Schlagwort: Judentum

Noah Gordon: Der Medicus (1986)

Genre-prägender Mittelalterschinken, aber ganz gut

Wie so viele Mittelalterschinken greift der Roman „Der Medicus“ in die Vollen und beschreibt das Mittelalter so, wie man es sich eben vorstellt, und weniger, wie es wirklich war. Es geht deftig zu, Religion und Unwissenheit spielen eine Rolle, und den Protagonisten bleibt kein Schicksal erspart, doch am Ende enden sie halbwegs glücklich und um viele Erfahrungen reicher.

Dennoch gehört „Der Medicus“ zu den besseren Werken dieser Gattung. Vielleicht wurde hier manches noch besser gemacht als bei späteren Werken, weil das Genre mit diesem Roman erst richtig geprägt wurde.

Das unangenehm Deftige ebbt nach einem furiosen Anfang ab, und macht einigen interessanten Beschreibungen von Judentum und persischem Heilwesen Platz. Das Thema Islam wird noch völlig unaufgeregt gehandhabt. Der ganze Roman erscheint ehrlicher, frischer, und weniger konstruiert, als jene Romane, die in seiner Nachfolge erschienen. Nicht zufällig liest sich dieses dicke Buch flott von der Leber weg.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. November 2013)

Tom Holland: In the Shadow of the Sword / Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs (2012)

Vernünftige, faire und maßvolle Aufklärung über die wahren Anfänge des Islam

Gleich vorweg: Tom Hollands Buch ist viel besser als seine BBC TV Dokumentation „Islam: The Untold Story“. Die TV Dokumentation musste wegen ihrer Kürze an diesem komplexen Thema scheitern, und statt Antworten lässt sie unnötigerweise viele Fragen offen. Vielleicht hat man die Antworten aus falsch verstandener „Rücksicht“ auf Muslime weggelassen? Das wäre dann sehr dumm gewesen, denn Muslime können mit den Antworten von Tom Holland sehr gut leben, mit den offenen Fragen der TV Dokumentation hingegen eher nicht.

Zum Buch

Nicht nur der Islam, sondern die Geschichte des gesamten Zeitalters der Spätantike wird von Tom Holland in den Blick genommen. So liefert er den dringend nötigen Kontext zum Verständnis der Entstehung des Islams. Dabei werden vom Leser zunächst unbemerkt alle die Elemente eingeflochten, die weiter hinten im Buch zur Erklärung des Islam benötigt werden und die klar zeigen, dass der Islam und seine Überlieferung Kind ihrer Zeit sind. Tom Hollands Rekonstruktionsversuch der Ursprünge des Islam ist einer der überzeugendsten und vollständigsten. Sein Buch ist absolut lesenswert.

Das gewählte Verfahren ist auch didaktisch geschickt: Indem Tom Holland zunächst die Wirren und Verfehlungen der religiösen Entwicklungen von Christentum, Judentum und Zoroastrismus und deren teils absichtslos, teils absichtlich verfälschte Überlieferungen aufzeigt, macht er den Leser an eher unumstrittenen Beispielen mit dem Wissen um die historisch-kritische Interpretation solcher Überlieferungen bekannt, um die historisch-kritische Interpretation dann später im Buch in überzeugender Weise auf den Islam anzuwenden. (Bemerkenswert ist Tom Hollands Würdigung des deutschen Beitrages zur Entwicklung der historisch-kritischen Methode, den er bis in die Gegenwart in Deutschland wirken sieht.)

Durch dieses Verfahren vermeidet Tom Holland zugleich auch den verbreiteten Irrtum, dass speziell der Islam ein Problem mit seinen Überlieferungen hätte. Wie der Leser zuvor an Christentum, Judentum und Zoroastrismus sehen konnte, haben alle Religionen dieses Problem, nicht nur der Islam. Es geht also nicht um „Islam-Bashing“, sondern darum, den Islam auf das heute übliche Niveau der Selbstkritik (!) von Religionen zu heben, auf dem sich andere Religionen zu ihrem eigenen Nutzen bereits befinden; Schaden haben sie dadurch jedenfalls keinen erlitten. Das Vorgehen von Tom Holland ist vernünftig, fair und maßvoll.

Keine maßlose Islamkritik

Muslime haben allen Grund, Tom Holland dankbar zu sein: Sein Werk bietet eine Lösung dafür an, wie man Islam und historische Kritik miteinander vereinbaren könnte. Aber für Gläubige (ob Christen oder Muslime), die zum ersten Mal mit historischer Kritik konfrontiert werden, sieht es leider immer so aus, als ob die Religion durch historische Kritik „komplett zerstört“ werden soll. Aber so ist es eben nicht. Man muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass manches anders ist, als man dachte, ohne dass dabei gleich alles verloren ist. Es geht nur um die Wahrheit, und wenn diese etwas anders aussieht, als man lange Zeit dachte, dann muss man der Wahrheit eben folgen, wo immer sie hingeht.

Tom Holland zeigt, dass die historische Kritik des Islams keineswegs zwangsläufig bei dem Resultat enden muss, dass es einen Propheten Mohammed gar nicht gab. Im Gegenteil: Tom Holland geht davon aus, dass es einen Propheten Mohammed sehr wohl gab, und dass der Koran im Kern auf Worte Mohammeds zurückgeht (ob diese Worte wiederum auf Gott zurückgehen, ist Glaubenssache). Mohammed wird als ein literarisch gebildetes Genie interpretiert, das vorhandene Lehren und Anschauungen auf geniale Weise (unter göttlicher Anregung? Auch das ist Glaubenssache) zu etwas Neuem verknüpfte: Gotteswort ist zugleich Menschenwort, in eine bestimmte Zeit hineingesprochen, wie bei anderen Religionen auch, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ebenfalls als authentisch islamisch werden von Tom Holland eingestuft: Der strikte Monotheismus, die Verträge von Medina, tägliche Gebete, die Verpflichtung zur Wallfahrt.

Man kann mit Tom Hollands Rekonstruktionen auch weiterhin Muslim sein, so wie Christen und Juden mit dem historisch-kritischen Wissen um die Enstehung ihrer Religionen auch weiterhin Christen und Juden sein können.

