leben können. Die Autoren verwechseln hier Pflichtbewusstsein und Ideologie als Motivation zum Morden. Man möchte fast meinen, dass sie das mit Absicht tun.

Ob sich die Autoren niemals gefragt haben, wie es eigentlich möglich war, dass im kommunistischen Machtbereich ebenfalls viel gemordet wurde? Denn dort gab es kein ausgeprägtes deutsches Pflichtgefühl. Aber was es dort ebenfalls gab, das war eine Ideologie! Die Ideologie des Marxismus-Leninismus. Und es war die Ideologie, die zu den Morden führte, in Deutschland wie in der Sowjetunion. Nicht das Pflichtgefühl. Das Pflichtgefühl führte im Gegenteil eher zu Widerstandshandlungen. Widerstand gab es in Deutschland einigen, von Stauffenberg über die Weiße Rose bis hin zum Verstecken und Decken einzelner Juden. Doch im kommunistischen Machtbereich hört man von Widerstand nicht viel. Denn dort gab es vor allem Ideologie, aber kaum ein ausgeprägtes Pflichtgefühl im deutschen Sinne.

Deutsche Tiefengeschichte

Um ihren Irrtum von einem deutschen Pflichtverständnis, das schon immer dem nationalsozialistischen Kadavergehorsam entsprochen habe, zu untermauern, breiten die Autoren ein Panorama der deutschen „Tiefengeschichte“ vor 1933 aus, das gruseln lässt. Deutschland sei vor allem durch die Institutionen des Militärs und der Universität geprägt gewesen (S. 327). Auf diese Weise waren Frauen immer außen vor, was angeblich zu einer Milderung der Sitten hätte beitragen können. – Wie Autoren, die selbst dem Wokismus anhängen und zwischen Männern und Frauen keine Unterschiede sehen, eine solche Aussage formulieren können, bleibt rätselhaft. Frauen haben jedenfalls im 19. Jahrhundert in vielfacher Weise das gesellschaftliche Leben in Deutschland mitbestimmt, von Königin Luise über Bettine von Arnim bis Bertha von Suttner. Neben dem Militär und der Universität wären außerdem mindestens auch noch Adel und Kirche als Institutionen zu nennen gewesen. Und Literatur und Theater bleiben auch unerwähnt. Und was ist eigentlich mit Handel und Wandel? Kaufleute, Industrielle? Und wie passen Wilhelm von Humboldt und seine Ehefrau Caroline von Dacheröden in dieses Schema? Ach, diese Einseitigkeit ist wirklich gruselig.

Jedenfalls glauben die Autoren, die deutsche Seele wäre damals auf eine Weise geprägt worden, dass niemand sich vor anderen hervortun solle (S. 327) und dass alle nur aus Angst vor sozialer Sanktion ehrgeizig gewesen wären (S. 328). Was für ein Zerrbild! Gab es damals nicht einen höchst individualistischen Goethe- und Genie-Kult? Und überhaupt: Sind denn Offiziere und Professoren dafür bekannt, sich nicht hervorzutun?! Natürlich wollten sich die Menschen hervortun und Orden und Ehren einheimsen, die andere nicht haben! Und dass man im Deutschland des 19. Jahrhunderts nicht aus innerer Überzeugung, nicht aus echtem Pflichtgefühl (!) im Sinne Ciceros, sondern nur aus Angst vor sozialer Sanktion ehrgeizig war, ist auch Unsinn. Die Leute damals lasen, im Gegensatz zu heute, Goethe, Kant und Cicero. Abgesehen davon, dass ein „Pflichtgefühl“, das nur auf Angst vor sozialer Sanktion beruht, kein solches ist. Die Autoren verwickeln sich mit ihrer Theorie vom bösen deutschen Pflichtgefühl in heillose Widersprüche.

Zur Zeit der Weimarer Republik habe dann eine „produktive Tiefengeschichte“ der Deutschen gefehlt (S. 330). Doch haben die Autoren jemals einen Gedanken darauf verschwendet, warum die Weimarer Republik Weimarer Republik hieß? Es ist einfach vollkommener Blödsinn, dass es an einer solchen Tiefengeschichte gefehlt hätte. Es fehlte durchaus an manchem, damals, denn die Geschichte ging bekanntlich nicht gut aus. Aber mit ihrer Analyse verfehlen die Autoren vollkommen den Punkt.

Schließlich begehen die Autoren auch noch eine üble Zitatverbiegung, um ihre These vom Pflichtbewusstsein als dem zentralen Problem zu untermauern. Sie zitieren Sebastian Haffner auf folgende Weise: „Dass der Nationalismus …die Deutschen letztlich ins Bestialische führt, erklärt sich Haffner mit ihrer besonderen „Selbstlosigkeit“, einer ethikfreien Beflissenheit, die man auch mit Pflichtbewusstsein übersetzen könnte.“ (S. 331) Soweit die Autoren über Haffners angebliche Meinung.

Das Originalzitat von Sebastian Haffner sieht aber wie folgt aus: „Nationalismus als nationale Selbstbespiegelung und Selbstanbetung ist sicher überall eine gefährliche geistige Krankheit, … Aber nirgends hat diese Krankheit einen so bösartigen und zerstörerischen Charakter wie gerade in Deutschland, und zwar, weil gerade Deutschlands innerstes Wesen Weite, Offenheit, Allseitigkeit, ja in einem bestimmten Sinne Selbstlosigkeit ist. Bei anderen Völkern bleibt Nationalismus, wenn sie davon befallen werden, eine nebensächliche Schwäche, neben der ihre eigentlichen Qualitäten erhalten bleiben können. In Deutschland aber, wie es sich trifft, tötet gerade Nationalismus den Grundwert des nationalen Charakters. Dies erklärt, warum die Deutschen – in gesundem Zustand zweifellos ein feines, empfindungsfähiges und sehr menschliches Volk – in dem Augenblick, wo sie der nationalistischen Krankheit verfallen, schlechthin unmenschlich werden und eine bestialische Hässlichkeit entwickeln. Ein Deutscher, der dem Nationalismus verfällt, bleibt kein Deutscher mehr.“ (Haffner, Geschichte eines Deutschen, S. 210)

Was Haffner hier beschreibt, ist nicht Pflichtbewusstsein, sondern vielmehr Selbstvergessenheit als Zug deutschen Wesens. Man könnte auch Naivität sagen. Es ist genau jene Naivität, mit der die Deutschen kreuzbrav einer Angela Merkel gefolgt sind und heute lauter Sonderwege in Europa gehen, ob bei Migration oder Energie, wodurch Deutschland zur „loose canon“ in der EU geworden ist. Hier geht es nicht um Pflichtbewusstsein, auch nicht um Gehorsam, sondern es ist willige Selbstaufgabe, es ist Naivität. Es ist der naive und willige Glaube daran, dass das, was vor sich geht, gut und richtig ist, weil es einem so erzählt wird, auch wenn man es vielleicht nicht richtig versteht. Es ist der naive Glaube, dass das, was die Obrigkeit tut, schon wohlgetan sein wird. Echtes Pflichtbewusstsein finden wir auch hier wieder nicht im willigen Mittun, sondern gerade im Widerstand, der aus Pflichtbewusstsein erwächst. Dass die Autoren dieses Buches die Deutung dieses Haffner-Zitates in ihrem Sinne verbogen haben, ist ein weiteres Indiz dafür, dass sie es nicht gut mit ihren Lesern meinen.

Deutsche Tiefengeschichte dieses Buches?

Die Ideologie, die in diesem Buch vertreten wird, hat selbst so manche deutsche Vorgeschichte, wie wir bereits sahen. So vertreten die Autoren dieses Buches z.B., dass der Mensch in der großen Klimaerzählung nicht Protagonist sondern Antagonist sei. Dahinter steht die postmoderne Theorie, dass der Mensch überwunden werden muss. Und hinter dieser postmodernen Theorie steht wiederum der Philosoph Martin Heidegger, der den Nationalsozialismus unterstützte und bei dem der Mensch ebenfalls ins Abseits geriet und der Humanismus verworfen wurde.

Zudem haben die Autoren dieses Buches eine statische Vorstellung von Natur, wie sie ganz dem rechtsradikalen Ungeist von Unberührtheit und Reinheit entspricht, siehe oben. Nicht zufällig hatte die Naturschutzbewegung im Nationalsozialismus ihre erste große Blütezeit.

Und schließlich steht dieses Buch natürlich in einer langen Tradition von linkem und ökologischem Denken, wie sie sich in Westdeutschland seit 1968 entfaltet hat. Man könnte sogar die These wagen, dass wir es mit einer Spätfolge des Kalten Krieges zu tun haben, dessen ideologisches Schlachtfeld nicht zuletzt Westdeutschland war.

Aber die Autoren dieses Buches schweigen über die deutsche „Tiefengeschichte“ ihrer eigenen Ideologie. Die Autoren bekritteln lieber das deutsche Pflichtbewusstsein oder sie beklagen sich darüber, dass die USA versuchten, andere Länder vor dem Kommunismus zu bewahren, anstatt dass sie einmal vor ihrer eigenen Türe kehren würden.

Deutschland heute

Die Autoren beobachten richtig, dass die Selbstwahrnehmung der Deutschen heute massiv gestört ist. So wurde in der BRD z.B. der ökonomische Erfolg zur nationalen Ersatzerzählung (S. 328). Die Leitkultur-Debatte findet keinen gemeinsamen Nenner und ist gerade auch deshalb typisch deutsch (S. 339). Teilweise wird gerade das Negative, das man am eigenen Land finden kann, als „typisch deutsch“ bezeichnet (S. 339 f.), wie wenn es nichts Gutes am deutschen Wesen gäbe. – Der Grund dafür ist natürlich die bereits erwähnte, allzu pauschale Verurteilung der eigenen Vergangenheit. Doch diesen Grund erwähnen die Autoren dieses Buches nicht, denn sie betreiben diese pauschale Verurteilung kräftig mit. So behaupten sie z.B., der Rechtsradikale Bernd Höcke hätte sich eines „faschistischen Narrativs“ bedient, als er eine Erinnerungskultur forderte, die uns Deutsche mit den Leistungen der Vorfahren in Berührung bringt (S. 297). Aber damit verfehlen sie den Punkt, wo das Problem bei Höckes Aussage liegt. Denn die Erinnerung an die Leistung der Vorfahren ist keinesfalls „faschistisch“. Problematisch ist vielmehr, dass Höcke zugleich die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit austilgen wollte. Indem sie diesen Punkt verfehlen, und die bloße Erinnerung an die Leistungen der Vorfahren für „faschistisch“ erklären, stricken die Autoren erneut kräftig mit an der nationalen Selbstverklemmung.

Zuguterletzt schlagen die Autoren vor, Angela Merkels „Wir schaffen das“ zur Grundlage einer deutschen Leitkultur zu machen (S. 342, 340). Die Autoren schätzen an Merkel vor allem ihre Zuversicht. Doch diese Zuversicht war naiv und unbegründet. Denn Merkel steht für eine Politik des geringsten Widerstandes, die nicht nach dem Morgen fragt, sondern sich radikal darauf beschränkt, Probleme für den Moment aufschiebend zu „lösen“. Probleme, die dann späteren Zeiten schwer auf die Füße fallen. Angela Merkel steht überdies für die asymmetrische Demobilisierung des demokratischen Wettstreites von Links und Rechts und für ein Handeln im Quasi-Notstand. Dadurch wurde die Demokratie durchaus beschädigt (Euro-Krise, Atomausstieg, Corona-Krise, u.a.). Diese naive Politik führte Deutschland in eine babylonische Verwirrung, die bis heute anhält. „Typisch deutsch“ sei neben Demokratie und Frieden auch Angela Merkel, meinen die Autoren.

Die Idee der Leitkultur sei von Bassam Tibi zudem nie national gemeint gewesen (S. 341). Es geht den Autoren dieses Buches also nicht um eine deutsche Leitkultur, sondern um eine Leitkultur für ein Land, das zwar noch Deutschland heißt, aber nicht mehr deutsch sein soll. Das sagen die Autoren nicht so deutlich, aber darum geht es. Im Grunde sind sie damit genau bei jener gefährlichen „Selbstlosigkeit“ der Deutschen angelangt, die Sebastian Haffner beklagt hatte. Nur, dass die Deutschen diesmal nicht für eine rassistische Ideologie naiv in Dienst genommen werden sollen, sondern für eine öko-marxistische Ideologie. Die Autoren wissen schon, warum sie das Zitat von Haffner nicht im Volltext gebracht haben.

Tiefengeschichte der USA: Trottel und Egomanen

Nachdem sich die Autoren an der Tiefengeschichte Deutschlands versucht haben, zeichnen sie auch die Tiefengeschichte der USA nach, so wie sie es sehen. Die Flachheit der Darstellung ist erbärmlich.

Der typische Anti-Amerikaner glaubte schon immer, dass nur Gauner, Taugenichtse und Tagediebe nach USA ausgewandert seien, und die USA deshalb eine von Grund auf kriminelle Gesellschaft seien. Die Autoren dieses Buch bieten nun eine „intellektuelle“ Variante dieses antiamerikanischen Narrativs: Die ersten Einwanderer nach (Nord-)Amerika waren diesem Buch zufolge hyperreligiöse Feinde der Naturwissenschaft, goldsuchende Glücksritter, und nicht zuletzt viele gutgläubige „Vertragsknechte“, die so dumm waren, sich von den Kolonialgesellschaften für eine Auswanderung anwerben zu lassen (S. 321). Dazu zitieren die Autoren unwidersprochen ihre autoritativen Quellen: Diese sagen z.B., dass „die amerikanische Gesellschaft dadurch geformt [wurde], dass eine Art natürliche Auslese derjenigen Menschen stattgefunden hat, die bereitwillig an Werbung glaubten“, und: „Die erste große angelegte Werbekampagne der westlichen Welt zielte somit darauf ab, für die Gründung Amerikas genug Trottel und Träumer anzulocken.“ (S. 321 Fußnote) – Ein Blick in Wikipedia widerlegt das Bild schnell: Die ersten Siedler der Kolonie Jamestown waren Adelige, zweitgeborene Söhne und deutsche Handwerker.

Weiter meinen die Autoren, dass das Streben nach individuellem Glück, das als höchstes Menschenrecht in den Verfassungstexten der USA verbrieft ist, die Zerstörung des Glücks anderer inhärent bedingen würde. Nämlich das Glück der Indianer und der schwarzen Sklaven (S. 322). Auch das ist ganz großer Blödsinn, oder „ganz großes Kino“, um den Autoren einmal den narrativen Narrenspiegel vorzuhalten. Denn das Streben nach individuellem Glück geht natürlich nicht automatisch einher mit der Zerstörung des Glückes anderer. Zudem waren es diese protestantischen, gläubigen und arbeitssamen Amerikaner, die die Sklaverei schließlich abschafften. Es waren die industrialisierten Nordstaaten unter Führung der Republikanischen Partei, die die Sklaverei abschafften, nicht die rückständigen, agrarisch geprägten Südstaaten unter Führung der Demokratischen Partei.

Und die Indianerfrage ist wiederum ein Kapitel für sich. Die größte Zahl der Indianer kam durch Krankheiten aus Europa ums Leben, auf die ihr Immunsystem nicht vorbereitet war. Das aber kann man niemandem zum Vorwurf machen. Ebenfalls schicksalhaft ist der Umstand, dass die Europäer kulturell unendlich viel weiter entwickelt waren als die Indianer. Ein Zusammenleben war nur möglich, wenn die Indianer den Entwicklungsabstand im Zeitraffer nachvollzogen hätten. Aber wie bewerkstelligt man das, ohne den Indianern ihre Identität zu nehmen? Wie überzeugt man auf die Schnelle eine gewachsene Stammeskultur, sich in die Moderne zu transformieren? Es wäre viel geholfen, wenn die Autoren dieses Dilemma anerkannt hätten, und wenn sie zugeben würden, dass ein guter Ausgang auch ohne einen Präsidenten Andrew Jackson keineswegs eine ausgemachte Sache gewesen wäre. Bereits die ersten Seiten von Karl Mays „Winnetou“ markieren ein bedeutend höheres Reflexionsniveau der Indianerfrage als dieses Buch.

Tiefengeschichte der USA: Fake News

Weiter stellen die Autoren die USA als das Land der Fake News schlechthin dar. Eine magische, naturwissenschaftsfeindliche Vorstellung sei den hyperreligiösen Pilgervätern eigen gewesen (S. 321). Der Zirkusdirektor P.T. Barnum wird als Erschaffer von Illusionswelten dargestellt. Folgender Satz von P.T. Barnum würde perfekt zusammenfassen, dass die USA ein „Fantasyland“ seien: „Weist eine erfundene Aussage ausreichend Spannung auf, und kann niemand beweisen, dass sie nicht stimmt, dann ist es mein Recht als Amerikaner, daran zu glauben.“ (S. 323 Fußnote) Die Autoren dieses Buches bemerken nicht, dass sie mit dieser Kritik an den Grundrechten von Meinungs- und Religionsfreiheit sägen. Was P.T. Barnum hier sagt, ist keineswegs die Deklaration eines Fantasylandes, sondern schlicht die Deklaration eines freien Landes. Man möge zur Probe einmal die Verneinung des Zitats von P.T. Barnum formulieren, und man landet direkt im Totalitarismus.

