Schlagwort: Immanuel Kant

Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Gert Scobel: Weisheit – Über das, was uns fehlt (2008)

Ein abgrundtief törichtes Buch

Der Ansatz von Scobel ist vielversprechend: Ob es hinter den Religionen und Philosophien nicht eine tiefere Dimension der Weisheit gäbe. Doch das Buch enttäuscht fundamental.

Der Leser gerät bei der Lektüre in ein wahres Gewitter von wildesten Assoziationen zu Religion, Philosophie, Wissenschaft, Weisheiten und Plattitüden, die auf eine Art miteinander verquickt, verbunden und verwechselt werden, wie man es sonst nur von pseudo-wissenschaftlichen Publikationen her kennt. Solange etwas nur ähnlich klingt oder ähnlich aussieht wird es in einen Topf geworfen, Konsequenzen werden außer Acht gelassen. War man anfangs noch entschlossen, dem Buch wenigstens wegen seines Ansatzes und wegen der vielen Anregungen einen Gnadenpunkt zu geben, muss man am Ende eines sich steigernden Hexensabbates der Narreteien auf der niedrigsten Bewertung bestehen: So viele Irrtümer, so viel oberflächliches Denken, so viel Nichtverstehen und so viel fehlende Einsicht haben nichts anderes verdient. Dieses Buch kann höchstens als Übung zum Erkennen von Denkfehlern, Denkfallen und Irrtümern herhalten. Da wird die fernöstliche Dualität von Ying und Yang vermengt mit der coincidentia oppositorum von Cusanus, vermengt mit der Subjekt-Objekt-Beziehung von Kant, vermengt mit dem Binärkonzept der digitalen Rechenmaschine. Da wird der „Erste Beweger“ mit dem Hinweis auf spontante Umorganisationen in komplexen Systemen für überflüssig erklärt. Da wird das Gehirn als deterministisches System beschrieben, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Da werden die unhinterfragten Evidenzen menschlichen Denkens mit religiösem Glauben verwechselt. Auch die Himmelsscheibe von Nebra muss für wirre Thesen herhalten.

Eine halbwegs tragfähige Definition von Weisheit sucht man vergebens. Der Anspruch auf S. 9 des Vorwortes zur Taschenbuchausgabe, „Dieses Buch hilft Ihnen dabei, auf eine seriöse, gründliche Art und Weise zu verstehen, was gemeint ist, wenn man … von Weisheit spricht“, wird in keiner Weise eingelöst. Es kristallisiert sich im Laufe der Lektüre heraus, dass der Autor unter Weisheit offenbar vor allem die buddhistische Variante im Auge hat und die Meditation als Weg zur Weisheit ins Zentrum stellt. Es sei dem Autor zugestanden, dass er keine esoterische sondern eine nüchterne Wahrnehmung von Buddhismus pflegen will.

Das ganze Buch über springt der Autor zwischen zwei Grundkonzepten von Weisheit hin und her, ohne zu bemerken, dass sie nicht dasselbe sind. Das eine Konzept ist Weisheit durch Meditation, also vor allem auch durch Nichtdenken. Das andere Konzept ist Weisheit durch Bewältigung von Komplexität (das ohne Denken wohl kaum möglich ist). Es ist immer wieder atemberaubend, wie der Autor von dem Problem der Bewältigung von Komplexität nahtlos zum Thema Meditation übergeht, wie wenn das eine Lösung wäre. Wie wenn sich Komplexität durch Nichtdenken bewältigen ließe. Das scheint offenbar die Auffassung des Autors zu sein, wie wir gleich sehen werden.

Ganz übel mitgespielt wird der westlichen Weisheitstradition, also z.B. Platon oder dem Stoizismus. Diese werden nur selten einmal erwähnt und dann meist schief im Sinne des Autors interpretiert. Wenn es im Vorwort zur Taschenbuchausgabe S. 9 heißt, dass das Buch „auf die üblichen Zitate und Einführungen, beispielsweise der griechischen Philosophie, und somit auf gewisse Wiederholungen verzichtet“, dann ist das praktisch eine Ausrede dafür, dass der Autor ein Gegner der westlichen Weisheitstradition ist. So hart muss man es leider sagen, denn: S. 31 wird der Prozess der Aufklärung kurzerhand mit buddhistischer Erleuchtung gleichgesetzt (keuch!) und zugleich die Errungenschaft der Rationalität damit abgetan, dass „das Spüren eines Sonnenstrahls auf der Haut“ ja mit Rationalität nicht viel zu tun habe …

Dabei antwortet die westliche Weisheitstradition gerade auf das Problem der Bewältigung von Komplexität. Stark verkürzt könnte man die westliche Weisheitstradition so beschreiben: Hier steht die Rationalität im Zentrum als ordnende Kraft, die alle Erkenntnisse (Bücherwissen, Erfahrung, Gefühl, einfach alles) zu einem großen Erkenntnisgebäude zusammensetzt, und dabei Ordnungsmuster erkennt. Man könnte es eine individuelle (nicht kollektive!) Weltanschauung nennen. Auch das Wissen um die Grenzen des Wissens und des Machbaren wird in diese große Ordnung eingewoben, das Unbekannte abgeschätzt und eingehegt. Aus dieser ständig fortgestrickten Gesamtordnung ergibt sich immer mehr Überblick. Ein Überblick, der Gelassenheit verschafft. Man steht buchstäblich über den Dingen. Eine solche Ordnung aufzubauen leitet auch zum richtigen Handeln an: Zum Selberdenken. Zu Denkstrategien und Denkregeln (Dialektik, Heuristik, in Gegenseite versetzen, Logik, Wissenschaftstheorie). Zum Wissen und Erfahrungen sammeln. Zum praktischen Leben, gegen intellektuelle Abgehobenheit. Zur Annahme der Realität wie sie nun einmal ist. Zu einem geregelten Leben, in dem Fühlen, Mitfühlen, Triebe, Mühe und Entspannung in Balance sind. Glück kommt aus der Gelassenheit des geordneten Überblicks und dem geordneten Leben; besondere Glücksmomente sind Fortschritte in der Ordnung, wenn wieder ein Zusammenhang neu oder besser erkannt wurde, wenn wieder ein Puzzleteil richtig ins Gesamtbild eingesetzt werden konnte. Der stoische Weise ist das klassische Beispiel für westliche Weisheit.

Aber auch viele andere, nicht-westliche Weisheitskonzepte kommen in diesem Buch unter die Räder, sie werden von vornherein gar nicht systematisch erfasst. Denn viele von ihnen ähneln dem westlichen Konzept von Weisheit, so z.B. Konfuzius. Der „westliche“ Weg heißt ja nur deshalb „westlich“, weil er im Westen als erstes und am konsequentesten beschritten wurde, namentlich im alten Athen, dem Urbild aller vernünftigen und freien Gesellschaften. Aber eigentlich ist es ein universaler Ansatz, der für alle Menschen der beste Weg ist. Nur unweise Zyniker würden einwenden, dass dies die Weltherrschaft der Micky Maus bedeuten würde; doch vom Christentum würde auch keiner behaupten, dass es ihm geschadet hätte, durch die klärende Phase der Aufklärung hindurch gegangen zu sein, also kann es anderen Kulturen ebensowenig schaden, sondern im Gegenteil nur nützen.

Um eine Klärung des Verhältnisses von Religion und Weisheit drückt sich der Autor konsequent. Generell erweckt er den Eindruck, Religion und Weisheit gingen konform. Dass aber gerade westliche Weisheit ganz maßgeblich mit der Hinterfragung von Religion, z.B. des Buddhismus, zu tun hat, blendet er aus. Weisheit wird zudem als eine tiefere Dimension hinter den Religionen gedeutet. Dass aber Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen oft eine identitäre Einheit bilden, übersieht er. Die Frage, inwieweit Weisheit eine elitäre Angelegenheit ist, während für die Masse eine Religion notwendig bleibt, übergeht der Autor. Einzig bei seiner Kritik am Weltethos von Hans Küng liegt der Autor dann doch einmal richtig: Einerseits erkennt er darin zurecht den Versuch, die Vernunftreligion Kants zu verwirklichen; andererseits fällt ihm bei den Religionen auf, was ihm bei den Weisheitskonzepten verborgen bleibt: Dass sie nämlich nicht kompatibel sind.

Der Autor scheint ein Opfer linksliberalen Denkens zu sein, das dem Zeitgeist verhaftet ist. Linksliberales, dekadentes Denken lässt sich an vielen Punkten dieses Werkes belegen. So irritiert zunächst, dass Weisheit mit Werterelativismus und sozialer Kompetenz in Verbindung gebracht wird. Doch hat man sich einen weisen Menschen nicht bislang eher als einen prinzipientreuen Menschen gedacht, der mit der Gedankenlosigkeit seiner Mitmenschen eher Schwierigkeiten hat? Auch der typisch linke Alarmismus, mit dem die Kultivierung der Weisheit zu einer Überlebensfrage der Menschheit hochstilisiert wird, will wenig weise erscheinen.

Die Abneigung gegen die eigene Kultur, gegen das westliche Weisheitskonzept, fügt sich ebenso gut in das Gesamtbild linksliberalen Denkens wie das völlige Verkennen des Wesens anderer Kulturen, die romantisch verklärt werden. Dass Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen nicht so getrennt werden können, wie der Autor meint, erwähnten wir schon. Hinzu kommt eine schwärmerische Verklärung der Aristoteles-Rezeption in der islamischen Welt mit Averroes im Kalifat von Cordoba in Andalusien als Höhepunkt, das natürlich als ein Hort von Toleranz und Weltoffenheit beschrieben wird; wer es wissen will, weiß, dass es so nicht war. Insbesondere die Ideen des Averroes sind im islamischen Raum leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, es wäre zu schön gewesen. Hinzu kommt der Selbstwiderspruch, dass Aristoteles natürlich für die westliche, rationale Weisheitstradition steht, für die der Autor offenbar plötzlich doch etwas übrig hat, wenn sie sich im islamischen Raum entfaltet, und Europa seine damalige Ignoranz unter die Nase gerieben werden kann. Der Gipfel ist dann die Behauptung des Autors, die schöne Geschichte von Andalusien würde heute gerne übergangen – in Wahrheit kommt uns dieses Märchen aus 1001 Nacht schon zu den Ohren heraus!

Wie gesehen hat der Autor auch kein Problem damit, das Gehirn für ein deterministisches Organ zu halten; dass er damit den Weg des Materialismus beschreitet und jeglicher Religiosität und Metaphysik den Boden unter den Füßen entzieht, fällt ihm nicht als Problem auf. Das Buch bewegt sich völlig auf der Schiene eines oberflächlichen Zeitgeistes. Die Zeitgeistigkeit wird noch unterstrichen durch häufig eingestreute politsche Seitenhiebe, die alle in eine naive ökopaxe und linksliberale Richtung tendieren. Immer wieder zitierte Philosophen sind Heidegger und Habermas.

Oberflächliche Zeitgeistigkeit könnte einen weiteren Grund für die Ablehnung der westlichen Weisheitstradition liefern: Diese macht nämlich Mühe und Arbeit. Es gibt hier keinen „Königsweg“, also keine Abkürzung zur Weisheit. Weil nur wenige den mühevollen Weg des Ordnens gehen, und jeder verschieden weit auf dem Weg voran kommt, kann westliche Weisheit auch zu Kränkungen bei denen führen, die erkennen müssen, dass sie nicht weit gekommen sind. Meditation hingegen verspricht Weisheit gerade aus dem Nichtdenken, aus dem Abschalten, aus „Präsenz“ und „Achtsamkeit“. Das erscheint vergleichsweise einfach, und das ist wohl auch einer der Gründe, warum Meditation so in Mode ist. Meditation könnte als psychologisch nützliche Technik in das große Puzzle der westlichen Weisheitstradition integriert werden, aber ins Zentrum könnte sie dort niemals rücken.

In diesem Buch erfährt man wenig über Weisheit, aber viel über die Weltanschauung des Autors: Diese ist ungeordnet, schwärmerisch, flatterhaft und haltlos, und damit zutiefst unweise. Immerhin gibt er selbst zu, kein Weiser zu sein. Hätte er dann nicht besser über Weisheit geschwiegen?

Buchempfehlungen für alle, die an ihrer Weisheit arbeiten (!) wollen:

  • Platon, Die Apologie des Sokrates.
  • Cicero, Gespräche in Tusculum.
  • Edith Hamilton, The Greek Way.
  • Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (Kulturphilosophie Teil I und II).
  • Neil Postman, Die zweite Aufklärung.
  • Peter Prange, Die Philosophin.
  • Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon.
  • Walter Nutz: Vom Mythos der Freiheit.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Geschrieben September 2011)

Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig: Nie zweimal in denselben Fluss (2018)

Versuch einer sachlichen Rezension – Kein gutes Urteil

Über Björn Höcke wird viel Unsinn geschrieben. Meistens erklärt man ihn mit haltlosen Gründen zum Rechtsradikalen. So meinten anfangs manche, Höcke wäre deshalb als Rechtsradikaler erkennbar, weil er davon sprach, dass Deutschland schon 1000 Jahre alt sei und noch 1000 Jahre Bestand haben möge. Sie sahen darin eine Anspielung an das „tausendjährige Reich“. Das ist so natürlich Unsinn, denn Deutschland ist tatsächlich 1000 Jahre alt, und wenn das alles wäre, was seine Gegner gegen ihn ins Feld führen könnten, dann wäre Höcke natürlich kein Rechtsradikaler. So dachte damals auch der Autor dieser Rezension, der sich in diesem Urteil auch dadurch bestärkt sah, dass der vermeintliche Konservative Alexander Gauland Björn Höcke „meinen Freund“ nannte.

Inzwischen ist wesentlich mehr von Björn Höcke bekannt, und auch Alexander Gauland wurde als ein pseudo-konservativer Preußenfeind erkannt (siehe die Rezension zu dessen Konservativ-Buch). Es bleibt die Aufgabe, eine Rezension zu Björn Höcke zu schreiben, die versucht, ohne Zorn und Eifer herauszuarbeiten, dass es tatsächlich Probleme mit Björn Höcke gibt, und welche es sind – dennoch ist natürlich auch diese Rezension letztlich ein persönlicher Kommentar. Der Leser wird wie bei jeder Rezension sehen müssen, wo er mitgehen kann und was er davon mitnimmt.

Wo Höcke Recht hat und Sympathien sammelt

Das vorliegende Buch ist ein Marathon-Interview mit Björn Höcke, das sich entlang seiner Lebensgeschichte von Thema zu Thema hangelt, von der Kindheit und Jugend über die Zeit als Lehrer bis zum Engagement als Politiker, um schließlich mit der Frage nach Höckes Zukunftsvisionen für Deutschland und Europa zu enden.

Wie jede Biographie hat auch die Lebensgeschichte von Björn Höcke jenseits der Politik manchen sympathischen und menschlichen Zug zu bieten. Darauf werden wir hier nicht weiter eingehen, aber um das Bewusstsein nicht zu verlieren, dass hinter dem Politiker auch ein Mensch steht, lohnt sich die Lektüre. Darüber hinaus streut Höcke natürlich viel berechtigte Kritik an den etablierten Parteien und deren Politik ein. Darum soll es in dieser Rezension aber gerade nicht gehen, denn dass die etablierten Parteien der AfD viele wichtige und richtige Themen überlassen und sie auf diese Weise stark gemacht haben, ist jedem Beobachter sowieso klar. Die eigentliche Frage, um die es nur gehen kann, ist, ob Björn Höcke und seiner AfD zu trauen ist: Sind sie demokratisch oder sind sie rechtsradikal?

Höcke zeigt sich belesen und intellektuell und jongliert mit zahlreichen Namen namhafter Denker aller Couleur. Darunter sind z.B. Karl Popper (S. 57), Dietrich Bonhoeffer (S. 60, 77, 291), Theodor Fontane (S. 63), Carl Gustav Jung (S. 63), Jakob Böhme (S. 72), Schopenhauer (S. 73), Ludwig Klages (S. 77), Martin Heidegger (S. 77), Martin Luther (S. 212), Caspar David Friedrich (S. 80), Martin Buber (S. 83 ff.), Thomas Hobbes (S. 119), Georg Christoph Lichtenberg (S. 123), Ortega y Gasset (S. 148), Josef Isensee (S. 152), Macchiavelli (S. 226), Friedrich Naumann (S. 281) sowie Goethe, Schiller, Herder, Fichte, Schelling und Hegel (S. 75). Neben Klassikern ist auch vielfach von der Antike die Rede, so z.B. von Vergil (S. 62) oder von der antiken Idee, dass sich die Verfassung eines Staates in Zyklen entwickelt (S. 225). Das Wandern wird als die deutsche Form der antiken griechischen Peripatetiker bezeichnet (S. 80), und schließlich wird die Bildung als solche „klassisch“ genannt, und dass man sich für alle Sichtweisen offenhalten sollte (S. 148).

Viele Themen werden sehr „weich“ gehandhabt. Patriotismus wird z.B. als eine psychologisch notwendige Selbstbefreundung, die zudem unspektakulär sein sollte, vorgestellt (S. 121). An solchen Thesen ist nichts auszusetzen.

Erster Widerspruch: Dialog oder Durchregieren?

Generell versprüht Björn Höcke in diesem Buch viel jugendliche Lebensfreude, Optimismus und Gestaltungskraft, und immer wieder betont er – ganz wohlwollender Lehrer und Pädagoge – dass er sich mit seinen politischen Gegnern offen aussprechen möchte, um zu gemeinsamen Lösungen und zu einem Ausgleich zu kommen (z.B. S. 85, 249). Hier beeindrucken vor allem auch seine Ausführungen zum dialogischen Wesen des Menschen nach Martin Buber (S. 83 ff.). Höcke will angeblich Reformen, keine Revolution (S. 213) und gestaltet lieber, als immer nur dagegen zu sein (S. 287). Ein einzelner Führer könne die nötige Umgestaltung nicht bewerkstelligen, sondern dazu bedürfe es der Pluralität und der Abstimmung mit dem Volk (S. 286). Parteien seien ihrem Namen nach – pars – immer nur Teil, nie das Ganze (S. 149). Der nötige Neubau der Gesellschaft könne nicht von oben angeordnet werden, sondern müsse in Aussprache ermittelt werden (S. 265).

Doch hier stoßen wir zum ersten Mal auf einen unaufgelösten Widerspruch in Höckes Ausführungen. Denn während er immer wieder seinen Willen zum Dialog betont, betont Höcke gleichzeitig auch immer wieder seine Kompromisslosigkeit. Höcke träumt von einem „konsequenten Durchregieren“ (S. 234) und legt sich fest: „Ein wie auch immer geartetes Arrangement wird es mit mir nicht geben“ (S. 221). Wenn es nicht friedlich gehen wird, dann „wird ein neuer Karl Martell vonnöten sein, um Europa zu retten.“ (S. 252). Mit denen, die aus seiner Sicht das gemeinsame Haus komplett abreißen wollen, will er nicht diskutieren (S. 95). Für Höcke gehören eine „gewisse Unbedingtheit, Kühnheit und Wirklichkeitsverachtung“ dazu (S. 61). Eine Zusammenarbeit gibt es nur bei einer grundlegenden Richtungsänderung im Sinne Höckes (S. 224). Höcke kokettiert auch mit der Eigenschaft der Deutschen, Dinge ohne Rücksicht auf Verluste radikal bis zum Ende durchzuziehen (S. 258, vgl. auch S. 215), statt diesen Charakterzug zu kritisieren. Politik versteht Höcke nach dem Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt (S. 274). Nach dem gelungenen Machtwechsel will Höcke aber „Gnade“ walten lassen (S. 223): Das impliziert natürlich eine Art von Unterwerfung, denn Gnade übt man nur bei Besiegten, nicht unter gleichrangigen Partnern.

Der Widerspruch zwischen einem Regieren durch Dialog oder einem Durchregieren zieht sich durch das ganze Buch hindurch und bleibt bis zuletzt unaufgelöst bestehen.

Ebenfalls bedenklich ist die Aussage gegen eine „falsche konservative Loyalität zu Institutionen, die die Zukunft unseres Volkes gefährden“ (S. 239) als Antwort auf Bedenken, dass die AfD extremistisch sei. Hier hätte an erster Stelle ein Bekenntnis zur Erhaltung der Demokratie und ihrer grundlegenden Institutionen stehen müssen. Es mag zwar auch institutionellen Reformbedarf im Detail und in Randbereichen unserer Demokratie geben, z.B. Amtszeitbegrenzungen oder die Medienordnung, aber wo die Frage nach dem Extremismus gestellt wird, muss ein Bekenntnis zur Demokratie und ihren Kerninstitutionen an erster Stelle stehen. Und das ist hier nicht der Fall.

Moralisch bedenkliche Aussagen

Auch mit der Moral hat Björn Höcke offenbar gewisse Schwierigkeiten, wie vor allem einige Passagen auf den Seiten 254 und 255 zeigen. Dort wird eine „wohltemperierte Grausamkeit“ angekündigt, die „so human wie irgend möglich, aber auch so konsequent wie nötig“ ist. Die Regierenden, die solche Anordnungen treffen, würden laut Höcke „schwere moralische Spannungen“ auszuhalten haben, weil sie „Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“.

Hier stellt sich zunächst die Frage, wovon Höcke eigentlich konkret spricht? Denn die gesetzlich vorgeschriebene Ausweisung von Illegalen im Wege normaler polizeilicher Maßnahmen, um ein konkretes Beispiel zu nennen, mag vielleicht manchmal „hart“ sein, doch „grausam“ ist sie keinesfalls, und „Grausamkeit“ ist dazu auch gar nicht nötig. Auch „schwere moralische Spannungen“ entstehen durch solche Maßnahmen nicht. Höcke muss etwas anderes meinen, sagt aber nicht, was.

Höcke sieht offenbar einen Widerspruch zwischen Konsequenz und Humanität, sonst würde er nicht von moralischen Spannungen sprechen. Er hat also keine Vorstellung von Humanität und Moral, die auch dann noch trägt, wenn es hart auf hart kommt und Entscheidungen im Sinne eines kleineren Übels getroffen werden müssen. Denn auch die Entscheidung für ein kleineres Übel ist immer noch eine moralische Entscheidung, die moralische Grenzen kennt. Statt dessen sind für Höcke „Grausamkeiten“ gegen das „eigentliche moralische Empfinden“ denkbar. Der Terminus „Grausamkeit“ für sich allein genommen wäre vielleicht noch kein Problem, weil man auch umgangssprachlich von „Grausamkeiten“ spricht. Aber indem diese „Grausamkeiten“ als Gegensatz zu „humanem“ Vorgehen verstanden werden, sowie in Kombination mit der Aussage, dass gegen das „eigentliche moralische Empfinden“ gehandelt werden soll, kann man sich nur noch schlecht mit einer bloß sprichwörtlichen Bedeutung im übertragenen Sinn herausreden. Zumal der vorliegende Text kein spontanes Presseinterview ist, sondern ein gedrucktes Buch. Wenn das eine unglückliche Formulierung war, dann war sie sehr, sehr unglücklich.