Spätere Hinzuerfindungen zum Islam sind nach Tom Holland z.B:

  • Ein Großteil der Hadith und der Prophetenbiographie sind für Tom Holland spätere Interpretationen oder Erfindungen; das ist nichts neues, sondern allgemeine Meinung unter seriösen Islamwissenschaftlern.
  • Im Koran ist nur von drei Gebeten die Rede, erst in späteren Texten von fünf.
  • Im Koran ist die Strafe für Apostasie die Hölle nach dem Tod, in späteren Texten jedoch sollen Apostaten hingerichtet werden. (Andere meinen mit Recht, dass der Koran gar nicht auf Apostasie als solche abzielt, sondern auf den militärischen Verrat, der im damaligen Kontext mit Apostasie verbunden war.)
  • Im Koran sind Ungläubige hauptsächlich Monotheisten, die ihren Monotheismus nicht streng nehmen. In den späteren Überlieferungen sind die Ungläubigen plötzlich Götzenanbeter: Auch hier wird deutlich, dass spätere Zeiten sich ein Lebensumfeld für Mohammed phantasievoll ausgemalt haben, das historisch so nicht existierte.
  • Im Koran ist die Strafe für Ehebruch die Auspeitschung. Das Steinigen hingegen geht auf jüdische Quellen zurück, nicht auf Mohammed.
  • Das Konzept des Dschihad als ein religiöser Angriffskrieg unter Selbstopferung wurde erst später in Anlehnung an die Askese christlicher Wüstenmönche entwickelt. Die angebliche chronologische Reihenfolge der Koransuren wurde nachträglich so fingiert, dass Dschihad-Suren chronologisch später kamen, um gegenteilige, frühere Lehren als „abrogiert“, d.h. aufgehoben, hinstellen zu können – wie es der offizielle Islam bis heute tut.
  • Die Vertreibungen und Massaker an den drei jüdischen Stämmen von Medina haben vermutlich niemals stattgefunden: Spätere Autoren haben mit diesen Erzählungen versucht, die Juden aus der Umma „herauszuoperieren“. Die Namen der Stämme tauchen nämlich nicht in den authentischen Verträgen von Medina auf, die Massaker sind auch sonst nirgends historisch belegt, wovon aber auszugehen wäre, wenn sie stattgefunden hätten.

Wie entstand die ismaelitische Bewegung?

Nach Tom Holland ist entscheidend, dass die Araber an einer Grenze des römischen bzw. byzantinischen Reiches lebten: So wie die Germanen im Norden, die außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches lebten, zunächst als Hilfstruppen angeworben wurden, um später selbst einen ausreichend hohen Organisationsgrad zu erreichen, um die Römer besiegen zu können, genauso sei es auch mit den Arabern geschehen, die im Niemandsland südlich der beiden rivalisierenden Reiche Byzanz und Persien lebten. Das lateinische Wort „Sarazenen“ für Araber könnte auf ein latinisiertes arabisches Wort für „Hilfstruppen“ zurückgehen.

Anders als Germanien war Arabien ein Rückzugsgebiet für christliche Häretiker, die aus dem Römischen Reich vertrieben wurden. Deren Lehren (z.B. Nabatäer, Nasoräer, oder das Evangelium des Basilides: Jesus nicht gekreuzigt, vgl. Sure 4:157) konnten in Arabien ungestört vor sich hinwuchern und unter Arabern auf fruchtbaren Boden fallen.

Hinzu kam das wachsende Selbstbewusstsein der Araber, als die direkten Nachkommen von Abrahams Sohn Ismael einen gleichberechtigten Platz neben Juden (und Christen) zu beanspruchen. Lange bevor Muslime sich „Muslime“ nannten, nannten sie sich „Ismaeliten“.

Mohammed lebte nicht in Mekka, sondern in der Region der Nabatäer, also an der Grenze des byzantinischen Reiches. Statt Mekka habe Mohammed das arabische Heiligtum von Mamre gemeint. Argumente dafür sind die Tradition von Mamre als Ort der Verehrung Abrahams durch die Araber, die Erwähnung von Sodom und Gomorrha im Koran als nahegelegener Ort, die Beschreibung des Heiligtums analog zu Beschreibungen von Mamre, das Fehlen von Agrikultur in Mekka, u.v.a.m. (Man beachte die Forschungen von Dan Gibson, der zeigen konnte, dass alle frühen Moscheen nicht nach Jerusalem, sondern nach dem nabatäischen Petra zeigten, von wo die Kaaba später nach Mekka verlegt worden sein soll.)

Mohammeds großes Werk scheint vor allem in der politischen Einigung der Araber bestanden zu haben. Diese politische Einigung war aber untrennbar verbunden mit dem ideellen Anspruch auf die Nachkommenschaft Abrahams. Mohammeds Monotheismus scheint eine direkte Reaktion auf das religiöse Chaos im arabischen Grenzgebiet zum römischen Reich seiner Zeit gewesen zu sein. Nicht Götzenanbeter, sondern „unklare“ und uneinige Monotheisten werden im Koran kritisiert, man solle wieder „zurück“ zur Religion Abrahams kehren.

Zündfunke für die ismaelitische Bewegung

Unmittelbar vor Entstehung des Islam gab es durch Pest und Krieg einen großen Mangel an Soldaten bei Byzantinern und Persern, weswegen verstärkt Araber als Hilfstruppen angeworben wurden. Immer mehr Araber wanderten deshalb nach Norden zur Grenze (Wanderung=Hidschra?), um sich zu verpflichten. Dadurch wurden diese Araber aus ihren traditionellen Stammesverbänden herausgelöst, so dass sich eine neue Identität entwickelte: eine arabische Nation (Umma) über den Stammesverbänden. Lange bevor sich Muslime „Muslime“ nannten, nannten sie sich auch „Muhadschirun“, d.h. die Ausgewanderten. Spätere Texte bezogen dies auf eine angebliche Auswanderung der Muslime von Mekka nach Medina, doch der wahre Hintergrund dieser Selbstbezeichnung dürfte ein anderer sein.

Hinzu kam, dass Byzanz unter Kaiser Heraklios damit begonnen hatte, Juden unter Zwang zu Christen zu „bekehren“. Viele Juden flüchteten deshalb über die Grenze nach Arabien, wo sie die Araber vermutlich ideell bestärkten, denn Juden transportierten mit ihrem Glauben die Idee, dass die Araber die Nachkommen von Ismael, dem Sohn Abrahams sind. In den Verträgen von Medina sind die Juden Teil der Umma.