Die Autoren zeigen sich der Aufgabe eines adäquaten Umgangs mit dem Phänomen „Fake News“ generell nicht gewachsen. Denn dazu müsste man Fake News auf ihre Wahrheit hin überprüfen. Aber genau das tun die Autoren dieses Buches nie: Etwas auf Wahrheit überprüfen. Denn es gibt ihrer Meinung nach ja gar keine Wahrheit bzw. sie tun ständig so, als seien sie selbst stets im Besitz derselben. Deshalb haben sie auch nicht begriffen, dass die „alternativen Fakten“ von Kellyanne Conway keineswegs als Fake News zu verstehen waren (S. 326). Kellyanne Conway hatte tatsächlich eine alternative Quelle anzubieten, die eine alternative Geschichte erzählte (nämlich die Zahlen der Metrofahrgäste des Park Services, im Streit um die Frage, wieviele Gäste zu Trumps Inauguration anwesend waren). Darüber, was ein „Fakt“ ist, muss in einem freien Land durchaus diskutiert werden dürfen. Sonst hätte ja derjenige tyrannische Macht, der festlegt, was ein Fakt ist. Mit einigem Recht sagte schon Nietzsche: „Fakten existieren nicht“, denn für uns Menschen existiert jedes Faktum immer nur unter der Perspektive einer gewissen Interpretation. Oder mit Kant gesprochen: Das „Ding an sich“ ist für uns Menschen nicht wahrnehmbar. Aber ein solches Reflexionsniveau darf man sich von diesem Buch nicht erwarten.

Für die Autoren dieses Buches sind Querdenker einfach nur Corona-Leugner, die „Protofaschismen“ reproduzieren (S. 307). „Protofaschistisch“ unterwegs sei auch, wer glaube, dass die demokratisch legitimierten Eliten korrupt seien (S. 308). Mit solchen steilen Thesen lehnen sich die Autoren sehr weit aus dem Fenster, denn zu den Themen Corona und Korruption von Demokraten könnte manche wahre Geschichte erzählt werden. – Gleichzeitig erlauben sich die Autoren, Wahrheiten auszusprechen, die sonst als rassistisch galten: So schreiben die Autoren seelenruhig die simple Wahrheit, dass chinesische Billigarbeiter in Norditalien dort zur schnellen Verbreitung des Coronavirus beigetragen haben (S. 451). Damals „durfte“ man das aber nicht sagen, erst recht nicht als Konservativer! Hans-Werner Sinn wurde dafür z.B. in einer Talkshow gerüffelt. Man erinnert sich auch noch, wie Donald Trump als „rechts“ verschrieen wurde, weil er den Coronavirus auch den „Chinese virus“ zu nennen wagte. Die Autoren bemerken offenbar nicht, dass sie hier selbst tun, was gestern noch verschrieen war, und wie willkürlich das alles ist. Aber das ist typisch für Ideologen: Sie denken nie darüber nach, dass sie sich auch selbst an das halten müssen, was sie von anderen verlangen.

Zuguterletzt produzieren die Autoren selbst Fake News: Angeblich hätte nämlich der US-Sender Foxnews die sogenannte Pizzagate-Verschwörung aufgegriffen und weiterverbreitet: Kern dieser Verschwörungserzählung ist die These, dass sich hochrangige Politiker im Keller einer Pizzeria in Washington an Kindern vergehen würden (S. 207). Aber hatte der Sender Foxnews das wirklich getan, diese Geschichte als wahr verkauft?! Nein. Eine Recherche fördert keinen Beleg zutage. Im Gegenteil: Auf Wikipedia wird Foxnews in die Reihe derjenigen Medien gestellt, die die Story als falsch entlarvt hatten. Damit haben die Autoren dieses Buches selbst Fake News verbreitet. – Hinzu kommt: Mit dem Skandal um Jeffrey Epstein ist die Pizzagate-Geschichte der Wahrheit näher gekommen, als es uns allen lieb sein kann. Hochrangige Politiker, vielleicht auch Bill Clinton, haben sich tatsächlich an Minderjährigen vergangen, nur eben nicht in dieser Pizzeria. – Überhaupt meinen die Autoren dieses Buches, dass die Vorwürfe, die Trump gegen Hillary Clinton richtete, alle Fake News waren (S. 206 f.). Und Barack Obama würde aus „bescheidenen Verhältnissen“ stammen, schreiben sie, ohne rot zu werden (S. 318).

Die Autoren haben das Thema „Fake News“ sichtlich nicht im Griff. Sie haben mit diesem Buch leider nichts zur Lösung des Problems beigetragen. Die Autoren und ihr Buch sind selbst Teil des Problems.

Tiefengeschichte der USA: „Faschismus“

Überall lauere in den USA der „Faschismus“. Gerade auch in der Pop-Kultur. Dort würde eine „faschistische“ Ästhetik positiv dargestellt (S. 289). Das mag so sein. Aber im Allgemeinen sind es gerade Linke, die eine totalitäre Ästhetik immer wieder mahnend und warnend reproduzieren. Wer hat sich denn in Hollywoodfilmen für diese Ästhetik entschieden, wieder und wieder und wieder? Auch in Deutschland ist die häufigste Person auf dem Cover des linken Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ Adolf Hitler. Botho Strauß schrieb in seinem „Anschwellenden Bocksgesang“: „Überhaupt ist pikant, wie gierig der Mainstream das rechtsradikale Rinnsal stetig zu vergrößern sucht, das Verpönte immer wieder und noch einmal verpönt, nur um offenbar immer neues Wasser in die Rinne zu leiten, denn man will’s ja schwellen sehen, die Aufregung soll sich ja lohnen. Das vom Mainstream Missbilligte wird von diesem großgezogen, aufgepäppelt, bisweilen sogar eingekauft und ausgehalten.“

Was die Autoren nicht verstanden haben: Wenn eine Ideologie penetrant wird, dann verliert sie jede Glaubwürdigkeit und wird durch ihre eigene penetrante Symbolik ironisiert. Die Autoren haben richtig erkannt, dass der Christchurch-Attentäter nur aus böser Ironie Computerspiele als Ursache seiner Radikalisierung angibt (S. 290). Auch die Ikonographie von Pepe dem Frosch ist so zu verstehen (S. 291). Was die Autoren aber nicht begreifen ist, dass es die propagandistische Penetranz ihres eigenen politischen Lagers ist, die diese Dinge hervorbringt.

Völlig ohne jede Ironie sehen die Autoren überall eine „Hundepfeifenkultur“ (dogwhistle culture) (S. 290). Überall gäbe es rassistische Codes. Völlig harmlose Worte, ja, auch völlig offene und ehrliche Worte werden von ihnen rassistisch umgedeutet. So würde Trump z.B. alle Latinos diskriminieren, wenn er von „bad hombres“ spricht. Blödsinn. Trump spricht damit einfach die simple Tatsache an, dass die unkontrollierte Massenzuwanderung aus Lateinamerika auch viele Bösewichter mit ins Land bringt. Wie verbohrt muss man sein, um in dieser klaren und wahren Aussage einen rechtsradikalen Code erkennen zu wollen?

Die Geschichte der 300 Spartaner, die bisweilen von Rechtsradikalen missbraucht wird, wird von den Autoren als eine „von vorne bis hinten erfundene“ Geschichte dargestellt (S. 274 f.). Dazu werden eine ganze Reihe von Eigenschaften der Geschichte explizit durchgesprochen und für unwahr erklärt. Doch ein Blick in die Historien des Herodot lehrt: Im großen und ganzen ist die Geschichte eben doch wahr und nicht erfunden. Sie wird zwar von Rechtsradikalen missbraucht, das ist wahr, aber sie ist nicht „von vorne bis hinten erfunden“. An dieser Stelle fragt man sich als Leser zum soundsovielten Mal: Warum machen die Autoren das? Warum sprechen sie so direkt und leicht nachprüfbar die Unwahrheit? Auf diese Weise bekämpft man doch keinen Rechtsradikalismus, sondern füttert ihn!

Die Autoren behaupten zudem, dass das Kennzeichen einer rechtsradikalen „Heldenreise“ darin bestünde, dass sich der Held nicht ändern muss, während eine „echte“ Heldenreise eine Transformation des Helden beinhalte. Das habe Umberto Eco beobachtet (S. 276 ff.). – Wir erlauben uns, daran zu zweifeln. Denn gilt nicht dasselbe für die „Heldenreise“ des Sozialismus? Zunächst ist im Sozialismus jeder ein Held: Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will. Das Ziel des Sozialismus besteht aber nicht darin, sich selbst zu verändern. Sondern das Ziel des Sozialismus ist die Wiedergewinnung der Gleichheit, die angeblich einst in der Urgesellschaft geherrscht hätte. Nicht der Mensch soll sich verändern, sondern das System. Und dafür wird in der Internationale zur „letzten Schlacht“ aufgerufen. – Aber auch Demokraten kämpfen oft mit Recht darum, dass es keine schädliche Veränderung gibt. Die Bewahrung der natürlichen Umwelt, die Bewahrung von historischer Bausubstanz, die Bewahrung von sozialen Rechten, und nicht zuletzt die Bewahrung der Demokratie vor ihren Feinden: All das sind „Heldenreisen“, in denen es nicht um Transformation geht, sondern darum, dass sich nichts verändert. Und auch Odysseus kämpft nicht für eine bessere Zukunft, sondern um seine Heimkehr in das altgewohnte Ithaka. – Insofern ist die ganze Idee, die hier präsentiert wird, unsinnig. Auch wenn sie von Umberto Eco stammen sollte.

Ironischerweise unterstellen die Autoren der Trump-Bewegung, es sei „faschistisch“, zurück zu den guten alten Zeiten zu wollen (S. 296). Aber auch die Sozialisten wollen zurück zur Gleichheit der Urgesellschaft. Andererseits ist auch ein Zurück eine Art der Transformation. Und warum sollte es falsch sein, sich nach besseren Zeiten zurück zu sehnen, wenn die Zeiten tatsächlich besser waren? Diese ganze Idee, dass eine „faschistische“ Heldenreise angeblich nicht in Selbsttransformation bestehen würde, ist offensichtlich falsch und wird hier willkürlich eingesetzt, um missliebige Ideen zu diskreditieren. Nicht zuletzt wollen auch die Autoren dieses Buches zurück, nämlich zurück in die Zeit, als es noch keine Monogamie gab (S. 353). Und keine industrielle Umweltverschmutzung. Aber das gilt dann nicht als „faschistisch“. Tja.

Tiefengeschichte der USA: Schluss

Soweit die Sicht auf die „Tiefengeschichte“ der USA. In Wahrheit war es eher ein tiefer Blick in die Untiefen der Seelen der Autoren dieses Buches. Was haben sie nicht alles falsch analysiert! Und mehr noch: Was haben sie nicht alles unterschlagen! Das,was sie nicht sagen, wollen wir jetzt noch kurz etwas beleuchten.

Die USA sind keinesfalls ein Fantasyland, sondern im Gegenteil das Land der harten Realitäten. Hier mussten die Siedler sich alles selbst aufbauen. Was sie nicht selbst erschufen, das gab es auch nicht. Und es gab auch keine Monarchie, keinen Adel und keine beherrschenden Kirchen wie in Europa. Etwas böswillig und ungerecht, aber nicht völlig falsch, könnte man sagen: Dieser ganze Fantasy-Firlefanz, den es in Europa gab, den gab es in Amerika nicht. Und Disney spielt vor allem mit Phantasien, die es in Amerika eben gerade nicht gibt, symbolhaft verkörpert im Disney-Schloss. Es gibt keine Schlösser in Amerika.

Aber vor allem ist Amerika das Land der Freiheit. Die ganzen Bedrückungen durch Staat, Religion und Tradition aus dem alten Europa schüttelte man hier ab. Hier wurde nicht jeder Tellerwäscher zum Millionär, aber anders als in Europa hatte jeder Tellerwäscher hier tatsächlich die Chance, zum Millionär aufzusteigen, ohne von gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen daran gehindert zu werden. Dieses Versprechen der Freiheit war es, das viele Zuwanderer anlockte. Und dieses Versprechen der Freiheit haben die USA auch gerne an andere weitergereicht. Nicht zuletzt auch durch die Befreiung Europas 1945 vom Nationalsozialismus und 1989 vom Kommunismus, und durch den Aufbau der Demokratie in Deutschland. Davon schweigen die Autoren aber. Es kommt in ihrem Buch nicht vor. Es hätte nicht in ihr Narrativ gepasst.

Donald Trump

Die Autoren dieses Buches sehen in Donald Trump die fleischgewordene amerikanische Tiefengeschichte, so wie sie es verstehen: Trump ist für sie ein Trottel, ein Rassist, ein „Faschist“, ein notorischer Lügner. Ganze 30573 Lügen soll Trump erzählt haben, zitieren sie die Washington Post (S. 293). Und sie glauben den Unsinn natürlich. Doch wer je einen „Faktencheck“ zu Trump gelesen hat, weiß, dass hier politisch unliebsame Meinungen kurzerhand zur „Lüge“ erklärt wurden. Oder Trumps ironisches Sprechen wurde als „Lüge“ gewertet.

Trump sei „gegen Ausländer“, und er habe seine Anhänger angewiesen, das Kapitol zu stürmen, schreiben die Autoren dieses Buches (S. 319). Auch das ist alles Unsinn. Es waren die Proud Boys und Oathkeepers und andere böse Buben, die sich am 06. Januar 2021 nicht bei Trumps Rede am Weißen Haus, sondern direkt am Kapitol versammelten und dieses gezielt stürmten, während Trump noch eine halbe Stunde lang redete. Als dann ein kleiner Teil der Zuschauer von Trumps Kundgebung zum Kapitol herübergelaufen kam, war der Durchbruch durch die Polizeiabsperrung schon geschehen, und die Trump-Anhänger wunderten sich, warum sie von der Polizei durchgewunken wurden. Und während Trump twitterte „Respect the police“ schrieen einige Radikale im Kapitol „Fuck the police“. Aber die Autoren dieses Buches meinen, dass es die Verkörperung von Trumps Amerika nur für weiße Proud Boys gäbe (S. 295). Doch gerade von den Proud Boys hat sich Trump explizit distanziert. Davon berichten die Medien aber nicht. Die Autoren dieses Buches auch nicht. Wer verbreitet hier eigentlich Fake News?

Die Autoren zitieren eine ihrer vielen Autoritäten, natürlich wie immer unwidersprochen und damit zustimmend, dass die Wähler Trumps mit ihrer Wahl gegen ihre eigenen ökonomischen Interessen gehandelt hätten (S. 312). Man muss allerdings sehr linksradikal denken, um das so sehen zu können. Denn ist es nicht wahr, dass die USA viele Industriearbeitsplätze an andere Länder abgegeben hatte? Ist es nicht wahr, dass die internationalen Handelsabkommen oft nicht fair waren? Ist es nicht wahr, dass unkontrollierte Masseneinwanderung gerade den kleinen Leuten besonders viel zu schaffen macht? Ist es nicht wahr, dass die linksradikalen Vorstellungen von Klimaschutz Industrie und Wohlstand zerstören? Auch Julian Nida-Rümelin kam zu dem Schluss, dass die Trumpwähler keineswegs gegen ihre eigenen Interessen verstießen („Die gefährdete Rationalität des Denkens“, S. 76 f.). Und last but not least: Es gibt nicht nur ökonomische Interessen, sondern z.B. auch kulturelle Interessen. Aber um solche Interessen erkennen und anerkennen zu können, müsste man mehr als nur ein Materialist sein.

Die Autoren versuchen den Zorn der Trumpwähler mit einem „Warteschlangenmodell“ zu erklären (S. 315-317). Demzufolge würden die Trumpwähler glauben, sie würden in einer langen Warteschlange stehen, die nach Verdienst geordnet ist, und wer am meisten Verdienst hat, rückt nach vorne auf und wird am meisten belohnt. Wenn dann Schwarze und Latinos u.a. vor ihnen bevorzugt werden und an der Warteschlange vorbeiziehen, um im Sinne des Wokismus historische Ungerechtigkeiten auszugleichen, würden sie das als ungerecht empfinden. Insbesondere den Aufstieg Obamas hätten die Trumpwähler in diesem Sinne nicht akzeptieren können.

Diese Theorie ist auf vielen Ebenen Unsinn. Erstens ist der Aufstieg eines Einzelnen wie Obama für niemanden ein Problem, gerade auch in USA nicht. Das Problem mit Obama war nicht seine Hautfarbe, sondern seine linke Politik. – Hingegen ist die woke Mode, Minderheiten überproportional zu bevorzugen, um damit angeblich historische Ungerechtigkeiten wiedergutzumachen, tatsächlich völlig falsch und ungerecht, denn es gibt keine Kollektivschuld und auch keine historische Schuld, die sich vererbt. Selbstverständlich ist es ungerecht, wenn man nicht nach Verdienst belohnt wird. – Drittens dürfte genau dieses woke Phänomen aber 2016 noch nicht den Ausschlag für Trump gegeben haben, sondern einfach der Niedergang der Industriearbeitsplätze und die linke Politik Obamas. – Mit anderen Worten: Die Autoren glauben, eine Wirkung ihrer woken Gesellschaftspolitik zu sehen, die so aber noch gar nicht vorlag, und sie unterstellen den Trumpwählern außerdem, zu dumm zu sein, um die Richtigkeit ihrer woken Gesellschaftspolitik zu verstehen, obwohl diese woke Politik völlig irre ist. Aber in Wahrheit ging es gar nicht um die woke Gesellschaftspolitik, sondern um etwas ganz anderes, und die Autoren dieses Buches sind dermaßen in ihrer Ideologie gefangen, dass sie es nicht sehen können.

Gegen Monogamie

Die Autoren wettern wiederholt gegen die Monogamie, also gegen das Ideal der Liebesbeziehung von zwei Personen (z.B. 353-355, 375). Die Menschen würden von diesem falschen Narrativ beherrscht und dadurch in unnötige Probleme geraten. „Treue“ wird in Anführungszeichen geschrieben. Man belüge sich nur selbst. – Damit bleiben die Autoren sich treu. Denn bei Marx und Engels las man es nicht anders. Marx und Engels wollten außerdem die Eltern von der „Last“ ihrer Kinder „befreien“: Dieser Gedanke bleibt hier jedoch ungesagt.

Weiter schreiben die Autoren: Die biologische Realität habe mit der Monogamie nichts zu tun. Angeblich wäre der Mensch ursprünglich polygam gewesen. Erst mit der Sesshaftwerdung sei die Monogamie entstanden. Zu diesen Urzuständen wollen die Autoren dieses Buches zurück.