Wie würden es Konservative sagen? Vergleichen wir anhand des konkreten Beispiels der Abschiebung Illegaler. Für Konservative bleiben Humanität und Moral immer Grundlage der Abwägung, doch Höcke sieht hier einen Gegensatz zur Humanität. Das hört sich an, wie wenn es hier zu Entgleisungen und Grenzüberschreitungen kommen würde. Und genau diese werden von Höcke ja auch explizit angedeutet, nämlich durch „Grausamkeiten“, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“. Ein Konservativer würde so etwas niemals sagen. Ein Konservativer würde von „Härte“ und „Konsequenz“ sprechen, die „moralisch geboten“ ist (und deshalb immer noch moralische Grenzen kennt), und keinesfalls von „Grausamkeiten“, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“ (so dass also keine moralischen Grenzen mehr da sind, denn die sind ja dann schon überschritten).

Höcke bestätigt diese Deutung durch eine weitere Argumentation: Denn Höcke will die Schuld für die „Grausamkeiten“, die dem moralischen Empfinden zuwiderlaufen, einfach auf andere abwälzen, nämlich auf die verfehlte Politik der Etablierten, die solche Maßnahmen notwendig werden ließen (S. 255). Doch auch das ist sichtlich nicht moralisch gedacht. Denn es ist zwar wahr, dass die verfehlte Politik die Verantwortung für die Zuspitzung der Lage trägt, und es ist wahr, dass eine zugespitzte Lage harte Maßnahmen erfordert. Doch auch in einer zugespitzten Lage bleibt die Moral in Geltung und die handelnden Personen dürfen zwar im Rahmen eines moralischen Kalküls durchaus vieles aber nicht alles tun, um die Lage zu bewältigen. „Grausamkeiten“ gegen das moralische Empfinden sind keine Option.

Zwei historische Beispiele: In der AfD wurde einmal debattiert, ob man zur Schließung von Grenzen von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfe. Weniger gebildete AfDler meinten, das sei so, auch weil man eine Grenze sonst nicht schließen könnte. Der politmediale Mainstream bestärkte diese weniger gebildeten AfDler in dieser Auffassung nach Kräften und diese fielen darauf herein. Die Pointe ist, dass der Gebrauch der Schusswaffe gar nicht nötig ist, um eine Grenze effektiv zu schließen, sofern man es nicht mit bewaffneten Banden zu tun hat! Ob Spanien, Ungarn, Mazedonien oder Griechenland: Alle sind perfekt dazu in der Lage, ihre Grenzen zu schließen, ohne dafür einen einzigen Schuss abgeben zu müssen. – Ein anderes historisches Beispiel ist der Völkermord an den Armeniern durch die Türkei im Ersten Weltkrieg. Zwar ist es richtig, dass die Armenier teilweise eine Art „inneren Feind“ innerhalb der Landesgrenzen der damaligen Türkei darstellten. Doch war ein Völkermord natürlich eine weit über jedes legitime Ziel hinausschießende Maßnahme zur Lösung des Problems.

Es gibt immer moralische Grenzen, auch in zugespitzten Situationen, und wer allen Ernstes sagt, dass er gegen das moralische Empfinden handeln will, muss sich kritische Fragen gefallen lassen. Merken wir am Rande noch kritisch an, dass Moral hier wie ein Gefühl behandelt wird. Moral ist aber mehr als nur ein Gefühl, sondern vor allem auch harte Rationalität, die man nicht einfach beiseite schieben kann. Moral ist nur für Romantiker ein Gefühl.

Politische Philosophie: Edgar Jung

Wir sahen, dass Höcke z.B. Karl Popper, Martin Buber oder die Klassiker Goethe und Schiller anführte. Doch auf die Frage, welche Denker des 20. Jahrhunderts ihn geprägt haben, nennt er diese vier Namen: Ludwig Klages, Edgar Jung, Dietrich Bonhoeffer, Martin Heidegger (S. 77). Dietrich Bonhoeffer und Ludwig Klages scheinen unproblematisch. Zu Martin Heidegger sagt Höcke nur wenig (S. 59, 77-79). Man könnte kritisieren, dass Höcke das rechtsradikale Gedankengut von Heidegger ungerechtfertigt kleinredet (S. 78). Aber dem Fass den Boden schlägt der Name Edgar Jung aus. Denn Edgar Julius Jung (1894-1934) war eindeutig ein Rechtsradikaler!

Laut Wikipedia gehörte Edgar Jung der Bewegung der „Konservativen Revolution“ an, die bekanntlich mehr revolutionär als konservativ war. Jung wirkte bei der Ermordung des Präsidenten der Autonomen Pfalz Franz Josef Heinz mit. Er traf Adolf Hitler persönlich und verhandelte über seinen Beitrtt zur NSDAP, wozu es wegen Differenzen nicht kam. Den Rassegedanken der Nationalsozialisten lehnte Edgar Jung ab, weil er auf den Gedanken des Volkstums setzte. Edgar Jung strebte die Verhängung des Ausnahmezustandes unter Einbeziehung von Hitler und Göring an, die er für weniger radikal hielt als andere NS-Größen. Edgar Jung war gegen die Demokratie, weil sie alle Stimmen gleich zählt, polemisierte gegen Juden, weil diese in seinen Augen für Aufklärung und Individualismus standen, war gegen eine bürgerliche Elite, weil er das Leistungsprinzip ablehnte, und wollte eine neue Aristokratie errichten. 1934 wurde Edgar Jung im Zuge des Röhm-Putsches von den Nationalsozialisten ermordet.

Doch der Sachverhalt bleibt in diesem Buch völlig undiskutiert! Der Name Edgar Jung wird lapidar genannt, sonst nichts. An einer anderen Stelle wird noch eine ungefährliche Binsenweisheit von Edgar Jung zitiert (S. 28). Das war’s.

So geht es nicht. Das ist hochgradig unglaubwürdig. Wenn Höcke ehrlich mit seinen Lesern hätte sein wollen, hätte er den Rechtsradikalismus von Edgar Jung zum Thema machen und sich dazu erklären müssen.

Politische Philosophie: Nietzsche und Schopenhauer

Ebenfalls zentral für Höckes Denken ist ausgerechnet Friedrich Nietzsche. Höcke berichtet, wie er im Alter von 17 Jahren Nietzsche entdecke: „Mich beeindruckte, wie Nietzsche … alles gnadenlos hinterfragte: die Moral, die Tradition, die Philosophiegeschichte. In seinem Voluntarismus fand ich meinen eigenen Tatendrang und Optimismus wieder, ebenso die Verachtung gegenüber dem Erstarrten und Verkrusteten.“ (S. 56 f.) Höcke bekennt, dass er Nietzsche lesen wird, solange er lebt (S. 73).

Doch Nietzsche ist ein gefährlicher Denker. Er reißt alles nieder, was die westliche Welt ausmacht. Auch die Vernunft. Und an die Stelle Gottes tritt der Übermensch. Auch als Atheist sollte man da Fragen haben. Nicht zuletzt lässt sich auch der aktuelle Wokismus über die französische Postmoderne bis zu Nietzsche zurückverfolgen. Auf kritische Nachfragen des Interviewers meint Höcke, dass er eben nicht nur konservativ sei (S. 58) und dass er kein „Nietzsche-Jünger“ sei, sondern lediglich gewisse geistige Impulse von Nietzsche empfangen habe (S. 74). Die Frage nach der Irrationalität Nietzsches wiegelt Höcke genauso wie beim Thema Romantik ab: Seiner Meinung nach sei Nietzsche gar nicht so irrational (S. 75).

Durch Nietzsche sei Höcke dann auf Schopenhauer gestoßen, und auch hier ging es Höcke vor allem um Widerstand gegen Autoritäten und Kritik am Establishment (S. 76). Von Schopenhauer habe Höcke auch die Mitleidsethik übernommen, sagt er. Wie der Optimismus, der ihn bei Nietzsche faszinierte, mit dem Pessimismus von Schopenhauer zusammenpasst, sagt Höcke nicht.

Politische Philosophie: Romantik

Ein weiterer weltanschaulicher Schwerpunkt Höckes ist die Romantik. Für Höcke ist sie die „fruchtbarste geistig-literarische Epoche unserer Kulturgeschichte“ (S. 156), womit er die Klassik von Goethe und Schiller auf die Plätze verweist. Höcke wendet sich gegen die Generalkritik an der Romantik, dass sie irrational sei. Für Höcke ist Romantik eine Form der Weltzugewandtheit (S. 25).

Romantik gründe auf der platonischen Erkenntnis, dass es eine Wirklichkeit hinter den Dingen gibt (S. 158). Doch Platon war einer der Begründer des Rationalismus, der die Sphäre des Mythischen, des Unbekannten, durch die Vernunft einhegen wollte, und eine klare Absage an haltlose Irrationalität und Schwärmerei formulierte. – Höcke kritisiert die Aufklärer, die bemängelten, dass Mythen nicht wahr sind: Denn darauf käme es nicht an, meint Höcke, sondern darauf, dass die Mythen Identiät stiften! Mythen müssten nur „authentisch“ sein, im Sinne von George Sorel, und das beschreibt Höcke als die Ermöglichung verschiedener Lesarten (S. 159 f.). Doch seit Platons Zeiten kommt alles darauf an, dass Mythen gut und wahr sind. Die Taten und Worte der Vergangenheit, auf die eine Gemeinschaft ihre Identität stützt, sollten real sein, nicht erfunden. Denn wer, der bei Verstand ist, sollte das dann glauben? Wer sollte es ernst nehmen? Und eine Offenheit für verschiedene Lesarten macht alles nur noch schlimmer, denn wie soll dann eine gemeinsame Identität zustande kommen?!

Höcke meint, dass die Deutschen auch als Romantiker bereits ökonomischen Erfolg gehabt hätten, ohne die Übernahme der Ideen der Angelsachsen, die er „smarte Praktikusse“ nennt (S. 157). Doch das ist sehr fraglich, denn vor der Romantik kam bekanntlich die Klassik mit Goethe und Schiller, und auch die Aufklärung mit Friedrich dem Großen und Immanuel Kant. Preußen wurde durch seine Rationalität bekannt und erfolgreich, nicht durch seine Romantik. Das gilt auch für die Ökonomie. Außerdem stand Preußen damals mit England im Bunde. Schließlich hat Höcke beobachtet, dass auch die Naturwissenschaften sich von einem rein materialistischen Weltbild abwenden und zur Verzauberung der Welt zurückkehren (S. 162 f.). Das ist nicht falsch, doch findet diese „Verzauberung“ natürlich unter den strengen Auspizien der Rationalität statt.

Gegen Romantik wäre nichts einzuwenden, wenn sie unter der klaren Prämisse der Rationalität stünde. Klassik geht vor Romantik. Dann wäre die Gefährlichkeit der Irrationalität gebändigt. Doch genau diese Einhegung der Romantik findet sich bei Höcke nicht.

Politische Philosophie: Antimodernismus

Für Höcke ist der Inbegriff der Moderne die Entstrukturierung, die totale Auflösung von allem, bis hin zur Auflösung von Nationen und Geschlechtern. Die Moderne ist für ihn die Verfallsform der Neuzeit (S. 261-263). Deshalb will er die Moderne beseitigen und eine Nach-Moderne anstreben (S. 258). Er möchte von der Dekomposition zur Re-Komposition kommen (S. 264).

Die Kritik an der völligen Auflösung aller Strukturen in Ehren, aber ist die Zuschreibung der Verantwortung für diese Auflösung ausgerechnet an die Moderne wirklich berechtigt? Die Moderne als Verfallsform der Neuzeit beginnt für Höcke anscheinend mit der Aufklärung und ihrer analytischen Rationalität. Diese Analytik sieht er vermutlich als „auflösend“. So genau sagt er das nicht.

Aber ist es wirklich so, dass der Aufklärung der Drang zur Auflösung aller Strukturen innewohnt? Ist es aufgeklärt und rational, nützliche und sinnvolle und begründbare Gegebenheiten wie Nationen oder Geschlechter aufzulösen? Ist es nicht vielmehr anti-rational und unaufgeklärt? Steckt dahinter nicht etwa die Moderne, sondern vielmehr der sogenannte Postmodernismus und Wokismus? Diese Ideologien formulieren eine Absage an die Vernunft. Für diese Ideologien ist die Rationalität eine koloniale, „weiße“ Beherrschungsstrategie. Dahinter steckt Nietzsche und dessen irrationale Ablehnung von allem, was wahr, gut und schön ist. Jener Nietzsche, von dem Höcke so fasziniert ist.

Und wie will Höcke etwas re-komponieren, wenn nicht mithilfe der Vernunft? Ist es nicht die Vernunft, mit deren Hilfe wir die Welt ordnen? Ist nicht z.B. der Nationalstaat bereits eine Art von Re-komposition der voraufgeklärten Wirklichkeit, die wir der Aufklärung verdanken, also der Moderne?

Politische Philosophie: Nur ein Humanismus des Gefühls?

Höcke schreibt sich selbst eine humanistische Gesinnung zu: „In der irdischen Welt sind Licht und Schatten wild miteinander verwirbelt. Durch alles – also auch durch uns selbst – geht ein ‚tragischer Riss‘. … … … Aus dem Wissen und dem Gefühl über dieses gemeinsame Schicksal speist sich mein tief verankerter Humanismus. Diese Einheit des Menschseins in Anbetracht der inneren Wunde ist elementar.“ (S. 62 f.)

Doch Höcke definiert seinen Humanismus nur vom Gefühl her. Wie wir oben sahen, geht es Höcke um das menschliche Leiden (Schopenhauer) und um moralisches Empfinden (wohltemperierte Grausamkeiten), aber es geht immer nur um Gefühl. Rationalität hingegen findet in Höckes Humanismus eher keine Erwähnung und spielt eine sichtlich zurückgesetzte Rolle. Höcke schwärmt für die Romantik und für Nietzsche, während Klassik und Aufklärung ganz offensichtlich nicht so sehr sein Ding sind. Die Moderne gilt ihm gar als Verfallserscheinung. Platon deutet Höcke nicht als Rationalisten, und ob Mythen auch wahr sind, ist für Höcke nicht entscheidend. An einer Stelle spricht Höcke sogar von „Wirklichkeitsverachtung“ (S. 61).

Ein klassischer Humanist würde das nicht tun, denn ohne Rationalität geht es nicht. Auch wenn Höcke durch name-dropping wiederholt in Richtung Klassik und Vernunft „blinkt“, biegt er doch sichtlich in die andere Richtung ab.

Einzelthemen: Staatsbegriff

Höcke strebt einen Staat in „neuzeitlich-klassischer Form“ an. Es ist „das von uns präferierte Modell eines erneuerten Nationalstaates – von dessen klassischen Modell des 19. Jahrhunderts sicher einiger Ballast abgeworfen werden muss“ (S. 269 f.). Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts ist also nicht (!) das Modell, sondern Höcke geht weiter zurück in der Geschichte. Das entspricht auch seiner Gegnerschaft zur Moderne, die er als Verfallsform der Neuzeit deutet. Die Staaten der Neuzeit waren die ständisch und absolutistisch verfassten Staaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Es bleibt etwas nebulös, wie sich Höcke einen solchen Staat konkret vorstellt.

Jedenfalls möchte Höcke, dass der Staat „bändigend, ordnend und gestaltend“ wirkt; er will also eine „politisch gesteuerte Nationalökonomie“ und einen „starken Staat“, um die „zerstörerischen Kräfte der Emanzipation in produktive Bahnen zu lenken“ (S. 259-261). – An anderer Stelle meint Höcke, dass der Staat sich auf die Grundlinien der Politik beschränken sollte, und dass Staat und bürgerliche Gesellschaft getrennt sein sollten (S. 272). Auch gehört zu seinem Bild des neuzeitlichen Staates die Entfesselung von Wissenschaften, Technik, Ökonomie und Kultur (S. 259).

Es bleibt unklar, wie diese beiden Ideale von Staat miteinander vereinbar sein sollen, die sich gegenseitig widersprechen: Auf der einen Seite ein steuernder und starker Staat, auf der anderen Seite ein beschränkter Staat, der Freiheit entfesselt.

Einzelthemen: Volkskirche

Höcke möchte eine „neue Volkskirche, die wie das alte Gotteshaus im Dorf in der Mitte der Gemeinschaft steht.“ (S. 268) Diese Volkskirche „müsste die tradierte Volksfrömmigkeit, die sich bis heute in verschiedensten Bräuchen und Ritualen erhalten hat, mit der idealistisch-romantischen Vorstellung einer beseelten Natur und dem ursprünglichen spirituellen Impuls des Christentums verbinden – ohne gleichzeitig im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu geraten.“ (S. 268). Die neue Volkskirche müsste „mit Schopenhauer den allegorischen Charakter der hergebrachten Religion“ akzeptieren und sollte sich ausschließlich auf das Seelenheil konzentrieren, also klar aus der Politik heraushalten (S. 268).

Diese Ideen sind hochproblematisch. Zunächst dürfte es schwierig sein, in einer halbwegs freien Gesellschaft eine gemeinsame Volkskirche aufzubauen, in der alle Mitglied sind. Egal wie attraktiv die Lehre dieser Volkskirche auch sein mag, eine solche religiöse Einheit dürfte freiheitlich kaum herstellbar sein. Das nächste Problem ist der vorgeschlagene Synkretismus: Eine Totgeburt! Denn wer soll eine solche Konstruktion religiös glauben? Höcke meint offenbar, dass der allegorische Charakter genüge, ganz im Sinne seines Glaubens, dass es bei Mythen egal sei, ob sie wahr sind (s.o.). Aber so funktioniert Religion nicht. Religionen wurden zwar schon immer politisch verbogen, aber immer nur graduell und ausgehend von einem bereits vorhandenen Glauben. Die Vorstellung, dass Politik Religion beliebig konstruieren könnte, ist grundfalsch. Es ist nicht ohne Ironie, dass Höcke hinzufügt, dass man „immer die conditio humana im Auge behalten“ müsse, „die sich nicht endlos ohne böse Folgen verbiegen lässt.“ (S. 269) Ohne eine solche Verbiegung wird eine solche Volkskirche nicht möglich sein.

Übrigens führt auch dieser Gedanke einer Volkskirche ideengeschichtlich hinter die Aufklärung zurück, ganz im Sinne von Höckes Deutung von der Moderne als einer Verfallserscheinung der Neuzeit. Für die Staaten der Neuzeit galt „cuius regio eius religio“, d.h. es gab eine einheitliche Religion im ganzen Staatsgebiet. Wer andersgläubig war, musste auswandern, wie z.B. die französischen Hugenotten oder die Salzburger Protestanten.

In einem Punkt hat Höcke allerdings Recht: Ein Gemeinwesen kann sich nicht in Materialismus erschöpfen (S. 162). Der Mensch braucht eine sinnstiftende Weltanschauung. Und eine Gemeinschaft benötigt eine „große Erzählung“, sie benötigt Symbole, Rituale und Mythen. Die Lösung kann aber nicht in einer Volkskirche bestehen, sondern müsste einerseits pluraler ansetzen, andererseits partielle Gemeinsamkeiten suchen.

Die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen ist nicht hintergehbar. Man müsste allerdings damit aufhören, nur ganz bestimmte Anschauungen zu fördern, andere aber zu vernachlässigen. Das würde schon viel helfen. Die Gemeinsamkeit liegt ebenfalls auf der Hand: Sie liegt im Humanismus, den es in allen großen Religionen und Weltanschauungen bereits gibt. Die große Forderung müsste deshalb sein, dass sich alle Religionen und Weltanschauungen darum bemühen, ihre Lehre nach humanistischen Maßstäben zu entfalten, d.h. mit Rationalität und Mitgefühl. Entscheidend ist nicht, welche Religion oder Weltanschauung es ist, sondern entscheidend ist die humanistische Perspektive. Fanatismus jeder Art, ob religiös oder atheistisch, muss hingegen geächtet werden. Der Staat wiederum sollte seine Geschichte und seine Verfassung symbolisch und mythisch zelebrieren. Stichwort Zivilreligion. Natürlich nur mit Mythen, die gut und wahr sind. Unsere Geschichte ist voll davon.

Einzelthemen: Frauen

Es ist in Ordnung, konservative Lebensentwürfe von Frauen und das Familienleben wieder aufzuwerten, aber Björn Höcke bleibt dabei in gewissen Klischees stecken (S. 112-117). Es ist in Ordnung, Männern „Wehrhaftigkeit, Weisheit und Führung“ und Frauen „Intuition, Sanftmut und Hingabe“ zuzuschreiben, aber für sich allein klingt das einfach zu holzschnittartig (S. 115). Das Thema endet mit dem Zitat „Die Frau ist stärker als der Mann, wenn sie einen hat.“ (S. 117)

Das ist für einen modernen Konservativismus einfach zu wenig. Höcke befürwortet Emanzipation dort, wo sie „sinnvoll“ ist, was sich nach einer Einschränkung anhört (S. 113). Wenn es ein Islamist wäre, den man so über Frauen reden hören würde, würden sämtliche Alarmglocken schrillen.

Einzelthemen: Islam

Zum Islam nennt Höcke die Islam-Broschüre von Dr. Michael Henkel, die Höckes Thüringer AfD-Fraktion im Jahr 2016 herausgab (S. 174). Die darin enthaltenen Grundthesen werden auch hier von Höcke wiedergegeben: Höcke wendet sich gegen eine „Verwestlichung“ des Islam, sondern vielmehr müsse man das Andersartige achten (S. 196). Die Lösung für die Probleme mit dem Islam in Europa ist für Höcke ganz einfach: „Wir können uns also im Grunde die ganze Islam-Debatte sparen: Hätten wir nicht die Massen an Orientalen und Muslimen in Europa und Deutschland, hätten wir auch kein elementares Problem mit dem Islam.“ (S. 197 f.)

Diese Einstellung ist natürlich in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig. Zunächst entspricht diese Haltung dem bekannten Satz des Methusalix aus dem Asterix-Band XXI (Geschenk des Caesars, S. 17): „Nein! Mich stören Fremde nicht, solange sie bleiben wo sie hingehören.“ Diese Einstellung ist dann doch etwas zu plump. Und sie löst auch unsere Probleme nicht. Oder will Höcke etwa ausnahmslos alle Muslime, also auch die Muslime aus der Generation der Gastarbeiter, wieder wegschicken? Höcke will nach eigener Auskunft die Remigration von nicht integrierbaren Migranten (S. 284). Doch je länger die Einwanderung dieser Migranten zurückliegt, desto unglaubwürdiger und schwieriger wird eine Remigration zu bewerkstelligen sein.

Indem Höcke den Islam überhaupt nicht kritisieren sondern sogar „achten“ will, solange er uns fern bleibt, verrät Höcke auch unsere westlichen Werte – oder verrät er unfreiwillig etwas über seine wahren Werte? Jedenfalls enthält der unreformierte Islam in seiner traditionalistischen Form Elemente, die von uns unmöglich geachtet werden können, sondern deutlich kritisiert werden müssen! Jemand, der das unkritisiert lässt, muss sich fragen lassen, wo er selbst steht.