Das durch Pest und Krieg stark geschwächte Römische Reich bot den Arabern reiche Beute. Man kann davon ausgehen, dass die politische Einigung der Araber stark durch die Aussicht auf Beute befördert wurde. Deshalb nimmt das Thema Beute auch im Koran eine prominente Stellung ein.

Gründe für die anfänglichen Siege der Ismaeliten

Vor der Zeit Mohammeds wütete eine Pest im ganzen Mittelmeerraum, die ähnlich verheerende Ausmaße annahm wie die Pest des Mittelalters. Zudem führten die beiden Großmächte Byzanz und Persien einen ausufernden Krieg gegeneinander, an dessen Ende beide Mächte erschöpft waren. In Persien brach daraufhin die Dynastie der Sassaniden zusammen; die Byzantiner hatten nicht mehr genügend Soldaten und mussten mehr Araber als sonst als Hilfstruppen werben. Die Verteidigungskraft war entscheidend geschwächt.

Insbesondere die Juden begrüßten die Araber anfangs überschwänglich: Sie wurden von der drohenden Zwangstaufe befreit und durften sogar wieder nach Jerusalem hinein, was ihnen lange verboten war. Der fromme Feldherr der Araber, Umar, begann sogar den Tempelberg für ein kommendes Bauwerk (der jüdische Tempel?) von Trümmern freizuräumen, weshalb Juden ihn als Retter feierten.

In Ägypten kam den Arabern zugute, dass die Ägypter als Monophysiten (Kopten) in ständigem Streit mit dem orthodoxen Byzanz lagen. Einige Ismaeliten sollen sich in Ägpyten angeblich sogar haben taufen lassen.

Nach Tom Holland wollte Mohammed nur das Heilige Land, das Land Abrahams und dessen „Heiligtum“, erobern. Dass die Araber mehr eroberten, lag einfach daran, dass die Motivation der Araber nicht rein religiös war. Erst später interpretierte man die weitergehenden Eroberungen als einen göttlichen Auftrag, die ganze Welt zu erobern.

Schneller Zerfall der religiösen Bewegung

Nach dem Tod von Mohammed und dessen General Umar ging die Herrschaft über die Ismaeliten und ihr Reich an die Familie der Umayyaden über. Diese waren etablierte Geschäftsleute, die schon vor Mohammeds Auftreten mit Byzanz Handel getrieben hatten und in Syrien Land besaßen. Mit anderen Worten: Wie immer nach einer Phase der Schwärmerei und der Begeisterung kamen nun wieder die wahren Realitäten zum Tragen, die das Menschengeschlecht von jeher bestimmen: Ökonomische Zwänge, soziale Milieus wie Besitzende, Gebildete, usw., und natürlich die Indifferenz der Massen.

Damit war das eroberte Reich kein religiöses, „islamisches“ Reich, sondern ein arabisches Reich, genauer: Ein Reich mit arabischen Herrschern und einem nicht-arabischen, vornehmlich christlichen Staatsapparat und Volk. Die Umayyaden gewährten für Christen und Juden eine gewisse religiöse Duldung, die gegenüber der byzantinischen Zeit eine echte Verbesserung darstellte. Mohammed begann, in Vergessenheit zu geraten. Weil ihre Beamten und Untertanen vornehmlich Christen waren, näherten sich die Umayyaden den Christen an, während sie von den Juden, den ursprünglichen Verbündeten der Araber, Abstand zu nehmen begannen. Der Umayyade Muawija pilgerte sogar wie ein Christ nach Jerusalem, um ein Zeichen für die Christen zu setzen. Münzen zeigten weiterhin christliche Symbole. Wer noch an Mohammed festhielt, stand am Rand und wurde bekämpft, so z.B. Ali und die Karidschiten.

Die Zoroastrier wurden nicht geduldet und konvertierten u.a. zum Christentum und wurden Nestorianer. Dadurch erlebte das Christentum eine unverhoffte Blüte! Christliche Missionare reisten bis nach Indien, China, und in die Mongolei. Christen sahen die Zukunft auf ihrer Seite! Von einem islamischen Reich war nicht die Rede.

Wiederaufleben der religiösen Bewegung zur Machtsicherung

Dann kam es zu einer Phase der Unruhen aus machtpolitischen Gründen, in der aus machtpolitischen Gründen auch wieder die Berufung auf Mohammed gesucht wurde. Auch die religiöse Opposition der Mohammed-Anhänger erstarkte jetzt wieder: Az-Zubair begann, sich auf Mohammed zu berufen und wurde von den Umayyaden verfolgt und vernichtet. U.a. wurde dabei die Stadt Medina erobert und ihre Bevölkerung massakriert bzw. massenvergewaltigt. Ebenso wurde ein „Heiligtum“ zerstört, das offensichtlich nicht in Mekka stand.

Um seinen Herrschaftsanspruch gegen religiös aufgeladene Unruhen abzusichern, begann der Umayyade al-Malik, die Definitionsmacht über die religiöse Bewegung der Ismaeliten für sich zu beanspruchen. Zu diesem Zweck formte er aus der wenig definierten ismaelitischen Bewegung den Islam als eine Religion in seinem Sinne:

  • Al-Malik übernahm die Berufung auf Mohammed von az-Zubair.
  • Erste Sammlung des Koran (nicht Uthman, wie später überliefert).
  • Al-Malik nannte sich erstmals „Kalif“ (Stellvertreter), und zwar Stellvertreter Allahs!
  • Erst jetzt wurde Arabisch als Amtssprache eingeführt.
  • Bau des Felsendoms in Jerusalem, solange das „Heiligtum“ in der Hand von az-Zubair war, als Konkurrenz zu diesem „Heiligtum“ und als Konkurrenz zur christlichen Grabeskirche, von der der Felsendom architektonische Anleihen nahm.
  • Definition der ismaelitischen Religion im Felsendom als „Islam“ = Unterwerfung (freundlicher: Hingabe).
  • Nach Zerstörung des „Heiligtums“ verlegen die Umayyaden das „Heiligtum“ nach Mekka. Die Gebetsrichtung wurde dementsprechend im ganzen Reich umorientiert.
  • Da die Religion an Bedeutung gewinnt, waren christliche Beamte u.a. jetzt motiviert, zum Islam zu konvertieren. Dadurch beginnt der Islam, zu einer Religion auch für Nichtaraber zu werden, obwohl er als ismaelitische Bewegung, also als arabische Bewegung, begonnen hatte.