Dem ist zu entgegnen: Ist Liebe und Treue wirklich nur Lug und Trug? Wenn es so wäre, die Menschheit wäre längst den Kältetod gestorben. Natürlich: Das reine Ideal ist schwer zu verwirklichen. Aber dass Ideale schwer zu verwirklichen sind, war noch nie ein Grund, sie fallen zu lassen. Familie hält und bewährt sich, trotz allem, immer wieder. Weiter gilt: War der Übergang von der Horde zur Einehe nicht ein zivilisatorischer Fortschritt? Man bedenke: In der Zeit der Horde hat der Hordenführer alle Frauen für sich gehabt, und vielleicht noch einige Günstlinge partizipieren lassen. Der Übergang zur Einehe ist eindeutig ein großer Schritt in Richtung Freiheit und Gerechtigkeit gewesen, sowohl für Männer als auch für Frauen. Und warum loben islamische Frauenrechtlerinnen den Westen für die Einehe? Vielleicht ist die Vielehe für Frauen doch nicht so erstrebenswert. Hinzu kommt, dass es auch für die Erziehung der Kinder ein entscheidender Unterschied ist, ob sie in einer intakten, „klassischen“ Familie aufwachsen oder nicht. Menschenkinder sind keine Affenkinder, die einfach in der Horde mitgeschleift werden können. Auch die davor genannten Punkte lassen sich bereits mit Biologie untermauern, denn auch unsere Gehirne sind evolutionär fest verdrahtet, aber vielleicht ist es dieser letzte Punkt der Kindesentwicklung, der am ehesten sinnfällig werden lässt, dass es um biologische Realitäten geht, die man nicht hintergehen kann.

Es sind die Strukturen der Wirklichkeit selbst, die dazu führen, dass traditionelle Ideale eben doch tendentiell zum Glück führen, während alternative Modelle häufig scheitern. Einzig, dass man das nicht holzschnittartig sehen darf, und jeder Mensch im Einzelfall für sich selbst entscheiden muss. Aber die Idee, dass die menschliche Gesellschaft großflächig polygam leben könnte und dadurch glücklicher wäre als jetzt, ist wieder einmal „ganz großes Kino“.

Gegen Männer

Wir schicken voraus, dass es richtig ist, dass sich im Rahmen der sogenannten Manosphere und der Incel-Bewegung gewisse Tendenzen zeigen, die rechtsradikal sind, abgesehen davon, dass es dort offenbar an klassischer Lebensweisheit fehlt. Doch natürlich treiben die Autoren auch dieses Thema ideologisch auf die Spitze.

Männer werden in diesem Buch nach Strich und Faden kritisiert (vor allem S. 367-374). Männerrechte und „Faschismus“ werden in einem Atemzug genannt (S. 372). Hier wie überall verschwenden die Autoren keine einzige Sekunde auf den Gedanken, dass die Radikalität der eigenen, linken Seite, maßgeblich mitschuld daran sein könnte, dass sich die Gesellschaft in so seltsamen Gruppen wie Manosphere und Incel polarisiert hat. Die Autoren sehen dort mit einigem Recht viel Zynismus, Nihilismus, Sarkasmus und Resignation (S. 373). Aber sind die Autoren nicht selbst zynisch? Sie beschreiben den Menschen als eine Maschine oder als „erzählenden Affen“. Sie glauben, die Menschen mit Narrativen manipulieren zu können und zu dürfen. Sie sind Marxisten und Materialisten. Sie machen rücksichtslos von der Unwahrheit Gebrauch. Und diese Autoren beklagen sich, dass sich die Gesellschaft polarisiert und zynische und nihilistische Gegenbewegungen entstehen?!

Aber mehr noch: Der Gipfel ist, dass die Autoren der Kernthese der Incel-Bewegung sogar ausdrücklich Recht geben und diese Zustände gutheißen! (S. 373 f.) Demzufolge würden heute in der westlichen, aufgeklärten Welt 20% der Männer 80% der Frauen absahnen, wie im Tierreich. Wir wissen nicht, ob das stimmt, aber es ist etwas Wahres daran. Jedenfalls bestätigen die Autoren dieses Buches diese These und finden es: Gut! Und sie rechtfertigen diesen Zustand: Mit dem Tierreich! Der Gedanke der Incels, dass in einer idealen Welt jeder eine Frau abbekommen sollte, wird „autoritär“ genannt, denn niemand habe Anspruch auf eine Frau. – Dieselben Autoren, die gegen das Patriarchat sind und (mindestens) für die Gleichberechtigung der Frau, haben also kein Problem damit, dass sich Zustände einstellen, in denen ein paar Machos die Mehrzahl der Frauen abbekommt?! Und sie vergleichen das Kulturwesen Mensch mit Tieren?! Und wer die Zustände beklagt und zu äußern wagt, dass er auch gerne eine Frau haben würde, der sei „autoritär“?! Das alles muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Da ist es durchaus verständlich, wenn auch nicht billigbar, wenn manche sarkastisch werden und sich als Incel in der Manosphere radikalisieren. Dieser Vergleich mit dem Tierreich ist keinen Deut besser als der typische Macho-Vergleich mit dem Tierreich, demzufolge nämlich Männer angeblich von Natur aus danach streben würden, ihren Samen möglichst breit auszustreuen, weshalb sie das natürliche Recht auf Promiskuität hätten – Frauen jedoch nicht. Auf diesem Niveau bewegen sich die Autoren dieses Buches hier.

Und was die Autoren ebenfalls völlig unbedacht lassen: Jede Zivilisation steht und fällt mir ihrer Reproduktion in der nächsten Generation. Wenn eine Kultur, und sei sie noch so erstrebenswert, an dieser Aufgabe scheitert, dann geht sie unter, und es wird unweigerlich eine andere Kultur übernehmen. Meistens wird es eine Kultur sein, die bei weitem nicht so aufgeklärt ist. Diese Problematik wird in diesem Buch völlig übergangen. Fortschritt ist in jedem Fall nur dann nachhaltig, wenn er für mehr als nur für eine Generation erkämpft wurde. Aber der Leser möge nicht vergessen: Der Mensch selbst gilt in diesem Buch als der große Antagonist, und es gilt, den Menschen zu überwinden … aha!

Auch das Narrativ der „Heldenreise“ sei inhärent sexistisch, meinen die Autoren dieses Buches. Die Heldenreise würde patriarchales Anspruchsdenken codieren, denn am Ende bekommt der Held immer seine Frau (S. 363). Die Heldenreise wäre inhärent heteronormativ, ginge also von der Einteilung der Menschen in Mann und Frau aus (S. 361). Und die Heldenreise würde auf dem Kapitalismus als kultureller Norm beruhen, denn allein schon das Konzept eines Gewinns als Ziel der Heldenreise zeige das (S. 361). Die Heldenreise sei wie ein männlicher Orgasmus strukturiert (S. 362). Alternativ wird eine feministische Heldenreise vorgeschlagen, mit vernetzten Heldinnen (S. 365).

Wer wie unsere Autoren mit allen Traditionen und Werten brechen will, die in Jahrtausenden gewachsen sind, der hat mit der „Heldenreise“ natürlich so seine Probleme. So große Probleme, dass er sich dabei in Selbstwidersprüchen verstolpert. Denn auch die vorgeschlagene feministische Heldenreise zielt auf einen Gewinn ab, wenn auch einen gemeinsamen Gewinn unter Freundinnen. Wieso das nicht mehr „kapitalistisch“ sein soll, bleibt unerfindlich. Abgesehen davon, dass z.B. auch Odysseus immer auch mit und um das Leben seiner Gefährten ringt und Hilfe durch die Götter erfährt, also ebenfalls „vernetzt“ ist. Und um überhaupt feststellen zu können, dass die Heldenreise angeblich patriarchalisch ist, und um überhaupt einen feministischen Gegenentwurf präsentieren zu können, müssen die Autoren ihrerseits eine heteronormative Weltsicht annehmen. Das alles geht nicht wirklich schlüssig auf, und am Ende bleibt die banale Erkenntnis, dass die Heldenreise vielleicht tatsächlich patriarchale und kapitalistische Aspekte hat, über die man reden kann, aber im Kern ist sie doch einfach ein zutiefst menschliches Narrativ, das alle Menschen anspricht.

Für Frauen

Frauen werden in diesem Buch praktisch nirgends auch nur annähernd kritisch in den Blick genommen. Warum eigentlich nicht? Sind Frauen denn unfehlbar? So stellt es sich dar. Und sind die Autoren nicht für Gleichberechtigung? Offenbar nicht, sondern im Rahmen des Wokismus wird offenbar versucht, die historisch angeblich benachteiligten Frauen mehr als nur gleichzuberechtigen.

Es wäre interessant gewesen zu erfahren, was die Autoren dieses Buches z.B. zu den Thesen von Esther Vilar sagen würden, die in ihrem Buch „Der dressierte Mann“ schon 1971 feststellte, dass Männer in der modernen Gesellschaft inzwischen schlechter gestellt sind als ihre Ehefrauen. Doch die Autoren müssen gedacht haben, dass solche Gedanken die „erzählenden Affen“ nur verwirren würden. Also schweigen sie dazu.

Die Autoren beklagen, dass in alten Mythen und auch in den Texten der Weltliteratur aller Zeiten immer wieder zum Ausdruck komme, dass die Frau schuld sei (S. 346 ff.). Es handele sich um „misogyne Propaganda“. – Doch so einfach ist es nicht. Denn obwohl in alten Mythen und Texten vieles recht holzschnittartig dargestellt wird, sind darin doch womöglich tiefere Wahrheiten verborgen, die man nicht so einfach los wird, indem man die Texte zensiert. Es gibt einen Grund, warum sich solche Themen in allen Kulturen und in allen Zeiten herausgebildet haben. Wenn es alles reine Erfindung wäre, die den Menschen nichts zu sagen hätte, wie hätten sich solche Themen dann halten können? Die Idee, dass das alles nur „misogyne Propaganda“ wäre, erscheint doch recht einfältig. Die wahre Aufgabe bestünde doch eher darin, die alten Texte von ihrer Holzschnittartigkeit zu befreien und die bleibende Substanz freizulegen. Psychologie und Geschlechterforschung haben dazu viel zu sagen. Auch Frauen haben ihre ganz eigenen, typischen Fehler. Und über diese müsste gesprochen werden. Doch nicht in diesem Buch.

Die Autoren leugnen, dass im Drama um Prinz Harry und Meghan Markle die Frau schuld sei (S. 356). Doch natürlich ist sie schuld. Meghan Markle hat nicht verstanden, welchen Sinn und Wert die britische Monarchie hat. Und sie hat nicht verstanden, dass ihre ideologisch getriebene Hypersensibilität in Sachen Rassismus völlig abgehoben und unmenschlich ist. Doch die Autoren dieses Buches behaupten, es wäre die Presse gewesen, die ein misogynes Narrativ auswählte.

Die Autoren dieses Buches behaupten frech, dass die Helden in den klassischen Heldenreisen praktisch immer Männer wären (S. 359). Doch dieser Unfug lässt sich durch Gegenbeispiele leicht widerlegen. Da ist z.B. die Heldenreise der Penelope, die ebenfalls auf ihre Weise kämpfen und leiden muss, bis Odysseus nachhause zurückkehrt. Oder Helena, die sich entscheidet, mit Paris aus ihrer Ehe nach Troja zu fliehen und dadurch eine Katastrophe heraufbeschwört. Oder Medea, die am Ende ihre eigenen Kinder tötet. Oder Iphigenie auf Tauris. Oder Kleopatra, die ihr Leben lang in immer neuen Wendungen um Ägypten kämpfte. Oder die Königin Zenobia von Palmyra, die Rom die Stirn bot. Oder die Philosophin Hypatia von Alexandria. Und was ist eigentlich mit Kallirrhoë in dem Roman „Chaireas und Kallirrhoë“ von Chariton von Aphrodisias? Sie ist die Hauptperson in diesem epochemachenden antiken Romanwerk, doch unsere angeblich literarisch beschlagenen Autoren wissen davon nichts.

Rassismus

Die Autoren verbreiten das Narrativ, dass Menschenrassen dazu erfunden wurden, um weiße Privilegien zu legitimieren. Die Portugiesen, die im 15. Jahrhundert an der westafrikanischen Küste entlangsegelten, hätten alle Schwarzafrikaner wie ein Volk, eine Rasse, angesehen, und sie für primitiv gehalten – indem man sie versklavte, befreite man sie von ihrer Primitivität (S. 259 ff.). Dieses Narrativ stellt die Dinge allerdings grob vereinfacht dar und verfälscht sie damit. Denn die portugiesischen Seefahrer, die als erste Europäer den schwarzen Menschen Afrikas südlich der Sahara direkt begegneten, benannten diese (natürlich) nach ihrem hervorstechendsten Merkmal, nämlich ihrer schwarzen Hautfarbe. Das ist nur zu verständlich. Auch die amerikanischen Indianer nannten die weißen Europäer „Bleichgesichter“. Das ist zwar etwas pauschal, aber noch nicht rassistisch. Die Portugiesen des 15. Jahrhunderts hatten noch keine Rassetheorien. Diese entstanden erst im 18. Jahrhundert. Die Primitivität, die man den Schwarzen unterstellte, war noch keine rassistische Unterstellung einer angeborenen Primitivität, denn man glaubte immerhin, dass die Schwarzen aus ihrer Primitivität befreit werden können. Und es ist auch falsch, dass die Portugiesen die ersten gewesen wären, die schwarze Menschen versklavt hätten. Es ist auch falsch, dass alle schwarzen Menschen als Sklaven angesehen wurden. Die Handelspartner im Sklavenhandel waren meist selbst Schwarze. Und es ist falsch, dass nur Schwarze versklavt wurden. Die Araber versklavten lange vor den Portugiesen sowohl schwarze als auch weiße Menschen. Auch die Leibeigenschaft im Feudalsystem des christlichen Mittelalters war eine Form von Sklaverei. Ganz ohne Schwarze. Im antiken Athen oder Rom waren die meisten Sklaven sowieso Weiße.

Es ist eigentlich unerträglich, dass die Autoren dieses Buches ein so sensibles Thema so holzschnittartig präsentieren. Sie berufen sich dafür natürlich wieder auf eine Autorität, nämlich den Historiker Ibram X Kendi (S. 258 ff.). Doch Ibram X Kendi ist kein Historiker. Er studierte African American Studies und ist ein linksradikaler Aktivist. Ja, er hat tatsächlich Professuren für Geschichtswissenschaften an den Universitäten in Washington und Boston erhalten, aber wohl kaum, weil er ein solider Historiker ist, sondern weil er auf der Welle des Zeitgeistes schwamm.

Einige Seiten später wird unter Berufung auf einen gewissen El-Mafaalani behauptet, dass die Denker, die den Humanismus entwickelt hätten, dieselben Denker gewesen wären, die den Rassismus entwickelt hätten (S. 263). El-Mafaalani ist ein deutscher Soziologe und Integrationswissenschaftler, aber kein Historiker. El-Mafaalani koordinierte u.a. im grün-geführten Integrationsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen die grüne Integrationspolitik. Doch zurück zum Thema: Die aufgeklärten, weißen Menschen hätten den Rest der Welt für ihren Reichtum schuften lassen. Und auch die geistige Bewegung der deutschen Romantik, die Wendung nach innen, wäre nur möglich gewesen, weil es eine Ausbeutung nach außen gegeben habe: Sklaven. – All das ist natürlich wieder „ganz großes Kino“ und einfach nur blanker Unsinn. Die Denker des Humanismus und der Aufklärung waren natürlich keine Rassisten, sondern wandten sich vielfach explizit gegen Rassismus und Sklaverei. Und der Wohlstand „der Weißen“ verdankte sich nicht der Sklaverei, sondern der gesellschaftlichen Entwicklung hin zu mehr Freiheit, die wiederum eine technologische Entwicklung ermöglichte: Es war die Erfindung der Druckerpresse und der Dampfmaschine, die den Wohlstand begründete, um es plakativ zu sagen, nicht die Sklaverei. Wenn es die Sklaverei gewesen wäre, dann hätten die Araber lange vor den Europäern dieses Wohlstandsniveau erreicht. Das haben sie aber nicht.

Das Buch schneidet das folgende Thema nicht an, aber wir erwähnen es dennoch, weil es eng damit zusammenhängt und heute immer wieder falsch verstanden wird: Die Portugiesen nannten die schwarzen Menschen Afrikas „Schwarze“, und das ist in ihrer Sprache: „negro“. Daraus entwickelte sich das englische „negro“, das französische „nègre“ und das deutsche „Neger“: Alle diese Worte bedeuten ebenfalls einfach nur „Schwarzer“. Damals konnten alle gebildeten Menschen Latein und jeder wusste: Dahinter steht das lateinische Wort „niger“ = schwarz. Mit dem abfällig gemeinten, amerikanischen N-Wort hat das alles nichts zu tun. Dennoch begann man in Deutschland (um 1980?) auf den Gebrauch des Wortes „Neger“ immer mehr zu verzichten, weil es eine lautliche Ähnlichkeit von „Neger“ zum amerikanischen N-Wort gab. Man wollte Missverständnisse vermeiden. Der Grund war aber nicht, dass das Wort „Neger“ selbst ein Problem gewesen wäre. – Leider gibt es heute viele Menschen, auch in der Wissenschaft, die von „N-Wort“ sprechen, obwohl nur von „Neger“ die Rede ist. Diese Leute wollen bewusst Verwirrung stiften: Sie wollen die Mär in die Welt setzen, dass das deutsche Wort „Neger“ abfällig gemeint gewesen wäre, wie einst das amerikanische N-Wort, weshalb es praktisch dasselbe sei. Damit werden dann alle Menschen, die jemals von „Neger“ geschrieben oder gesprochen haben, posthum zu Rassisten oder wenigstens zu unsensiblen Menschen erklärt. Auf diese Weise soll gezeigt werden, dass die ganze Gesellschaft schon immer rassistisch gewesen wäre. Aber all das ist natürlich großer Unfug. Wenn ein Wolfgang Koeppen oder eine Anna Seghers „Neger“ schrieben, dann zeugt dies nicht von einem fahrlässigen Umgang mit rassistischen Worten, sondern es zeugt davon, dass das Wort „Neger“ damals keine rassistische Konnotation hatte. Sonst hätten sie dieses Wort nicht benutzt. Spätestens, wenn man bedenkt, dass Aufklärer und Humanisten wie Johann Gottfried Herder oder Alexander von Humboldt sich gegen die aufkommenden Rassetheorien wandten und Schwarze vor Vorurteilen in Schutz nahmen, zugleich aber bedenkenlos von „Negern“ sprachen, wird klar, dass „Neger“ historisch kein rassistisch konnotiertes Wort war. Es bedeutete schlicht genau dasselbe wie heute „Schwarzer“. Man stelle sich vor, in 50 Jahren würde irgendein naseweiser Professor Anklage erheben, dass alle, die heute von „Schwarzen“ reden, Rassisten seien …

Toleranz?