Unsere westlichen Werte sind nämlich nicht nur für den Westen gut, sondern sie sind für alle Menschen gut. Davon sind wir überzeugt, sonst hätten wir diese Werte nicht. Westliche Werte sind keine westliche Folklore, die nur im Westen ihren Platz hätten. Und es geht auch nicht um den Wokismus. Woke Werte sind nicht die westlichen Werte, von denen hier die Rede ist. Ein erfolgreich reformierter Islam wäre in großen Teilen gewiss immer noch so konservativ wie die katholische Kirche.

Mehr noch: Auch das Christentum ist erst durch Reformen „genießbar“ geworden. Es begann mit der Wiederentdeckung der antiken Philosophen und der Erkenntnis, dass Vernunft und Glaube nicht im Widerspruch zueinander stehen können. Früher wurden Hexen und Ketzer einfach verbrannt, das Gottesgnadentum der Könige war kirchlich legitimiert, und natürlich wurde auch die Bibel wesentlich wörtlicher genommen als das heute der Fall ist, bis hin zum Abhacken der Hände von Dieben. Heute bedeckt keine christliche Frau mehr ihr Haupt, obwohl es im Neuen Testament so geboten wird. Die historisch-kritische Lesart überlieferter Texte, auch religiöser Texte, ist ein großer Fortschritt in der richtigen Welterkenntnis und eine zentrale Errungenschaft unserer westlichen Zivilisation. Diesen ganzen Reformprozess verleugnet Höcke implizit durch seine Einstellung zum Islam. Warum sollte man Reformen in der christlichen Welt als große Errungenschaft und unbedingte Notwendigkeit begrüßen, in der islamischen Welt aber mittelalterliche Verhältnisse „achten“, ohne den geringsten Versuch, etwas daran zu verbessern? Das passt logisch nicht zusammen.

Mit der These, dass der Islam zu „achten“ ist, wie er ist, also in seiner aktuell vorherrschenden traditionalistischen und islamistischen Form, ist die AfD keine islamfeindliche Partei mehr, ja sie ist noch nicht einmal mehr eine islamkritische Partei. Im Gegenteil. Mit dieser Grundeinstellung stehen alle Türen für eine Zusammenarbeit der AfD mit Traditionalisten und Islamisten offen! Und mehr noch: Die AfD hält auch nichts von der Unterstützung von Islamreformern, weil sie ja von Islamreformen generell nichts hält („Verwestlichung“). Dabei müsste das doch die klare Entscheidung auf der Grundlage unserer westlichen Werte sein, auch in unserem eigenen, langfristigen Interesse: Der islamischen Welt dabei zu helfen, dieselben Reformprozesse zu durchlaufen, die auch die christliche Welt durchlaufen hat. Genau wie beim Christentum auch, sind die Grundlagen dafür in den islamischen Traditionen selbst zu finden. Im Mittelalter war die islamische Welt sogar zeitweise fortschrittlicher als die christliche Welt.

Natürlich sollte man sich von Islamreformen keine Wunder erwarten. Aber es gibt nicht den geringsten Grund, diesen wichtigen Baustein im Umgang mit dem Islam zu vernachlässigen. Auch und gerade, um uns selbst treu zu bleiben.

(PS 25. April 2024: Der Co-Autor dieses Buches, Sebastian Hennig, konvertierte selbst im Jahr 1990 zum Islam. Er sieht den Islam in Opposition zur rationalen Moderne.)

Einzelthemen: Ökonomisch links

Höcke propagiert bekanntlich einen „Sozialpatriotismus“. In diesem Buch präsentiert sich Höcke als „Antikapitalist“ (S. 250 ff.). Über die Marktwirtschaft spricht er ungefähr so wie Sarah Wagenknecht: Zwar hätte er nichts gegen die Marktwirtschaft, aber dann wird doch deutlich, dass es um einen sehr stark steuernden Staat geht. Davon sprach er ja auch bei seinem Staatsverständnis (s.o.). Höcke erstrebt eine post-kapitalistische Wirtschaftsordnung, „ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen.“ (S. 265 f.) Dem Leser drängt sich hier der Gedanke an einen Sozialismus „neuer Machart“ auf.

Höcke erzählt auch, wie er als Jura-Student in Bonn in einschlägige Kneipen ging, um mit Linksradikalen zu diskutieren (S. 144). Der Lebensabschnitt von Höckes Jura-Studium bleibt im ganzen Buch seltsam blass. Sollte Höcke als junger Mensch etwa eine „linke“ Phase gehabt haben? Doch das ist Spekulation.

Einzelthemen: Antiamerikanismus

In zahlreichen Äußerungen Höckes wird deutlich, dass er von den USA nicht viel hält und sich politisch von ihnen absetzen möchte. So spricht er z.B. vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ (S. 39), was zumindest sehr einseitig ist. Oder dass die Alliierten Deutschland 1945 angeblich als Völkerrechtssubjekt hätten ausschalten wollen und nur wegen des Kalten Krieges nicht dazu kamen (S. 65), was einfach falsch ist, und zwar gerade was die gutmütigen und optimistischen Amerikaner anbelangt. Laut Höcke hätte US-Präsident Roosevelt gesagt, dass man „gegen die Deutschen an sich“ kämpfe (S. 216). Ein entsprechendes Zitat war nicht zu finden. Eine solche Aussage wäre im Kontext der Emotionalisierung des Weltkrieges auch nicht allzu verwunderlich. Die USA haben jedenfalls nicht in diesem Sinne gehandelt. Schließlich spricht Höcke auch noch von dem „alten Wirtschaftskrieg der Seemächte Großbritannien und USA gegen den Kontinent im 20. Jahrhundert“ (S. 279) Der Satz wäre vielleicht noch verständlich, wenn es nur um den Ersten Weltkrieg ginge. Aber der Bezugsrahmen ist das 20. Jahrhundert. Damit wird auch der Zweite Weltkrieg als Wirtschaftskrieg gedeutet. Das will doch etwas gewagt erscheinen.

Höcke hält die deutsche Bundeswehr für völlig fremdbestimmt, sie sei nie eine genuin deutsche Armee gewesen (S. 53). Wie es dann möglich ist, dass diese Bundeswehr durch einsame Entscheidungen von Kanzlerin Merkel gegen den Willen der Amerikaner heruntergewirtschaftet wurde, sagt Höcke nicht. Und dass ein Mangel an deutschem Selbstbewusstsein spätestens nach Ende des Kalten Krieges keine Fremdbestimmung mehr war, sondern selbstverschuldet, fällt bei dieser Analyse auch unter den Tisch.

Höcke wettert gegen die amerikanischen Neocons und deren angebliche Destabilisierungspolitik, und spricht von einer „bewusst geförderten muslimischen Masseneinwanderung nach Europa“ (S. 195). Diese Analyse will doch recht undifferenziert erscheinen: War das Ziel der Neocons wirklich die Destabilisierung? Wenn überhaupt, dann war es ein ungewollter Effekt. Sind alle Amerikaner Neocons? Wohl kaum. Hat z.B. Obama stabilisierend gewirkt, als er den Bürgerkrieg in Syrien anheizte und die Truppen aus dem Irak abzog? Eher nicht. Aber Obama war kein Neocon, und das ist der Punkt. Und waren es nicht Tsipras und Merkel, die 2015 die Migranten nach Europa und Deutschland hereinließen? Oh doch! Und war es nicht Hillary Clinton, eine amerikanische Spitzenpolitikerin, die meinte, die Deutschen sollten die massenhafte Aufnahme von Migranten besser wieder beenden, doch Merkel hörte nicht auf sie? Die Amerikaner schauen genauso staunend auf die „verrückten Deutschen“ wie alle anderen auch. Höcke hat damit eine völlig falsche Analyse der Wirklichkeit. Höcke will jedenfalls keine „Nibelungentreue zur US-geführten NATO“ (S. 279). Schließlich träumt Höcke vom Rückzug der Amerikaner aus Europa (S. 54).

Paradox, dass in diesem Buch auch erwähnt wird, dass die CIA schon 2008 vor diversen Szenarien warnte, die Höcke heute beklagt (S. 204). Wie ist das möglich, wo doch die USA an allem schuld sein sollen? Und selbst Höcke muss einräumen, dass die USA mit Donald Trump sogar einen Präsidenten hatten, der sich gegen manche zeitgeistige Verirrung wandte (S. 207).

Die Frage, wie es möglich sein soll, dass das kleine Deutschland sich in einer Welt von Großmächten souverän behauptet, ohne vereinnahmt zu werden, beantwortet Höcke an keiner Stelle. Die Idee, dass Deutschland sich einer der Großmächte anschließen muss, und dass die USA trotz allem die beste Wahl für einen Hegemon sind, bleibt undiskutiert.

Einzelthemen: Pro Russland und Islamische Welt

Höcke möchte zu einem „dauerhaften Ausgleich mit Russland“ kommen, weil es „einen dauerhaften Frieden in Europa niemals gegen Russland, sondern nur mit Russland geben kann.“ (S. 281) Wie das mit dem Kalten Krieg und der Notwendigkeit, die Freiheit gegen Russland zu verteidigen, zusammenpasst, sagt Höcke nicht. Auch nichts dazu, dass Russland keinen „Ausgleich“ will, sondern Herrschaft, und dass man diesem Bestreben etwas entgegensetzen muss.

An einer Stelle hört es sich sogar so an, als ob Höcke bereits 1945 ein Zusammengehen mit der Sowjetunion gegen die USA befürwortet hätte: „Ein Zusammengehen mit der Sowjetmacht war nach den schrecklichen Begleiterscheinungen des russischen Einmarsches in Ostdeutschland im Volk nicht vermittelbar.“ (S. 38) Ein seltsamer Satz, denn es hört sich tatsächlich so an, als würde sich Höcke wünschen, dass ganz Deutschland zu einer Groß-DDR unter der Führung der Sowjetunion geworden wäre. Man beachte auch, dass die schrecklichen Verbrechen der russischen Armee an der deutschen Zivilbevölkerung als „Begleiterscheinungen“ verharmlost werden, während Höcke gleichzeitig vollmundig vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ (S. 39) spricht.

Höcke träumt von geopolitischen Großräumen, in denen „raumfremde“ Mächte ein Eingriffsverbot haben (S. 283). Hier übersieht Höcke, dass Verbote nicht helfen. Mächte setzen sich durch, oder eben nicht. Auf „Raumfremdheit“ wird dabei leider keine Rücksicht genommen. Nicht Räume sondern Mächte bestimmen, was geschieht, und Deutschland ist ohne die Hilfe der USA an Russland ausgeliefert. Paradoxerweise erwähnt Höcke die Kooperation der osteuropäischen Visegrad-Staaten als Beispiel für die Durchsetzung nationaler Interessen (S. 283). Dass aber die osteuropäischen Staaten aus Angst vor Russland sehr an dem Bündnis mit den USA interessiert sind, sagt Höcke nicht.

Aber auch zur Türkei will sich Höcke in ein gutes Verhältnis setzen, denn sowohl mit Russland als auch mit der Türkei würden wir auf einem Doppelkontinent zusammenleben (S. 279). Mit der islamischen Welt strebt Höcke nach einem „modus vivendi, aber die intransigente Außenpolitik der USA, an die wir sklavisch gekettet zu sein scheinen, verhindert das.“ (S. 194) Höcke sieht eine „Anti-Islam-Koalition“, aus der er gern aussteigen würde (S. 195).

Einzelthemen: Der große Plan der Eliten?

Es ist sicher richtig, dass es einen Zeitgeist gibt, der in bestimmten Milieus besonders wirkt und auch von einem Teil der weltweiten Eliten geteilt und vorangetrieben wird. Ob Klima, Massenmigration, Wokismus oder Transhumanismus. Aber bei Höcke bekommt diese Analyse einen verschwörungstheoretischen Drive. Bei Höcke ist es kein Zeitgeist, sondern ein geheimer Plan, es sind nicht bestimmte Milieus und Teile der Eliten, sondern es ist „die“ Elite, und manche spontane Entscheidung wird zur lange geplanten Absicht umgedeutet.

Höcke sieht eine „geschlossene transatlantische Politelite“ (S. 201), wobei die politische Klasse als „Dienstklasse“ der wahren Eliten dahinter anzusehen ist (S. 206). Diese Politelite habe ein „hartes politisches Programm“, nämlich „die Entnationalisierung der europäischen Völker und die Umwandlung der bisherigen Nationalstaaten in multi-ethnische Gebilde“ (S. 201). Die Politik der Masseneinwanderung sei gezielt gewollt, es gehe um die Minorisierung der autochthonen Völker (S. 185, 187). Die Ereignisse des Jahres 2015 wären nicht geplant gewesen, aber die Eliten hätten die Gunst der Stunde genutzt (S. 206), um ihre Pläne durchzusetzen. Die Globalisten wollten eine Art „ethnische Säuberung“, nämlich den reinen Menschen ohne nationale Identität und ohne Tradition (S. 203).

Höcke spricht nicht davon, dass im Zuge der Euro-Krise 2015 der linksradikale Tsipras an die Regierung in Griechenland kam und daraufhin die EU-Außengrenzen rigoros öffnete, die bis dahin von den griechischen Grenzschützern gut bewacht worden waren. Das ist der wahre Hintergrund von 2015. Aber Tsipras besuchte kurz vorher noch Putin und das möchte Höcke wohl eher ungern diskutieren. – Zwei Beispiele von Aussagen der UN, die Höcke als Beleg für seine Thesen anführt (S. 205, 222), belegen eher etwas anderes: Nämlich dass die Eliten unglaublich naiv sind bezüglich der Integrationsfähigkeit von massenhaft ins Land kommender Zuwanderer.

Diese unglaubliche Naivität und Weltfremdheit von Teilen der Elite, sowie das Konglomerat an sekundären Interessen vieler Nutznießer des Systems, die den Zirkus trotz seiner Sinnlosigkeit am Laufen halten, hätte Höcke analysieren müssen, um zum wahren Kern der Probleme vorzustoßen. Eine Verschwörung von Eliten ist maximal die halbe Wahrheit.

Einzelthemen: Völkisches Denken? Biologismus?

Auf die heikle Frage, wie Höcke „Volk“ versteht, werden einige Seiten des Interviews verwendet (S. 126-134). Höcke versteht ein Volk im wesentlichen kulturell und wendet sich gegen einen „biologischen Reduktionismus“, doch Abstammung sei nun einmal eine biologische Tatsache, die weitgehend innerhalb einer Gruppe geschehe (S. 128). Ein Volk sei aber nicht nur Verwandtschaft (S. 132). Biologistisches Denken gäbe es gerade bei Deutschlandhassern (S. 131).

Soweit hört sich das gut an, doch es ist nicht gut genug. Denn gegen einen biologischen „Reduktionismus“ zu sein heißt nicht, das Biologische für irrelevant zu erklären; erst recht nicht, wenn man gleich hinterherschiebt, dass Abstammung eine Tatsache sei und Gruppen sich angeblich so gut wie nicht mischen würden – was vielleicht so sein mag, doch mit Biologie kann und darf nationale und kulturelle Identität nichts zu tun haben! Auch der Satz, dass ein Volk „nicht nur“ Verwandtschaft sei, betont die Verwandtschaft doch immer noch sehr.

Man hätte sich einen klaren Satz gewünscht, dass allein die Kultur zählt, und die Biologie im Grunde völlig irrelevant ist, jedenfalls für die nationale Identität (für die Vererbung von Intelligenz mag sie eine gewisse Rolle spielen: Ein Thema, das Höcke interessanterweise nirgends anschlägt). Man hätte sich einen Satz gewünscht, dass z.B. ein asiatisches oder schwarzes Waisenkind, das von einer deutschen Familie adoptiert und erzogen wurde, allein aufgrund seiner kulturellen Assimilation vollkommen deutsch ist, ohne wenn und aber und radikal unabhängig von der Biologie. Doch ein Satz in dieser Klarheit fehlt.

Statt dessen finden sich einige Aussagen, die begründet vermuten lassen, dass Höcke der Biologie doch eine größere Rolle bei der Identität von Menschen zuschreibt. Von den USA sagt Höcke, dass sich die Weißen und die Schwarzen vor ihrer Einwanderung nach Amerika „aus mehreren hochdifferenzierten Völkern mit eigenen Identitäten zusammen“ setzten, doch „jetzt sind sie in einer Masse aufgegangen. Diesen Abstieg sollten wir als Europäer vermeiden und die Völker bewahren.“ (S. 133) Hier ignoriert Höcke völlig, dass die Amerikaner in den USA zu einer neuen Nation zusammengewachsen sind, mit eigenen Mythen und eigener Identität, die unseren europäischen Nationen in nichts nachsteht. Und Höcke ignoriert, dass die spezifischen Probleme mit den Schwarzen in den USA natürlich darauf zurückzuführen sind, dass diese erst einmal als Sklaven nach Amerika geholt wurden. Doch Höcke sieht die Vermischung von Menschen verschiedener Herkünfte zu einer neuen Nation anscheinend als ein grundsätzliches Problem und als eine Ursache für „Abstieg“ an. Höcke spricht von „Masse“. Doch sind die USA abgestiegen und identitätslos vermasst? Nein, denn es ist eine der reichsten und mächtigsten Nationen auf Erden, und sie hat nicht weniger Selbstbewusstsein als irgendeine andere Nation!

Höcke meint auch, dass bei einem Versuch, Trumps Veränderungen wieder zurückzudrehen, „ein Aufstand der weißen Arbeiterklasse“ drohe (S. 209). Da fragt man sich: Warum ausgerechnet der „weißen“ Arbeiterklasse? Die US-Republikaner sind jedenfalls immer sehr stolz darauf, dass Trump gerade auch bei den Schwarzen und Latinos der Arbeiterklasse gute Wahlergebnisse erzielt hat, weil es Trump gelungen wäre, das Narrativ der Demokraten zu durchbrechen, dass es Rassenprobleme gäbe, wo es in Wahrheit doch vor allem soziale Probleme seien. Höcke scheint das anders zu sehen.

Schließlich präsentiert Höcke für den Fall eines siegreichen Multikulturalismus die Dystopie des Rückzugs der Deutschen in „gallische Dörfer“ auf dem Land, wo sie gewissermaßen überwintern und eines Tages von dort aus die „Rückeroberung“ starten (S. 253). Das Problem, das hier deutlich wird, ist die völlig Ablehnung jeder kulturellen Veränderung durch Vermischung.

Natürlich bringt der ungesteuerte und ideologisch verblendete Multikulturalismus einen Niedergang der gewachsenen deutschen Kultur mit sich, der ungerecht und schlimm für alle ist, auch für die Zuwanderer. Es ist ja gerade nicht wie in Amerika, wo die Menschen verschiedener Herkünfte eine neue gemeinsame Zukunft, eine neue gemeinsame Nation errichteten, sondern Multikulti heißt, dass jeder seiner Herkunft verhaftet bleibt und unverbundene Parallelgesellschaften entstehen. Ein Land wie Syrien oder der Balkan würde das Ergebnis sein, wo verschiedene Religions- und Volksgruppen sich dermaßen misstrauen, übervorteilen und ja: auch bekämpfen, dass der Gemeinsinn darüber verloren geht. Deshalb muss der Untergang einer gemeinsamen und organisch fortentwickelten, deutschen Kultur zum Wohle aller verhindert werden. Im Idealfall würde die deutsche Kultur durch Zuwanderung so bereichert werden, wie einst Preußen durch die zugewanderten Hugenotten. Das wäre ein lohnendes, gemeinsames Zielbild für Deutsche und Zuwanderer. Dazu müssten sich aber auch die Deutschen ein wenig konstruktiv einbringen. Davon ist bei Höcke aber absolut nichts zu sehen.

Doch auch im Falle von Höckes Dystopie, dass der Multikulturalismus die deutsche Kulturnation zerstören wird, liegt Höcke falsch: Denn irgendwann, nach langen und schlimmen Turbulenzen, werden sich die Bewohner dieses Landes zeitlich und kulturell so weit von ihren Wurzeln entfernt haben, dass sie zu einer neuen Nation, vielleicht auch mehreren neuen Nationen, verschmelzen können. Das wird dann keine deutsche Nation mehr sein, und es mag Jahrhunderte dauern und viele leidvolle Umwälzungen über die Menschen bringen, aber es wird wieder eine Nation sein. Die Geschichte bleibt nicht stehen. Wenn die deutsche Kulturnation tatsächlich verloren sein wird, wird diese Vision die nächstbeste Perspektive sein. Doch ausgerechnet Höcke, der sich immer so gerne konstruktiv einbringen möchte, will sich nicht konstruktiv in diese neu entstehende Nation einbringen, sondern er will sich trotzig in „gallische Dörfer“ auf dem Land zurückziehen, von wo nach Jahrhunderten unvermischte Deutsche zu einer „Rückeroberung“ aufbrechen sollen. Das ist schon ein ziemliches groteskes Bild. In der Praxis würde es wohl darauf hinauslaufen, dass diese zurückgezogenen Deutschen die ewigen Hinterwäldler bleiben und irgendwann aussterben.

Die Geschichte ist kein Wunschkonzert und sollte uns lehren, wie wertvoll die Kultur ist, die wir haben. Sie ist viel leichter zerstört als wieder aufgebaut. Angesichts des Wahnsinns in der Welt ist es überhaupt ein Wunder, wie die westlichen Nationen mit ihren humanistisch entwickelten Nationalkulturen, mit Rationalität, Wissenschaft, Demokratie und Marktwirtschaft, entstehen konnten.

Einzelthemen: Nationalsozialismus

Wir sahen bereits oben, dass sich Höcke Edgar Jung sehr verbunden sieht (S. 77), einem Denker der „Konservativen Revolution“, der mit Hitler über seinen Beitritt zur NSDAP verhandelte. Anders als die Nationalsozialisten lehnte Jung den Rassegedanken ab, weil er auf den Gedanken des Volkstums setzte. Er war zudem undemokratisch und antisemitisch. Man mag Edgar Jung mit einiger Spitzfindigkeit nicht für einen Nationalsozialisten halten, ein Rechtsradikaler war er jedoch in jedem Fall. Wie gesagt, unterbleibt eine genau Diskussion des Verhältnisses von Höcke zu Jung.

Das ganze Buch hindurch kommt es zu einem name-dropping von mehr oder weniger „rechten“ Autoren, so z.B. Carl Schmitt (S. 274, 287), Alain Finkielkraut (S. 201), David Engels (S. 203), Wolfgang Caspart (S. 105), oder eben Edgar Jung (S. 28, 77). Das allein kann aber kein Vorwurf sein. Schon seltsamer ist, dass Höcke vom Faschismus sagt, dass er „eine geschichtlich und räumlich begrenzte Erscheinung gewesen“ sei und „heute in Deutschland nur als bizarrer Fremdkörper existieren“ könne (S. 141). Man beachte, dass es um Faschismus geht, nicht um Nationalsozialismus. Man beachte auch, dass der Faschismus für Höcke „heute“ ein Fremdkörper wäre – damals nicht?