Intellektualisierung und juristische Formung des Islam

Die Christen, Juden und Zoroastrier, die nach und nach zum Islam konvertieren, beginnen den Islam nach ihren Vorstellung zu formen. Das geschieht vor allem dadurch, dass immer neue Aussprüche Mohammeds (Hadith) „entdeckt“ werden, die diesen Vorstellungen entsprechen. Um einen Hadith als „echt“ zu beglaubigen, wird immer die angebliche Kette der mündlichen Überlieferer angegeben (Isnad).

Vorbild für dieses Verfahren sind die jüdischen Gelehrten der mesopotamischen Schulen, in deren Nähe die neuen Schulen der islamischen Rechtsgelehrten entstanden. Die dortigen jüdischen Gelehrten hatten bereits lange zuvor genau dasselbe Verfahren entwickelt, um eine angebliche mündliche Überlieferung von Worten des Moses aufzuschreiben. Auch hier wurde zu jedem angeblich überlieferten Wort eine Kette von mündlichen Überlieferern angegeben, die angeblich bis zu Moses zurückreichte.

Was brachten Christen, Juden und Zoroastrier in den Islam hinein? Auf jüdischen Einfluss dürfte z.B. die Steinigung als Strafe für Ehebruch zurückgehen; im Koran ist dafür nur das Auspeitschen vorgesehen. Zoroastrier brachten ihre fünf Gebete ein, das Tötungsgebot für Apostaten, und die zoroastrische Zahnpflege – im Koran ist nur von drei Gebeten die Rede, für Apostaten ist nur die Hölle nach dem Tod als Strafe vorgesehen, und von Zahnpflege ist nicht die Rede. Auf christliche Askese-Mönche könnte die Idee des Selbstaufopfern für die Sache Allahs zurückgehen. Auch die angebliche Chronologie der Suren des Koran, die damals ausgearbeitet wurde, scheint darauf hin angelegt worden zu sein, die Suren nach „friedlich“ und „kriegerisch“ zu sortieren und eine entsprechende Hintergrundstory zu erfinden, um das Argument vorbringen zu können, dass die späteren „kriegerischen“ Suren die früheren „friedlichen“ Suren aufheben würden.

Religiöse Abbasiden verdrängen weltlich gesinnte Umayyaden-Herrscher

Die nichtarabischen Religionsgelehrten trugen am Ende den Sieg über die arabischen Kalifen davon, indem sie die Definitionsmacht über den Islam an sich ziehen konnten. Demgegenüber war der Anspruch der Umayyaden, „Stellvertreter Allahs“ zu sein, eine Blasphemie.

Gestützt auf die alten Anhänger Mohammeds und die Lehren der Religionsgelehrten vertrieben die Abbasiden die Umayyaden von der Macht und nannten sich nun „Stellvertreter des Propheten“. Damit war die Vorherrschaft der Araber vollends gebrochen und der Islam zu einer Weltreligion für alle geworden. Jetzt wurde mit Baghdad die „Stadt des Friedens“ gebaut und an die Tradition des (hellenistisch geprägten) Perserreiches angeknüpft. Jetzt erst schrieb Ibn Ishaq die Prophetenbiographie, die alle bislang gestrickten Legenden zu einer zusammenhängenden Erzählung vereinigte, die von der wahren Geschichte natürlich stark abweicht.

* * *

Hinweis: Der Originaltitel „In the Shadow of the Sword – The Battle for Global Empire and the End of the Ancient World“ lässt niemanden vermuten, dass es sich um ein Buch über den Islam handelt, denn „Islam“ taucht in diesem Titel nicht auf, und dass es kein reißerisches Buch ist, sondern eine sehr niveauvolle Aufarbeitung der historisch erforschten Umstände und offenen Fragen der Entstehung des Islams. Die erste deutsche Ausgabe trug zunächst den Titel: „Im Schatten des Schwertes – Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs“. Später wurde der Untertitel zum Haupttitel gemacht, was absolut sinnvoll ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. August 2013)

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher (2014)

Sehr persönlicher Einblick in jüngere jüdische Geistesgeschichte

Dieses Buch erzählt die Geschichte von Chimen Abramsky. „Chimen“ ist dabei eine verballhornte Schreibung von Shimon. Er wurde geboren in Russland, wo jüdische Kultur und Gelehrsamkeit jahrhundertelang im Ansiedlungsrayon blühte, bis Pogrome und Holocaust dem ein Ende bereiteten. Er war Sohn eines international bedeutenden jüdischen Gelehrten, dessen Familie aus Russland nach London floh und an dessen Beerdigung in Israel zehntausende orthodoxer Juden teilnahmen. In London heiratete Chimen in eine jüdische Buchhandlung ein, und wurde aus Angst vor dem Nationalsozialismus Kommunist, ja sogar Stalinist. Später bekehrte er sich zu einer liberaleren Weltsicht und war mit Isaiah Berlin befreundet.

Chimen Abramsky baute in seinem Privathaus im Hillway 5 in London eine gewaltige Sammlung von Manuskripten und Büchern zu den Themen Sozialismus und Judentum auf. Chimen war ein weltweit anerkannter Experte für alte Schriften und Drucke, wurde zum Ratgeber für Sotheby’s, und schließlich Hochschulprofessor, ohne je selbst studiert zu haben. In seinem Haus trafen sich ohne Unterlass Intellektuelle, Künstler und Gelehrte, immer gut bewirtet von seiner Ehefrau Mimi.

Erzählt wird uns dies alles von einem Enkel von Chimen Abramsky. Wir dürfen auf diese Weise teilhaben an einem sehr persönlichen und erhellenden Blick auf jüdische Schicksale und jüdisches Denken (und Umdenken) im 20. Jahrhundert. Es ist bedenkenswert, wenn der Autor die Gelehrsamkeit des (Ex-)Kommunisten Chimen Abramsky mit der Gelehrsamkeit der jüdischen Religionsgelehrten aller Jahrhunderte vergleicht. Oder bei der Bewirtung der zahllosen Gäste im Hillway durch dessen Ehefrau Mimi an die Salons jüdischer intellektueller Damen im 19. Jahrhundert denkt. Es ist interessant zu sehen, wie im Hillway jüdische Speisevorschriften u.a. religiöse Rituale beachtet wurden, obwohl Chimen und Mimi gar nicht religiös waren. Nach seinem Abfall vom Kommunismus findet Chimen nicht mehr zu einer geschlossenen Weltanschauung zurück, und bleibt ein Wanderer zwischen den Welten. Eine Tendenz zu Spinozas Pantheismus war erkennbar.