Die Intoleranz der Autoren dieses Buches zeigt sich u.a. darin, dass sie um das bekannte, Voltaire zugeschriebene Wort herumeiern: „Ich mag verdammen, was Du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Du es sagen darfst.“ (S. 435 Fußnote) – Die Autoren schreiben, dass sie das jetzt sagen „müssten“. Doch es bleibt bei dem Konjunktiv. Und es ist nur in einer Fußnote. Also haben die Autoren diesen Satz am Ende nicht wirklich gesagt. Es sieht nur so aus. Der Eindruck des Herumeierns verstärkt sich, wenn die Autoren dieses Buches davon sprechen, dass man auch Narrative zulassen müsse, die den eigenen widersprechen, aber nur, solange sie nicht die Toleranz selbst angreifen, weshalb „protofaschistische“ und „verschwörungstheoretische“ Narrative zu „problematisieren“ seien (S. 437 f.). Wir wissen aber als Leser dieses Buches, was die Autoren dieses Buches für „protofaschistisch“ und „verschwörungstheoretisch“ halten, nämlich leider sehr vieles. Allzu viel Toleranz darf man sich von diesen Leuten nicht erwarten.

Die Intoleranz der Autoren dieses Buches zeigt sich ebenfalls an der These, dass es in Wahrheit gar keine Cancel Culture gäbe (S. 435 f.). Cancel Culture gäbe es nur in der Wahrnehmung der „autoritären“ Vorstellung, dass es ein Recht gäbe, gehört zu werden. Da es völlig legitim sei, Autoritäres vom Diskurs auszuschließen, gäbe es demzufolge nur aus einer autoritären Sicht eine Cancel Culture. – So einfach und elegant kann man sich unliebsamer Andersdenkender entledigen. In Wahrheit agieren die Autoren hier selbst autoritär, denn sie maßen sich ja die Entscheidung darüber an, was autoritär ist und deshalb aus dem Diskurs ausgeschlossen werden darf. Indem sie unliebsamen Andersdenkenden vorwerfen, autoritär zu sein, handeln sie selbst autoritär.

Immer wieder sprechen die Autoren von der „liberalen Demokratie“ (z.B. S. 438). Aber Demokratie benötigt kein Adjektiv, auch nicht das Adjektiv „liberal“. Demokratie ist entweder demokratisch oder es ist keine Demokratie. Ein Adjektiv wird nicht benötigt. Demokratie ist ihrer Verfasstheit nach per se liberal, insofern alle Meinungen, die die demokratischen Spielregeln einhalten, in der Demokratie mitspielen dürfen. Demokratie ist ihrer Verfasstheit nach aber zugleich auch nichtliberal, insofern auch konservative Kräfte Wahlen gewinnen dürfen. Deshalb ist der Zusatz „liberal“ so gefährlich. Es ist ein Versuch, konservative Kräfte aus dem demokratischen Spektrum auszuschließen. Das ist sehr antidemokratisch. Hinzu kommt, dass das Wort „liberal“ sehr vieldeutig ist. Liberalität bedeutet Freiheit, doch Freiheit für wen?

Mit Recht wird Viktor Orban für seine „illiberale Demokratie“ in Ungarn kritisiert. Auch das Adjektiv „illiberal“ gehört nicht zu einer echten Demokratie. Das größte Problem in Ungarn ist, dass die Medien immer mehr auf die Linie von Viktor Orban gebracht wurden. Es wird mit Recht kritisiert. – Doch halt! Wie sieht es eigentlich bei uns in Deutschland mit den Medien aus? Gibt es nicht auch hier beherrschende, etablierte Medien, nämlich die öffentlich-rechtlichen Sender, die längst zur Beute der etablierten politischen Parteien geworden sind? Die längst nicht mehr ihrem demokratischen Auftrag gerecht werden? Die längst von Journalisten betrieben werden, deren politische Einseitigkeit vielfach festgestellt wurde? Hätte ein Buch über die Macht der Narrative nicht vielleicht auch etwas zu unserem Mediensystem sagen müssen? Ob es gerecht organisiert ist, und wie man es gerecht organisieren könnte? Immerhin werden Narrative heute vor allem durch Medien verbreitet! Doch dieses Buch schweigt dazu eisern. Wie wenn es damit keine Probleme gäbe. Offenbar sind die Autoren mit den gegenwärtigen Zuständen ganz zufrieden.

Radikaler Wokismus, verschleiert

Der Wokismus, das ist eine Ansammlung von holzschnittartigen, linksradikalen Ideen: Von der Critical Race Theory, derzufolge die Weißen eine historische Kollektivschuld gegenüber Schwarzen hätten, die abzutragen ist, über die Idee, dass das Geschlecht reine Definitionssache sei und deshalb gewechselt werden könnte, bis hin zur Gendersprache. – Doch die Autoren dieses Buches verharmlosen den Wokismus als „gesellschaftlichen Wandel“ (S. 296), wie wenn es um den allmählichen, von selbst geschehenden, gesellschaftlichen Wandel ginge. Identitätspolitik, das sei einfach „Liberalisierung, Antidiskriminierung und Ermächtigung von Marginalisierten“ (S. 439). „Empathie“ sei nötig (S. 441), und eine wahrhafte Gleichberechtigung der Menschen wäre gegeben, wenn keiner aufgrund seiner Unterschiede benachteiligt würde (S. 442). In der Welt der Wirtschaft müsse man zudem ein umweltverträgliches Wirtschaften zu einer Frage der Ehre machen (S. 462). Soweit hört sich das alles ganz nett an. Aber diese Verharmlosung verbirgt nur die Radikalität der Autoren dieses Buches.

Das Problem sei, so die Autoren, dass die klassische Gleichberechtigung angeblich nicht zu dem erwünschten Ziel geführt habe, nämlich zur Beendigung von Benachteiligungen (S. 440). Dieser Zustand der echten Gleichberechtigung sei erst dann erreicht, so meinen die Autoren, wenn jede gesellschaftliche Gruppe auf allen Ebenen gemäß ihrem Anteil an der Bevölkerung vertreten sei. Wo dies nicht der Fall ist, wird dies als ein Zeichen von Diskriminierung gewertet. Und deshalb fühlen sie sich dazu berechtigt, positive Diskriminierung durchzuführen. Männer, Weiße usw. müssten gezielt benachteiligt werden, bis zu dem Tag, an dem Frauen und Schwarze usw. überall gleich repräsentiert sind.

Damit begehen die Autoren aber eine lange Reihe von schwerwiegenden Denkfehlern. Erstens ist der Grund, warum Frauen, Schwarze usw. nicht überall gleich repräsentiert sind, nicht unbedingt eine historische oder heutige Benachteiligung. Sondern es führen natürlich auch individuelle, freie Entscheidungen und Präferenzen zu diesen Unterschieden. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass die Präferenzen von Frauen und Männern nicht identisch sind. Deshalb ist es auch nur logisch, dass Männer und Frauen nicht überall paritätisch vertreten sind. – Der zweite Denkfehler besteht darin, zu glauben, man dürfe zum Ausgleich für Unrecht selbst Unrecht anwenden. Das ist natürlich verboten! Es handelt sich um einen derart elementaren Verstoß gegen die Grundlagen jeder vernünftigen Moral, dass gar nicht absehbar ist, zu was für moralischen Monstrositäten die Autoren sonst noch bereit wären, um ihre Ziele durchzusetzen. Die Autoren führen hier einen direkten Angriff gegen das Wahre, das Schöne und das Gute. Erlaubt wäre höchstens die Förderung von mutmaßlich historisch benachteiligten Gruppen, etwa durch Schulungen oder dergleichen, aber keinesfalls die Diskriminierung von Unschuldigen. – Ein dritter Denkfehler besteht definitiv im utopischen Denken: Die Idee, wirklich alle (!) Benachteiligungen aus der Welt schaffen zu wollen, ist grotesk. Es gibt nämlich unendlich viele davon, und die meisten davon sind sehr unterschwellig und sehr individuell. Man spricht nicht umsonst von „Mikroaggressionen“. Wie kann ein gebildeter Mensch auf die Idee kommen, die Welt von den vielen kleinen Beschwernissen, die uns allen begegnen, frei machen zu wollen? Das geht doch gar nicht! Es wäre vielleicht nicht einmal wünschenswert, denn wer will schon ein Leben in Watte eingepackt führen? Die richtige Strategie wäre eine ganz andere: Resilienz aufzubauen und mit Mikroaggressionen leben zu lernen.

Die Autoren verschweigen komplett das woke Stichwort „Equity“, das als Gegensatz-Wort zu „equality“ zu verstehen ist: Das Ziel ist nicht etwa Chancengleichheit mit unterschiedlichem Ausgang, sondern das Ziel ist, dass am Ende alle Menschen gleich gut in der Gesellschaft abschneiden. Wo immer sich Unterschiede im Lebenserfolg von Menschen zeigen, wird die Ursache in Benachteiligungen gesehen, die es auszugleichen gelte. Das ist eine fürchterliche Ideologie! Denn die Unterschiede im Lebenserfolg kommen nicht nur durch mutmaßliche Benachteiligungen zustande, sondern auch durch unterschiedlichen Fleiß und unterschiedliche Begabung und unterschiedliche Präferenzen. Die Vorstellung, die verschiedenen Lebenserfolge der Menschen mit dem Rasenmäher zu einer großen Gleichheit zu vereinheitlichen, ist grotesk. Die Autoren dieses Buches unterschlagen völlig, dass Freiheit und Gleichheit in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Deshalb haben sich die westlichen Gesellschaften darauf geeinigt, eine gewisse Balance zwischen beiden zu wahren, auf keinen Fall aber eines von beidem einseitig zu bevorzugen. Das ist keine neue Erkenntnis. Jeder Schüler sollte von diesem Thema schon einmal im Politikunterricht gehört haben. Aber die Autoren dieses Buches ignorieren die Problematik völlig und setzen voll auf Gleichheit. Das ist radikal.

Die Autoren verharmlosen den Wokismus auch durch die Aussage, es ginge nicht darum, verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen (S. 440). Doch genau darum geht es. Denn dieses Gegeneinanderausspielen beginnt exakt in dem Moment, wo man die Menschen nicht mehr unabhängig von ihren Unterschieden wahrnimmt, sondern die verschiedenen Gruppen in den Fokus setzt. Und das wollen die Autoren dieses Buches zweifelsohne. Sie beklagen z.B., dass es ein enormes Problem sei, dass Nichtakademiker in Politik und Medien unterrepräsentiert seien (S. 440). Doch nein, das ist es nicht. In Politik und Medien und auch überall sonst in der Gesellschaft sollten die fähigsten Leute an vorderster Stelle stehen, und das sind nun einmal in der Regel, wenn auch nicht immer, Akademiker. Deshalb ist es völlig in Ordnung, wenn sie überrepräsentiert sind. (Wobei man die vielen Studienabbrecher unter den links-grünen Politikern nicht als „Akademiker“ zählen sollte. Und das sind nicht wenige.)

Auch das Thema des umweltverträglichen Wirtschaftens wird vollkommen verharmlost dargestellt. Die Autoren unterschlagen das Stichwort „ESG“. ESG bedeutet, dass Unternehmen dazu gezwungen (!) werden, sich woken Regeln zu unterwerfen, Gendersprache einzuführen usw., weil sie sonst einfach keinen Kredit mehr von ihrer Bank bekommen. Die Autoren dieses Buches schreiben, es müsse zu „einer Frage der Ehre“ werden (S. 462), doch dass es in Wahrheit einfach eine Frage des Überlebens ist, wird verschwiegen.

Die Autoren führen Gendersprache exemplarisch in ihrem eigenen Buch vor. So arbeiten sie abwechselnd mit einem generischen Maskulinum oder generischen Femininum. Doch ein generisches Femininum gibt es nicht. Dazu ist unsere Sprachwahrnehmung nicht trainiert. Nur das generische Maskulinum ist bekannt und wird deshalb (weitgehend) nicht als Maskulinum wahrgenommen. Das ständige Wechseln zwischen beiden ist erst recht nicht intuitiv. Die Lektüre dieses Buches changiert auf diese Weise zwischen Qual und Farce. – Die Autoren bestehen darauf, dass diese sprachlichen „Kleinigkeiten“ (Sternchen, „Schokoküsse“, usw.) in der Sprache sehr wichtig seien und umgesetzt werden müssten (S. 442 f.), wegen der narrativen Manipulation der „erzählenden Affen“ natürlich. An einer Stelle kommt auch die woke Redewendung von einer „als Frau gelesenen Person“ vor (S. 61). – Dieselben Autoren, die in diesem Buch mit Sprache massiv manipulieren, unterstellen gleichzeitig den Rechtspopulisten, dass sie sich die Wirklichkeit mit ihrer Sprache untertan machen würden (S. 294). Merken die Autoren nicht, dass sie genau dasselbe tun?!

Schließlich steigen die Autoren dieses Buches in die tiefste Höhle des Wokismus hinab: Sie wollen die Geschlechter „fluide erzählen“ (S. 376) und unsere Kinder sexuell manipulieren und ihnen die Heteronormativität austreiben. Wörtlich heißt es: „Wie Studien und die pädagogische Praxis zeigen, sind Kinder offen und tolerant für alle Bedürfnisse und Orientierungen jenseits der heteronormativen Logik, die ihnen meist vorgesetzt wird, so dass man davon träumen kann, alle in diesem Kapitel beschriebenen Probleme könnten irgendwann der Vergangenheit angehören.“ (S. 377)

Kurz: Die Autoren dieses Buches wollen, dass es nicht mehr der Normalfall ist, dass sich Kinder als Mädchen und Jungen im klassischen Sinne begreifen und später Paare aus Mann und Frau bilden, wobei die Gesellschaft offen und tolerant dafür ist, wenn sich eine andere sexuelle Orientierung quasi von selbst einstellt. Nein. Toleranz und Offenheit sind den Autoren nicht genug. Sie wollen die Heteronormativität flächendeckend beenden. Und zwar durch aktive Manipulation der Kinder. Jedes Kind soll sein Geschlecht problematisieren und „fluide“ wahrnehmen. Kinder sollen sich in der Regel überhaupt nicht mehr klassisch als Junge oder Mädchen begreifen, denn eine solche Einseitigkeit und Eindeutigkeit ist für die Autoren dieses Buches der neue Ausnahmefall von der gender-fluiden Regel.

Weitere grobe Fehler

Wiederholt zitieren die Autoren fiktionale Werke als Belege. Das erscheint doch recht seltsam, denn die Beweiskraft von Fiktion ist nicht gerade sehr hoch. Einmal wird eine Romanfigur als Beleg angeführt, um zu zeigen, wie Rassisten früher angeblich dachten (S. 322). Ein andermal wird der Spielfilm „Wallstreet“ mit Gordon Gekko angeführt, um zu belegen, dass es in der Wirtschaft nur um Gier ginge (S. 418).

Die Autoren führen das berühmt-berüchtigte Werk „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ von Paul Veyne an. Sie meinen, das die Antwort auf die Frage im Titel dieses Buches „Jein“ lauten würde: „Grundsätzlich war ihnen sehr bewusst, dass es Zeus, Hera, Herakles und Psyche nicht im wörtlichen Sinne gab. Aber sie waren praktische Symbole, um sich über Werte und Normen auszutauschen.“ (S. 226) – Doch das ist falsch. Paul Veyne ist ein Klassiker der Postmoderne. Seiner Meinung nach glaubten die Griechen wirklich an ihre Mythen. Jeder und jede Zeit glaubte dies oder das, völlig losgelöst von der Wirklichkeit. Zudem glaubten ein und dieselben Menschen Dinge, die sich gegenseitig widersprachen. Aber sie glaubten sie. Zugleich benutzte Paul Veyne die griechischen Mythen, um zu demonstrieren, dass es angeblich keine Wahrheit gäbe. Ob Mythos oder Wissenschaft, das alles stünde auf demselben Niveau und über die Wahrheit könne man nichts sagen. Und der Bezug zur Wirklichkeit sei auch egal. – Die Autoren dieses Buches haben einen recht modernen Umgang mit Mythen in das Buch von Paul Veyne hineinprojiziert, das sie offenbar nie richtig gelesen haben. Insofern könnte man die Vermutung aufstellen, dass die Autoren postmoderne Thesen lediglich nachplappern, aber nie verstanden haben, was sie wirklich bedeuten.

Die Autoren glauben, dass das Königtum eine Erfindung der Bibel sei (S. 246 ff.). Doch das ist falsch. Das Königtum ist natürlich im Laufe der Zeit aus dem Patriarchat heraus entstanden. Aus dem Hordenführer wurde der Clan-Chef, darüber gab es den Chef mehrerer Clan-Chefs, usw. Das Königtum wurde nicht erfunden, es war schon immer da. Und es war auch immer schon mit religiösen Weihen verbunden. (Weiter oben sahen wir bereits, dass die Autoren die Monarchie als Erfindung der katholischen Kirche bezeichneten. Auch das ist falsch.)