Eine direkte Kritik des Nationalsozialismus wird nicht formuliert, wohl aber eine Kritik am „NS-Imperialismus, der eine Missachtung des Selbstbestimmungsrecht der Völker war und anstelle der nationalen Identitäten das Prinzip der Rasse favorisierte.“ (S. 283) Das ist aber nur eine Kritik an der Außenpolitik des Nationalsozialismus, nicht an dessen Innenpolitik. Und das Wort „favorisierte“ formuliert keine völlige Absage an den Rassegedanken. Außerdem ist auch das nationale oder völkische Prinzip von übel, wenn man es als oberstes Prinzip definiert. Die Nation ist sicher ein hohes Gut, aber es gibt doch noch ein paar Dinge, die noch wichtiger sind. Bei Höcke ist die Nation oder das Volk aber immer oberstes Prinzip.

Für die Deutschen 1945 sieht Höcke einen „Vorsprung der Besiegten“ (S. 64). Damit meint er, dass die Besiegten genötigt sind, an sich zu arbeiten und dadurch aufsteigen, durch einen „Erkenntnisgewinn“, so Höcke – während die Sieger sich satt auf ihren Lorbeeren ausruhen und deshalb abfallen. Doch ist das wirklich die Situation von 1945? Damals war Deutschland nicht nur ökonomisch und militärisch besiegt, sondern insbesondere auch moralisch. Der Erkenntnisgewinn der Deutschen war praktisch gleich null, denn wie Helmut Schmidt treffend formulierte, wusste er auch schon vor dem Nationalsozialismus, dass man nicht töten soll. An dieser Stelle wird implizit deutlich, dass Höcke den Charakter der Niederlage von 1945 nicht verstanden hat. Es hat zwar der Stärkere den Schwächeren besiegt, ja, aber das ist nicht der Punkt.

Ebenfalls höchst peinlich ist Höckes Aussage, dass der Nationalstaat „in Preußen und Österreich“ vorbildlich funktioniert habe (S. 259). In Preußen ja. Aber in Österreich? Ganz gewiss nicht! Österreich zerfiel an der Herausbildung der Nationalstaaten und blockierte sie, solange es ging, was ein Grundübel dieser Zeit war. Wie kommt Höcke dazu, so etwas zu sagen? Man kann eine Absicht erkennen, wenn man sich ansieht, dass Höcke hier von Preußen und Österreich als „den beiden deutschen Hauptmächten“ spricht. Es geht ihm also um Deutschland. Und da gehört Österreich für ihn offenbar dazu. Um Österreich in diese Aussage mit aufnehmen zu können, begeht Höcke sogar die historische Unwahrheit, dass der Nationalstaat in Österreich gut funktioniert hätte. – Höcke hätte besser daran getan zu sagen: Mit Preußen war der Nationalstaat in Deutschland erfolgreich. Punkt. Und wenn überhaupt, dann hätte er dies hinzufügen sollen: Österreich gehört seit dem Zeitalter der Nationalstaaten nicht mehr zu Deutschland, wird nie mehr dazu gehören, und war als Nationalstaat im 19. Jahrhundert auch nicht erfolgreich. Aber das war offensichtlich nicht das, was Höcke sagen wollte.

Wenn wir in einem Brainstorming in aller Kürze einige Vergleichspunkte von Höckes Ideenwelt mit dem Nationalsozialismus durchgehen, dann haben wir bis jetzt folgendes gefunden: Zunächst Edgar Jung, der völkisch, antidemokratisch und antisemitisch ist. Einen höheren Wert als die Nation nennt Höcke nicht. Biologistisches Denken wird zwar in die zweite Reihe verbannt, jedoch nicht völlig abgelehnt. Der Humanismus von Höcke ist rein romantisch-gefühlig, keinesfalls vernünftig und aufgeklärt zu verstehen. Höcke will eine post-kapitalistische Wirtschaftsordnung, ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen. Was sich wie nationaler Sozialismus anhört, nennt er Sozialpatriotismus. Gegen anti-humanistische Strömungen im Islam möchte Höcke keine Einwände erheben und sie „achten“. Nietzsche und die Romantik sind für Höcke sehr wichtig. Und eine Volkskirche soll errichtet werden, die ein wenig an das „positive Christentum“ aus Hitlers Parteiprogramm erinnert.

Und an dieser Stelle erhebt sich die Frage, wie der Titel des Buches eigentlich zu verstehen ist: „Nie zweimal in denselben Fluss“. Höcke beschreibt, wie er von seinem Vater lernte, „dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne, und es also ein unmögliches Unterfangen darstelle, vergangene Zustände zu wiederholen“ (S. 24). Wenn wir diesem Gedanken die Aussage Höckes gegenüberstellen, dass der Faschismus „heute“ ein bizarrer Fremdkörper wäre, drängt sich einem der Gedanke auf, dass der Buchtitel wohl sagen soll: Wir sind dieselben von damals, und wir wollen im Grundsatz dasselbe wie damals, aber unter den veränderten historischen Umständen kommen wir mit denselben Grundsätzen zu anderen Schlussfolgerungen und zu einer anderen Politik. Nie zweimal in denselben Fluss eben.

Einzelthema: Preußen

Immer wieder und wieder rekurriert Höcke auf Preußen als ein großes Vorbild. Es sind mindestens fünfzehn Stellen. An einer Stelle des Buches ist von der „Re-Preußifizierung“ Deutschlands die Rede: Für Höcke soll zwar nicht nur aber eben auch der Geist Preußens eine besondere Rolle bei der Rekonstruktion Deutschlands spielen (S. 288). Doch Höcke zeichnet ein höchst einseitiges Bild von Preußen: Bei Höcke geht es vor allem um Härte, Entbehrung und Pflichterfüllung, oder um den Staatsapparat, die Armee und das Bildungswesen (z.B. S. 36, 213, 287-290). Friedrich der Große wird mehrfach dazu herangezogen, um Positionen Höckes zu legitimieren, so z.B. seinen Agnostizismus (S. 50) oder seine Polemik gegen das Links-Rechts-Schema (S. 136). Wobei Friedrich der Große eigentlich kein Agnostiker war, sondern ein philosophischer Theist, aber das nur am Rande.

Völlig ungesagt bleibt, dass Friedrich der Große die Aufklärung in Deutschland maßgeblich vorantrieb, und dass der preußische Philosoph Immanuel Kant den kritischen Rationalismus etablierte. Auch von Wilhelm und Alexander von Humboldt hören wir bei Höcke nichts. Insbesondere hören wir auch nichts zu der glücklichen Rezeption der griechisch-römischen Antike in jener Zeit, ganz im Sinne Goethes. Preußen war eben Klassik und keine Romantik, also das Gegenteil dessen, was Höcke bevorzugt.

Dass Preußen „die Vernunft und das klassische Maß“ repräsentiert, weiß und sagt Höcke auch an einer Stelle (S. 75). Wie das mit seinem Hang zur Romantik zusammenpasst, sagt er jedoch nicht. Schlimmer noch: An genau dieser Stelle wurde die Frage nach der Irrationalität Nietzsches und der Deutschen insgesamt aufgeworfen, und Höcke nennt die Klassik und Preußen als Beispiele, dass die Deutschen doch sehr vernünftig seien – doch Klassik und Preußen sind nur dann ein Gegenmittel gegen Irrationalität und Romantik, wenn man sie der Irrationalität und der Romantik als das Bessere gegenüberstellt! Aber genau das tut Höcke hier nicht. Höcke missbraucht vielmehr die Klassik und Preußen an dieser Stelle, um Bedenken gegen Irrationalität und Romantik zu zerstreuen, indem er von der Existenz irrationaler Strömungen wie der Romantik ablenkt und auf die Klassik und Preußen verweist, wie wenn es Nietzsches Irrationalität und die Romantik nicht gäbe! – Gegen Ende des Buches strebt Höcke eine Synthese des Geistes von Potsdam mit dem Geist von Weimar an (S. 290). Auch diese Forderung bleibt völlig oberflächlich, da unklar bleibt, wie sie mit den Tiefenschichten von Höckes Denken zusammengeht.

Höcke stellt auch die bekannte preußische Toleranzformel, dass jeder nach seiner Façon selig werden soll, auf den Kopf. Er wendet sie nämlich auf traditionalistische und islamistische Formen des Islams an, die wir „achten“ sollten (S.197). Wie wir oben schon sahen, können wir dies nicht, wenn wir unsere eigenen Werte ernst nehmen. Wir können verschiedene Anschauungen nur insoweit tolerieren, insoweit sie humanistischen Maßstäben genügen, also z.B. ein Islam im Sinne der islamischen Humanisten, die es ja gibt. Dass Höcke die preußische Toleranzformel zitiert, um Respekt vor antihumanistischen Vorstellungen einzufordern, ist sehr unpreußisch. Damit werden auch andere Erwähnungen der preußischen Toleranz in diesem Buch fragwürdig, weil man nicht stillschweigend voraussetzen kann, dass Höcke auf dem Boden des preußischen Humanismus steht (S. 31, 32, 288).

An einer Stelle wird deutlich, welche Rolle Preußen für Höcke tatsächlich spielt. Auf die Frage, ob man denn anstelle des „harten“ Nationalsozialismus nicht eine „weiche“ Variante von Faschismus propagieren sollte, zieht Höcke die Parallele zur faschistischen Casa-Pound-Bewegung in Italien, die dort seit 2003 als „soziale Bewegung“ für die Propagierung des Faschismus agiert, und sagt: „Eine ‚Casa Pound-Bewegung‘ … brauchen wir Deutschen aber nicht: wir haben Preußen als positives Leitbild.“ (S. 142)

Damit ist klar: Für Höcke spielt Preußen die Rolle eines ideologischen Bahnbrechers. Höcke rekurriert auf Preußen, weil er darin ein ideales Vehikel sieht, um seine Ideen zu transportieren. Darum geht es. Etwas schärfer formuliert, könnte man die Frage stellen, ob Höcke Preußen nicht einfach als „unverbrannten“ Platzhalter nach vorne schiebt, weil man den Faschismus heute in Deutschland in keiner Form mehr propagieren kann? Im Grunde würde es sich dann wie mit der Reichskriegsflagge der kaiserlichen Marine verhalten: Ursprünglich war die Reichskriegsflagge überhaupt nicht rechtsradikal konnotiert, doch da man die faschistischen Symbole nicht mehr zeigen konnte, suchten sich die Neonazis Ausweichsymbole, und so verfiel man auf die Reichskriegsflagge.

Für Höcke geht es bei Preußen nicht um Preußen, soviel scheint klar. Preußen ist für Höcke nur eine Chiffre, die er benutzt und nach eigenem Gutdünken mit Bedeutung auflädt. Das wird einerseits daran deutlich, dass Höcke eher ein Freund von Nietzsche und der Romantik als der Klassik und Preußens ist. Es wird daran deutlich, was Höcke in Preußen sieht und was nicht (s.o.). Und es wird daran deutlich, dass Höcke an keiner Stelle sagt, dass er Preußen als Bundesland wiederherstellen möchte. Denn das wäre das naheliegendste für jeden Preußenfreund. Doch dazu kein Ton. Es wäre auch verwunderlich. Das reale Preußen würde Höcke gar nicht in den Kram passen. Das reale Preußen wäre keine Chiffre mehr, die man nach Belieben aufladen kann. Zudem wendet sich Höckes Freund Gauland vehement gegen die Wiederherstellung Preußens. Gauland hätte es lieber gesehen, wenn Österreich und nicht Preußen die deutsche Einheit hergestellt hätte. Auch Höckes spiritus rector Götz Kubitschek scheint in dieser Frage Gauland nahe zu stehen. Wir erinnern hier noch einmal an die oben besprochene Aussage Höckes, dass der Nationalstaat „in Preußen und Österreich“ vorbildlich funktioniert habe (S. 259). Kein Preußenfreund würde so einen Unsinn verzapfen.

Höcke missbraucht Preußen, und dieser Missbrauch Preußens wird auch durch den folgenden Umstand sehr deutlich: Wie gesehen, will man Deutschland re-preußifizieren. Doch kein Mensch, der Deutschland verstanden hat, wird Deutschland re-preußifizieren wollen! Denn Deutschland ist in Länder gegliedert, und jedes Land hat seine ganz eigenen Traditionen. Die Bayern würden sich über eine Re-Preußifizierung schön beklagen! Schon Kaiser Wilhelm II. echauffierte sich über die Nationalsozialisten, weil sie nicht begreifen wollten, dass man Deutschland nicht als zentralen Einheitsstaat regieren kann. Was man re-preußifizieren müsste, wäre natürlich Preußen selbst, als ganz normales Bundesland, bestehend aus den Gebieten, die in der ehemaligen DDR liegen – aber genau das kommt bei Höcke nicht vor. Wo Höcke von Preußen spricht, spricht er immer nur von ganz Deutschland, nie von Preußen. Niemand, dem es um Preußen ginge, würde das tun.

Über dieses Buch hinaus

Björn Höcke hat immer wieder durch Reden auf sich aufmerksam gemacht, bei denen er beinahe etwas sagte, es dann aber doch nicht ganz sagte – aber irgendwie doch recht auffällig in eine bestimmte Richtung tendierte. Am Anfang waren es die 1000 Jahre. Für sich allein genommen völlig unauffällig. Dann folgte 2015 eine Rede, in der Afrikanern aufgrund der Evolution ein anderes Fortpflanzungsverhalten unterstellt wurde. Evolution konnte man allerdings auch sozial verstehen, und die Forderung nach einer Veränderung der Politik in Afrika unterstrich, dass es nicht genetisch gemeint war. In seiner sehr bekannt gewordenen Dresdner Rede 2017 sprach Höcke vom Holocaust-Denkmal doppeldeutig als dem „Denkmal der Schande“, und forderte eine 180-Grad-Wende der Vergangenheitspolitik. Im Jahr 2020 wollte Höcke dann unliebsame Parteifreunde aus der AfD „ausschwitzen“. Und 2021 schloss Höcke dann eine Rede mit dem SA-Wahlspruch „Alles für Deutschland“. Jeder einzelne Fall ist für sich allein genommen harmlos oder könnte auch als Versehen oder Doppeldeutigkeit gedeutet werden. In der Serie wird dann aber doch recht deutlich, wohin die Reise geht. Die Methode wird natürlich erst nach einer Reihe von Vorfällen durchschaubar.

An einigen Stellen des Buches verteidigt sich Höcke gegen diverse Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden. Doch leider nicht erfolgreich. Nicht Höcke, sondern der Interviewer wiegelt Vorwürfe mit der rhetorischen Frage ab: „Wer ist wirklich schon einmal einem echten Nazi begegnet?“ (S. 90) Das ist nun wirklich keine valide Verteidigung. Seine Dresdner Rede versucht Höcke dadurch zu verteidigen, dass er seine 180-Grad-Wende in der Gedenkkultur nicht wörtlich gemeint habe (S. 66 f.). Doch dass eine 180-Grad-Wende eine Wende ins Gegenteil ist, ist allgemein bekannt. Auch die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Denkmal der Schande“ unterschlägt Höcke (S. 68). Höcke betreibt die Verteidigung des Einzelfalls, unterschlägt aber, dass es eine Serie von Einzelfällen ist, die eine Absicht erkennbar werden lässt.

Höcke versucht auch immer wieder, das politische Links-Rechts-Schema auszuhebeln (S. 136, 138, 143 ff., 146 ff.). Mit dieser Technik laviert er sich regelmäßig um die Frage nach seiner Radikalität herum, die ihm auch in diesem Buch gestellt wurde, und vermeidet auch sonst jede Festlegung. Richtig ist allerdings, dass der historische Nationalsozialismus auch nicht einseitig für links oder rechts erklärt werden kann. Er hatte Aspekte von beidem. Aber Höcke wird doch nicht dem historischen Nationalsozialismus nacheifern wollen?

Höcke betont das ganze Buch über seine Verbundenheit zur Pegida-Bewegung (S. 110 f., 113, 210, 233 f., 238). Pegida machte am Anfang mit höchst legitimen Forderungen auf sich aufmerksam, entpuppte sich dann aber als eindeutig zu rechts. Frauke Petry war damals zu einem Gespräch mit den Pegida-Organisatoren gegangen und von dort ernüchtert zurück gekommen. Höcke ist Pegida treu geblieben. – Von Höckes Verbindung zu Götz Kubitschek ist im ganzen Buch nicht die Rede. Kubitschek wird nur einmal beiläufig zitiert (S. 93). Wie so oft, ist auch hier das Schweigen Höckes bezeichnend.

Manche versuchen ein gutes Bild der AfD zu retten, in dem sie Björn Höcke als Einzelfall darstellen. Höcke sei zwar schlimm, die AfD aber im ganzen in Ordnung. Doch Björn Höcke ist nicht irgendwer in der AfD, er ist nicht nur der Platzhirsch in Thüringen. Höcke ist einerseits die beherrschende Figur im sogenannten „Flügel“, einer informellen (und angeblich aufgelösten) innerparteilichen Sammlungsbewegung des rechten Flügels in der AfD. Andererseits nennt Alexander Gauland Björn Höcke immer wieder „seinen Freund“. Und nicht zuletzt ist Höcke eng verbunden mit Götz Kubitschek, den rechten Vordenker, der von Schnellroda die Strippen zieht. An diesen drei, am Flügel, an Alexander Gauland und an Götz Kubitschek kommt in der AfD heute niemand mehr vorbei, und damit nicht an Björn Höcke.

Aufruf zur Selbsterkenntnis

Der ideologische Hauptgegner von Björn Höcke und der AfD sind angeblich die Grünen. Deshalb mag es erkenntnisfördernd sein, darauf aufmerksam zu machen, dass die Grünen und die AfD bzw. Björn Höcke sich ähnlicher sind, als beide Seiten wahrhaben wollen. Sie sind perfekte Spiegelbilder und teilweise sogar auf gleicher Linie.

  • Die Grünen mögen die Rationalität nicht. Sie setzen lieber auf Emotionen. Aber das finden wir auch bei Höcke wieder: Romantik und Nietzsches Irrationalität liegen Höcke mehr als die Klassik und die Rationalität Preußens.
  • Höckes Lieblingsphilosoph Nietzsche ist über das Zwischenglied der Postmoderne der große Vordenker des heutigen Wokismus. Es klingt in der Tat sehr woke, wenn Höcke eine gewisse „Wirklichkeitsverachtung“ fordert (S. 61). Man fühlt sich an Robert Habeck erinnert, der sich „von Wirklichkeit umzingelt“ sieht.
  • Sowohl Grüne als auch Rechtsradikale wollen keine Integration von Ausländern. Die Grünen wollen es nicht, weil sie auf Multikulti bzw. „Vielfalt“ setzen, und jede Anpassung von Zuwanderern als Zumutung betrachten. Deshalb sprechen die Grünen heute oft auch von „Inklusion“ statt von „Integration“: Teilhabe ohne jede Anpassung. Die Rechtsradikalen wollen keine Integration, weil sie nur die beiden Extreme Assimilation oder Abschiebung kennen.
  • Beim Islam wollen die Grünen und Höcke von Reformen nichts wissen. Wir Deutschen müssten das Fremde achten wie es ist, lautet die Forderung von beiden. Islamkritik, und sei sie noch so konstruktiv, gilt beiden ein Zeichen mangelnden Respekts vor dem „Fremden“. Islamreformer sind für die Grünen wie für Höcke böse Menschen, die den Islam „verwestlichen“ wollen.
  • Die Grünen und Höcke möchten ansonsten mit dem Islam einfach nichts zu tun haben. Der Unterschied ist lediglich dies: Während Höcke den Islam komplett aus Deutschland verbannen möchte, möchten die Grünen den Islam in eine Parallelgesellschaft in Deutschland verbannen. Alles „Fremde“, was Grüne an einem unreformierten Islam tolerieren möchten, würden sie in ihrem eigenen Umfeld niemals dulden. Und so kommt es, dass es dort, wo die typischen Grün-Wähler wohnen, nur wenig Muslime und keine Moscheen gibt.
  • Die Grünen und Höcke träumen beide von einer Absage an Kapitalismus und Konsum. Beide wollen dazu den starken Staat. Höcke spricht davon, „die Bescheidung im Materiellen“ mit „der Vertiefung des Immateriellen“ zu kompensieren (S. 271). Ein Grüner hätte es nicht besser sagen können.
  • Mit Heidegger ist Höcke gegen „Technikgläubigkeit“ und tritt für die Bewahrung der Natur ein (S. 79). Grüner als grün geht nicht.
  • Und so, wie die Grünen ihre „große Transformation“ der Gesellschaft mit jener unbelehrbaren Rücksichtslosigkeit vorantreiben, die schon immer einer der schlechtesten Charakterzüge des deutschen Wesens war, und so, wie auch Angela Merkel ihre Migrationspolitik auf einem CDU-Parteitag am 14.12.2015 rücksichtslos mit den Worten vorantrieb: „Wie kann sie sagen, wir schaffen das? Und ich antworte Ihnen, ich kann das sagen, weil es zur Identität unseres Landes gehört, Größtes zu leisten“, so kokettiert auch Höcke mit diesem schlechten deutschen Charakterzug, „keine halben Sachen“ zu machen (S. 258; vgl. auch S. 215), statt die deutsche Kultur zu mehr Rationalität und Skepsis zu entwickeln: Denn das ist es, was jemand tun müsste, der Deutschland und die deutsche Kultur liebt.

Folgende Ratschläge können dem Leser dieser Rezension zur Überwindung der Irrtümer gegeben werden:

  • Rationalität und Klassik müssen den unbedingten Vorrang vor Romantik und Irrationalität haben. Romantik und Phantasie sind erlaubt und nützlich, aber nur, wenn sie von Rationalität eingehegt stattfinden.
  • Der heilsame Einfluss der griechisch-römischen Antike auf unsere Kultur, mithin der klassische Humanismus, ist vollauf anzuerkennen, noch vor dem Einfluss des Christentums oder irgendeiner anderen traditionellen Religion oder Philosophie.
  • Es muss belletristische Literatur gelesen werden! Nicht nur Philosophen und Politiker. Und wenn Philosophen, dann auch antike Autoren, nicht nur moderne.

Dann wird man wie von selbst auf die richtigen Schlüsse kommen:

  • Nationalismus, Rassismus, Sozialismus, Faschismus, Nationalsozialismus: Alles nur Mist.
  • Antikapitalismus und Antiamerikanismus sind olle Kamellen von anno ’68, die abzulegen sind.
  • Die westlichen Werte sind wertvoll und universal und keinesfalls mit Multikulti und Wokismus zu verwechseln.
  • Deutschland wird am ehesten durch Preußen definiert. Weniger durch Sachsen oder Bayern. Und gar nicht durch Österreich. Österreich ist eine eigenständige Nation geworden, die nicht mehr zu Deutschland gehört. Genau wie die Schweiz auch.
  • usw. usf.