Chimen scheint es mit dem Sammeln von Büchern teils übertrieben zu haben. Fotos zeigen das Haus in einem Zustand, der an das Phänomen des „Messie“ erinnert. Bezeichnend ist auch, dass Chimen trotz seines anerkannten Wissens praktisch nicht in der Lage war, sein Wissen zu ordnen und in Buchform zu bringen. Chimen scheint eine sehr assoziative, ungeordnete und sprunghafte Geistesorganisation gehabt zu haben, also ein Mensch, der in vielem nicht rational war, und Rationalität vielfach auch gar nicht anstrebte, sondern – vielleicht – lieber träumte.

Auch die Themen Krankheit und Tod werden bearbeitet. Gerade in diesen Passagen ist es ein sehr persönliches Buch.

Leider ist es sehr journalistisch geschrieben. Manchmal ist die Sprache flapsig und unangemessen. Leider ist die Darlegung auch sehr unsystematisch und assoziativ. Man findet zu ein und demselben Thema immer wieder ein paar Brocken hie und da verstreut im Buch, wo man sich eine systematische Darstellung gewünscht hätte. Vor allem am Anfang des Buches stört das sehr. Unpassend ist auch die Kritik des Autors an der geheimdienstlichen Überwachung von Chimen Abramsky im nachgetragenen Vorwort. Immerhin war Chimen damals ein in der Wolle gefärbter Stalinist und ein intellektuell einflussreiches Mitglied der kommunistischen Partei Großbritanniens mitten im Kalten Krieg!

Das Nachwort von Philipp Blom zu Bibliotheken von Exilanten ist zunächst bedenkenswert, dann aber einfach nur unakzeptabel: Dass ein direkter Weg von Kant zu den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts führt, ist Unsinn.

Fazit

Mit etwas Toleranz für die Schwächen des Buches ist es eine sehr, sehr lesenswerte und bereichernde Lektüre.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Mai 2018)

Alejandro Amenábar: Agora (Film 2009)

Wie sich eine kollektive Weltanschauung Schritt für Schritt durchsetzt

Der Film „Agora“ ist gut, sehr gut sogar – verstörend gut. Er zeigt, wie eine kollektive Weltanschauung X – in diesem Fall das Christentum – sich in einer Gesellschaft Zug um Zug durchsetzt, und andere kollektive Weltanschauungen Y oder Z – in diesem Fall Serapis-Kult und Judentum – dabei schrittweise an Boden verlieren. Nebenbei kommen Freidenker, die mit den bisherigen kollektiven Weltanschauungen ein Arrangement gefunden hatten, unter die Räder, weil sie ein solches Arrangement mit der neuen kollektiven Weltanschauung eben noch nicht gefunden haben.

Der Film zeigt sehr gut, dass guter Wille allein nicht genügt, um widerstreitende kollektive Weltanschauungen zu befrieden. Denn die Dinge schaukeln sich hoch und haben eine Dynamik, die nicht beherschbar ist. Es nützt nichts, auf die Vereinfacher und Hetzer zu schimpfen – sie sind nun einmal immer da, man muss sie mitdenken, sonst hat man kein volles Bild der Wirklichkeit. Man sieht, wie auch vernünftige Menschen auf allen Seiten – auch wenn sie Macht haben – gegen die Neigung zur Dummheit, die in jeder kollektiven Weltanschauung angelegt ist, nichts ausrichten können.

Das Dumme an der Dummheit ist, dass man sie vollkommen gleichberechtigt mit der Realität behandeln muss, wenn sie nur gesellschaftliche Macht hat. Man muss mit ihr verhandeln. „Seit wann gibt es in Alexandria so viele Christen?“ lautet einer der Schlüsselsätze im Film. Dass in den Verfassungstexten einer Gesellschaft irgend etwas kodifiziert ist, spielt dann keine Rolle mehr – das wird alles gnadenlos Bestandteil der Verhandlungsmasse, wenn die Gewichte in der Gesellschaft sich verschieben.

Und dann gibt es noch die Möglichkeit, mit den Wölfen zu heulen, nur lauter. Im Film scheitert dieser Weg, weil der Protagonist nicht laut genug „mit den Wölfen heulte“ (der Moment, wo Orestes sich nicht niederkniet).

Natürlich denkt man bei all dem an das derzeitige Erstarken von Formen des Islams, die fern von der Vernunft sind (womit gesagt sein soll, dass der Islam auch vernünftig sein kann). Man kann die Sache aber auch tiefer hängen. Welcher Politiker z.B. könnte es sich leisten, Kohlendioxid als Verursacher des Klimawandels anzuzweifeln? Wer könnte es wagen, gegen das gedankenlose Multikulti und den Softsozialismus in der Gesellschaft anzugehen? Usw. usf.

Auch dies: Noch nie jedenfalls habe ich das Christentum so hinterfragt gesehen. Die meisten von uns sind ja mit einem „lieben“ Bild von Christentum aufgewachsen, und auch wenn wir alle es längst hinterfragt haben: So krass wie in diesem Film hat man es noch nie gesehen, und der Eindruck ist gerade auch deshalb so stark, weil der Film nicht übertreibt, sondern glaubwürdig bleibt: Auch wenn die wahre Story um Hypatia nicht exakt genau so gewesen ist, so kann man sich dennoch nur zu gut vorstellen, dass das Christentum diese üble Rolle auf diese Weise spielen kann und auch oft genug gespielt hat. „Halleluja“ statt „Allahu akbar“ – das kann man sich nur zu gut vorstellen.

Der Film war fast zu perfekt. Sogar die Aussprache von „Agora“ war richtig. Die meisten sagen ja „Agoora“, aber es heißt natürlich „Agoraa“ 🙂

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. März 2010; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden.)

Thomas Mann: Joseph und seine Brüder (1933-43)

Weltanschauliches Groß-Epos der Humanisierung mit jüdisch-christlicher und politischer Schlagseite

Der Roman „Joseph und seine Brüder“ ist das große weltanschauliche Epos von Thomas Mann. Anhand der bekannten biblischen Episode entfaltet Thomas Mann mehrere große und kleine Themen, die das weltanschauliche Denken des Autors reflektieren. Dabei greift Thomas Mann weit über den engeren Kulturkreis des jüdischen Mythos hinaus.