Zum Judentum finden sich einige seltsame Thesen in diesem Buch. So wird z.B. die These aufgestellt, dass die Unterstellung von Blutrünstigkeit an die Adresse der Juden psychologisch darauf zurückzuführen sei, dass Christen beim Gedanken daran, das Blut Christi zu trinken, einen unbewussten Ekel empfunden hätten (S. 269). Denn angeblich wäre diese Lehre vom Blut Christi im Jahr 1215 neu gewesen. Doch das ist Unsinn. Sie war nicht neu, sondern wurde 1215 lediglich geklärt. Es wäre irritierend für die damaligen Christen gewesen, so meinen die Autoren, den Leib Christi „zu verdauen und wieder auszuscheiden“ (S. 269) Was für ein uninformiertes Reden über christliche Lehren und Kirchengeschichte, kann man da nur sagen!

Zugleich lassen die Autoren als mögliche Ursache für Judenhass völlig außer Acht, was bei Hannah Arendt gründlich analysiert wurde: Dass nämlich den Juden im Mittelalter das Gewerbe des Geldverleihs zugeschoben wurde, weshalb sie der übliche Hass traf, der Banker zu allen Zeiten trifft. Warum haben sie diese wichtige Erkenntnis weggelassen? Irritierend auch, dass die Autoren bis S. 272 von Judenhass sprechen, woran sich eine neue Kapitelüberschrift anschließt: „Vordringen zur tiefsten Höhle“. Nanu? Geht es denn noch tiefer als bis zum Judenhass?

Kleine Fehler

Es nervt, dass viele Aussagen in Fußnoten verpackt worden sind. Es wäre besser gewesen, diese in den Haupttext mit einzubinden. Zudem beginnt die Nummerierung der Fußnoten in jedem Kapitel wieder mit 1. Das erschwert das Nachschlagen der Fußnoten im Anhang erheblich.

Zu der statistischen Aussage des Hedonometers (S. 46) hätte gesagt werden müssen, dass das Hedonometer nicht die Gesamtbevölkerung abbildet, sondern nur die Twitter-Nutzer, die bekanntlich ein Paralleluniversum für sich sind. Oder war den Autoren nicht klar, dass Twitter nicht die Realität ist?

Die literarische Wendung „falsche Nonne“ wird als antiklerikal gedeutet (S. 58 Fußnote). Das ist falsch. Eine falsche Nonne ist einfach eine Nonne, die gegen Gelübde und Gebote unmoralisch handelt. Mithin eine Heuchlerin. Sie steht nicht stellvertretend für Kirche und Klerus. Im Gegenteil. Wo es „falsche“ Nonnen gibt, gibt es logischerweise auch „echte“ Nonnen, und die sind dann glaubwürdig.

Angeblich hätten die australischen Ureinwohner das Wunder vollbracht, eine historische Überlieferung über 37.000 Jahre auf rein mündlichem Weg zu bewahren (S. 74). Doch nein. Auch wenn die Behauptung tatsächlich von Wissenschaftlern stammt, es ist Unfug. Und jeder denkende Mensch kann das erkennen.

Die lateinische Übersetzung von „erzählender Affe“ ist nicht „pan narrans“, wie fälschlich behauptet wird (S. 81), sondern „simia narrans“. Ein „pan“ oder „satyrus“ ist ein Schimpanse, kein Affe im allgemeinen.

Angeblich lassen die Algorithmen sozialer Netzwerke ganz bewusst Teilnehmer verschiedener Blasen aufeinander treffen, um Provokationen zu erzeugen (S. 208). Das ist zwar möglich, aber man hat doch eher den Eindruck, dass die Trennung der Blasen das Problem ist, nicht deren Aufeinandertreffen.

Zwei Zitate von Heinrich Himmler aus dessen Posener Rede werden nicht korrekt wiedergegeben (S. 297, 311). Die Abweichungen vom Original sind zwar nicht sinnentstellend, aber dennoch falsch. Es ist irritierend, dass zwei belesene Autoren mit literarischem Anspruch Originalzitate fehlerhaft wiedergeben, und das nicht nur einmal.

Rechtsradikale, die angeben, dass sie durch das Ansehen von Youtube-Videos ihren „red pill“-Moment erlebten, geben als häufigstes Video angeblich eine sechsstündige, pseudowissenschaftliche Dokumentation über Adolf Hitler an (S. 305). Das ist wenig glaubwürdig. Denn so „überzeugend“ dieses Video auch sein mag, ein sechsstündiges Video schauen sich nur die allerwenigsten an. Die meisten werden schon davor solche Meinungen gehabt und nur deshalb dieses Video angesehen haben. Überhaupt ist der Nachrichtenwert dieser Information, dass Rechtsradikale durch rechtsradikales Material zu Rechtsradikalen wurden, eher gering.

Schließlich heißt es, dass die Russen an Bord des Sputnik den ersten Menschen ins All beförderten (S. 476). Doch das ist falsch. Der erste Mensch im All war Juri Gagarin an Bord der Wostok 1 mehrere Jahre später.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

Julian Nida-Rümelin: Die gefährdete Rationalität der Demokratie – Ein politischer Traktat (2020)

Für die Wiederherstellung rationaler Verhältnisse als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie

Der Traktat „Die gefährdete Rationalität der Demokratie“ von Julian Nida-Rümelin bringt viele Probleme unserer Zeit auf den Punkt: Es mangelt buchstäblich an Rationalität. Fernab jeder fundierten Bildung wird zu oberflächlich gedacht. Es wird zu viel Propaganda gemacht, statt ernsthaft Argumente auszutauschen und nach der Wahrheit zu suchen. Aber schlimmer noch: Manche haben aus der Ablehnung von Rationalität und Realität inzwischen eine Weltanschauung gemacht und stellen Gefühle und Empfinden über Vernunft und Wirklichkeit.

Dem begegnet Julian Nida-Rümelin mit einer wohlfundierten Analyse des politischen Philosophen: Was ist Demokratie eigentlich? Woran krankt Demokratie in unseren Tagen? Und was ist zu ihrer Gesundung vonnöten?

Geschrieben wurde das Buch im Sommer 2019, also noch vor der Corona-Pandemie und der nachfolgenden „Zeitenwende“ des Ukrainekrieges, was die Hellsichtigkeit der Analyse unterstreicht. Veröffentlicht wurde das Buch mitten im ersten Jahr der Pandemie, weshalb es nicht die Aufmerksamkeit bekam, die es verdient hätte. Denn Julian Nida-Rümelin sagt hier viel Richtiges und Wichtiges. Und manches ist erstaunlich mutig gegen den Zeitgeist gesprochen.

Was ist Demokratie eigentlich?

Zuerst und vor allem klärt Julian Nida-Rümelin den Begriff „Demokratie“ auf. Es gibt heute so viele Missverständnisse zu diesem Thema, dass hier erst einmal gründlich aufgeräumt werden muss. Vieles von dem, was Julian Nida-Rümelin hier zu sagen hat, hat man vielleicht auch schon in der Schule im Politikunterricht gehört, sofern man einen guten Lehrer hatte.

Demokratie beruht nicht (!) zuerst auf dem Prinzip der Mehrheitsbeschlüsse, sondern auf einem „Konsens höherer Ordnung“, oder konkret: Auf der Akzeptanz einer gemeinsamen Staatsverfassung. Der Einzelne mit seiner „individuellen Autonomie“ lebt – grundsätzlich frei und gleich – mit anderen Menschen zusammen in einem Gemeinwesen. Die Staatsverfassung legt die Grundrechte fest, die jeder Einzelne auch gegen Mehrheitsbeschlüsse behält. Damit wird eine Balance zwischen Individualität und Kollektiv hergestellt. Einseitige Übertreibungen zugunsten von Individuum oder Kollektiv führen in die Katastrophe. Die Staatsverfassung legt auch die Verfahren fest, durch die das Gemeinwesen sich selbst bestimmt, d.h. „kollektive Autonomie“ ausübt. Diese Verfahren konstituieren eine „kollektive Rationalität“, die die Rationalität der Einzelnen nach vorgegebenen Regeln in ein großes Ganzes einfließen lässt. Hier spielt das Mehrheitsprinzip eine große Rolle.

Doch die Konstruktion der Verfahren, nach denen Mehrheitsbeschlüsse gefasst werden, ist dabei nicht beliebig. Das Condorcet-Paradoxon zeigt, dass Mehrheitsentscheidungen über Präferenzen in Zirkelschlüssen enden können. Das Arrow-Theorem zeigt, dass es grundsätzlich kein Verfahren gibt, dieses Problem zu umgehen. Konkret formuliert kennt jeder das Problem: Wenn man die Menschen nach ihren Wunschträumen abstimmen ließe, kämen dabei Beschlüsse heraus, die sich gegenseitig widersprechen, spätestens bei der Finanzierung.

Praktisch wird das Problem vor allem dadurch gelöst, dass Parteien und Politiker Politikangebote entwerfen und politisch aushandeln, die in sich widerspruchsfrei sind (oder sein sollten). Man kann Zirkelschlüsse auch dadurch verhindern, indem man die Zahl der Alternativen auf zwei reduziert. Die repräsentative Demokratie, in denen die Politik im wesentlichen von Politikern in gebündelter Form gemacht wird, hat also nicht nur den Sinn, den Bürger von politischer Arbeit zu entlasten, sondern auch den Sinn, dem Bürger in sich stimmige Politikangebote aus einem Guss zu unterbreiten. Überhaupt werden politische Angebote immer nur von Wenigen entwickelt, während die Masse der Menschen immer nur „Ja“ oder „Nein“ sagt. Deshalb wird man eine politische Elite auch niemals los. Man kann sich nur überlegen, wie sie strukturiert sein sollte. Jedenfalls führt die Idee, tausend Einzelfragen per Volksabstimmung zu entscheiden, zwangsläufig ins Chaos. Der Extremfall ist die „liquid democracy“, in der jeder Bürger beliebige Entscheidungen antriggern kann und jeder Bürger alle Einzelfragen per Mausklick entscheidet: Sie kann aus logisch zwingenden Gründen nicht funktionieren. Damit ist insbesondere auch Rousseaus Vorstellung von einer kollektiven Autonomie gescheitert.

Auch das alte Problem der Balance von Freiheit und Gleichheit wird sehr ausführlich diskutiert. Freiheit führt automatisch zu einer gewissen Ungleichheit, da die Präferenzen der Menschen verschieden sind. Das Sen-Paradoxon von Amartya Sen zeigt, dass es unmöglich ist, die individuellen Präferenzen so zu aggregieren, dass zugleich die Liberalität gesichert ist und und alle Chancen der Wohlstandsmehrung ergriffen werden. Sprich: Demokratie ist eine gewisse Form von Luxus, denn man verzichtet bewusst auf gewisse ökonomische Vorteile, um die Freiheit der Bürger zu erhalten. Damit erteilt Julian Nida-Rümelin auch den Sympathien für China eine Absage, die von manchen angesichts der (angeblichen) Effizienz des chinesischen Systems gehegt werden. Zudem muss ergänzend angemerkt werden, dass eine Diktatur zwar die Macht hat, die richtigen Entscheidungen für die Wohlstandsmehrung durchzusetzen, aber die Diktatur weiß keinesfalls besser als die crowd intelligence der freien Bürger darüber Bescheid, was die „richtigen“ Entscheidungen sind.

Demokratie lebt wesentlich davon, dass ihre Akteure sich nicht nur Propaganda und Lügen um die Ohren hauen, sondern rationale Argumente austauschen und einfordern. Die rationale Deliberation, die Politiker und Kommentatoren uns in den Medien zeigen, ist zwar dennoch teilweise Schau und Theater, aber sie darf auf keinen Fall vollständig zum Theater verkommen, weil sonst die Demokratie abhanden kommt. Rationalität, Realismus, Bodenständigkeit sind unerlässlich für das Funktionieren einer Demokratie. Um diese rationale Deliberation aufrecht zu erhalten, spielen die Medien eine wesentliche Rolle: Sie sind die Bühne dafür, und sie müssen diese rationale Deliberation auch von den Politikern einfordern.

Die Bedrohung durch den Klientel-Egoismus

Wichtig ist, dass die Bürger nicht nur nach kurzsichtigen, egoistischen Interessen entscheiden, sondern auch nach langfristigen Erwägungen und „höheren“ Interessen. Julian Nida-Rümelin unterscheidet hier mit Rousseau den bourgois vom citoyen. Der bourgois denkt nur an sich, der citoyen ist am Allgemeinwohl interessiert. Der Verzicht auf einen kurzsichtigen Egoismus wird von Julian Nida-Rümelin „strukturelle Rationalität“ genannt. Es handelt sich um eine Rationalität, die in der Lage ist, um langfristiger Vorteile willen auf kurzfristige Voreile zu verzichten. Auch abstrakte Vorteile, wie z.B. eine stabile Demokratie oder ein gutes Gewissen, spielen hier mit herein.

Was sich etwas utopisch anhört, ist in der politischen Praxis der westlichen Welt real existent. Der höhere Standpunkt, das gute Gewissen, die langfristige Rationalität: Sie fließen für uns alle beobachtbar in die Entscheidungen der Menschen mit ein. Die militärische Abwehr des Kommunismus im Kalten Krieg, die Unterstützung der Armen in der Welt, der Umweltschutz oder – am wichtigsten – die Beachtung von Verfassung und Gesetzen sind Beispiele dafür. Außerdem glaubt Julian Nida-Rümelin mit Aristoteles, dass der Mensch von Natur aus auf Gemeinschaft angelegt ist: Es handelt sich also um eine Eigenschaft des Menschen, die in uns allen angelegt ist. Diese kann zwar verkümmern, sie kann aber auch zum Wachsen und Blühen gebracht werden: Vor allem, wenn sich die Bürger ernst genommen fühlen und tatsächlich sehen, dass sie effektiv mitentscheiden. Daran fehlt es zur Zeit.

Gemäß dem Gibbard-Theorem ist es nicht möglich, demokratische Verfahren zu entwickeln, die nicht durch taktisches Abstimmen beliebig verfälscht werden können. In Italien nennt man es tatticismo: Vor lauter Taktik mit Rücksicht auf alle möglichen egoistischen Klientel-Gruppen gehen die politischen Inhalte verloren. Dieses taktische Verhalten „zieht“ aber nicht mehr, wenn die Bürger nicht rein egoistisch handeln, sondern übergeordnete Interessen mit im Blick haben. Die Rentnerin, die sich trotz der Erhöhung der Mütterrente gegen Angela Merkel entscheidet, weil sie an das größere Ganze und an ihre Enkel denkt, ist das Paradebeispiel (das sich so allerdings nicht in Julian Nida-Rümelins Buch findet).

Die identitäre Bedrohung von Links und Rechts

Linksradikale wie Rechtsradikale betrachten öffentliches Reden, Wahlen und Parlamentarismus nur mit zynischer Verachtung. Das alles sei nur eine große Show, und hinter den Kulissen würden die wahren Mächtigen die Strippen ziehen, meinen sie. Sie verhöhnen die humanistische Idee der öffentlichen rationalen Deliberation. Für Marxisten geht es um den Kampf der Arbeiter und Unterdrückten gegen eine imaginierte herrschende Klasse von „Reichen“. Die postmodernen Wokisten glauben überhaupt nicht mehr, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt geben könnte, und ersetzen Wahrheit durch Macht. Wokisten und Multikulturalisten teilen die Gesellschaft in Gruppen auf. Radikale Feministen möchten, dass Frauen überall 50:50 repräsentiert sind. Rechtsradikale Identitäre teilen die Menschen ebenfalls nach Herkunft und Rasse auf, nur mit umgekehrten Vorzeichen.

In einer Gesellschaft, die in Gruppen zerfällt, die nur noch ihre egoistischen Interessen verfolgen – z.B. Frauen, Männer, Rentner, Jugendliche, Familien, Singles, Zuwanderer, Einheimische, Arbeiter, Schwarze – ist keine Demokratie mehr möglich, da der Einzelne in der Gruppe verschwindet. Die Gruppen stehen sich starr gegenüber, statt wechselnde Mehrheiten quer zu diesen Gruppen zu bilden. Zudem geht das Leistungsprinzip verloren, weil alle Posten in der Gesellschaft nur noch nach Gruppenproporz vergeben werden. Julian Nida-Rümelin kritisiert marxistische und postmoderne, aber auch multikulturalistische Konzepte von Gesellschaft, die immer nur Gruppen und deren „Kampf“ gegen die anderen in den Blick nehmen. Aus einem Eigeninteresse wird erst dann ein demokratisch-politisches Interesse, wenn man das Eigeninteresse mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen versucht und diskutable Vorschläge für die ganze Gesellschaft unterbreitet. So wie ein Bundeskanzler auch nicht nur Bundeskanzler für diejenigen sein sollte, die ihn gewählt haben, sondern natürlich für alle Bürger. Wo diese geistige Grundhaltung für das Gemeinwohl verloren geht, ist der Weg in den failed state beschritten.

Julian Nida-Rümelin im Wortlaut: „… die Multikulturalisten verabschieden die humanistischen Grundlagen der Demokratie in Gestalt eines pluralistischen … Kollektivismus.“ (S. 171) Und: „Wahrheit hat einen Ort in der Demokratie; ohne das Ringen um zutreffende empirische und normative Urteile entleert sich die Demokratie zu einem großen Illusionstheater, das dann von den Entlarvungen der Meisterdenker marxistischer, psychoanalytischer, dekonstruktivistischer, aber auch populistischer und identitärer Provenienz vorgeführt wird.“ (S. 250) Und: „Antirealismus ist keine Option, er befriedet nicht und ist mit der Form politischer Diskurse unvereinbar.“ (S. 250)

Demokratie ist kulturell verwurzelt

Völlig gegen den aktuellen Zeitgeist, und explizit gegen Vordenker wie John Rawls und Jürgen Habermas (S. 138 f.), vertritt Julian Nida-Rümelin die Auffassung, dass ein abstrakter, rein rationaler Verfassungspatriotismus nicht ausreicht, um eine demokratische Gesellschaft zusammenzuhalten. Dieser Irrtum wird von ihm auch „liberalistische Illusion“ genannt (S. 34). Vielmehr sind gewisse gemeinsame kulturelle Voraussetzungen erforderlich, damit Demokratie möglich wird. Eine humanistische Leitkultur ist erforderlich. Das heißt konkret eine auf den einzelnen Menschen als Individuum ausgerichtete Kultur, sowie Rationalität, Mitgefühl mit allen Menschen, und Säkularität. Ein kleinliches Steckenbleiben in Religion, Herkunft usw. verträgt sich damit nicht.