Großes Fazit

Kehren wir am Ende dieser Besprechung an den Anfang des Buches zurück, zur Kindheit Björn Höckes (S. 41 f.). Wir lesen, dass Björn Höcke „kein Bücherwurm“ war, „und wenn dann nur sehr unfreiwillig Stubenhocker.“ Er bevorzugte es, in einem Kleinkrieg von Kinderbanden den Bandenführer zu spielen. Er „verbrachte viele Stunden … im Kampf“ und als „Draufgänger“, und wurde von der Kindergärtnerin zur Strafe in die Ecke geschickt. Sie hatte „den Lausbuben“ aber doch ins Herz geschlossen. Wir lesen außerdem immer wieder, dass Björn Höcke „anarchische“ Züge hatte: Autoritäre Verhältnisse waren ihm immer zuwider (S. 47). Auch über seine Zeit bei der Bundeswehr sagt Höcke: „Der Kommiß mit seiner Hierarchie lag mir nicht sehr.“ (S. 52). Und auch an Nietzsche faszinierte den jungen Höcke, „wie Nietzsche … alles gnadenlos hinterfragte: die Moral, die Tradition, die Philosophiegeschichte. In seinem Voluntarismus fand ich meinen eigenen Tatendrang und Optimismus wieder, ebenso die Verachtung gegenüber dem Erstarrten und Verkrusteten.“ (S. 57) Auch bei Schopenhauer ging es Höcke vor allem um den Widerstand gegen Autoritäten und um Kritik am Establishment (S. 76).

Es scheint, als seien wir hier ganz nah am wahren Wesen von Höcke: Höcke war nie ein Bücherwurm, nie ein Mensch der Ordnung, sondern ein Tunichtgut, ein Lausbub, voller anarchischem Tatendrang. Dieses Wesen seiner Kindheit scheint sich Höcke bewahrt zu haben, nur dass er es jetzt polit-philosophisch zu legitimieren weiß. Heute beschwört Höcke eben Nietzsche und die Romantik, und mit Ordnung und Hergebrachtem weiß er auch heute nicht viel anzufangen.

Zum Schluss ein Fehler: Dem Buch ist ein Sinnspruch von Theoderich dem Großen vorangestellt: „Es gilt der Heimat, auch wenn wir nur zu spielen scheinen.“ Im Original lautet dieses Zitat wie folgt: „Sit ergo pro re publica et cum ludere videmur.“ (Cassiodor Variae I 45) Es geht im Original also gar nicht um „Heimat“, was sehr romantisch klingt, sondern um die „res publica“, also um das „Gemeinwesen“ bzw. den „Staat“, was sehr klassisch und preußisch gedacht ist. Wenn der Grundirrtum schon in der Widmung zum Vorschein kommt, ist Umdenken ernstlich angezeigt!

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher (2014)

Sehr persönlicher Einblick in jüngere jüdische Geistesgeschichte

Dieses Buch erzählt die Geschichte von Chimen Abramsky. „Chimen“ ist dabei eine verballhornte Schreibung von Shimon. Er wurde geboren in Russland, wo jüdische Kultur und Gelehrsamkeit jahrhundertelang im Ansiedlungsrayon blühte, bis Pogrome und Holocaust dem ein Ende bereiteten. Er war Sohn eines international bedeutenden jüdischen Gelehrten, dessen Familie aus Russland nach London floh und an dessen Beerdigung in Israel zehntausende orthodoxer Juden teilnahmen. In London heiratete Chimen in eine jüdische Buchhandlung ein, und wurde aus Angst vor dem Nationalsozialismus Kommunist, ja sogar Stalinist. Später bekehrte er sich zu einer liberaleren Weltsicht und war mit Isaiah Berlin befreundet.

Chimen Abramsky baute in seinem Privathaus im Hillway 5 in London eine gewaltige Sammlung von Manuskripten und Büchern zu den Themen Sozialismus und Judentum auf. Chimen war ein weltweit anerkannter Experte für alte Schriften und Drucke, wurde zum Ratgeber für Sotheby’s, und schließlich Hochschulprofessor, ohne je selbst studiert zu haben. In seinem Haus trafen sich ohne Unterlass Intellektuelle, Künstler und Gelehrte, immer gut bewirtet von seiner Ehefrau Mimi.

Erzählt wird uns dies alles von einem Enkel von Chimen Abramsky. Wir dürfen auf diese Weise teilhaben an einem sehr persönlichen und erhellenden Blick auf jüdische Schicksale und jüdisches Denken (und Umdenken) im 20. Jahrhundert. Es ist bedenkenswert, wenn der Autor die Gelehrsamkeit des (Ex-)Kommunisten Chimen Abramsky mit der Gelehrsamkeit der jüdischen Religionsgelehrten aller Jahrhunderte vergleicht. Oder bei der Bewirtung der zahllosen Gäste im Hillway durch dessen Ehefrau Mimi an die Salons jüdischer intellektueller Damen im 19. Jahrhundert denkt. Es ist interessant zu sehen, wie im Hillway jüdische Speisevorschriften u.a. religiöse Rituale beachtet wurden, obwohl Chimen und Mimi gar nicht religiös waren. Nach seinem Abfall vom Kommunismus findet Chimen nicht mehr zu einer geschlossenen Weltanschauung zurück, und bleibt ein Wanderer zwischen den Welten. Eine Tendenz zu Spinozas Pantheismus war erkennbar.

Chimen scheint es mit dem Sammeln von Büchern teils übertrieben zu haben. Fotos zeigen das Haus in einem Zustand, der an das Phänomen des „Messie“ erinnert. Bezeichnend ist auch, dass Chimen trotz seines anerkannten Wissens praktisch nicht in der Lage war, sein Wissen zu ordnen und in Buchform zu bringen. Chimen scheint eine sehr assoziative, ungeordnete und sprunghafte Geistesorganisation gehabt zu haben, also ein Mensch, der in vielem nicht rational war, und Rationalität vielfach auch gar nicht anstrebte, sondern – vielleicht – lieber träumte.

Auch die Themen Krankheit und Tod werden bearbeitet. Gerade in diesen Passagen ist es ein sehr persönliches Buch.

Leider ist es sehr journalistisch geschrieben. Manchmal ist die Sprache flapsig und unangemessen. Leider ist die Darlegung auch sehr unsystematisch und assoziativ. Man findet zu ein und demselben Thema immer wieder ein paar Brocken hie und da verstreut im Buch, wo man sich eine systematische Darstellung gewünscht hätte. Vor allem am Anfang des Buches stört das sehr. Unpassend ist auch die Kritik des Autors an der geheimdienstlichen Überwachung von Chimen Abramsky im nachgetragenen Vorwort. Immerhin war Chimen damals ein in der Wolle gefärbter Stalinist und ein intellektuell einflussreiches Mitglied der kommunistischen Partei Großbritanniens mitten im Kalten Krieg!

Das Nachwort von Philipp Blom zu Bibliotheken von Exilanten ist zunächst bedenkenswert, dann aber einfach nur unakzeptabel: Dass ein direkter Weg von Kant zu den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts führt, ist Unsinn.

Fazit

Mit etwas Toleranz für die Schwächen des Buches ist es eine sehr, sehr lesenswerte und bereichernde Lektüre.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Mai 2018)

Ayn Rand: Atlas Shrugged (1957)

Heilsame (Über-)Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten

Mit „Atlas Shrugged“ hat Ayn Rand einen Weltanschauungsroman geschrieben, der für viele zu einer Offenbarung, für viele aber auch zu einem Hassobjekt geworden ist. Im Mittelpunkt steht die Idee vom produktiven Menschen, der stolz ist auf seine Errungenschaften, und die Erkenntnis, dass ein Eingreifen in Eigentum und Freiheiten der produktiven Menschen durch soziale Dummschwätzer erstens verlogen und zweitens dumm ist, weil es nicht zu Wohlstand und Gerechtigkeit, sondern zu Niedergang und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft führt. Um diese Grundidee herum hat Ayn Rand eine komplette eigene Weltanschauung entwickelt, derzufolge der Egoismus moralisch ist. Für religiös und / oder sozialistisch sozialisierte Menschen ist diese Idee natürliche eine ungeheure Provokation.

Der Roman ist also eine Parabel mit philosophischer Aussage, doch weder trocken noch belehrend geschrieben (mit Ausnahme einiger zu lang geratener Reden). Vielmehr ist es Ayn Rand gelungen, eine realistische und glaubwürdige Handlung zu entwerfen, die den Leser in eine ganz erstaunliche und spannende Geschichte hineinzieht, von der der Leser oft erst hinterher bemerkt, dass sie nicht nur realistisch, sondern auch beeindruckend symbolisch ist. Neben dieser kunstvollen Konstruktion sind auch die enthaltenen Charakterstudien und Dialoge von produktiven Menschen und sozialen Dummschwätzern Perlen der Literatur.

Erstaunlich ist, wieviele Charaktere, Parolen und exemplarische Situationen aus diesem Roman man auch heute noch in seiner unmittelbaren Gegenwart wiedererkennen und selbst erleben kann. Gerade auch deshalb wird den Leser bisweilen ein unheimliches Gefühl beschleichen: In was für einer Welt lebt man eigentlich? Wie weit sind Freiheit und Vernunft bereits von sozialen Dummschwätzern untergraben worden?

Zu den Dingen, die Ayn Rand zweifelsohne richtig erkannt hat, gehören:

  • Vernunft muss über allem walten. Nur mit ihr können wir unser Universum geistig ordnen, d.h. verstehen, um dadurch fähig zu werden, das Universum auch physisch zu ordnen, d.h. sinnvoll in die Wirklichkeit einzugreifen.
  • Die Realität muss anerkannt werden wie sie nun einmal ist.
  • Man ist vollkommen selbst verantwortlich für die eigene Erkenntnis und das eigene Denken, niemand kann es einem abnehmen.
  • Erkenntnis ist ein ewig fortschreitender Prozess von Irrtum und Selbstkorrektur.
  • Man darf sich eine hinreichend klare Erkenntnis nicht von Relativisten als übertrieben oder überheblich ausreden lassen, sondern man muss sie festhalten.
  • Die Selbstliebe, die Liebe zum Leben, ist der wahre und einzige Antrieb für Moral.
  • Die Selbstachtung darf der Mensch nicht verlieren.
  • Moral ist nicht zuerst das Verhalten zu anderen, sondern das Verhalten zu sich selbst. Auch auf einer einsamen Insel braucht der Mensch Moral. Das Verhalten zu anderen ist ein Ausfluss des Verhaltens zu sich selbst.
  • Materieller Besitz ist der legitime Ausdruck des Geistes, der ihn erschaffen bzw. erwirtschaftet hat.
  • Der Geist ist das Entscheidende, nicht das Kapital.
  • Geist und Materie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie ergänzen sich und gehören zusammen.
  • Der Mittelweg ist nicht immer der richtige Weg; oft gibt es gar keinen Mittelweg.
  • Gerechtigkeit, nicht Barmherzigkeit, ordnet die sozialen Beziehungen in gesunder Weise.
  • Liebe kommt aus Wertschätzung, und ist keineswegs antirational.
  • Man kann nicht alle Menschen lieben, das ist eine Überforderung und unrealistisch.
  • Alles muss einen Zweck haben, niemand sollte eine Sache nur um ihrer selbst willen tun.

Perfekt gelungen ist Ayn Rand die Zeichnung der Charaktere. Die produktiven Menschen sind stolz auf ihre Errungenschaften, und dieser Stolz treibt sie dazu an, noch besser zu werden. Sie sind wie Künstler, die innerlich dazu getrieben sind, eine Vision, die in ihnen schlummert, in einem Werk zum Ausdruck zu bringen. Sie schaffen Werte, von denen auch weniger produktive Menschen profitieren. Ihr Besitz spiegelt ihren Geist wieder. Sie sind Meister darin, ihre Ziele gegen alle auftauchenden Widerstände zu erreichen. Oft jedoch sind es praktische Menschen, die über größere Zusammenhänge nie nachgedacht haben. Deshalb akzeptieren sie das Eingreifen von sozialen Dummschwätzern in ihren Besitz und ihre Freiheit als „moralisch“. Ihre Eigenschaft, Schwierigkeiten überwinden zu können, lässt sie erst spät erkennen, dass die sozialen Dummschwätzer immer mehr und immer Unmöglicheres von ihnen verlangen.

Den produktiven Menschen stehen die sozialen Dummschwätzer gegenüber: Sie machen Grundannahmen über die Welt, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst sind: Dazu gehört die Vorstellung, dass der Staat unendlich viel Geld hat; dass die produktiven Menschen immer genügend motiviert sein werden, egal welchen Regeln man sie unterwirft; dass die produktiven Menschen so unendlich reich sind, dass es ihnen nichts ausmacht, noch mehr und noch mehr abzugeben. Die sozialen Dummschwätzer denken nur an die Umverteilung von Geld, nicht aber daran, wie Werte / Geld erwirtschaftet werden; wie wenn dies von selbst und immer in ausreichendem Maße geschähe. Die sozialen Dummschwätzer weichen bei Nachfragen aus, sobald man sie mit logischen Widersprüchen in ihrem Weltbild konfrontiert. Moralisch ist für sie nur das, was man für andere tut, und nur das, was Opfer fordert. Die Sorge für sich selbst zählt für sie nicht zur Moral. Religiöse Menschen weichen tieferem Nachdenken oft mit dem Verweis darauf aus, dass es wohl Gottes Wille ist, oder dass Gott ein Problem schon lösen wird, oder dass der Mensch zu klein sei, um sich an die Lösung großer Probleme zu wagen. Die intellektuellen Vordenker des sozialen Denkens neigen dazu, Vernunft und Realitätssinn zu schmähen; sie entfesseln die irrationale, neidische, gefühlsgetriebene Bestie in den Menschen. Im Extremfall kommt es zu Diktatur und Mord, bis die Sache sich nach längerer Zeit totgelaufen hat, und keine motivierten produktiven Menschen mehr übrig sind, die die Gesellschaft am Laufen halten könnten. Der Plot von „Atlas Shrugged“ ist es, diesen Prozess des Niedergangs durch einen Streik der produktiven Menschen massiv zu beschleunigen, um so das Endstadium schneller zu erreichen, und den Wiederaufbau zu ermöglichen.

Kritik – Ohne Wissen Antike

Was Ayn Rand hier vorgelegt hat, ist eine Philosophie, die in vielen Punkten mit den philosophischen Errungenschaften der Antike übereinstimmt. Man denke an das Werk „De officiis“ von Cicero, das Friedrich der Große einst „das beste Buch über Moral“ nannte: Dort wird auch der eigene Nutzen in den Mittelpunkt gestellt, und das honestum als nützlich angesehen: D.h. das Ehrenhafte, bzw. das, wofür man geehrt werden würde, wenn es gerecht in der Welt zuginge, sprich: Die Selbstachtung. Die unbedingte Anerkennung der Realität finden wir z.B. bei den Stoikern: Secundum naturam vivere: Gemäß der Wirklichkeit leben.

Leider scheint sich Ayn Rand über diese antiken Wurzeln nicht bewusst zu sein. Sie nennt nur Aristoteles als ihren großen Vordenker, aber das ist nur einer von vielen. Dass Parmenides gemeinhin als der Philosoph angesehen wird, der die Vernunft begründete, ist ihr entgangen. Platon hingegen, das Zentrum der antiken Philosophie, wird von den Anhängern von Ayn Rand als Gegensatz zu Aristoteles und damit negativ gesehen, was vollkommen falsch ist.

Kritik – Selfmade-Philosophie ohne Potential

Auf diese Weise verliert die Philosophie von Ayn Rand an Tiefe und Anschlussfähgikeit, denn diese entsteht nur durch eine Anknüpfung an die Tradition. Ayn Rand erscheint wie eine einsame Einzelkämpferin, mit einer scheinbar originellen Idee, die aufgrund ihrer scheinbaren Alleinstellung zunächst etwas abstrus wirkt. In Wahrheit steht Ayn Rand in der größten denkerischen Tradition der Menschheit, nur wissen zu wenige davon; sie selbst vielleicht auch nicht.

Auch ist manches bei Ayn Rand einseitig oder schräg geraten, was durch eine bessere Kenntnis der antiken Denker leicht hätte korrigiert werden können. Solange die Anhänger von Ayn Rand in diesen Denkfehlern verharren, und den Anschluss an die Tradition nicht suchen, werden sie Einzelkämpfer bleiben, und keine neue Traditon begründen können.

Die Selfmade-Philosophie von Ayn Rand ist natürlich dennoch wertvoll und eine anzuerkennende, „echte“ Philosophie, denn letztlich sind wir alle jeder für sich ein Selfmade-Philosoph, jeder nach seinen Möglichkeiten. Ayn Rand hat vielen Menschen zu besseren Einsichten verholfen, auch wenn sie ihr Potential nicht ausgeschöpft hat.

Kritik – Gefahr einer kollektiven Weltanschauung

Ayn Rand sagte, dass sie keine Weltanschauungsgemeinschaft gründen möchte. Doch im Grunde hat sie genau das getan. Denn ihre Bücher präsentieren eine kompakte, geschlossene Sicht der Dinge. Es werden keine offenen Fragen gestellt, es wird kein Denken angeregt, um eigene Antworten zu finden. Vor allem fehlt Ayn Rand der vielfältige Hintergrund der antiken Philosophie, der ihren Anhängern ein geistiges Umfeld hätte bieten können, um sehr individuelle Weltbilder zu entwickeln.

Tatsächlich haben sich diverse Institutionen gegründet, um die sich die Anhänger des „Objektivismus“ scharen. Allein die Prägung eines Namens für eine Weltanschauung ist bereits ihre Gründung. Es gibt auch einen teils dogmatischen Streit um den wahren Objektivismus. Man muss allerdings zugute halten, dass der Individualismus im Objektivismus so stark betont ist, dass das Schlimmste hoffentlich verhindert wird.

Kritik – Schräges

Ayn Rand hätte deutlicher aussprechen müssen, dass ein unbedingter Wille zur Wahrhaftigkeit wichtig ist, und dass es Arbeit und Mühe und Selbstüberwindung kostet, diesen zu erwerben und zu halten. Die sozialen Dummschwätzer weichen nämlich bei Konfrontation mit Widersprüchen nicht einfach nur deshalb aus, weil sie irrational sind, wie Ayn Rand schreibt. Sondern sie weichen der Anerkennung der Wahrheit gerade deshalb aus, weil für sie der Glaube an das (vermeintlich) Gute stärker ist als der Glaube an die reinigende Kraft der Wahrhaftigkeit auch dort, wo es vielleicht pingelig erscheint. Die sozialen Dummschwätzer glauben tatsächlich, dass eine Lüge eine legitime Waffe ist, um das Gute zu verteidigen, weil sie die Gefahr nicht sehen, dass ein zu hoch getürmtes Lügengebäude sie in Konflikt mit der Wirklichkeit bringt. Dass es ein Problem sein könnte, die Wahrhaftigkeit als nutzlose Pingeligkeit zugunsten des (vermeintlich) Guten beiseite zu schieben, ist ihnen nicht bewusst! Neben dem Willen zur Vernunft ist der Wille zur Wahrhaftigkeit ebenso wichtig, das hat Ayn Rand nicht ausreichend betont.

Ayn Rand hat die Frage nach dem Mitgefühl fast vollkommen übergangen und degeneriert. So schreibt sie S. 970: Hilfe für einen anderen ist in Ordnung, wenn man durch die Anerkennung der Werte des anderen selbst Nutzen in Form von Freude aus der Hilfe zieht. Zunächst hat sie damit das Mitgefühl nur für diejenigen Menschen reserviert, die es wert sind. Der Gedanke, dass man in jedem Menschen allein schon das Potential zum wahren Menschsein und das Potential zum menschlichen Leiden achten muss, fehlt. Damit ist Ayn Rand keine vollwertige Humanistin.

Es fehlt bei Ayn Rand auch die Verdeutlichung des Prinzips, dass das Mitgefühl keineswegs völlig ausgeblendet wird, sondern weiterhin bestehen bleibt als ein berechtigter Faktor unter anderen Faktoren in der eigenen Nutzenkalkulation. Für das Zusammenleben ist das Kalkül mit dem Mitgefühl so zentral, dass es verwundert, dass es bei Ayn Rand nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Die meisten Leser werden nach Abschluss der Lektüre vermutlich das Verständnis gewonnen haben, dass das Mitgefühl als Absolutum böse und deshalb vollkommen ausgeschlossen ist. Denn verlangt nicht John Galt von Dagny Taggart Geld dafür, dass er sie nach ihrem Flugzeugabsturz als Gast aufnimmt und gesund pflegt?

Die Ablehnung von Immanuel Kant durch Ayn Rand gründet sich vermutlich auch darauf, dass Ayn Rand es ihrerseits versäumt hat, die Rolle des Mitgefühls deutlicher zu betonen, und dass Kant es seinerseits versäumt hat, auf den Egoismus in seiner Ethik deutlicher hinzuweisen. Deshalb sieht Ayn Rand in Kant nur einen sozialen Dummschwätzer, der die Selbstaufopferung für andere als Absolutum definiert hätte. Rand und Kant reden aneinander vorbei.

Ayn Rand löst auch den Widerspruch zwischen Gefühl und Verstand nicht auf, sondern entscheidet sich kalt für den Verstand, der über das Gefühl zu stellen ist. Der Gedanke, dass Verstand und Gefühl zwei völlig verschiedene Dimensionen sind, die recht besehen gar nicht in Konflikt miteinander liegen können, fehlt bei Ayn Rand. Was sie hätte sagen sollen, ist, dass es ein Gefühl aus Erfahrung ist, das uns sagt, dass die Benutzung der Vernunft gut tut. Überall dort, wo angeblich Verstand und Gefühl im Konflikt sind, sind in Wahrheit zwei Gefühle miteinander im Konflikt.

Völlig vergessen hat Ayn Rand ein Stereotyp, das für soziale Dummschwätzer vollkommen typisch ist: Das pazifistische Gerede vom Frieden. Auch hier hätte die Antike helfen können: Si vis pacem, para bellum: Wenn Du Frieden willst, rüste zum Krieg. Der Schwache lädt zum Krieg ein, der Starke schreckt andere vom Kriegführen ab.

Kritik – Zu idealistisch für die gesellschaftliche Realität

Die soziale Frage wird in „Atlas Shrugged“ nicht berührt. Was ist mit Menschen, die nicht hinreichend produktiv sein können? Mit Behinderten, Alten, Kranken oder weniger intelligenten Menschen? Sie repräsentieren keinen Wert, den man im Sinne Ayn Rand schätzen könnte, so dass sie nicht einmal Almosen verdient hätten; aber auch Almosen sind keine gute Antwort auf eine gesellschaftliche Herausforderung. Schon im antiken Athen gab es eine staatliche Armenfürsorge. Ayn Rand hat ein viel zu ideales, zu perfektes, zu glattes Menschenbild.

Ayn Rand sagt generell nichts zu der Problematik, dass die Intelligenz in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt ist. Wie soll man sich als intelligenter, produktiver Mensch in einer Welt einrichten, in der die meisten Menschen nicht so sind? Produktive Menschen sind eine zahlenmäßig machtlose Minderheit! Ohne ein Arrangement wird es nicht gehen. Bei Cicero finden wir z.B. die Überlegung, dass die Besitzenden sich politisch engagieren und einen sozialen Ausgleich suchen müssen, weil ihnen ihr rechtmäßiger Besitz sonst weggenommen wird. Eine derartige Überlegung ist bei Ayn Rand nicht zu finden.

Auch zum Thema Demokratie bzw. Republik sagt Ayn Rand nicht eben viel. Man hätte sich z.B. gewünscht, dass sie einen Satz wie den von Churchill formuliert: „Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen.“ Aber sie schweigt. Immerhin lobt sie die Demokratie implizit, indem sie die Anfangsjahre der USA als ideale Zeit preist, und Richter Narragansett korrigiert am Ende des Romans die US-Verfassung, wodurch diese im Grundsatz anerkannt wird.