Hauptthema 1: Mythen

Das ganze Buch handelt von Mythen und ist selbst ein Mythos, es zeigt wie Mythen entstehen, sich entwickeln, und in anderen Mythen aufgehen. Immer wieder und wieder werden Mythen erzählt und immer neu erzählt, dabei variiert und kombiniert. Der Leser erfährt sehr praktisch und am eigenen Leib, was Mythen sind. Das ganze Buch ist in einer episch-altertümelnden Sprache gehalten, die eine sehr glaubwürdige Atmosphäre des Mythischen schafft. Allein das ein Meisterwerk von Thomas Mann.

Mythen sind nichts, was wir ablegen könnten. Sie liegen unserer Kultur zugrunde, ob wir wollen oder nicht. Entweder wir leben die Mythen, oder die Mythen leben uns. Es gibt kein Entrinnen. Zwischen Religion und Mythologie wird hier übrigens nicht unterschieden.

Literarisch geschickt erweitert Thomas Mann den Horizont der Mythen weit über den engeren Kreis des jüdischen Mythos hinaus. Neben der Mythologie der Griechen, der Ägypter, der Babylonier, der Sumerer oder auch der Etrusker (sehr viel verdankt Thomas Mann hier offenbar Egon Friedell) lässt Thomas Mann aber auch teils witzige literarische Reminiszenzen an Form und Inhalt einfließen, u.a. an Goethes Faust, Dante, Karl May, Schneewittchen oder den Golem. Vor allem aber fließt auch der christliche Mythos ein. Je mehr Vorbildung der Leser mitbringt, desto mehr wird er das Werk genießen können.

Wie so viele, so hat auch Thomas Mann in diesem Roman die Erscheinung des Pharao Echnaton in Verbindung mit dem Eingottglaube der Israeliten gebracht. Ein weiterer geschickter und sehr mythischer Topos ist, dass die jeweiligen Vaterfiguren der Geschichte zeitweilig an die Stelle Gottes treten, indem sie milde und belehrend-erziehend wirken: Jaakob, der Karawanenführer, Petepre, der Gefängnisdirekter, Pharao.

Schon hier sei gesagt, dass das Thema Mythen von allen Themen dieses Romans das Gelungenste ist, während die Behandlung der anderen Themen an schweren Defiziten leidet, wie wir unten zeigen werden.

Hauptthema 2: Mythenentwicklung hin zum Humanen

Thomas Mann sieht im jüdisch-christlichen Mythos eine fortschreitende Entwicklung zum Humanen. Der gottessorgende Mensch fühlt den Drang zur Milderung und zur Überwindung althergebrachter Sitte und Weisung. Diese Entwicklung geschieht im Selbstgespräch mit Gott und aus innerem Fühlen und Drängen heraus.

Zwar lässt Thomas Mann ein einziges Mal auch das platonische Thema kurz anklingen, dass Dichtung auch wahr sein müsse, doch sieht er dieses Kriterium darin erfüllt, dass sie von Gottessorge getragen ist (S. 1245-1247). Wahrheit ist demgemäß gar keine Wahrheit im eigentlichen Sinne, sondern das richtige Einfühlen in die Gottessorge, ein gefühliges Ins-Reine-Kommen mit sich selbst und Gott, ein höchst irrationaler Vorgang. Jaakobs Milde wird explizit einem „Wahrheitseifer“ als das Bessere gegenübergestellt (S. 1259).

Der Gott Thomas Manns ist kein rationaler Gott. Er entwickelt sich mit den Menschen mit, lässt sich von Luzifer und Menschen verführen, veranstaltet mit der Menschheit ein großes Gottesspiel, über das man lachen sollte, und am Ende wendet er alles entstandene Leiden doch immer zum Guten. Es ist offensichtlich, dass sich Thomas Mann dem so verstandenen jüdisch-christlichen Mythos auch persönlich verpflichtet fühlt.

Sehr glaubwürdig ist Thomas Manns Schilderung des menschlichen Haderns und Leidens, und der menschlichen Schwäche und Erniedrigung, die aber auch Kraft und Erneuerung aus geistigen Quellen erfahren kann.

Hauptthema 3: Judentum und Christentum

Thomas Mann unternimmt alles, um zu zeigen, dass der jüdische Mythos den christlichen Mythos vorbereitet und praktisch bereits enthält, von der Dreifaltigkeit bis hin zur leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Hier entfaltet Thomas Mann seine ganze sprachliche und erzählerische Meisterschaft, und spielt brilliant mit Worten wie „Ich bin’s“, „Auferstehung“, „leeres Grab“, oder „Sohn Gottes“.

Schließlich gestaltet Thomas Mann in dem Verhältnis von Gottessohn Joseph zu seinen „alten Brüdern“ andeutungsweise auch seine Vision vom wünschenswerten Verhältnis zwischen Christentum und Judentum. War das Gottesspiel auch böse, so war es doch ein Spiel zum guten Zweck, über das man lachen sollte, und allseitige Bitte um Vergebung ist angesagt.

Nebenthema: Erwählung und Leiden

Joseph ist der Erwählte, der Ausgesonderte. Der Liebling und der Schöne. Als solcher ist er naiv und offenherzig, muss für seinen „Frevelmut“ aber büßen durch den Neid der Nichterwählten. Er ist erwählt, muss dafür aber viel leiden, um zum Ziel zu kommen. Er erreicht das Besondere, aber der Segen geht dennoch nicht auf ihn und seine Nachkommen über, sondern auf einen anderen.

Nebenthema: Ökonomie

Anhand von Josephs Wirtschaftssystem in Ägypten zeigt Thomas Mann, wie er sich die Organisation der Ökonomie in seiner Zeit vorstellt (um die Seite 1284):

  • Volksfürsorge für Ärmere.
  • Reichere werden enteignet, Bodenreform.
  • Der Eigentumsbegriff wird relativiert und an die Bewirtschaftung gekoppelt.
  • Eine Flat-Tax für alle.
  • Die Tempel werden geschont, weil das Volk es nicht verstehen würde.