Julian Nida-Rümelin denkt bei seiner humanistischen Leitkultur nicht an die Nationalkulturen. So spricht er z.B. von einer „multikulturell verfassten Demokratie“ (S. 138), oder er schreibt: „Nicht die multikulturelle Verfasstheit demokratischer Gesellschaften, sondern die multikulturalistische Ideologie ist mit den normativen Prinzipien moderner Demokratien unvereinbar.“ (S. 168) – Allerdings widerspricht sich Julian Nida-Rümelin hier selbst. Denn gegen Ende des Buches gibt er zu, dass die humanistische Leitkultur sich spezifisch in Europa entwickelt hat und bis heute nur in europäisch geprägten Ländern wirklich gut funktioniert (S. 229). Es handelt sich also um eine Art Europäischer Leitkultur, ähnlich wie Bassam Tibi vorgeschlagen hat.

Und hier müssen wir Julian Nida-Rümelin bei seiner eigenen Erkenntnis packen und kritisieren. Zunächst stellt sich die Frage, ob es denn wirklich eine „europäische“ Leitkultur ist? Funktioniert die Demokratie in Rumänien und Russland so gut wie in England und Dänemark, die ja alle in Europa liegen? Die Antwort ist klar: Nein, leider noch lange nicht. Die humanistische Kultur, die Julian Nida-Rümelin erstrebt, ist ganz offensichtlich keine „europäische“ Leitkultur, sondern eng mit den Nationalkulturen verwoben. Nicht in dem Sinne, dass nur bestimmte Nationen sich für den Humanismus öffnen könnten, aber doch in dem Sinne, dass der Humanismus sich in die jeweilige Nationalkultur inkulturieren muss. Und das ist in einigen europäischen Staaten geschehen, in anderen hingegen nicht.

Julian Nida-Rümelin sagt es ja selbst: Bevor Demokratie möglich wird, muss ihr ein zivilisatorischer Prozess vorangehen (S. 233). Es muss nämlich dazu kommen, dass sich die humanistische Leitkultur in die Nationalkultur inkulturiert. Das spricht Julian Nida-Rümelin zwar nicht explizit aus, aber genau das ist es. Was er aber sehr wohl explizit ausspricht, ist die Tatsache, dass Demokratie bis heute immer nur im Kontext des Nationalstaates funktioniert, siehe nächster Abschnitt. Wenn Julian Nida-Rümelin zwei und zwei zusammenzählen würde, müsste er darauf kommen, dass sich die erstrebte humanistische Leitkultur nur in der Nationalkultur manifestieren kann. Zerstört man die Nationalkultur und löst man die Nation in Multikulti auf, kann es auch keine humanistische Leitkultur mehr geben.

Das hätte Julian Nida-Rümelin explizit aussprechen müssen, statt von einer „multikulturellen Verfasstheit demokratischer Gesellschaften“ zu phantasieren. Demokratische Gesellschaften können nur transkulturell vielfältig sein, nicht jedoch multikulturell vielfältig. Will heißen: Alle Bürger können Kulturen pflegen wie sie wollen, aber alle Bürger müssen eine gemeinsame Kultur vor allen anderen pflegen: Die humanistisch geprägte Nationalkultur, auf die auch die Demokratie angewiesen ist.

Demokratie ist national verwurzelt

Gegen alle Blütenträume des linksliberalen Zeitgeistes stellt Julian Nida-Rümelin fest, dass Demokratie bis heute nur im Nationalstaat funktioniert (S. 57, 234). Und das lässt sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern. Vielleicht nie. Die allermeisten Menschen sind lokal verwurzelt. Ein Raum für öffentliche Debatte, der für die Demokratie unerlässlich ist, existiert nur auf nationaler Ebene. Die Auseinandersetzung zwischen den anywheres und den somewheres hält Julian Nida-Rümelin langfristig für entschieden: „Ein antikommunitaristischer Kosmopolitismus hat weder politisch noch ethisch eine Zukunft“ (S. 63).

Julian Nida-Rümelin spricht sich deshalb auch klar gegen den Versuch aus, die Europäische Union zu einer Über-Demokratie über den Nationalstaaten auszubauen. Das Mehrheitsprinzip funktioniert nicht, wenn die Grundgesamtheit der Bürger nicht hinreichend homogen ist. Das ist aber nicht der Fall, jedes europäische Land hat seine ganz eigenen Traditionen (S. 70 f.).

Demokratie reformieren

Julian Nida-Rümelin fordert die Beendigung einer Politik des Durchwurstelns ohne Programm und abgekoppelt von der Realität (S. 240). Damit zielt Julian Nida-Rümelin direkt gegen den Politikstil von Angela Merkel und ihren Anhängern, die immer den Weg des kurzfristig geringsten Widerstandes gegangen waren, wie es dem illusionären Wunschdenken von Journalisten und Bürgern gefiel. Das spricht er aber nicht explizit aus.

Auch diejenigen, die die Demokratie nicht akzeptieren, sollten nicht von vornherein aus dem politischen Diskurs ausgegrenzt werden, meint Julian Nida-Rümelin (S. 148). Der Schaden, der durch allzu scharfe Ausgrenzung problematischer Andersdenkender entsteht, ist groß. Damit spricht sich Julian Nida-Rümelin mehr als deutlich gegen die grassierende Cancel Culture aus.

Julian Nida-Rümelin beklagt die falsche Rekrutierung des politischen Personals in Deutschland (S. 240 f.). In angelsächsischen Ländern würde die Rekrutierung des politischen Personals noch deutlicher günstiger sein.

Wie einst schon Karl Jaspers, so kritisiert Julian Nida-Rümelin auch, dass die Politischen Parteien in Deutschland die Politik in Koalitionen im wesentlichen unter sich aushandeln, vor allem in Großen Koalitionen, und das Volk kaum die Möglichkeit bekommt, Richtungsentscheidungen zu treffen; daran sei das Verhältniswahlrecht schuld. (S. 145 f.)

Allzu viel direkte Demokratie hält Julian Nida-Rümelin nicht für wünschenswert. Allerdings erkennt er an, dass Volksentscheide dazu führen, dass sich die Bürger besser informieren. Volksentscheide können auch dazu beitragen, dass sich Bürger nicht völlig machtlos fühlen (S. 99 f., 104). Wenig überzeugend ist allerdings der Einwand, dass eine Entscheidung wie der Brexit zu komplex für die Bürger gewesen wäre. Denn Komplexität kann niemals das Kriterium sein. Die Bürger sollen sich zwar um Rationalität bemühen, aber in der Demokratie geht es nicht um die rationalste Entscheidung. Sonst könnte man gleich Experten regieren lassen bzw. diejenigen, die sich dafür halten. Nein, in der Demokratie geht es darum, dass die Bürger ihr Schicksal selbst bestimmen, und dass sie Entscheidungen, die sie gestern noch für gut befunden hatten, heute aber bereuen, verändern können, ohne eine Revolution veranstalten zu müssen. Mit seiner Brexit-Kritik widerspricht Julian Nida-Rümelin seinen eigenen Einsichten in die Rationalität der Demokratie.

Wissenschaft und Politik, Klimawandel

Julian Nida-Rümelin weist darauf hin, dass Politik und Wissenschaft zwei Systeme sind, die verschiedenen „Rationalitäten“ folgen. Aber statt getrennt voneinander zu agieren, vermischen sich beide Bereiche immer mehr, wodurch sie ihre je eigene Rationalität schwer beschädigen: „So ist die wissenschaftliche Debatte um den Klimawandel und die unterschiedlichen erklärenden Modelle kontaminiert durch die hohe politische Relevanz dieser wissenschaftlichen Studien. Die Folge ist, dass, von vielen wohl unbemerkt, die politische Rationalität in der Wissenschaft, hier der Forschung zum Klimawandel, Einzug hält. Abweichende Positionen werden stigmatisiert, anstatt sie am Diskurs teilhaben zu lassen, und die Frage, wie viele Wissenschaftler nun eine bestimmte wissenschaftliche These zum Klimawandel befürworten, wird zu einem vermeintlichen wissenschaftlichen Argument.“ (S. 205) Und: „Die Wissenschaft darf sich nicht, wie es gegenwärtig immer wieder geschieht, politisch instrumentalisieren lassen.“ (S. 219)

Und: „Es ist das besondere Merkmal demokratischer Ordnungen, dass sie nicht das höhere Wissen einzelner besonders Gebildeter zugrunde legen …, oder es der Wissenschaft anheimstellen, zu bestimmen, was eine gute politische Praxis ist, wie es von der Ikone der Fridays for Future-Bewegung Greta Thunberg gefordert wird, sondern es ist die Bürgerschaft als ganze, die in einer inklusiven, alle umfassenden Deliberation zu klären versucht, was die richtige bzw. falsche politische Entscheidung wäre“ (S. 218) Und: „Der so sympathische Aufruf von Fridays for Future, doch auf die Wissenschaft zu hören, ist hier ein weiteres Indiz für die Vermengung zweier separat zu haltender Rationalitäten.“ (S. 206)

Eurokrise, Migrationskrise

Julian Nida-Rümelin wendet sich auch klar gegen die Politik von Angela Merkel in Sachen Euro und Migration. Er meint, dass Merkels Politik der Griechenland-„Rettung“ ein großer Fehler war, und dass man Griechenland besser mit einem Schuldenerlass aus dem Euro (nicht aber aus der EU) entlassen hätte. Es wäre überhaupt von Anfang ein Konstruktionsfehler des Euro gewesen, dass es keine institutionalisierte gemeinsame Wirtschaftspolitik gab. Die Hoffnung, dass die Euro-Staaten automatisch wirtschaftlich konvergieren würden, wäre naiv gewesen. (S. 237 f.)

In Sachen Migration konstatiert Julian Nida-Rümelin ein Gefühl der Täuschung bei den Bürgern (S. 238). Die Politiker sind nicht ehrlich und die Bürger haben keinen Einfluss. „Auch die großzügigste Aufnahme von Flüchtlingen aus den Armutsregionen wird das Weltelend aber nicht nennenswert mildern können.“ (S. 191) Und auch die Enttäuschungen bei der Integration von Zuwanderern, speziell von Muslimen, werden von Julian Nida-Rümelin klar angesprochen (S. 33).

Weiteres gegen den Zeitgeist

Julian Nida-Rümelin berührt en passant auch weitere Themen, in denen er Position gegen den Zeitgeist bezieht:

  • Gegen den Akademisierungswahn (S. 196).
  • Bildungsgerechtigkeit allein kann soziale Probleme nicht lösen (S. 196).
  • Die SPD ist zu einer Partei der Lehrer statt der Arbeiter geworden (S. 197).
  • Die Armutsdefinition in Deutschland muss dringend revidiert werden, so dass steigender Wohlstand nicht automatisch zu statistisch steigender Armut führt (S. 192).
  • In der DDR war das Leistungsprinzip im Bildungswesen noch intakter als in manchen westlichen Bundesländern (S. 236).
  • Viele Linke verstehen heute unter Säkularität die Bekämpfung von Religion, das sei aber ganz falsch (S. 138).
  • Die Militärdiktatoren in der islamischen Welt stehen uns näher als die Islamisten (S. 44).

Über Donald Trump sagt Julian Nida-Rümelin, dass seine Außenpolitik eine Wende zum Realismus war, und ein Versuch, gegen den deep state vorzugehen (S. 40 f.). Er benutzt tatsächlich das Wort deep state. Diese Meinung passt überhaupt nicht in die Landschaft des aktuellen Zeitgeistes. Julian Nida-Rümelin nimmt auch die Wähler von Donald Trump gegen die linksliberale Unterstellung in Schutz, sie würden gegen ihre eigenen Interessen wählen. Ihre Wahlentscheidung sei keinesfalls so irrational, wie es manchen linksliberalen Beobachtern erscheint (S. 76 f.).

Globale Rechtsordnung

Julian Nida-Rümelin sieht das Problem, dass die Nationalstaaten gegen grenzübergreifende Probleme und gegen internationale Konzerne oft machtlos sind. Sein Rezept dagegen ist nicht die Verlagerung von demokratischen Entscheidungen auf immer höhere Ebenen, sondern die Etablierung einer globale Rechtsordnung. Die Menschenrechte müssen rechtlich verbindlich werden. Der Marktradikalismus muss durch internationale Regeln eingedämmt werden. Außerdem muss es einen ökonomischen Ausgleich in sozialen und ökologischen Fragen geben. (S. 55 f., 63-68, 199 f., 240)

Das Problem ist: Diese Versuche gibt es schon längst. Es gibt die UN, es gibt die UN-Menschenrechtscharta, es gibt einen UN-Menschenrechtsgerichtshof, es gibt das Welthandelsabkommen, und es gibt viele politische Formate, die Nationalstaaten international zu koordinieren. So z.B. die G7 und die G20 Gipfel, oder in Europa die EU, die KSZE, den Europarat. Sozialer Ausgleich findet statt durch Entwicklungshilfe, durch Schuldenerlass, durch den Einkauf von Rohstoffen. Der ökologische Ausgleich findet statt durch großzügige Geldgaben bei Weltklimakonferenzen, usw. usf. – Nur sind alle diese Versuche auf halbem Wege stecken geblieben. Viele Versuche, nationale Kompetenz auf höhere Ebenen zu übertragen, haben die Demokratie beschädigt. Handelsabkommen sind leider nicht immer fair. Die Durchsetzung von Regeln ist leider nicht in allen Ländern gleich. Und Geld an ärmere Länder zu geben, endete oft nur in Korruption.

Man kann Julian Nida-Rümelin zugute halten: Der Versuch bedarf einer Erneuerung. Es geht ihm auch nicht um die Übertragung von Demokratie auf höhere Ebenen, sondern um eine globale Rechtsordnung, also um Regeln und Gerichte, die die Einhaltung von Regeln überwachen. Auch Entwicklungshilfe kann klug statt dumm gestaltet werden. Aber egal wie klug man es anstellt: Es wird Jahrzehnte und Jahrhunderte brauchen. Deshalb ist der Schutz der Demokratie, die im Hier und Jetzt realisierbar ist, nämlich der Demokratie in den Nationalstaaten, vorrangig. Das hätte Julian Nida-Rümelin deutlicher sagen sollen.

Richtig ist, dass die Menschenrechte den anderen Ländern nicht vom Westen aufoktroyiert worden sind (S. 124 f.). Vielmehr kam die UN-Charta gegen den Willen der USA und Großbritanniens zustande. Die Menschenrechte sind auch keine kulturelle Folklore des Westens, sondern für alle Menschen nachvollziehbar, insofern sie vernunftbegabte Menschen sind. Humanismus ist kulturell global anschlussfähig.

Einige Kritikpunkte

Manche Kritik wurde bereits in den vorigen Abschnitten geäußert. Obwohl Julian Nida-Rümelin schon recht deutlich ist, kommt er doch nicht überall deutlich genug auf den Punkt. Insbesondere ist eine klare Benennung von Angela Merkel als einer Hauptschuldigen unserer Situation zu vermissen.

Eine gravierende Leerstelle ist das Thema Medien. Julian Nida-Rümelin spricht zwar von der Bedeutung der Medien für die Aufrechterhaltung der öffentlichen demokratischen Deliberation, aber zur Problematik der Öffentlich-Rechtlichen Medien hat er nur wenig zu sagen: Die Aufsichtsgremien sollten politikfern besetzt werden, und das öffentlich-rechtliche Prinzip sollte auch auf Print und Digital ausgeweitet werden (S. 242). Das ist entschieden zu wenig. Die Organisation des Mediensystems steht definitiv im Zentrum unserer Probleme, hier müsste sehr viel mehr gesagt werden: Sowohl was Kritik, als auch was Lösungen anbelangt.

Julian Nida-Rümelin spricht wiederholt von „Marktversagen“ als einer Ursache unserer Krisen (S. 195, 198), u.a. im Zusammenhang mit der Finanzkrise von 2008. Aber diese Finanzkrise war letztlich von einer Politik verursacht worden, die die Marktkräfte auszuhebeln versuchte. In USA gab es Sozialgesetze, die den Banken vorschrieben, Hauskredite auch an Schuldner zu vergeben, die nicht kreditwürdig sind. Es war von vornherein klar, dass diese Kredite vielfach platzen mussten. Schuld war aber nicht der Markt, sondern eine falsche Politik. Und das ist oft so. Eigentlich immer. Diese Erkenntnis sollte Julian Nida-Rümelin in seine Analyse mit aufnehmen.

Auch bei der Einführung der Marktwirtschaft in der ehemaligen DDR und in Russland sieht Julian Nida-Rümelin viel Versagen, was das Vertrauen in Marktwirtschaft und Liberalität dort untergraben hätte (S. 237 f.). Die Frage ist aber, wie man eine solche Umstellung hätte bewerkstelligen sollen, ohne dass es zu Brüchen kommt. Vermutlich gibt es dafür kein Patentrezept. Es wurden Fehler gemacht, ja, aber ob man es ökonomisch so viel besser hätte hinbekommen können, wie manche meinen, muss bezweifelt werden. Auch diese Opfer sind zuerst und vor allem dem sozialistischen System zuzuschreiben, das eine verheerte Ökonomie zurückließ.

Es ist gut, dass Julian Nida-Rümelin das Thema des Zusammenlebens von Individuen und wirtschaftlichen Unternehmen in einer freien Gesellschaft aufgreift (S. 59). Allerdings ist auch dieses Feld nicht unbeackert: Es gibt bereits Gesetze zum Verbraucherschutz, zum Umweltschutz usw. Und eigentlich war es immer gute Praxis, dass sich Unternehmen abseits ihrer ökonomischen Interessen eher nicht in die Politik einmischen. Ja, die Gesetze müssen weiterentwickelt werden, aber neu ist das Thema nicht.