Recht unversöhnlich zeigt sich Ayn Rand auch gegenüber der Religion. Die Möglichkeit einer aufgeklärten Religiosität, die ihre eigene Geschichte historisch-kritisch aufgearbeitet hat und eine Moral der Lebensfreude predigt, blendet sie aus. Natürlich ist traditionelle Religion immer ein Mangel an Vernunft und Wahrhaftigkeit, aber sollte man nicht Abstufungen der Irrationalität unterscheiden, um das Zusammenleben der Menschen tolerant zu gestalten?

Überhaupt gibt das Buch „Atlas Shrugged“ wenig Handreichung für die Frage, wie man sich denn nun im wirklichen Leben verhalten soll. Die Diagnose ist top, die Therapie flop. Ein Streik der produktiven Menschen ist natürlich nicht realistisch. Im Extremfall könnte man außer Landes gehen, aber eine Lösung für das eigene Land ist das nicht.

Am Ende ihres Lebens nahm Ayn Rand selbst staatliche Wohlfahrt in Anspruch, was ihr immer wieder vorgeworfen wird. Sie hat also auch selbst nicht völlig nach ihren eigenen Idealen gelebt.

Kritik – Kapitalismus ist der falsche Name

Ayn Rand nennt die ideale Gesellschaftsordnung „Kapitalismus“ und ihr Symbol dafür ist das Dollarzeichen. Das erscheint seltsam, denn sie selbst schreibt doch auch, dass nicht das Kapital das Entscheidende ist, sondern der Geist, der dahinter steht. Wäre es demzufolge nicht angemessener gewesen, statt von Kapitalismus z.B. von Philosophie zu sprechen, und statt des Dollarzeichens z.B. das große griechische Phi (Φ) als Symbol für Philosophie zu wählen?

Für Ayn Rand ist die Moral des Händlers, des traders, die Metapher für die richtige Moral. Das ist für viele Situationen ein recht gutes Bild, doch wie sie selbst sagt, hat man Moral nicht zuerst für den Umgang mit anderen, sondern für den Umgang mit sich selbst: Aber mit sich selbst handelt man nicht. Hinzu kommt wiederum, dass gerade bei Geschäftsabschlüssen von Händlern jedes Mitgefühl und jede persönliche Wertschätzung mit Recht ausgeblendet wird. Damit reicht die Händlermetapher nicht hin, um alle Interaktionen von Menschen zu beschreiben, bzw. die Metapher ist zumindest schräg.

Kritik – Welcher Kapitalismus?

Das Ideal von Bei Ayn Rand sind inhabergeführte Personenunternehmen. Der Eigentümer ist zugleich Chef in seinem Unternehmen und ist verantwortlich für alles. Aktiengesellschaften, in denen es nur Manager gibt, die über große Bürokratien herrschen, und in deren Aufsichtsräten wiederum nur Manager von Banken sitzen, entsprechen nicht ihrem Ideal. Aktiengesellschaften, wo die Eigentümer zu weitgehend rechtlosen Aktionären degradiert sind, und echte Unternehmer nicht mehr vorkommen, sind aber im heutigen Kapitalismus der Normalfall. Insofern stellt sich die Frage, ob das, was Ayn Rand als Ideal vorschwebt, tatsächlich hinreichend mit dem Wort „Kapitalismus“ beschrieben ist.

Kritik – Naive Erkenntislehre

Ayn Rand ist misstrauisch gegen jede Form von Unklarheit, und sie meint, der Mensch hätte objektive Klarheit über die Objekte, die er erkennt. Daher auch der Name „Objektivismus“. Dass die menschlichen Sinne und die Verarbeitung der Sinneseindrücke bis zum Moment ihrer Bewusstwerdung und darüber hinaus bis zur Interpretation theoretisch beliebig von der Realität abweichen können, lässt sie unbeachtet. Kant wird verworfen. Auch der berühmte Satz des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ wird als Zeichen der Vernunftwidrigkeit und des Relativismus verworfen, was äußerst schmerzlich ist (S. 952). Für Ayn Rand gibt es nur Fakten oder keine Fakten. Dazwischen gibt es nichts. Die Natur gehorche Gesetzen, die sich nicht änderten. Dass dies nur eine Beobachtungserfahrung ist, von der keineswegs sicher ist, dass sie immer gilt, ist ihr ebenso wenig bekannt, wie die Änderung von Naturgesetzen im Zuge vertiefter Einsichten in der Wissenschaftsgeschichte. Man denke z.B. an das Aufgehen der Newtonschen Gesetze in den Gesetzen der relativistischen Physik.

Damit hat Ayn Rand ein zentrales Thema jeder Philosophie seit der Antike verfehlt: Dass der Mensch sehr viele Dinge nicht oder nur ungenau weiß, und dennoch dazu gezwungen ist, sich daraus mithilfe von Schätzungen, Annahmen, Postulaten, usw. ein Weltbild zu zimmern, das immer vorläufig ist und immer nachgebessert werden muss, und niemals letzte Gewissheit erlangt. Das Prinzip des ständigen Nachbesserns hat Ayn Rand zwar erkannt, aber die tieferen Gründe dafür leider nicht. Ayn Rand hat gewissermaßen nicht verstanden, was Platon mit seinem Konzept des „eikos mythos“, der „wahrscheinlichen Behauptung“, sagen wollte. Auch die fundamentale Großartigkeit des „Ich weiß, dass ich nichts weiss“ des Sokrates hat sich ihr bedauerlicherweise nicht erschlossen.

Fazit: Ein großartiges Buch mit Schwächen

Für sehr viele Menschen ist das Werk von Ayn Rand wie ein offener Türspalt, durch den sie einen Lichtstrahl aus jenem Reich erlangt haben, das die antike Philosophie eröffnet: Das Reich der Vernunft und der Aufklärung, das Reich der Freiheit und der Lebenslust! Auch wenn Ayn Rand die Tür dazu nicht völlig aufgestoßen hat, so hat sie doch viel erreicht.

Ihr Werk ist ein Klassiker der weltanschaulichen Literatur geworden, das jeder gelesen haben sollte: Einmal wegen seiner starken Bilder, die große Überzeugungskraft haben und Ikonen der Wahrheit bleiben werden, sei es Hank Rearden und Dagny Taggart und die Eisenbahn- und Stahlindustrie, seien es die sozialen Dummschwätzer wie James Taggart oder Hank Reardens Familie, seien es die Intellektuellen wie Balph Eubank oder Floyd Ferris, oder die Strippenzieher in Washington, oder natürlich John Galt, der von Ayn Rand für den Leser zu einer Figur aufgebaut wird, die über die Grenzen des Romans existiert, fast wie Jesus für Christen: John Galt ist überall und er begleitet uns, wo immer wir hingehen! (S. 745) Sein Körper wird mit einer griechischen Statue verglichen (S. 1045). – Ayn Rands Werk ist aber auch lesenswert, weil es für sehr viele Menschen zum Kristallisationspunkt eines vernunftorientierten Denkens geworden ist. Daran kann und muss man anknüpfen.

Ayn Rands „Atlas Shrugged“ ist eine heilsame Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten, wenn auch eine Überreaktion, die sich aus der Biographie von Ayn Rand erklären lässt.

Atlantis

In Ayn Rands „Atlas Shrugged“ wird Atlantis vor allem als eine Chiffre für das Paradies auf Erden verwendet, in dem die Menschen gemäß ihrer Vernunft in einem glücklichen Kapitalismus leben können (S. 147, 586, 643, 688, 735, 745, 843, 876, 1004). Dieses Atlantis realisiert sich im Roman in dem geheimen Tal, in das sich die produktiven Menschen zu ihrem Streik zurückziehen.

Die Grundvorstellung von Ayn Rand über das originale Atlantis ist falsch, sie verwechselt es praktisch mit der Insel der Seligen. Zudem hat Ayn Rand die Geschichte von Atlantis ihrer Vorstellung vom versteckten Tal als Paradies auf Erden angepasst, was der Leser übrigens erst viele hundert Seiten später erkennen kann. Das Atlantis bei Ayn Rand hat also nichts mehr mit dem Atlantis des Platon zu tun. Das Kraftwerk im Tal von Atlantis mit dem Motor von John Galt und dem eingeschriebenen Eid wird auch als „Tempel von Atlantis“ angesprochen (S. 843).

Der Chiffre-Charakter kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass neben der Atlantis-Chiffre auch noch weitere Elemente der antiken und anderweitigen Literatur als Chiffren für dieselbe Sache verwendet werden, so z.B. Prometheus oder die Quelle der Jugend (S. 478, 664 f.).

Der Untergang von Atlantis wird übrigens auch als Chiffre für das wegen sozialen Dummschwätzertums ökonomisch niedergehende New York verwendet (S. 583). Zuletzt ist Atlantis neben dem Garten Eden eine Chiffre für den Unschuldsstatus in der Kindheit, in der die wahren Werte des Menschseins noch nicht verbogen seien (S. 968).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Januar 2015)

Daniel-Pascal Zorn: Die Krise des Absoluten – Was die Postmoderne hätte sein können (2022)

Zauberlehrling Zorn versucht die Postmoderne zu retten und enttäuscht – Eine kritische Rezension

In den Jahren 1983/1984 hielt Jürgen Habermas zwölf Vorlesungen, die unter dem Titel „Der philosophische Diskurs der Moderne“ bekannt wurden. Das zentrale Thema war gewissermaßen die „Erledigung“ der Philosophie der Postmoderne, die vor allem durch vier französische Denker markiert wurde: Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Jean-Francois Lyotard. Seit damals ist das Bild der Postmoderne äußerst negativ besetzt mit Schlagworten wie Relativismus, Irrationalismus, Antihumanismus und Nihilismus.

Der Philosoph Daniel-Pascal Zorn möchte mit diesem Buch das schier Unmögliche versuchen, nämlich zeigen, dass es sich um ein Fehlurteil handelt. Der Versuch, eine seit langem etablierte Meinung zu revidieren, noch dazu gegen eine Autorität wie Habermas, nötigt Respekt ab. Der Rezensent kennt eine solche Situation aus eigener Erfahrung durch sein Bemühen, die sogenannten Platonischen Mythen aus der über 150 Jahre alten Verständnisfalle herauszuholen, dass es sich um frei erfundene Kunstmythen handele (statt um platonische Erkenntnisgewebe von Elementen verschiedener Perspektive und verschiedener Grade von Wahrscheinlichkeit). Zudem ist Zorn ein schier unglaublich belesener Autor: Auch das nötigt Respekt ab. Es ist nicht möglich, Zorn zu lesen, ohne dabei manche interessante Anregung mitzunehmen.

Leider konfrontiert Zorn die Leser seines Buches mit einer langen Reihe von Enttäuschungen. Einige davon wurden gewiss mit voller Absicht begangen, ganz im Sinne einer postmodernen, inkommensurablen Intervention (vgl. im Buch S. 558). Zugleich macht dieses Buch den Kritikern ihre Enttäuschung zum Vorwurf (S. 543): Das ist frech. Aber so ist die Postmoderne nun einmal. Zorn scheitert, aber am Ende kann der Leser dennoch einigen Gewinn aus dem Buch ziehen.

Enttäuschung Nr. 1

Das Buch beginnt einladend mit der Jugendzeit der bekannten französischen postmodernen Denker. Doch bald kommt das Buch von ihnen ab und es folgt die Besprechung einer schier endlos langen Reihe von Denkern, die nicht zur „französischen“ Postmoderne gehören: Cusanus, Hume, Kant, Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, immer wieder Nietzsche, die US-Pragmatiker, die Logischen Empiristen, Wittgenstein, Max Scheler, Husserl, Cassirer, Heidegger, immer wieder Heidegger, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck, Tillich, Adorno, Joachim Ritter, Heinz von Foerster, Margaret Mead, Humberto Maturana, Gregory Bateson u.a. Wer etwas zu den französischen Denkern erfahren wollte, sieht über viele hundert Seiten kein Licht am Ende des Tunnels. Schließlich werden diese Denker erstaunlich knapp abgehandelt, auf insgesamt vielleicht 15% des Seitenumfangs. Der Autor möchte natürlich – ganz postmodern – „Genealogie“ und „Struktur“ der Postmoderne offenlegen, doch das enttäuscht nun einmal die Erwartungshaltung, die das Buch erweckt hat. Wer flexibel ist, wird darüber hinwegkommen und sich auf das Konzept des Autors einlassen.

Enttäuschung Nr. 2

Das Buch „Die Krise des Absoluten“ erscheint als populärwissenschaftliches Buch. Das ist leicht erkennbar an der äußeren Aufmachung, an den launigen Kapitelüberschriften, am erzählerischen Stil, der fortlaufend biographische Anekdoten einflicht und auch manches für philosophische Laien zu erklären versucht, an der Verbannung der Fußnoten ans Ende des Buches, an den fehlenden Literatur- und Autorenverzeichnissen, und nicht zuletzt am Marketing. Der Autor selbst hat Interviews zu seinem Buch auf Plattformen gegeben, die ein breiteres Publikum ansprechen (z.B. taz talk, Thilo Jung, ZDF blaues sofa). – Doch dieses Buch ist kein populärwissenschaftliches Buch. Es arbeitet ein sehr dichtes Programm an Inhalten ab, führt an die Abgründe möglichen Denkens, und nicht selten verfällt der Autor in Fachjargon. Vorkenntnisse sind für das Verständnis äußerst hilfreich. Der Fußnotenapparat am Ende umfasst 60 Seiten. Der durchschnittlich interessierte Leser dürfte dieses Buch schon nach den ersten 150 Seiten aufgeben. Der Rezensent ist drangeblieben.

Enttäuschung Nr. 3

Das Buch ist leider vielfach unverständlich. Zu viel wird vorausgesetzt. Zu viel wird knapp oder im Fachjargon abgehandelt. Zu viel bleibt ungesagt. Die launig gewählten Überschriften (z.B. „Traumzeit“, „Kambrische Explosion“ oder „Super-GAU“) geben leider überhaupt keine Hilfestellung. Zudem leidet das Buch an zu vielen erzählerischen Vor- und Rückblenden. Manchmal ist der Stoff ungünstig in Kapitel geschnitten. Mancher Cliffhanger am Ende eines Kapitels überfordert: Der Leser fragt sich, warum er es nicht versteht; manchmal kommt die Auflösung in einem späteren Kapitel. Manchmal auch gar nicht.

Immer wieder führt der Autor den Leser gezielt aufs Glatteis: Er lässt ihn das eine denken, nur um nach einigen Seiten aufzulösen: Nein, gemeint war ein anderes. So z.B. im Kapitel „Der Herr der Gegensätze“ zu den Davoser Disputen (S. 152). Der Leser denkt erst, es geht um Cassirer und Heidegger, doch nein: Es geht um Tillich und Przywara. Die Fußnoten beginnen ihre Nummerierung mit jedem Kapitel neu: Nachschlagen wird zur Qual. Hinzu kommt, dass man an vielen Stellen des Buches nicht so recht weiß, ob Zorn nun als Autor spricht, oder ob er lediglich einen Autor der Postmoderne referiert. Die Übergänge sind offenbar bewusst fließend gestaltet worden.

Wirft man hingegen einen Blick in Zorns wissenschaftliches Buch „Vom Gebäude zum Gerüst“, wird man positiv überrascht: Dort wird alles ausführlich erklärt, dort sind die Überschriften hilfreich, dort sind die Fußnoten tatsächlich am Fuß derselben Seite, und dort gibt es auch ein Literatur- und Autorenverzeichnis. Die Unverständlichkeit der „Krise des Absoluten“ ist kein Zufall, kein bloßes Versagen z.B. des Verlages (aber das auch).

Enttäuschung Nr. 4

Auch „das Absolute“, das dem Buch den Titel gegeben hat, ist eine Enttäuschung. Zunächst beginnt es noch harmlos und vielversprechend: Mit dem „Absoluten“ ist zu Beginn die Voraussetzung des Denkens gemeint, die dem Denken einerseits vorausgeht, andererseits vom Denken gedacht werden muss, um sie zu erfassen. Ein reflexives Erkenntnisproblem, ein Kernproblem der Philosophie. Doch das Absolute bleibt schillernd. Eine Definition, auf die sich dieses Buch stützen würde, wird nicht wirklich gegeben. Vielmehr kommen auf den nächsten zweihundert Seiten viele weitere Auffassungen des Absoluten hinzu, die sich keineswegs ineinander überführen lassen, doch alle werden kurzerhand als „das Absolute“ angesprochen. So z.B. Gott als das Absolute, oder auch absolute politische Geltungsansprüche. Diese Dinge sind nicht wirklich dasselbe. Man kann zwar argumentieren, dass diese Dinge miteinander zusammenhängen, aber sie sind dennoch verschiedene Dinge, und aus dem einen folgt zumindest nicht zwingend das andere. Schwerwiegende Denkfallen lauern überall hinter diesen Gleichsetzungen. Ist das Schwärmerei? Der Leser wundert sich und ist verwirrt.

Erst auf S. 235 kommt eine teilweise Auflösung: Erst jetzt macht das Buch explizit, was der Leser über 200 Seiten hinweg in schweigender Duldsamkeit erfahren hat: Es gibt drei verschiedene „Momente“ des Absoluten, liest man da. Aber sogleich wird ein Schema von vier verschiedenen Absolutheiten nachgeschoben (S. 246). Wenn man genau mitgezählt hätte, wären es sicher noch mehr. Und auch im folgenden kommen viele weitere hinzu. Und alles wird „das Absolute“ genannt. Warum, wird nicht erklärt. Da schwurbelt das Buch: Es wird in oberflächlichen Analogien geschwärmt. Ob der Autor das wirklich alles erklären könnte? Wir vermuten zudem, dass das Buch sich im Wesentlichen auf den Begriff des Absoluten bei Hegel stützt. Doch wir wissen es nicht. Es bleibt ungesagt.

Im weiteren Verlauf des Buches verflacht der Begriff des „Absoluten“ zu einem eher politischen und gesellschaftlichen Begriff. Anders, als der Leser erwartet hatte, geht es jetzt nicht mehr um einen Kernbereich der Philosophie, sondern eher um politische Philosophie. Vermutlich würde der Autor es anders sehen wollen. Doch so stellt es sich dem Leser dar. Jetzt bekommen wir eine Darstellung der gesamten Geschichte seit Platon präsentiert, in der es immer wieder um die Krise des Absoluten ging. Wir lesen davon, dass auch der Absolutismus in Frankreich das Absolute war, und dass auch die Vordenker der französischen Revolution über das Absolute nachdachten. Und jetzt ist z.B. auch der Vorgang der Industrialisierung eine Krise des Absoluten. Zuletzt wird auch die physikalische Energie von Dampfmaschine und Elektromotor als „das Absolute“ angesprochen (S. 300), zuguterletzt auch der Goldstandard des Dollars (S. 514). Im Grunde gerät nun die ganze Geschichte der Menschheit zu einer einzigen Dauerkrise des Absoluten. Und damit hat sich das Versprechen des Buchtitels von der Krise des Absoluten in philosophisches Kleingeld verwandelt. Das Absolute und seine Krise, das sind keine seltenen und unbekannten Dinge, die es durch dieses Buch neu zu erfahren gilt, sondern das ist gewissermaßen die altbekannte, stets krisenhafte conditio humana zu allen Zeiten. An dieser Stelle fragt sich der Leser: Und dafür dieses Buch?

In diesen Zusammenhang gehört auch die gebetsmühlenartig wiederholte These, dass das Absolute und die Vielfalt korrespondieren. Auch diese Beziehung wird eher schwärmerisch in assoziativen Analogien beschworen als erklärt (z.B. die vielen Währungen und der eine Goldstandard, S. 514 f.), und der Leser hat den Eindruck, dass hier Äpfel mit Birnen verwechselt werden: Mal zeigt sich das Absolute in der Vielfalt, man kann es nur in der Vielfalt erfassen (reflexive Denkvoraussetzung) – mal stehen sich Vielfalt und das Absolute antagonistisch gegenüber (Absolutheit des Geltungsanspruchs gegen die Vielfalt). Jedenfalls spricht der Autor in einer Weise von der Gefahr des Absoluten und von der Vielfalt in der Gesellschaft, dass ein Bezug zu philosophisch „flachen“ Themen wie Multikulti und Diversity nicht übersehen werden kann. Der Leser ist skeptisch, ob der Bogen von einem Kernproblem der Philosophie wirklich zu diesen Dingen geschlagen werden kann, und ob das überhaupt noch Philosophie ist oder nicht vielmehr politische Weltanschauung und Agitation. Doch weiter.

Enttäuschung Nr. 5

Chronologisch wird der Leser von dieser Enttäuschung schon früher ereilt, doch die ganze Tragweite erschließt sich erst mit der Zeit: Der Autor übernimmt keine Verantwortung für sein Buch, sondern lässt alles in der Schwebe, wie es sich für die Postmoderne gehört.

Zu Anfang wird wiederholt darauf hingewiesen, dass die vorgelegte Darstellung der Postmoderne lediglich aufzeigt, „was die Postmoderne hätte sein können“ (S. 47 f.), aber – so folgt zwingend, auch wenn es in dieser Form ungesagt bleibt – vielleicht war die Postmoderne auch etwas ganz anderes. Das ist starker Tobak. Es ist in Ordnung, wenn ein Autor seinen Text einen „Essay“ nennt, also einen „Versuch“, sich einem Thema zu nähern. Wir alle wissen, dass man sich der Wahrheit nur annähern kann, und wir alle versuchen dies, so gut wir eben können, und scheitern doch immer irgendwo. Aber was hier als Anspruch formuliert wurde, ist das Gegenteil eines Anspruchs: Wenn es doch nicht so war, dann war es halt eben anders: Pech gehabt! Diese unphilosophische Frechheit ist natürlich ein Markenzeichen der Postmoderne (Vgl. z.B. S. 350, 562 ff.).

Zugleich wird damit auch die Erwartungshaltung enttäuscht, die der Untertitel „Was die Postmoderne hätte sein können“ beim Leser aufgebaut hatte: Der Leser dachte natürlich, dass die Postmoderne etwas Wichtiges und Richtiges „hätte sein können“, aber dann vom Weg abkam, und dass dieses Buch dieses Wichtige und Richtige, das „hätte sein können“, aufzeigt und damit Ansätze und Anteile der historischen Postmoderne für die Gegenwart rettet. Aber nein, die Postmoderne wird nicht differenziert und gereinigt sondern pauschal betrachtet, und es geht nur darum, dass die Postmoderne so „hätte sein können“, wie beschrieben, was immer einschließt, dass sie vielleicht auch anders war.

Enttäuschung Nr. 6

In diesem Buch ist die Postmoderne eine durch und durch richtige und gute Sache. Sie erscheint (!) völlig rational und geradezu septisch rein von allen bösen Dingen, die wir gemeinhin mit der Postmoderne assoziieren. So ist z.B. von einer Philosophie die Rede, „die nichts mit ‚postmoderner‘ Beliebigkeit, mit bloßer Ästhetik oder wahrheitsfeindlichem Relativismus zu tun hat.“ (S. 431) In der Rezeptionsgeschichte der Postmoderne sind dann alle Kritiker der Postmoderne durch die Bank unfair und polemisch (S. 528-549). Diese allzu reine Reinheit der überguten Postmoderne und diese allzu böse Bosheit ihrer Kritiker ist vollkommen unglaubwürdig und man fragt sich, ob der Autor nicht bemerkt hat, dass er sich damit ins eigene Knie schießt?