Nebenthema: Klimawandel

Wissenschaftlich völlig korrekt deutet Thomas Mann die Möglichkeit einer zufälligen Aufeinanderfolge von sieben Dürrejahren nicht als Klimawandel, sondern als möglichen Zufall. Noch interessanter ist, dass Thomas Mann für einen Klimawandel die Sonnenflecke verantwortlich macht: „Das hat übergeordnete Gründe, es führt ins Kosmische und zu den Gestirnen, die zweifellos Wind und Wetter bei uns regieren. Da sind die Sonnenflecke – eine beträchtlich entlegene Ursache.“ (S. 1191)

Damit nimmt Thomas Mann eine Erkenntnis vorweg, zu der wir nach dem langen Irrtum der Treibhaus-Hypothese langsam wieder zurückkehren: Maßgeblich für Klimaschwankungen ist immer noch nicht der Mensch, sondern die Sonne.

Nebenthema: Atlantis

Thomas Mann akzeptiert offenbar im Gefolge des von ihm mit viel Zustimmung gelesenen Egon Friedell die pseudowissenschaftliche Annahme einer Urzivilisation namens Atlantis. Während zur gleichen Zeit manche Nationalsozialisten diese Vorstellung von Atlantis zum Herkunftsort der arischen Rasse umzudeuten versuchen, ist Atlantis für Thomas Mann der Herkunftsort sowohl der arischen als auch der semitischen Sprachen. Vermutlich bezieht sich folgendes Wort von Thomas Mann aus einem Vortrag von 1942 über seinen Roman auch auf diesen Sachverhalt: „Der Mythos wurde in diesem Buch dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert, – wenn die Nachwelt irgendetwas Bemerkenswertes daran finden wird, so wird es dies sein.“

Schwäche 1: Thomas Mann ignoriert den Kern unserer aufgeklärten Kultur

Thomas Mann konzentriert sich in seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ allein auf das Mythische und die jüdisch-christliche Tradition. Den Kern unserer Kultur, die griechische Philosophie, übergeht er jedoch vollkommen. Damit muss Thomas Mann in vielerlei Hinsicht scheitern.

Philosophie bedeutet natürlich die Hinterfragung der Mythen, die Einführung der Herrschaft der Vernunft und die Frage nach der Wahrheit. Ohne das ist die menschliche Kultur seit über 2000 Jahren überhaupt nicht mehr denkbar, und Thomas Mann übergeht es vollkommen!

Damit gerät auch das zentrale Projekt, das Thomas Mann mit seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ verfolgte, ins Zwielicht: Denn nicht aus innerem Fühlen und Drängen heraus haben sich die Mythen und Religionen humanisiert, sondern aus dem Drang zur Vernunft heraus. Es gibt keine Garantie dafür, dass das innere Fühlen religiöser Menschen immer in Richtung Humanisierung geht; das Pendel des Fühlens und Meinens kann auch wieder in die gegenteilige Richtung umschlagen. Nur die Vernunft, nur der Humanismus der klassischen Antike ist Garant und wahre Quelle der Humanisierung. Alles andere kann dazu nur eine vorübergehende Vorstufe sein.

Wir müssen feststellen: Thomas Mann war eben leider nur ein Dichter, aber kein Denker.

Schwäche 2: Theologisch verfehlt

Die nächste Schwäche hängt sehr eng mit Schwäche Nr. 1 zusammen: Denn ohne Philosophie und Rationalität ist Theologie gar nicht zu haben. Es ist zu bezweifeln, dass Thomas Mann mit seinem Werk im Denken von jüdischen, christlichen oder islamischen Theologen einhaken kann. Allzu leicht tändelt dieser Gott, und lässt seine Anhänger im Stich, die seine unwiderrufenen Weisungen von gestern noch befolgen. Allzu leicht löst sich für Thomas Mann das Problem des guten Gottes, der Leiden zulässt, auf. Humanisierung auf dem Wege der Theologie schön und gut, aber so geht es nicht.

Ja, schlimmer noch: Die ganze jüdisch-christliche Tradition mit all ihren Mythen wird seit über 2000 Jahren im Spiegel der griechischen Philosophie überliefert und gedeutet und mythologisch weiter entwickelt. Selbst unter rein mythischen Gesichtspunkten hätte Thomas Mann hier also versagt.

Hier ist Thomas Mann dem schwärmerischen Drang zum Wünschenswerten erlegen, der aber die Auseinandersetzung mit der Realität nicht ersetzen kann.

Schwäche 3: Störend ahistorisch

Ein historischer Roman muss historisch nicht genau sein, er ist ja Literatur. Wo aber die beabsichtigte Botschaft eines historischen Romans davon abhängt, wird historische Genauigkeit doch wichtig.

Thomas Mann versetzt eine fortgeschritten humanistische Denkatmosphäre in den Kontext einer religiös-patriarchalischen Stammesgesellschaft: Das funktioniert so leider nicht. Natürlich repräsentieren auch die Geschichten um Jaakob und Joseph ein Stück Humanisierung, aber in einem weit geringeren Maße und einem weit früheren Stadium der Humanisierungsgeschichte, als dass es passen würde. Man darf als Literat durchaus Dinge hinzuerfinden, aber nur, wenn es sich in den vorgegebenen Rahmen einpasst. Sobald dieser Rahmen gesprengt wird, kommt immer etwas entschieden Falsches hinein, eine unauflösliche Dissonanz. Aus dem vorgegebenen Rahmen, der überlieferten Geschichte, wird etwas herausgeholt, was nicht in ihr steckt. Dann hätte der Literat seine Gedanken besser im Rahmen einer anderen Vorlage entwickelt.

Beispiele: Wenn Jaakob und Joseph bei Vollmond am Brunnen sitzen, beschleicht den Leser das unabweisbare Gefühl, hier würde doch eher der väterliche Sokrates mit dem jungen Phaidros am Ufer des Ilissos sitzen, als der Patriarch einer religiösen Stammesgesellschaft mit seinem Sohn. Die Gedanken schweifen viel zu frei. Besonders deutlich wird das Unpassende, wo Thomas Mann hinzuerfindet oder weglässt. Niemals könnte ein echter Patriarch es ohne Blutzoll dahingehen lassen, dass sein Sohn mit einer seiner Ehefrauen schläft. Niemals könnte ein Patriarch eine solche Selbsterniedrigung hinnehmen, wie Thomas Manns Jaakob vor Esaus Sohn Eliphas. Hingegen übergeht Thomas Mann dezent, mit welchen und wievielen Frauen dieser Patriarch Jaakob zu schlafen pflegt.