Julian Nida-Rümelin beklagt zurecht, dass die Vereinigung der DDR mit der BRD eher ein Anschluss war, und keine echte Vereinigung. Denn es wurde keine neue Verfassung ausgearbeitet und auch die wenigen Errungenschaften, die die DDR vorzuweisen hatte, wurden untergebügelt (S. 236 f.). Das ist alles richtig, allerdings vermeidet Julian Nida-Rümelin auch hier, auf den Punkt zu kommen. Denn eine Vereinigung auf Augenhöhe und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, hätte bedeutet, dass Deutschland die Nachkriegszeit überwindet und sich als Nation selbstbewusst neu definiert. Dazu hätte z.B. auch die Wiederherstellung des Bundeslandes Preußen als einem ganz normalen Bundesland gehört, zusammengesetzt aus Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Vorpommern und Restschlesien. Julian Nida-Rümelin irrt auch, wenn er die Schuld daran nur bei Helmut Kohl sieht. Es war nicht nur Helmut Kohl, der diese Debatte scheute, sondern es waren natürlich die Linken und Linksliberalen mit ihrem nekrophilen nationalen Selbstbild, die das nicht wollten. Damals hieß es: „Deutschland? Wir wollen doch Europa!“

Bedauerlicherweise verwendet auch Julian Nida-Rümelin an einigen wenigen Stellen den Begriff „liberale Demokratie“. Aber Demokratie benötigt kein Adjektiv, auch nicht das Adjektiv „liberal“. Demokratie ist entweder demokratisch oder es ist keine Demokratie. Demokratie ist ihrer Verfasstheit nach per se liberal, insofern alle Meinungen, die die demokratischen Spielregeln einhalten, in der Demokratie mitspielen dürfen. Demokratie ist ihrer Verfasstheit nach aber zugleich auch nichtliberal, insofern auch konservative Kräfte Wahlen gewinnen dürfen. Deshalb ist der Zusatz „liberal“ so gefährlich. Es ist ein Versuch, konservative Kräfte aus dem demokratischen Spektrum auszuschließen. Man kann vermuten, dass das nicht die Absicht von Julian Nida-Rümelin war, denn es passt nicht zu dem hier vorgestellten Demokratiebegriff. Ein guter Lektor hätte auf das Problem hingewiesen.

Donald Trump wird ein Übermaß an Lügen unterstellt (S. 27). Hier liegt Julian Nida-Rümelin eindeutig falsch. Donald Trump lügt zwar hin und wieder, aber nicht im Übermaß. Vieles, was ihm als Lüge ausgelegt wird, ist eben eine andere politische Meinung. Und das wahre Problem ist doch nicht, dass Trump lügt, sondern dass auch die etablierten Demokraten in einem Maße zum Gebrauch der Lüge übergegangen sind, dass man erschrecken muss! Da werden Migranten pauschal „Flüchtlinge“, nein: „Geflüchtete“ genannt. Da wird behauptet, ein babylonisches Multikulti würde wunderbar funktionieren. Da wird alles an der westlichen Geschichte und Kultur schlechtgemacht. Da werden radikale Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels propagiert, die nachweislich keinen guten Effekt haben, während effektive Maßnahmen unterbleiben. usw. usf.

Der AfD wird unterstellt, ihre Rhetorik wäre von Anfang an „populistisch“ gewesen (S. 170). Aber in Wahrheit schlägt Julian Nida-Rümelin in diesem Buch genau dieselbe Alternative zu Angela Merkels Griechenland-„Rettung“ vor (s.o.), die damals von AfD-Gründer Professor Bernd Lucke vorgeschlagen wurde. Die These, dass die AfD von Anfang an populistisch gewesen sei, ist vollkommen unsinnig. Die These passt auch gar nicht zu dem, was Julian Nida-Rümelin an anderer Stelle des Buches sagt.

Zum Thema Islam sagt Julian Nida-Rümelin durchaus Richtiges, doch leider verfehlt er den Punkt. Einerseits will er im säkularen Staat von Religion gar nichts wissen: Julian Nida-Rümelin schaut geradezu bewusst weg, wenn er sagt, dass die Religion selbst nicht an den Kreuzzügen schuld sei, und auch Koranverse seien an nichts schuld (S. 230). Andererseits zählt er auf, welche religiösen Praktiken nicht zu einer humanistischen Leitkultur und damit zur Demokratie passen: Autoritäre Muster, religiöser Fundamentalismus, Sehnsucht nach vormodernen Zeiten, Angst vor Aufklärung und Veränderung (S. 230 f.). – Das ist soweit zwar richtig, aber Julian Nida-Rümelin hat sich damit um den entscheidenden Punkt herumgemogelt, den man aber verstehen muss, wenn man politisch zum Handeln kommen will: Wie ist es denn nämlich möglich, dass eine Religion diesen humanistischen Anforderungen genügen kann, wenn die traditionelle Interpretation der Religion dem nicht entspricht?

Die Antwort ist, dass die Vernunft selbst dem Gläubigen befiehlt, die alten Texte der Religion ernst zu nehmen und sie gerade deshalb auf der Grundlage von Vernunft und moderner Erkenntnisse neu zu lesen und historisch-kritisch zu deuten. Das ist keine „Verbiegung“ und keine „Anpassung“ an die Moderne, denn es werden dadurch keineswegs alle Ecken und Kanten einer Religion abgeschliffen. Im Gegenteil: Je mehr Vernunft dabei zur Anwendung kommt, desto authentischer wird die Religion dadurch. Es ist vielmehr die Emotionalität und die Vernunftfeindlichkeit, die der Feind einer authentischen Auffassung von Religion ist. Kurz: Es geht um theologisch valide religiöse Reformen. Die Religionen selbst müssen sich also für den humanistischen Geist öffnen, so wie sich auch die Nationalkultur für den humanistischen Geist öffnen muss. Das können sie auch, denn Vernunft und Menschlichkeit wird in allen Religionen großgeschrieben. Und diese Öffnung ist es, die der Staat abverlangen muss. Der Staat darf deshalb beim Thema Religion nicht so völlig blind sein, wie es manche propagieren. Mehr noch: In einer Situation, in der eine beträchtliche Zahl von Mitbürgern einer traditionellen Lesart von Religion verfallen ist, muss der Staat sogar aktiv werden, um den Humanismus in diese Religion zu inkulturieren. Dazu gibt es vielfältige Möglichkeiten direkter und indirekter Einflussnahme. Doch davon liest man bei Julian Nida-Rümelin nichts.

Die westliche Interventionspolitik in anderen Ländern wird scharf kritisiert: Sie sei schuld an einem Großteil der aktuellen Flüchtlingsbewegungen und hätte hunderttausenden Zivilisten den Tod gebracht (S. 191). Doch hier irrt Julian Nida-Rümelin. Es gab gewiss auch viel Versagen, aber hat nicht auch ein Saddam Hussein hunderttausendfachen Tod gebracht? Und wer hat eigentlich die Opferzahlen der westlichen Interventionen ermittelt? Antiamerikanische NGOs? Die jedes Bombenopfer des IS-Terrors den Amerikanern zuschreiben?! Gerade im Irak ist noch erstaunlich viel Gutes übrig: Es gibt immer noch die freien Kurdengebiete im Norden. Es gibt immer noch die Demokratie des Irak, so formal sie auch ist. Beide haben dem IS widerstanden und waren hilfreiche Verbündete des Westens. Man stelle sich vor, Obama hätte die Truppen nicht aus dem Irak abgezogen und damit dem IS Tür und Tor geöffnet, was für ein Stabilitätsanker hätte dieses Land für die Region werden können! Der große Traum des George W. Bush, endlich den Teufelskreis aus Diktatur und Islamismus in Nahost zu durchbrechen, lebt weiter. Julian Nida-Rümelin hat hier offenbar vieles nicht verstanden. Da ist er aber nicht allein.

Schließlich kommt Julian Nida-Rümelin auf das „Verrechnungsverbot“ von Menschenrechten zu sprechen (S. 133 f.). Dieses ist stark von der Philosophie Immanuel Kants geprägt, sowohl im Guten wie im Schlechten. Grundsätzlich ist es ja auch richtig: Man kann nicht einfach Menschenleben gegen Menschenleben verrechnen. Das ist unmoralisch. – Aber nun die Kritik: Wenn man dieses Verrechnungsverbot absolut setzt, und das wird es oft genug, dann kommt man in Teufels Küche. Dann dürfte kein Staat mehr Soldaten in einen Verteidigungskrieg schicken, um seine Bürger zu schützen, denn dann würde ja das Leben der Soldaten gegen das Leben der Bürger verrechnet. Dann wären auch keine verhältnismäßigen Entscheidungen bei einer Pandemiebekämpfung mehr möglich: Man dürfte Suizide, Depressionen, häusliche Gewalt und verdorbene Bildungskarrieren von Schülern nicht mehr gegen einen vorzeitigen Tod älterer Menschen abwägen. Wir müssen Julian Nida-Rümelin zugute halten, dass er zu diesem Problem in der Corona-Pandemie ausführlich gesprochen hat. Doch hier im Buch fehlt der Gedanke, und es wird ein radikales Verrechnungsverbot formuliert.

In der Danksagung spricht Julian Nida-Rümelin davon, dass viele politische Übereinstimmungen mit Jürgen Habermas deutlich würden (S. 254). Aber dass er bei der Frage nach der kulturellen Verwurzelung der Demokratie einen deutlich anderen Standpunkt bezogen hat (s.o.), davon schweigt er an dieser Stelle. Völlig verschwiegen wird auch, dass Habermas ein großer Unterstützer von Angela Merkels Politiken war, während Julian Nida-Rümelin auch hier eine klar andere Meinung hat. – Es hat den Anschein, als wollte Julian Nida-Rümelin mit diesen Worten der Danksagung einen klaren Dissens zu Jürgen Habermas überkleistern, der sich bei näherem Hinsehen an vielen Stellen zeigt, und der sich in der Corona-Pandemie noch stärker gezeigt hat.

Es fehlt eine tiefere Analyse

Julian Nida-Rümelin beschreibt, wie die Demokratie vor unseren Augen erodiert. Und er beschreibt und kritisiert auch verschiedene geistige Strömungen, die an dieser Erosion beteiligt sind. Aber was fehlt, ist eine Analyse der tieferen Ursachen hinter dem allen. Wie kommt es denn dazu, dass Phänomene wie z.B. der Multikulturalismus und der Wokismus entstehen? Nicht erklären muss man hingegen, wie die Gegenbewegung des Rechtspopulismus entsteht.

Man könnte der Spur des Geldes folgen. Große Unternehmen haben ein Interesse an linksliberalen Zuständen. Der lustorientierte Linksliberale ist einfach der bessere Konsument, verglichen mit einem asketischen Bildungsbürger, der sich mit Büchern begnügt. Auch die Vereinfachung der Zuwanderung und die Schleifung der Nationalkulturen war immer im Interesse des Kapitals, da sie den Zugang zu kostengünstigen Arbeitskräften ermöglicht. Man könnte auch an Betrugschemata denken: Indem man diese oder jene Angst schürt, verkauft sich dieses oder jene Produkt besser. Das alles ist es auch, aber das allein kann es nicht sein.

Einen besseren Fingerzeig, wo das Problem liegt, geben jene Milliardäre, die mit ihrem Geld versuchen, etwas „Gutes“ für die Welt zu tun und auf diese Weise großen Einfluss nehmen. Sie tun das nicht um des Geldes wegen. Vielmehr glauben sie an das, was sie predigen. Und wie wir alle sind sie mit ihren Überzeugungen nicht selten Opfer des Zeitgeistes. Wir haben es nicht so sehr mit einer Verschwörungstheorie zu tun, bei der dunkle Hintermänner die Welt steuern, sondern mit dem Phänomen des kollektiven Irrtums. Gesellschaften können sich kollektiv in einen Irrtum hinein steigern.

Aber woher kommt der Irrtum? Es ist letztlich eine Dekadenzerscheinung. Wenn die Menschen in zu großem Wohlstand leben, wird das Leben leichter. Man verliert den Kontakt zur Realität, der sich vor allem dort manifestiert, wo man hart mit der Realität zusammenstößt. Und mit dem Realitätsempfinden hängt bei weniger gebildeten Menschen die Rationalität eng zusammen. Rationalität könnte man als die Fähigkeit beschreiben, möglicher Zusammenstöße mit der Realität geistig vorwegzunehmen und auf diese Weise zu vermeiden. Und als die Fähigkeit, die Realität so zu ordnen, dass man Vorteil davon hat. Ohne Realitätsempfinden keine Rationalität.

Der Wohlstand reduziert die harten Zusammenstöße mit der Realität, und so heben die Menschen ab und verlieren sich in illusionärem Wunschdenken. Rationalität zählt immer weniger, Gefühle immer mehr. Konservative Skeptiker verschwinden, emotionale Linksliberale setzen sich kulturell durch. Betrachten wir z.B. das berühmte Buch von Thilo Sarrazin aus dem Jahr 2010: Es handelt sich um eine rationale Analyse der Wirklichkeit mit dem Ziel, unangenehme Folgen zu verhindern und gute Zustände anzustreben. Doch das Buch verletzte Gefühle und durchkreuzte liebgewonnene Illusionen. Es wurde deshalb von Angela Merkel als „nicht hilfreich“ bezeichnet. Eine öffentliche Diskussion von Inhalten und ein Austausch von Argumenten fand niemals statt, obwohl viele Bürger das wollten. Es war die totale Zerstörung der demokratischen öffentlichen Deliberation.

Man könnte sagen: Die hohen Herren und Damen tanzen in Versailles. In Versailles galt man etwas, wenn man immer mit der neuesten Mode ging und geistreichen Unsinn von sich geben konnte. Wer jedoch kluge Politik für die Menschen machen wollte, der galt in Versailles nichts und wurde bestenfalls herumgeschubst. Intrigieren und Charmieren war alles, Rationalität und Realismus waren nichts. Die Kritik eines Voltaire wurde am Hof von Versailles auch nicht mit dem Argument zurückgewiesen, dass Voltaire nicht Recht hätte. Es wurde vielmehr überhaupt nicht argumentiert, sondern Voltaire störte einfach nur. Er war eine Beleidigung für den Geschmack und die Sensibilität der Höflinge. Und deshalb musste er weg. Ganz so, wie Angela Merkel das Buch von Thilo Sarrazin für „nicht hilfreich“ erklärte.

Hinzu kommt, dass vielen Menschen ein Sinn in ihrem Leben abhanden gekommen ist. Der religiöse Glaube nimmt immer mehr ab. Und in einer Gesellschaft des Wohlstands gibt es auch immer weniger Not zu lindern. Es ist in der Tat gar nicht so einfach, einen Sinn im Leben zu finden, wenn man in einem materialistischen Paradies lebt. Und so suchen sich die vielen weniger gebildeten Menschen einen Sinn für ihr Leben, wo eigentlich gar keiner ist: Klima, Multikulti, Wokismus, oder Rechtsradikalismus.

Wir haben es also mit einem Dekadenzproblem zu tun. Eine größere Zahl von Menschen ist vor lauter Wohlstand in Illusionen und Wunschdenken sowie in eine quasi-religiöse Sinnsuche hinein geraten. Und sie werden aus ihrem Schlummer nur durch den Zusammenstoß mit der Realität erwachen. – Eine Analyse dieser Art hätte man sich von Julian Nida-Rümelin gewünscht. Vielleicht würde Julian Nida-Rümelin es ganz anders sehen?

Fazit

Julian Nida-Rümelin hat ein richtiges und wichtiges Buch geschrieben, das einmal mehr den betrüblichen Zustand unserer Demokratie beleuchtet und dabei vor mutigen Aussagen nicht zurückschreckt, auch wenn es noch mutiger hätte sein können. Es ist wahr: Die Rationalität selbst leidet heute. Nichts weniger steht auf dem Spiel als die Errungenschaften der Aufklärung.

Julian Nida-Rümelin ist ein weiterer SPDler in einer langen Reihe von SPDlern, die sich von ihrer eigenen Partei entfremdet haben und den Weg nach Linksaußen nicht mitgegangen sind. Teilweise gibt es Überschneidungen mit Thilo Sarrazin, der mit „Wunschdenken“ eine Art Handbuch für kommende Politiker zusammengestellt hat, wie gute Politik gemacht werden muss.

Leider erklärt Julian Nida-Rümelin seine Thesen etwas umständlich. In der zweiten Hälfte ist das Buch auch etwas langatmig geschrieben. Die Erklärungen sind nicht „knackig“ und „griffig“, sondern akademisch abstrakt. Griffige Erklärungen muss sich der Leser selbst suchen, und diese Rezension will einen Beitrag dazu leisten, die Thesen von Julian Nida-Rümelin griffig zu machen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Thomas Mann: Joseph und seine Brüder (1933-43)

Weltanschauliches Groß-Epos der Humanisierung mit jüdisch-christlicher und politischer Schlagseite

Der Roman „Joseph und seine Brüder“ ist das große weltanschauliche Epos von Thomas Mann. Anhand der bekannten biblischen Episode entfaltet Thomas Mann mehrere große und kleine Themen, die das weltanschauliche Denken des Autors reflektieren. Dabei greift Thomas Mann weit über den engeren Kulturkreis des jüdischen Mythos hinaus.

Hauptthema 1: Mythen

Das ganze Buch handelt von Mythen und ist selbst ein Mythos, es zeigt wie Mythen entstehen, sich entwickeln, und in anderen Mythen aufgehen. Immer wieder und wieder werden Mythen erzählt und immer neu erzählt, dabei variiert und kombiniert. Der Leser erfährt sehr praktisch und am eigenen Leib, was Mythen sind. Das ganze Buch ist in einer episch-altertümelnden Sprache gehalten, die eine sehr glaubwürdige Atmosphäre des Mythischen schafft. Allein das ein Meisterwerk von Thomas Mann.