Hier wird sogar Nietzsches Übermensch zu einem weichgespülten Multikulti-Übermenschen, der gelassen und sogar zustimmend dabei zusieht, wie seine eigenen Interessen in dem großen Gezerre der Interessen von den vielfältigen Anderen ignoriert und zertrampelt werden (S. 331). Hat man sich aber den Übermenschen nicht eher so vorzustellen, dass vor allem er es ist, der in dem Gezerre der Interessen die vielen anderen über den Tisch zieht, und ihnen seinen Willen aufnötigt? Und wo ist denn Nietzsches Idee von der Züchtung einer Herrenkaste und der Eliminierung der Entarteten? Wie auch immer: Der Autor hat in diesem Buch völlig vergessen zu erwähnen, dass Nietzsches Werk dermaßen „literarisch“ ist, dass es eben keine einigermaßen einheitliche Deutung von Nietzsche gibt. Wir sehen hier Zorns Nietzsche. Aber nicht Nietzsche. Nietzsche ist schon lange tot.

An einer Stelle heißt es beiläufig: „Nur wenn man davon ausgeht, dass es nur die eine Wahrheit geben kann, wird die Pluralität der Philosophie zu einem unlösbaren Problem.“ (S. 397) Dass damit die Einheit der Wahrheit aufgegeben wird, der wir alle gemeinsam nachstreben und um die wir alle gemeinsam ringen, bleibt ungesagt. Die Konsequenzen dieser beiläufig referierten postmodernen These, dass es die eine gemeinsame Wahrheit nicht geben würde, sind absolut dramatisch und dramatisch absolut – und bleiben hier völlig unbesprochen! Honi soit qui mal y pense?

Um die Akzeptabilität der Postmoderne zu untermauern, werden zahlreiche Autoren an die Postmoderne „rangepflanscht“, die wir keinesfalls zur Postmoderne zählen wollen. Darunter Joachim Ritter und seine Schule oder Theodor W. Adorno.

Andere Autoren mit starkem Bezug zum Thema fehlen, und es ist völlig unverständlich. So z.B. Hannah Arendt, die immerhin als wichtige Denkerin zum Totalitarismus gilt und damit eine Hauptautorin zum „Absoluten“ ist! Noch dazu hatte sie bei Heidegger studiert. Auch Zorn selbst verwendet das Wort „totalitär“ immer wieder zur Beschreibung des Absoluten (z.B. S. 120, 125, 216, 332), doch Hannah Arendt kommt nicht vor. Ob die Idee des Antitotalitarismus nicht in das Konzept des Autors passte? Karl Jaspers, ein berühmter Existenzphilosoph im Umfeld von Heidegger und Hannah Arendt, wird nur einmal erwähnt, aber nicht als Philosoph, sondern als „Psychiater“ (S. 88). Auch die Phänomenologin Edith Stein fehlt, immerhin Assistentin Husserls und in dieser Rolle direkte Vorgängerin Heideggers, die sich Gott zuwandte und in Auschwitz ermordet wurde: Mehr Krise des Absoluten geht gar nicht. Aber sie fehlt. Blankes Schweigen herrscht über den „Prager Frühling“ 1968. Wer von Paris 1968 spricht, darf von Prag 1968 nicht schweigen. Zudem hätte sich eine Erwähnung besonders angeboten, denn mit Jan Patocka spielte ein Phänomenologe eine wichtige Rolle. Patocka war auch der geistige Ziehvater von Vaclav Havel, der 1989 eine erfolgreiche bürgerliche Revolution anführte. Aber Schweigen.

Enttäuschung Nr. 7

Wenn der Leser gegen Ende des Buches auf Zorns vernichtende Kritik an Habermas und anderen Kritikern der Postmoderne stößt, ist er geradezu daraufhin konditioniert, um nicht zu sagen: manipuliert worden, diese Kritiker nicht verstehen zu können. Der unkritische Leser wird deren Kritik für genauso unfair und polemisch halten, wie das Buch sie darstellt.

Dieses Gefühl, manipuliert worden zu sein, gefällt überhaupt nicht. Überdies fühlt sich der Leser hilflos. Denn obwohl man sich gerade durch ein sehr dickes und schwieriges Buch zur Postmoderne hindurchgequält hat, fühlt man sich nicht hinreichend und auch nicht verlässlich informiert, um eine eigene Abschätzung abgeben zu können, ob und inwieweit die Kritiker irren. Man traut der Sache nicht, kann ihr gar nicht trauen. – Und über allem schwebt das Diktum, dass dieses Buch ja nur sagen will, was die Postmoderne vielleicht hätte sein können, vielleicht aber dann doch nicht war.

Enttäuschung Nr. 8

Was dieses Buch hätte leisten müssen, wäre ein großes Aussortieren, Reinigen und – wo möglich – teilweises Erneuern der Postmoderne gewesen: Aus den rauchenden Trümmern der Postmoderne mit all ihren Fehlern und Maßlosigkeiten hätte herausgearbeitet werden müssen, was aus dem Schutt gerettet werden kann und Bestand hat. Doch von dieser notwendigen Kritik fehlt in diesem Buch jede Spur. Der Leser ist ja durchaus bereit, sich auf vieles einzulassen. Es ist offensichtlich, dass nicht alles schlecht war an der Postmoderne. Aber ohne dieses Sortieren geht es nicht. Denn so sicher, wie die Postmoderne manchen wertvollen Gedanken formulierte, so sicher schoss sie auch über das Ziel hinaus.

Wir würden z.B. gerne davon hören, warum Foucault Freiheit im Traum zu finden glaubte (S. 93 f.). Der Leser findet bei eigener Introspektion nämlich, dass Träume zwar sehr phantasievoll sein können, frei jedoch fühlt man sich in ihnen keinesfalls. Es wäre auch interessant herauszufinden, ob das Ereignis, das dieses Buch mit den Worten „Foucaults Hass kennt keine Grenzen“ beschreibt (S. 344), völlig unverbunden zu Foucaults Denken sein konnte? Wir verstehen die Motivation Foucaults sehr gut, aber Hass? „Grenzenloser“ Hass?! Nein. Wir würden auch gerne wissen, warum Foucault die mörderische Tyrannei von Khomeini im Iran verharmloste, und ob das nicht doch sehr viel mit seinem Denken zu tun hatte. Von seinem teils fragwürdigen Sexualverhalten, das Foucault teilweise selbst mit seinem Denken in Verbindung brachte, mal ganz abgesehen. Doch davon kein Wort in diesem Buch.

Es ist zu fragen, warum die Zielrichtung der Kritik der Postmoderne immer fundamental gegen die bestehende Ordnung gerichtet war, gegen „das System“, wie dieses Buch sehr gut herausarbeitet. Ist das nicht ein wenig kindisch? Irgendeine Ordnung muss es ja geben. Vielleicht hat die bestehende Ordnung auch ihr gutes? Und vielleicht kommt nach der erfolgreichen „Überwindung“ der bestehenden Ordnung nichts besseres nach? Hier fehlt doch einfach der Blick auf das Ganze. – Und wenn es der Postmoderne wirklich darum ginge, die herrschende Ordnung zu hinterfragen, und „das System“ mit inkommensurablen Interventionen zu irritieren, warum wird dann die irritierende Frage nach Gott nicht gestellt, sondern abgeräumt? (S. 235, 330) Ist das die Inkohärenz der Inkohärenz der Postmoderne?

Ebenso auffällig ist die völlige Verhaftetheit dieser Denker in ihrer Zeit und ihrem Zeitgeist. Es ist eine seltsame Verschränkung von Philosophie und Zeitgeist, also eine Philosophie, die gar nicht nach der Wahrheit an sich fragt, sondern nach der geistigen Stimmung zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt. Da ist z.B. Nietzsches Gejammer über den Tod Gottes, den „wir“ angeblich getötet haben. Damit reflektiert Nietzsche den Geist seiner Zeit. Aber sollen denn auch wir, die wir sowohl die vielfältigen Verläufe der Geschichte überblicken, als auch besser über die Gottesfrage Bescheid wissen als jene Menschen, die dem Zeitgeist ausgeliefert sind, uns diesem Diktum anschließen? Nein. Das Gejammere Nietzsches über den Tod Gottes ist unter philosophischen Gesichtspunkten dumm und kindisch. Ein Gegenbeispiel ist Platon, der die Zyklen der Zeit zu überblicken versuchte.

Wir würden auch gerne wissen, ob es nicht eine maßlose Übertreibung ist, hinter dem reflexiven Wechselgeflecht des Strukturalismus eine völlige Ablösung von den zugrunde liegenden Realitäten zu sehen. Das Buch zieht eine Analogie zu den Finanzmärkten, an denen Derivate gehandelt werden, also Preise und Preiserwartungen, aber keine echten Waren mehr: „Es ist nicht so, als ob es die Welt, auf die diese Werte sich beziehen, nicht gäbe. Sie existiert. Doch sie spielt für die Bewertung keine Rolle mehr.“ (S. 523 f.). – Doch das ist falsch. Die den Derivaten zugrunde liegenden Realitäten spielen für die Bewertung sehr wohl eine Rolle. Es ist vielmehr eine fahrlässige Risikokontrolle, die dazu führt, dass sich Finanzmärkte allzu weit von der Realität entfernen und in luftige Höhen abheben – und dann irgendwann zwangsläufig eine sehr harte Landung erleben. Mit den Finanzmärkten ist es wie mit der Fliegerei: Runter kommen sie immer. Damit verkehrt sich das gegebene Beispiel zu einem Argument gegen (!) die Postmoderne: Wurde nicht auch hier allzu leichtfertig die zugrunde liegende Realität vergessen und zu Höhenflügen angesetzt, die mit einer harten Landung enden müssen? Derselbe Irrtum unterläuft dem Autor noch ein zweites Mal beim Thema der Ablösung der Währungen vom Goldstandard (S. 515, 522): Es ist falsch, dass Währungen sich losgelöst von jeder Realität nur noch gegenseitig bewerten. Denn jeder Ausgabe von Geld steht die Einlage eines Wertpapiers bei einer Zentralbank gegenüber: Das ist harte Realität. Zentralbanken können natürlich dazu übergehen, wertlose Wertpapiere als Einlagen zu akzeptieren. Aber das führt dann in die Inflation. Runter kommen sie immer. Nichts schwebt frei.

Stellvertretend für alles, was der Autor über die Postmoderne ungesagt lässt, möchte der Rezensent das Büchlein „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ von Paul Veyne 1983 anführen, das er selbst gelesen und rezensiert hat. Paul Veyne war mit Foucault eng befreundet und übertrug das postmoderne Denken 1971 in seiner Schrift „Comment on écrit l’histoire“ auf die Geschichtsschreibung. Paul Veyne ist ein Urgestein der Postmoderne. Das Büchlein wird u.a. auch von Slavoj Zizek empfohlen, der wiederum von Zorn geschätzt wird. Es ist ein Machwerk voller maßloser und falscher Ideen, eine Orgie der Anti-Rationalität und des Relativismus, des Zynismus und der Menschenfeindlichkeit. Alle Vorurteile gegen die Postmoderne werden hier bestätigt. Doch dieser Realität stellt sich das Buch von Zorn nicht. Das wäre aber verlangt gewesen.

Enttäuschung Nr. 9

Dieses Buch realisiert nicht, dass die Postmoderne keinesfalls ein Antidot gegen das Absolute ist, sondern dass die Postmoderne selbst zu einem Absoluten geworden ist, das unerwünschte Extreme hervorbringt. Das ist fast schon tragisch. Zorn beschönigt die Postmoderne absolut.

Da ist zunächst die maßlose Überziehung und Übertreibung von an sich richtigen Grundgedanken durch die Postmoderne. Doch der Mensch ist ein begrenztes Wesen. Komplexität muss reduziert werden. Es ist nicht möglich, Rücksicht auf alles zu nehmen, selbst wenn man das wollte. Noch zu Anfang des Buches wird auf Nietzsches Erkenntnis verwiesen: „Das Absolute ist nur das Missverständnis einer Vielfalt, die so radikal ist, dass sich das alltägliche Denken bei ihr nicht lange aufhalten kann.“ (S. 48) Am Ende des Buches fehlt diese Einsicht. Gutes Denken denkt die Praktikabilität immer mit. Wer hingegen versucht, auf Teufel komm raus Probleme mithilfe filigraner Theorien zu lösen, die an der groben Praxis scheitern müssen, endet zwangsläufig in Extremen. Man muss die Kirche im Dorf lassen können.

Die Postmoderne ist keine Philosophie nach menschlichem Maß. Und der Mensch wird immer das Maß für den Menschen bleiben, eben weil der Mensch ein Mensch ist. Die Vorstellung, dass der Mensch den Menschen erst vor wenigen Jahrhunderten als Maßstab entdeckt hat, und dass es jetzt gilt, den Menschen wieder zu verabschieden, ist unsinnig, falsch und extrem. Das Ringen um das Wesen des Menschen wird kein Ende nehmen, solange es Menschen gibt. Die Idee des Menschen ist vielleicht die einzige Idee, die man getrost zum Absoluten machen kann, eben weil der Mensch ein Mensch ist. Vielleicht auch noch ein dazu korrespondierender Gott, vielleicht. Auf diese Weise wird das Absolute als Trennendes unter den Menschen neutralisiert. Die Absolutheit der Menschenrechte rührt daher. Aber ein solcher Gedanke fehlt in diesem Buch.

Statt dessen wird der Leser mit Deleuze und Guattari konfrontiert, die in einer kommunistischen Klinik die „originelle“ Idee aushecken, dass der Kapitalismus die Krankheit der Schizophrenie hervorbringe (S. 455 ff.). Später liest man dann, dass die beiden eigentlich gar nicht die Krankheit Schizophrenie meinten, sondern mit diesem Wort etwas anderes meinten (S. 466). Typisch Postmoderne. Oder da ist Lyotard, der das Bündnis mit den Arbeitern gegen die herrschende Klasse sucht (S. 476): So flach kann Postmoderne sein.

Überhaupt das fundamentalistische Aufbegehren gegen die herrschende Ordnung, gegen „das System“. Es geht immer ums Kaputtmachen. Nie ums Aufbauen. So einfach kann man es sich aber nicht machen. Wir erinnern daran, dass z.B. auch die Menschenrechte „zum System“ gehören. Lyotard meint, dass es völlig sinnlos sei, über eine Reform der Universität und ihrer Lehrinhalte nachzudenken, denn der Dozent würde immer nur konsumierte Lehrinhalte reproduzieren und auf diese Weise Studenten zu Arbeitskräften für den Kapitalismus ausbilden (S. 480). Abgesehen davon, dass Lyotard hier eine sehr zynische Auffassung seines eigenen Lehrberufes zu erkennen gibt: Ist es nicht maßlos übertrieben, dass Lyotard trotzig auf einer utopischen Fundamentalkritik beharrt und darüber womöglich nützliche Reformen pauschal verwirft? Gewisse Defizite von Foucault sprachen wir oben schon an. – Es gibt gute Gründe, solchen Menschen nicht zu vertrauen.

Es wird auch die Wende zur völligen Dominanz des Marktes unter Reagan und Thatcher beklagt (S. 519 ff.). Doch es wird kein Grund dafür angegeben, wieso es eigentlich dazu kommen konnte. Wäre es nicht möglich, dass gerade linke und postmoderne Denker den Boden dafür bereitet haben? Denn sie waren es, die die klassische bürgerliche Bildung diskreditiert haben, die ein Gegengift gegen die Verabsolutierung der Märkte gewesen wäre. Sie waren es, die den Fokus völlig auf das Ökonomische und den Hedonismus gelenkt haben. Sie haben Sinnangebote jeglicher Art zerstört, bei Gott angefangen (S. 330), und sich als erste dem Konsum hingegeben. Sie sind schuld daran, dass die Menschen über keine eigenen geistigen Ressourcen mehr verfügen, mit denen sie den Vereinnahmungen des Marktes und des Konsums entgegentreten könnten. „Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los!“, ruft Goethes Zauberlehrling.

Der Rezensent verweist noch einmal auf das Beispiel des Büchleins „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ von Paul Veyne, dessen Lektüre eine traumatische Erfahrung war. Es ist wirklich ein Machwerk voller maßloser und falscher Ideen, eine Orgie der Anti-Rationalität und des Relativismus, des Zynismus und der Menschenfeindlichkeit. Kurz: Die Postmoderne ist selbst extrem und „absolut“, daran kann kein Zweifel sein. Doch Zorn scheint das nicht zu sehen. Oder nicht sehen zu wollen.

Enttäuschung Nr. 10

Ein wirkliches Antidot gegen die Gefährlichkeit des Absoluten wäre eine klassische, bürgerliche, humanistische Bildung. Auch und gerade in einer „Massengesellschaft“, die ihre „Vermassung“ ja gerade nicht ihrer großen Zahl verdankt, sondern eben dem Verlust der höheren Bildung als Ideal und der Orientierung auf Konsum. Doch diese Idee wird in diesem Buch in Form des Ansatzes von Joachim Ritter (S. 269, 510 f.) nur sehr zurückhaltend behandelt. Im Epilog, auf der vorletzen Seite und als letzte inhaltliche Botschaft des gesamten Buches, reibt Zorns Adorno Joachim Ritter noch einmal kräftig unter die Nase, warum er davon nicht viel hält (S. 580). Der Zauberlehrling mag die Weisheit des alten Meisters nicht. Er wird immerhin noch geduldet.

Der Rezensent möchte an der Idee des gebildeten Menschen als einem selbständigen Leser und Denker festhalten. Platon und Kant, Goethe und Schiller, Thomas Mann und Hermann Hesse, Cicero und die Federalist Papers, um es einmal ganz platt zu sagen. Eine solche Bildung schützt allein durch ihre Vielheit vor Absolutheiten, indem sie viele Facetten des Denkens und Lebens kennengelernt hat. Indem sie viele Beispiele aus der Geschichte kennt, wie sich anfänglich gute Gedanken verabsolutierten. Und indem sie durch ihr vieles Weltwissen Probleme richtig einzuordnen weiß. Der gebildete Mensch wird niemals den Markt oder die Ökologie oder die Wissenschaft verabsolutieren, wie es heute geschieht, sondern er wird immer sagen: Marktwirtschaft ist sehr nützlich, aber nicht hier. Oder: Naturschutz ist wichtig, aber nicht so. Oder: Wissenschaft ist unverzichtbar, aber der real existierende Wissenschaftsbetrieb ist kein unfehlbares Konzil, das gläubige Unterwerfung verlangen könnte.

Eine solche Bildung ermöglicht erst eigenes weltanschaulich-philosophisches und politisches Denken. Schon mit Platon lernen wir, dass wir im Grunde nichts wirklich wissen, und wie wir der Wahrheit schrittweise durch Argumente nachstreben. Erkenntnis ist ein Riesennetzwerk von sich gegenseitig stützenden Einzelerkenntnissen verschiedener Wahrscheinlichkeit, und jede neu hinzukommende Erkenntnis verändert die Gewichte in diesem Netzwerk aufs neue. Die Wahrheit selbst ist nur schwierig oder gar nicht zu erlangen. Statt dessen muss man sich wie Münchhausen an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf der Erkenntnis ziehen, indem man Vieles mit Vielem abgleicht. Intellektuelle Demut ist angesagt. Wir können nicht alles verstehen, und es gibt Probleme, die wir nicht lösen können. Wer sie dennoch zu lösen versucht, muss in Extremen enden. Die Welt ist komplexer als wir erfassen können. Das ist triviale Allgemeinbildung. Aber darauf kann man aufbauen.

Gesellschaften brauchen ein gewisses Maß an Freiheit, sonst sind sie zu eng, aber auch ein gewisses Maß an Zusammenhalt, sonst fallen sie auseinander. Dass aus der allzu großen Freiheit der Tyrann wie ein frischer Trieb aus einem totgeglaubten Wurzelstock hervorschießt, lesen wir schon bei Platon und Cicero. Konsequentes Multikulti kann es paradoxerweise nur in einem autoritären Staat geben, wie Helmut Schmidt schon feststellte. Zorn selbst beschreibt mit Koselleck, wie sich der politische Absolutismus zur Befriedung der vielfältigen konfessionellen Gegensätze herausbildete (S. 493). Ungebildete Menschen plärren für Multikulti oder für Monokulti. Der gebildete Mensch sucht nach integrativen Lösungen praktischer Natur, z.B. Transkulturalismus statt Multikulturalismus, damit das absolut notwendige Gemeinsame über dem Vielen nicht verloren geht, und umgekehrt. Ideale Lösungen allzu filigraner Natur gibt es aber nicht. Gesellschaft und Demokratie werden immer holprig und grob geschnitzt bleiben, denn der Mensch ist selbst aus krummem Holz geschnitzt. – Solche Probleme werden bei Zorn aber nur ganz kurz und kryptisch angedeutet (S. 559 unten), und es ist wieder einmal nicht sehr klar, was er da eigentlich meint. Es bleibt auch unverständlich, wie denn das Gemeinsame kein Absolutes sein soll.

Richard Rortys Metaphilosophie meint man schon in Albert Schweitzers Kulturphilosophie begegnet zu sein, sowie in dem trivialen Gedanken, dass auch ein pluralistisches Gemeinwesen nicht alles akzeptieren kann, sondern nur das, was den Zusammenhalt des Gemeinwesens nicht sprengt. Und dazu gehört weit mehr als nur Verfassung und Vernunft, denn es geht um Menschen, nicht um Roboter.

Dass Systeme die Tendenz haben, einzurosten und sich von ihrer ursprünglichen Zielsetzung zu entfernen, gehört zum kleinen Einmaleins der Gesellschaftskunde. Systeme brauchen von Zeit zu Zeit eine Reform, sonst erstarren sie. Dasselbe gilt für Denksysteme. Wichtig ist der offene Diskurs, dass alles auf den Tisch kommt. Konsequenz ist gut, aber Fanatismus ohne Selbstkorrekturfähigkeit ist schlecht. Man hätte in diesem dicken Buch über das Absolute gerne auch die Weisheit gefunden, dass sich die Extreme gegenseitig wie kommunizierende Röhren aufschaukeln. Doch sie fehlt. Linke, die sich z.B. über die rechtsradikal gewordene AfD von Gauland und Höcke beklagen, sollten sich zuerst einmal an die eigene Nase fassen: Der ungebremste Durchmarsch linker Politik übersah, dass politisch Andersdenkende nicht verschwinden, wenn man ihnen die politische Vertretung wegnimmt. Die Idee einer Demokratie, in der es nur noch Linke gibt, ist eine granatenmäßige Schnapsidee. Ganz zu schweigen davon, dass die ungebremst durchgezogene linke Politik zwangsläufig mit der Realität kollidiert. All das schafft Radikalismus von der anderen Seite her, den es sonst nicht gegeben hätte. Umgekehrt wäre es übrigens genauso. – Damit genug der einfachen Wahrheiten, die wir in diesem Buch über Vielfalt und das Absolute so leider nicht finden konnten.