Schwäche 4: Der Islam fehlt

Nicht nur das Christentum, auch der Islam geht auf die biblischen Patriarchen zurück, und gerade heute wären wir alle höchst interessiert daran zu wissen, wie Thomas Mann den Islam in seine Erzählung eingewoben hätte, so wie er das Christentum auch hineingewoben hat. Doch mehr als den folgenden Satz finden wir nicht: „Da nahm er die ägyptische Magd und zeugte mit ihr einen Sohn und nannte ihn Ismael. War aber ein abwegig Erzeugnis, nicht auf der Heilsbahn, der Wüste gehörig, …“ (S. 1129). Das ist zu wenig, und würdigt weder die Errungenschaften noch die Schwächen des Islam in angemessener Weise, noch gibt es uns Rat, wie wir mit dem Islam umgehen sollen.

Schwäche 5: Allzu linker Linksliberalismus

Thomas Mann wollte den Mythos aus den Klauen der Ideologie befreien und sprachlich für immer humanisieren, doch er hat ihn womöglich doch nur für eine weitere politische Ideologie in Dienst genommen. Das ganze Werk atmet den Geist eines altbackenen, allzu linken Linksliberalismus.

Da ist zunächst die typisch linksliberale weltanschauliche Schwammigkeit, der Verzicht auf Rationalität. Man möchte sich gerne in den überkommenen Mythen wiegen, aber sie glauben möchte man nicht mehr. Alles soll nur noch im übertragenen Sinn gelten, bis vom eigentlichen Sinn nichts mehr übrigbleibt. Man haust offenbar gerne in den Trümmern einer gefallenen Weltanschauung. Die Mühe, eine direkt glaubhafte, konsistente Weltanschauung zu ersinnen, wird geradezu verpönt, und durch ein Schwelgen in überlieferter Bildung ersetzt. Ordnung und Disziplin vor sich selbst sind nicht gefragt. Wahrheit wird nicht gesucht, sondern für gefunden geglaubt, und als Pseudo-Wahrheit in den Dienst einer Sache gestellt, die man längst für ausgemacht hält. Wahre Bildung ist das nicht.

Aber auch die ökonomischen Visionen Thomas Manns zeigen es: Das Eigentum soll relativiert werden, Reiche soll es nicht mehr geben, alle Menschen sollen ökonomisch gleich sein, der gute Staat sorgt für alle. Das ist beinahe schon kommunistisch, denn wo die herausragenden Männer zurückgestutzt werden und der Staat der Übervater ist, dort ist keine Freiheit mehr. Die ökonomische Schonung der Tempel entspricht natürlich einer Schonung der heutigen Kirchen: Hier kommt die weltanschauliche Schwammigkeit eines Festhaltens am Christentum mit dem linken ökonomischen Denken zusammen.

Wenn man bedenkt, dass sich die Kirchen in der Bundesrepublik zu finsteren Horten eines allzu linken Linksliberalismus, eines schwärmerischen Utopismus, entwickelt haben, die sich bis heute an ihre überkommenen Privilegien klammern und darin vom links durchwirkten BRD-Establishment, das früher einmal kirchenkritisch war, maßgeblich unterstützt werden, bis hin zur bedenkenlosen Einführung eines Islamunterrichtes in Zusammenarbeit mit verfassungsfeindlichen Islamverbänden, nur um das analoge Privileg des christlichen Religionsunterrichtes weiter rechtfertigen zu können – wenn man das bedenkt, dann war Thomas Manns Werk in diesem Punkt wahrhaft prophetisch und vielleicht auch unheilvoll wirkmächtig.

Womöglich ist es kein Zufall, dass Thomas Mann gerade zum Islam nichts zu sagen hatte. Denn zum Islam weiß der allzu linke Linksliberalismus bis heute nichts Vernünftiges zu sagen, und glaubt, ihn unverwandelt und ungesiebt in die bestehenden Strukturen einbeziehen zu können. Wie wenn der Patriarch am Brunnen mit seinen zwölf Söhnen sich nahtlos in unsere durch griechisches Denken aufgeklärte Gesellschaft fügen könnte. Nach dem von Thomas Mann vorgegebenen Muster der Ignoranz des griechischen Erbes kollidiert hier Wunschdenken mit Wirklichkeit.

Schwäche 6: Literarische Faux-pas

Teilweise belästigt Thomas Mann den Leser mit einer läppischen Intimität. Wenn man zum soundsovielten Mal von „Dudu dem Ehezwerg“, dem „Hutzel“, gelesen hat, dann hat man davon irgendwann genug und will es nicht mehr sehen.

Längen sind eine Stärke dieses Romans, der alles in buchstäblich epischer Breite darlegt. Doch der Leser atmete sichtlich auf, als die Liebeswehen von Potiphars Weib Mut-em-enet endlich vorüber waren, und die Geschichte wieder an Fahrt aufnahm: Wer diese harte Prüfung bestanden hat, der wird den Roman auch vollends zu Ende lesen.

Fazit

Trotz gravierender Schwächen ist Thomas Mann ein sprachliches Meisterwerk gelungen, das über Mythen und Menschen viel zu sagen weiß, und das zu lesen sich lohnt. Man darf dabei aber niemals vergessen, dass Thomas Manns Weltsicht eine schwere jüdisch-christliche und politische Schlagseite hat, die der kundige Leser in seinem eigenen weltanschaulichen Denken in vielfacher Hinsicht nachkorrigieren muss – dann kann dieses Werk ein Genuss sein.

Ohne diese Korrektur jedoch wird dieses Buch zur Quelle eines unheilvoll mythischen Denkens, zu einem unendlich tiefen Brunnenloch, aus dem die Dämonen der Vergangenheit in die Gegenwart hinaufsteigen können. Ob Thomas Mann das gewollt hätte? Wir glauben nicht: Denn mit Thomas Mann wissen wir, dass die Geschichten sich immer weiter spinnen, und wie sein Gott so hätte auch Thomas Mann inzwischen sicher längst wieder seine Meinung weiter entwickelt und würde jene bestraft sehen wollen, die am „Überständigen“ dieses Romans festhalten wollen: „Denn es ekelt den Herrn das Überständige, worüber er mit uns hinauswill“.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 20. Juli 2014)