Mythen sind nichts, was wir ablegen könnten. Sie liegen unserer Kultur zugrunde, ob wir wollen oder nicht. Entweder wir leben die Mythen, oder die Mythen leben uns. Es gibt kein Entrinnen. Zwischen Religion und Mythologie wird hier übrigens nicht unterschieden.

Literarisch geschickt erweitert Thomas Mann den Horizont der Mythen weit über den engeren Kreis des jüdischen Mythos hinaus. Neben der Mythologie der Griechen, der Ägypter, der Babylonier, der Sumerer oder auch der Etrusker (sehr viel verdankt Thomas Mann hier offenbar Egon Friedell) lässt Thomas Mann aber auch teils witzige literarische Reminiszenzen an Form und Inhalt einfließen, u.a. an Goethes Faust, Dante, Karl May, Schneewittchen oder den Golem. Vor allem aber fließt auch der christliche Mythos ein. Je mehr Vorbildung der Leser mitbringt, desto mehr wird er das Werk genießen können.

Wie so viele, so hat auch Thomas Mann in diesem Roman die Erscheinung des Pharao Echnaton in Verbindung mit dem Eingottglaube der Israeliten gebracht. Ein weiterer geschickter und sehr mythischer Topos ist, dass die jeweiligen Vaterfiguren der Geschichte zeitweilig an die Stelle Gottes treten, indem sie milde und belehrend-erziehend wirken: Jaakob, der Karawanenführer, Petepre, der Gefängnisdirekter, Pharao.

Schon hier sei gesagt, dass das Thema Mythen von allen Themen dieses Romans das Gelungenste ist, während die Behandlung der anderen Themen an schweren Defiziten leidet, wie wir unten zeigen werden.

Hauptthema 2: Mythenentwicklung hin zum Humanen

Thomas Mann sieht im jüdisch-christlichen Mythos eine fortschreitende Entwicklung zum Humanen. Der gottessorgende Mensch fühlt den Drang zur Milderung und zur Überwindung althergebrachter Sitte und Weisung. Diese Entwicklung geschieht im Selbstgespräch mit Gott und aus innerem Fühlen und Drängen heraus.

Zwar lässt Thomas Mann ein einziges Mal auch das platonische Thema kurz anklingen, dass Dichtung auch wahr sein müsse, doch sieht er dieses Kriterium darin erfüllt, dass sie von Gottessorge getragen ist (S. 1245-1247). Wahrheit ist demgemäß gar keine Wahrheit im eigentlichen Sinne, sondern das richtige Einfühlen in die Gottessorge, ein gefühliges Ins-Reine-Kommen mit sich selbst und Gott, ein höchst irrationaler Vorgang. Jaakobs Milde wird explizit einem „Wahrheitseifer“ als das Bessere gegenübergestellt (S. 1259).

Der Gott Thomas Manns ist kein rationaler Gott. Er entwickelt sich mit den Menschen mit, lässt sich von Luzifer und Menschen verführen, veranstaltet mit der Menschheit ein großes Gottesspiel, über das man lachen sollte, und am Ende wendet er alles entstandene Leiden doch immer zum Guten. Es ist offensichtlich, dass sich Thomas Mann dem so verstandenen jüdisch-christlichen Mythos auch persönlich verpflichtet fühlt.

Sehr glaubwürdig ist Thomas Manns Schilderung des menschlichen Haderns und Leidens, und der menschlichen Schwäche und Erniedrigung, die aber auch Kraft und Erneuerung aus geistigen Quellen erfahren kann.

Hauptthema 3: Judentum und Christentum

Thomas Mann unternimmt alles, um zu zeigen, dass der jüdische Mythos den christlichen Mythos vorbereitet und praktisch bereits enthält, von der Dreifaltigkeit bis hin zur leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Hier entfaltet Thomas Mann seine ganze sprachliche und erzählerische Meisterschaft, und spielt brilliant mit Worten wie „Ich bin’s“, „Auferstehung“, „leeres Grab“, oder „Sohn Gottes“.

Schließlich gestaltet Thomas Mann in dem Verhältnis von Gottessohn Joseph zu seinen „alten Brüdern“ andeutungsweise auch seine Vision vom wünschenswerten Verhältnis zwischen Christentum und Judentum. War das Gottesspiel auch böse, so war es doch ein Spiel zum guten Zweck, über das man lachen sollte, und allseitige Bitte um Vergebung ist angesagt.

Nebenthema: Erwählung und Leiden

Joseph ist der Erwählte, der Ausgesonderte. Der Liebling und der Schöne. Als solcher ist er naiv und offenherzig, muss für seinen „Frevelmut“ aber büßen durch den Neid der Nichterwählten. Er ist erwählt, muss dafür aber viel leiden, um zum Ziel zu kommen. Er erreicht das Besondere, aber der Segen geht dennoch nicht auf ihn und seine Nachkommen über, sondern auf einen anderen.

Nebenthema: Ökonomie

Anhand von Josephs Wirtschaftssystem in Ägypten zeigt Thomas Mann, wie er sich die Organisation der Ökonomie in seiner Zeit vorstellt (um die Seite 1284):

  • Volksfürsorge für Ärmere.
  • Reichere werden enteignet, Bodenreform.
  • Der Eigentumsbegriff wird relativiert und an die Bewirtschaftung gekoppelt.
  • Eine Flat-Tax für alle.
  • Die Tempel werden geschont, weil das Volk es nicht verstehen würde.

Nebenthema: Klimawandel

Wissenschaftlich völlig korrekt deutet Thomas Mann die Möglichkeit einer zufälligen Aufeinanderfolge von sieben Dürrejahren nicht als Klimawandel, sondern als möglichen Zufall. Noch interessanter ist, dass Thomas Mann für einen Klimawandel die Sonnenflecke verantwortlich macht: „Das hat übergeordnete Gründe, es führt ins Kosmische und zu den Gestirnen, die zweifellos Wind und Wetter bei uns regieren. Da sind die Sonnenflecke – eine beträchtlich entlegene Ursache.“ (S. 1191)

Damit nimmt Thomas Mann eine Erkenntnis vorweg, zu der wir nach dem langen Irrtum der Treibhaus-Hypothese langsam wieder zurückkehren: Maßgeblich für Klimaschwankungen ist immer noch nicht der Mensch, sondern die Sonne.

Nebenthema: Atlantis

Thomas Mann akzeptiert offenbar im Gefolge des von ihm mit viel Zustimmung gelesenen Egon Friedell die pseudowissenschaftliche Annahme einer Urzivilisation namens Atlantis. Während zur gleichen Zeit manche Nationalsozialisten diese Vorstellung von Atlantis zum Herkunftsort der arischen Rasse umzudeuten versuchen, ist Atlantis für Thomas Mann der Herkunftsort sowohl der arischen als auch der semitischen Sprachen. Vermutlich bezieht sich folgendes Wort von Thomas Mann aus einem Vortrag von 1942 über seinen Roman auch auf diesen Sachverhalt: „Der Mythos wurde in diesem Buch dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert, – wenn die Nachwelt irgendetwas Bemerkenswertes daran finden wird, so wird es dies sein.“

Schwäche 1: Thomas Mann ignoriert den Kern unserer aufgeklärten Kultur

Thomas Mann konzentriert sich in seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ allein auf das Mythische und die jüdisch-christliche Tradition. Den Kern unserer Kultur, die griechische Philosophie, übergeht er jedoch vollkommen. Damit muss Thomas Mann in vielerlei Hinsicht scheitern.

Philosophie bedeutet natürlich die Hinterfragung der Mythen, die Einführung der Herrschaft der Vernunft und die Frage nach der Wahrheit. Ohne das ist die menschliche Kultur seit über 2000 Jahren überhaupt nicht mehr denkbar, und Thomas Mann übergeht es vollkommen!

Damit gerät auch das zentrale Projekt, das Thomas Mann mit seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ verfolgte, ins Zwielicht: Denn nicht aus innerem Fühlen und Drängen heraus haben sich die Mythen und Religionen humanisiert, sondern aus dem Drang zur Vernunft heraus. Es gibt keine Garantie dafür, dass das innere Fühlen religiöser Menschen immer in Richtung Humanisierung geht; das Pendel des Fühlens und Meinens kann auch wieder in die gegenteilige Richtung umschlagen. Nur die Vernunft, nur der Humanismus der klassischen Antike ist Garant und wahre Quelle der Humanisierung. Alles andere kann dazu nur eine vorübergehende Vorstufe sein.

Wir müssen feststellen: Thomas Mann war eben leider nur ein Dichter, aber kein Denker.

Schwäche 2: Theologisch verfehlt

Die nächste Schwäche hängt sehr eng mit Schwäche Nr. 1 zusammen: Denn ohne Philosophie und Rationalität ist Theologie gar nicht zu haben. Es ist zu bezweifeln, dass Thomas Mann mit seinem Werk im Denken von jüdischen, christlichen oder islamischen Theologen einhaken kann. Allzu leicht tändelt dieser Gott, und lässt seine Anhänger im Stich, die seine unwiderrufenen Weisungen von gestern noch befolgen. Allzu leicht löst sich für Thomas Mann das Problem des guten Gottes, der Leiden zulässt, auf. Humanisierung auf dem Wege der Theologie schön und gut, aber so geht es nicht.

Ja, schlimmer noch: Die ganze jüdisch-christliche Tradition mit all ihren Mythen wird seit über 2000 Jahren im Spiegel der griechischen Philosophie überliefert und gedeutet und mythologisch weiter entwickelt. Selbst unter rein mythischen Gesichtspunkten hätte Thomas Mann hier also versagt.

Hier ist Thomas Mann dem schwärmerischen Drang zum Wünschenswerten erlegen, der aber die Auseinandersetzung mit der Realität nicht ersetzen kann.

Schwäche 3: Störend ahistorisch

Ein historischer Roman muss historisch nicht genau sein, er ist ja Literatur. Wo aber die beabsichtigte Botschaft eines historischen Romans davon abhängt, wird historische Genauigkeit doch wichtig.

Thomas Mann versetzt eine fortgeschritten humanistische Denkatmosphäre in den Kontext einer religiös-patriarchalischen Stammesgesellschaft: Das funktioniert so leider nicht. Natürlich repräsentieren auch die Geschichten um Jaakob und Joseph ein Stück Humanisierung, aber in einem weit geringeren Maße und einem weit früheren Stadium der Humanisierungsgeschichte, als dass es passen würde. Man darf als Literat durchaus Dinge hinzuerfinden, aber nur, wenn es sich in den vorgegebenen Rahmen einpasst. Sobald dieser Rahmen gesprengt wird, kommt immer etwas entschieden Falsches hinein, eine unauflösliche Dissonanz. Aus dem vorgegebenen Rahmen, der überlieferten Geschichte, wird etwas herausgeholt, was nicht in ihr steckt. Dann hätte der Literat seine Gedanken besser im Rahmen einer anderen Vorlage entwickelt.

Beispiele: Wenn Jaakob und Joseph bei Vollmond am Brunnen sitzen, beschleicht den Leser das unabweisbare Gefühl, hier würde doch eher der väterliche Sokrates mit dem jungen Phaidros am Ufer des Ilissos sitzen, als der Patriarch einer religiösen Stammesgesellschaft mit seinem Sohn. Die Gedanken schweifen viel zu frei. Besonders deutlich wird das Unpassende, wo Thomas Mann hinzuerfindet oder weglässt. Niemals könnte ein echter Patriarch es ohne Blutzoll dahingehen lassen, dass sein Sohn mit einer seiner Ehefrauen schläft. Niemals könnte ein Patriarch eine solche Selbsterniedrigung hinnehmen, wie Thomas Manns Jaakob vor Esaus Sohn Eliphas. Hingegen übergeht Thomas Mann dezent, mit welchen und wievielen Frauen dieser Patriarch Jaakob zu schlafen pflegt.

Schwäche 4: Der Islam fehlt

Nicht nur das Christentum, auch der Islam geht auf die biblischen Patriarchen zurück, und gerade heute wären wir alle höchst interessiert daran zu wissen, wie Thomas Mann den Islam in seine Erzählung eingewoben hätte, so wie er das Christentum auch hineingewoben hat. Doch mehr als den folgenden Satz finden wir nicht: „Da nahm er die ägyptische Magd und zeugte mit ihr einen Sohn und nannte ihn Ismael. War aber ein abwegig Erzeugnis, nicht auf der Heilsbahn, der Wüste gehörig, …“ (S. 1129). Das ist zu wenig, und würdigt weder die Errungenschaften noch die Schwächen des Islam in angemessener Weise, noch gibt es uns Rat, wie wir mit dem Islam umgehen sollen.

Schwäche 5: Allzu linker Linksliberalismus

Thomas Mann wollte den Mythos aus den Klauen der Ideologie befreien und sprachlich für immer humanisieren, doch er hat ihn womöglich doch nur für eine weitere politische Ideologie in Dienst genommen. Das ganze Werk atmet den Geist eines altbackenen, allzu linken Linksliberalismus.

Da ist zunächst die typisch linksliberale weltanschauliche Schwammigkeit, der Verzicht auf Rationalität. Man möchte sich gerne in den überkommenen Mythen wiegen, aber sie glauben möchte man nicht mehr. Alles soll nur noch im übertragenen Sinn gelten, bis vom eigentlichen Sinn nichts mehr übrigbleibt. Man haust offenbar gerne in den Trümmern einer gefallenen Weltanschauung. Die Mühe, eine direkt glaubhafte, konsistente Weltanschauung zu ersinnen, wird geradezu verpönt, und durch ein Schwelgen in überlieferter Bildung ersetzt. Ordnung und Disziplin vor sich selbst sind nicht gefragt. Wahrheit wird nicht gesucht, sondern für gefunden geglaubt, und als Pseudo-Wahrheit in den Dienst einer Sache gestellt, die man längst für ausgemacht hält. Wahre Bildung ist das nicht.

Aber auch die ökonomischen Visionen Thomas Manns zeigen es: Das Eigentum soll relativiert werden, Reiche soll es nicht mehr geben, alle Menschen sollen ökonomisch gleich sein, der gute Staat sorgt für alle. Das ist beinahe schon kommunistisch, denn wo die herausragenden Männer zurückgestutzt werden und der Staat der Übervater ist, dort ist keine Freiheit mehr. Die ökonomische Schonung der Tempel entspricht natürlich einer Schonung der heutigen Kirchen: Hier kommt die weltanschauliche Schwammigkeit eines Festhaltens am Christentum mit dem linken ökonomischen Denken zusammen.

Wenn man bedenkt, dass sich die Kirchen in der Bundesrepublik zu finsteren Horten eines allzu linken Linksliberalismus, eines schwärmerischen Utopismus, entwickelt haben, die sich bis heute an ihre überkommenen Privilegien klammern und darin vom links durchwirkten BRD-Establishment, das früher einmal kirchenkritisch war, maßgeblich unterstützt werden, bis hin zur bedenkenlosen Einführung eines Islamunterrichtes in Zusammenarbeit mit verfassungsfeindlichen Islamverbänden, nur um das analoge Privileg des christlichen Religionsunterrichtes weiter rechtfertigen zu können – wenn man das bedenkt, dann war Thomas Manns Werk in diesem Punkt wahrhaft prophetisch und vielleicht auch unheilvoll wirkmächtig.

Womöglich ist es kein Zufall, dass Thomas Mann gerade zum Islam nichts zu sagen hatte. Denn zum Islam weiß der allzu linke Linksliberalismus bis heute nichts Vernünftiges zu sagen, und glaubt, ihn unverwandelt und ungesiebt in die bestehenden Strukturen einbeziehen zu können. Wie wenn der Patriarch am Brunnen mit seinen zwölf Söhnen sich nahtlos in unsere durch griechisches Denken aufgeklärte Gesellschaft fügen könnte. Nach dem von Thomas Mann vorgegebenen Muster der Ignoranz des griechischen Erbes kollidiert hier Wunschdenken mit Wirklichkeit.

Schwäche 6: Literarische Faux-pas

Teilweise belästigt Thomas Mann den Leser mit einer läppischen Intimität. Wenn man zum soundsovielten Mal von „Dudu dem Ehezwerg“, dem „Hutzel“, gelesen hat, dann hat man davon irgendwann genug und will es nicht mehr sehen.

Längen sind eine Stärke dieses Romans, der alles in buchstäblich epischer Breite darlegt. Doch der Leser atmete sichtlich auf, als die Liebeswehen von Potiphars Weib Mut-em-enet endlich vorüber waren, und die Geschichte wieder an Fahrt aufnahm: Wer diese harte Prüfung bestanden hat, der wird den Roman auch vollends zu Ende lesen.

Fazit

Trotz gravierender Schwächen ist Thomas Mann ein sprachliches Meisterwerk gelungen, das über Mythen und Menschen viel zu sagen weiß, und das zu lesen sich lohnt. Man darf dabei aber niemals vergessen, dass Thomas Manns Weltsicht eine schwere jüdisch-christliche und politische Schlagseite hat, die der kundige Leser in seinem eigenen weltanschaulichen Denken in vielfacher Hinsicht nachkorrigieren muss – dann kann dieses Werk ein Genuss sein.

Ohne diese Korrektur jedoch wird dieses Buch zur Quelle eines unheilvoll mythischen Denkens, zu einem unendlich tiefen Brunnenloch, aus dem die Dämonen der Vergangenheit in die Gegenwart hinaufsteigen können. Ob Thomas Mann das gewollt hätte? Wir glauben nicht: Denn mit Thomas Mann wissen wir, dass die Geschichten sich immer weiter spinnen, und wie sein Gott so hätte auch Thomas Mann inzwischen sicher längst wieder seine Meinung weiter entwickelt und würde jene bestraft sehen wollen, die am „Überständigen“ dieses Romans festhalten wollen: „Denn es ekelt den Herrn das Überständige, worüber er mit uns hinauswill“.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 20. Juli 2014)

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