Enttäuschung Nr. 11

Der Autor des Buches ist selbst „absolut“. Das enttäuscht natürlich sehr, denn ist dies nicht ein Buch gegen das Absolute? Sowohl dieses Buch als auch andere öffentlich zugängliche Quellen machen deutlich, dass der Autor die Thesen der Postmoderne in ihrer Absolutheit, siehe oben, gar nicht reformiert. Zwar zählt der Autor ganz zu Anfang in knapper Form einige heutige Übertreibungen der Postmoderne auf (S. 9 f.), doch bei genauem Lesen erkennt man, dass er hier lediglich Meinungen über die Postmoderne referiert, aber seine eigene Meinung offenlässt. Zorn lässt den Leser denken, dass auch er diese Übertreibungen als Übertreibungen sieht, doch tatsächlich hat er nichts dergleichen gesagt. Nirgends in diesem Buch leistet Zorn die nötige Aussortierung von Übertreibungen und Brauchbarem. Im Grunde werden die anfangs referierten „Vorurteile“ gegen die Postmoderne im Verlauf des Buches nicht widerlegt sondern bestätigt. – In einer Talkshow sagte Zorn: „Ich bin … ich weiß nicht … ich bin selber kein postmoderner Philosoph … Ich habe nicht das Denkproblem, das die haben. Ich begnüge mich damit, die Geschichte zu erzählen.“ Wir können das nur so deuten, dass er über die Postmoderne hinaus will, aber sehr wohl mit und auf der Grundlage der Postmoderne. Insofern ist er natürlich sehr wohl postmodern. Wer nur das Buch gelesen aber nicht diese Talkshow gesehen hat, wird Zorn ohne weiteres für einen postmodernen Denker halten bzw. für einen post-postmodernen, „bildenden“ Philosophen im Sinne Rortys (S. 562). Es wäre ja seltsam, wenn Zorn auf der einen Seite die Postmoderne rehabilitiert, auf der anderen Seite aber sagen würde: Ich selbst halte nichts davon.

Politisch steht Zorn offenbar sehr weit links. Zu Marx scheint er ein tiefenentspanntes Verhältnis zu haben. Sein Geschichtsbild legt Zorn selbst in diesem Buch dar (vor allem S. 484-486). Wir haben es jedenfalls als Zorns Geschichtsbild gelesen. Liberale und Konservative kommen darin nicht gut weg. Habermas ist ihm zu konservativ, wie der frontale Angriff auf Habermas in diesem Buch und Aussagen in Talkshows deutlich machen. Das Milieu, in dem Zorn sich bewegt, spricht Bände. Auf Twitter pflegt Zorn mit Andersdenkenden einen teils inquisitorischen (vgl. Derridas zwängende Lektüre S. 360 f.), teils auf hanebüchene Irritation setzenden Gesprächsstil. Die Postmoderne lässt grüßen. Es ist auch befremdlich, wie „Rechte“ automatisch als Problemfälle der Demokratie, also als „Rechtsradikale“ eingeordnet werden, während für „Linke“ ganz andere Maßstäbe angelegt werden. Jeder kann sich in Zorns Büchern, in Medien und auf Twitter selbst davon überzeugen. Der Punkt ist: Wir sehen eine Absolutheit, die uns erschreckt.

So stellt es sich uns dar: Mit Daniel-Pascal Zorn ist wieder einmal ein Intellektueller der Versuchung erlegen, die innere Schlüssigkeit seines großartigen Gedankengebäudes für wahr zu halten, ohne dabei hinreichend auf die Rückbindung an die Realität geachtet zu haben. Und in diesem Gedankengebäude ist er nun gefangen wie die Kindliche Kaiserin in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ in ihrem Elfenbeinturm. Das ist es im Kern. Das ist die Entzauberung Zorns.

Die Abgehobenheit Zorns von der Realität zeigt sich auch in folgenden Aussagen: Seiner Meinung nach ist die menschliche Gesellschaft durch die Dominanz des Marktes in einen Zustand der „Künstlichen Intelligenz“ eingetreten, die unaufhaltsam ein Programm hin zu mehr Freiheit, Emanzipation, Vielfalt und Identität abarbeitet (S. 559). Mit anderen Worten: Die Entwicklungen rund um den Wokismus, mit ihren maßlosen Übertreibungen, deutet Zorn zwar noch nicht als die Erfüllung seiner wahren Utopie, aber doch immerhin als eine Zunahme an Freiheit. (Ein Blick auf seine Twitter-Tweets und seine Aussagen in Talkshows bestätigen das.) – Da kann man nur staunen: So „zwängend“ hatten wir uns Freiheit nicht vorgestellt. Was für Untiefen lauern da in Zorns Denken?

Oder ein anderes Beispiel: Zorn übersieht völlig die Entwicklungen, die durch eine Zuwanderung ohne hinreichende Integration vonstatten gehen, wie wir sie den Vielfalt-Schwärmern zu verdanken haben: Immer mehr Menschen in unserem Land haben kein hinreichend aufgeklärtes mind-set mehr. Immer mehr Frauen und junge Männer in unserem Land stehen unter der Knute eines Patriarchen. Während diese Rezension entsteht, wird Salman Rushdie bei einem Messerangriff schwer verletzt. Und in Dortmund nehmen Politiker an einer großen, öffentlichen Trauerfeier teil, auf der ein Gewalttäter (er hatte Polizisten mit einem Messer angegriffen) wie ein Märtyrer gefeiert wird – nur um die „Community“ zu beschwichtigen. Immer mehr Stadtteile verschwinden in dem nebelhaften Nichts vormoderner Zustände: Phantásien in Not! Doch Zorn ist ein Meister im Wegsehen und formuliert, wie wenn es die Realität nicht gäbe: „Gott, das religiöse Absolute, hat seine Macht über die Menschen verloren, zugunsten von Säkularisierung, Aufklärung und Fortschritt.“ (S. 235) und: „Die progressive, an Freiheit und Emanzipation orientierte Weiterentwicklung der Gesellschaft ist längst ein Operationsmodus dieser Künstlichen Intelligenz geworden“ (S. 559).

Sein Programm für die Gegenwart und die Utopie für die Zukunft hat Zorn (mit Lyotard und Rorty) auf den Seiten 558-564 beschrieben. Oder ist es doch nicht sein Programm? Wir haben es so gelesen, denn Zorn spricht auf S. 560 von „man“: „Man bräuchte die Postmoderne …“, und: „Bis es so weit ist, kann man sich an die zweite Bestimmung der Postmoderne halten.“

Wer auf Twitter genau aufpasst, erfährt, dass der Romantiker Novalis für Zorn der wichtigste Denker überhaupt zu sein scheint, der am weitesten gedacht habe (in Sachen Reflexivität, das große, alles überspannende Thema Zorns). Zorn will Novalis nicht als Romantiker verstanden wissen. Doch romantischer als Novalis geht es kaum. In seinen „Lehrlingen zu Sais“ hat der Romantiker Novalis einen Gegenentwurf zum „Verschleierten Bild zu Sais“ des Klassikers Schiller gewagt. Das verschleierte Standbild zu Sais verkörpert symbolisch die Erkenntnis letzter Wahrheit, also das Absolute. Doch die Gottheit hat verboten, den Schleier zu lüften. Diesen Schleier lüften: Genau das tut Novalis. Und Zorn gefällt’s. Aber ist Zorn damit nicht offensichtlich auf dem Weg zum … Absoluten?!

Bei Schiller geht die Sache (natürlich) nicht gut aus, und Schiller gibt uns die bedenkenswerten Worte mit auf den Weg:

Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe
.

Enttäuschung Nr. 12

Enttäuschend ist auch, in wie viele Selbstwidersprüche sich der Autor verwickelt. Da wird z.B. Vielfalt und Emanzipation befürwortet (für wen eigentlich? Das Wort Feminismus wird konsequent vermieden). Zu diesem Zweck vollführt der Autor einige moderate sprachliche Verrenkungen, bleibt dabei aber inkonsequent: So schreibt er meistens das gestelzte „Studierende“ (S. 155), manchmal aber einfach „Studenten“ (S. 154). Meistens ist von „Philosophen“ die Rede (S. 422), manchmal von „Philosophinnen und Philosophen“ (S. 424). Ganz selten findet sich ein kontraintuitives generisches Femininum statt eines generischen Maskulinums (S. 13). Doppelpunkte, Sterne, Unterstriche oder Binnen-I gibt es zum Glück keine (nur in einem Zitat). In Talkshows bemüht sich Zorn jedoch um die Doppelpunkt-Sprechpause. Allerdings muss er sich dabei immer wieder hastig selbst korrigieren. Zorn denkt sichtlich in normaler Sprache. – Aber derselbe Autor, der sich sprachlich so sehr bemüht, hat die Frauen unter den Philosophen völlig vergessen! Hannah Arendt und Edith Stein fehlen auffällig, wie schon gesagt. Auch im symbolischen Schlussbild des Buches kommen nur Männer vor. Acht alte, weiße Männer. (Ja, Derrida ist auch einer.)

Man hätte auch nicht erwartet, dass Zorn eurozentrisch denkt. Aber er tut es. Sogar eurozentrisch in den Kategorien von vor 1989. Denn auch der „Prager Frühling“ und Jan Patocka sowie die osteuropäischen bürgerlichen Revolutionen von 1989 fehlen bei ihm. In seiner Darstellung der Geistesgeschichte seit der Antike kommt nur der lateinische Westen vor (S. 239 ff.). Byzanz und die islamische Welt mit ihren eigenständigen Debatten und die gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Welten fehlen völlig bzw. werden mit einem kurzen Satz abgehandelt (S. 239 f.). Auch die völlig Absage an Gott ist sehr eng gedacht. Man hätte z.B. Mohamed Arkoun erwähnen können, der die Philosophie von Foucault und Derrida auf die religiösen Texte des Islam anwandte. Es ist auch fragwürdig, den Eindruck zu erwecken, als gehörte die Antike vor allem zu „Europa“ (um S. 242). Ist die Antike nicht eine versunkene Welt, die niemandem „gehört“, und die (zunächst) nicht nur vom lateinischen Westen, sondern auch von Byzanz und der islamischen Welt beerbt wurde, und die (heute) für die ganze Welt als gemeinsames Erbe der Menschheit offensteht? Doch der Autor bleibt völlig dem lateinischen Westen verhaftet. Nur in der Person von Pico della Mirandola werden dann auch Texte von Arabern und Ägyptern erwähnt (S. 568 f.). Averroes findet bei Zorn nicht statt. (Er kann auch gar nicht stattfinden, denn Averroes hat die Majestät der Vernunft aufgerichtet, was sich mit der Postmoderne wenig verträgt. Thomas von Aquin fehlt deshalb natürlich auch. Spätestens das ist sehr auffällig. Aber Augustinus, der Gottes Willen unvernünftig sein lässt, der kommt vor.) – Insgesamt verfehlt der Autor den Anspruch von Vielfalt jenseits des Eurozentrismus völlig.

Es ist auch fragwürdig, dass Zorn die Postmoderne (mit Rorty) permanent am Rand stehen sieht (S. 561). Denn Foucault war und ist ein Pop-Star! Postmoderne war und ist groß in Mode, man denke nur an völlig überzogene Maßlosigkeiten wie Gender, Diversity, Multikulti-Vielfalt, Critical Race Theory, Decolonialisation, oder „No borders no nations“ und „Refugees welcome bring your families“. Vieles, was manche etwas hilflos als „Kulturmarxismus“ bezeichnen, ist ganz oder in Teilen postmodern motiviert. Zorn selbst zählt es zu Anfang des Buches auf (S. 9 f.). – Aber Zorn sieht die Postmoderne am Rand stehen. Vielleicht ist das dank Habermas tatsächlich noch im engeren deutschen philosophischen Wissenschaftsbetrieb so.

Ein weiterer Widerspruch ergibt sich daraus, dass die Postmoderne als Kritik an der herrschenden Ordnung verstanden wird. Aber wenn die Menschen hilflos staunend mitansehen müssen (hilflos wie Lyotard nach 1968 S. 484), wie die herrschende Ordnung Gender und Diversity in völlig überzogener Weise auf den Thron hebt, ist die Postmoderne dann nicht zur Philosophie „des Systems“ geworden, und Zorn zu einer intellektuellen Stütze der Macht?

Den Kritikern der Postmoderne wirft der Autor vor, sie wollten sich selbst beweihräuchern, indem sie lieber sich selbst als die aktuelle Speerspitze der Philosophiegeschichte darstellen (S. 549). Aber ist der Autor hier nicht selbst polemisch? Die Schwarz-Weiß-Zeichnung von guter Postmoderne einerseits und bösen Kritikern andererseits ist ihrerseits überhaupt nicht postmodern, insofern völlig undifferenziert – andererseits auch wieder höchst postmodern, insofern Frechheit ein Markenzeichen der Postmoderne ist. Auf diesen Seiten wimmelt es jedenfalls nur so vor frechen Selbstwidersprüchen: Zorn stylt die postmodernen Philosophen (mit Rorty) als rebellische Außenseiter (S. 561-564), aber in Wahrheit ist es nur Style, denn die selbsternannten Außenseiter sind heute vielfach selbst in Machtpositionen, und zudem leistet die „normale“ Philosophie die nötige Kritik am „System“ auch selbst, ohne dazu der Postmoderne zu bedürfen.

Zorn kritisiert auch ausgiebig die gutaussehenden, sprachbegabten Populärphilosophen, die ein Bedürfnis des Marktes befriedigen (S. 549). Aber ist Zorn nicht selbst auch ein solcher? Er hat jetzt schon mehrere Bücher geschrieben, mit denen er in Talkshows kam, und auch für das neueste Buch sitzt er wieder in Talkshows bis hinauf zum Blauen Sofa des ZDF. Zorn platziert sich mit seinen Büchern definitiv am Markt.

Zu Anfang des Buches heißt es, dass mit der Postmoderne „ein letztes Mal“ alles auf den Tisch gekommen sei (S. 14). Wie wenn mit dem Ende der Postmoderne das Ende der Geschichte gekommen wäre. Doch viel weiter hinten hören wir: „Das Absolute ist nicht so leicht totzukriegen.“ (S. 414, 418) Die Geschichte ist also doch noch nicht zu Ende.

Was gelungen ist

  • Am wertvollsten ist sicher die mikroskopische Nachzeichnung dieses Ausschnitts der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts, die die Motivation der einzelnen Denker teilweise gut herausarbeitet und in den größeren Zusammenhang der anderen Denker stellt. Wer dieses Buch gelesen hat, wird andere Darstellungen immer daran messen.
  • Es konnte gezeigt werden, dass die Postmoderne durchaus einige bedenkenswerte Ansätze vorzuweisen hat. Es fehlt zwar ein Aussortieren und Reinigen dieser Ansätze, aber diese Botschaft ist trotz allem angekommen.
  • Immer wieder wird auf die Strukturähnlichkeit von Problemen und Sachverhalten hingewiesen. Dies zwar oft nur knapp, aber das Gespür dafür wurde dennoch geschult.
  • Sehr interessant ist die Berücksichtigung der Kybernetik. Der Rezensent ist Informatiker und bedankt sich.
  • Natürlich ist auch die Warnung vor der Versuchung des Absoluten richtig. Allerdings wird sie durch die Absolutheit des Verfassers und seiner unbereinigten Postmoderne konterkariert. Unkritische Leser werden durch dieses Buch leider nicht gegen die Gefahren des Absoluten immunisiert werden, im Gegenteil.

Schluss

Der Zauberlehrling Zorn hat eine allzu pauschale Rettung der Postmoderne versucht, hat dabei auch manches unter den Tisch fallen lassen, und ist damit notwendig gescheitert. Leider zeigt er sich schwärmerisch in seinem Denkgebäude gefangen, so genial es in Teilen auch ist. Der Eindruck drängt sich auf, dass sich Philosophie und politische Einstellung bei Zorn gegenseitig im Wege stehen.

In der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende heißt es: „Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen, und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. … Und die machen beide Welten gesund.“ – Es ist Zeit, Phantásien den Rücken zu kehren: Es fehlt ein echtes Aussortieren und Reinigen des postmodernen Denkens. Es fehlt eine Klärung des Verhältnisses zur Vielfalt und zum Absoluten (z.B. gesellschaftspolitische Vielfalt-Schwärmerei? Streben nach dem Absoluten mit Novalis?). Es fehlt an simpler Menschenfreundlichkeit auch und gerade im Umgang mit Andersdenkenden.

Mit Goethe sagen wir: „Es muss auch solche Käuze geben.“ Zorns Belesenheit ist in jedem Fall ein Gewinn, und auch sein philosophisches Denken verschafft manche Anregung. Aber am Ende ist es mehr Wasser als Wein. „Welch‘ entsetzliches Gewässer!“ klagt der Zauberlehrling, bevor er den Meister zu Hilfe ruft.

Wer ein Antidot nötig hat, könnte z.B. diese Werke lesen (die Vielfalt macht’s):

  • Empedokles, Fragmente.
  • Platon, Apologie des Sokrates.
  • Xenophon, Symposion.
  • Goethe, Faust I + II.
  • Albert Schweitzer, Kulturphilosophie.
  • Hermann Hesse, Siddhartha.
  • Thomas Mann, Joseph und seine Brüder.
  • Walter Nutz, Vom Mythos der Freiheit.
  • Neil Postman, Building a Bridge to the 18th Century: How the Past Can Improve Our Future.
  • Durs Grünbein, Die Bars von Atlantis.

Epilog

Menschen sind im Garten des Akademos zusammengekommen, um ihre Gedanken auszutauschen. Kein Gebäude umgibt sie, man befindet sich in freier Natur. Es ist auch nicht kalt, sondern angenehm warm. Die Sonne steht im Meridian, nicht im Zenith, den die Sonne in diesen menschenfreundlichen Breiten niemals erreichen kann. Statt der eintönigen Weißheit der Eiswüste erfreut sich das Auge an der Buntheit einer vom Menschen wohlgeordneten Natur. Wind streicht durch die Bäume und lässt ihre Blätter leise rascheln: Die Welt ist offen. Doch niemand muss irgendwohin gehen. Man begegnet sich freundlich und bleibt beisammen. Auch Frauen und Fremdländische sind darunter. Die Gedanken schweifen frei, verzweigen und überkreuzen sich phantasievoll, und werden immer wieder von der Vernunft neu eingefangen und auf die eine, gemeinsame Wahrheit hingeordnet, um dann aufs neue auszuschweifen. Die Zyklen der Zeit und das Wesen des Menschen sind in Grundzügen längst durchschaut. Und dennoch ist alles ein großes Mysterium. Und wird es ewig bleiben, auch wenn die Erkenntnis nie aufhört. Der Turmbau zu Babel: Dieses absolute Projekt vielfältiger Hybris verfolgen nur die Narren. Wo die beste Polis als irrige Utopie erkannt wurde, so folgerichtig sie auch gedacht war, wird die zweitbeste Polis zum realistischen Ideal wahrer Menschenfreunde.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Thorwalds Internetseiten August 2022; zudem eine stark gekürzte Fassung auf Amazon am 25. August 2022)

Anhang

Einige zumindest zunächst sehr unverständliche Sätze

S. 170: Kants „Tertium ist die transzendentale Einbildungskraft. Sie ist die ‚ursprüngliche Zeit‘ und ‚bildet‘ so ‚die Wesensstruktur der Subjektivität‘.“

S. 318: Zu Nietzsche: „Um der reaktionären Einebnung der Differenz zu entgehen, entwirft Nietzsche ein Modell von Sinn und Wert, das nicht von Substanz und Sein ausgeht, sondern von Relation und Werden. Was sich in Sinn und Wert zum Ausdruck bringt, das sind aufeinander bezogene Relationen, die in Bewegungen des Werdens eingebunden sind, die maximale und minimale Spannungen ausbilden.“

S. 334: „Doch gerade die Philosophie ‚hat sich in ihr‘, der anthropologischen Illusion, ‚eingeschlossen, indem sie die Subjektivität verdichtete, hypostasierte und in der uneinholbaren Struktur des ‚menschlichen Wesens‘ einschloss.'“

S. 424: Unvermittelt: „Was ist die Bedingung?“ Tja, von was?

Diverse Mängel

S. 38: „Frankfurt“. Wünschenswert wäre: „Frankfurt am Main“. Mehrere Stellen im Buch.

S. 128: Lenins „berühmte Studie“. – Die weltanschauliche Studie eines Massenmörders aus Weltanschauung „berühmt“ zu nennen, ist unstatthaft. „Bekannt“ wäre besser.

S. 139, 239: „Kaiserzeit“: Gemeint ist die „römische Kaiserzeit“. Mehrere Stellen im Buch.

S. 146: „‚Jede Epoche ist unmittelbar zum Dasein‘ – so könnte man diese Position mit dem Historiker Leopold von Ranke zusammenfassen.“ – Doch bei Ranke ist es „unmittelbar zu Gott“, deshalb sollte es z.B. heißen: „Leicht abgewandelt könnnte man mit Ranke sagen …“

S. 194: „jüdische Kollegen denken über Migration nach“. – Wieso Migration? Emigration!

S. 199: Der Begriff „Metaphysik“ hätte erklärt werden sollen. Nicht jeder benutzt ihn so.

S. 201: Der Begriff „Weltanschauung“ hätte erklärt werden sollen. Nicht jeder benutzt ihn so.

S. 217: An der geheimen Konferenz in Princeton 1945 haben gewiss keine „Informatiker“ teilgenommen, der Begriff entstand erst später.

S. 219: Dass Mark I „der erste einsatzfähige digitale Großrechner“ war, darf bezweifelt werden. Zuses Z3 war auch digital und einsatzfähig. Der Umstand, dass der Rechner „groß“ war, erscheint hingegen wenig bedeutend.

S. 239: „Übersetzungen der über Bagdad und Kairo überlieferten Texte“ – Die weitaus meisten philosophischen Texte der Antike wurden über Byzanz wiedergewonnen, nicht durch arabische Rückübersetzungen. Das aber auch.

S. 282 f., 286: Mehrfach konsequent falsch: „Victor Emerita“, richtig: „Victor Eremita“.

S. 378: Es geht um die Logischen Empiristen, aber das Stichwort „Logischer Empirismus“ fällt erst auf S. 395.

S. 477: In Sätzen Lyotards werden „flics“ mit „Cops“ ins Deutsche übersetzt. Das geht nicht. Flics sind Flics.

S. 479: Trotsky mit s und y geschrieben: Mehrere Stellen. S. 483 Trotzki mit z und i.

S. 487: „Germanistisches Nationalmuseum“. Eine postmoderne Irritation?

S. 489: Beispiele für Geschichtsphilosophien, die Freiheit versprechen, aber faktisch Unfreiheit schaffen: „Drittes Reich“, „Ideologien von Stalin und Mao“. – Das sind aber gar nicht die Geschichtsphilosophien. Es hätte heißen müssen: Nationalsozialismus, Marxismus-Leninismus, Maoismus. Und wer von Stalin spricht, darf von Lenin nicht schweigen.