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Uwe Tellkamp: Der Turm (2008)

Doppeltes Denkmal: Die DDR der 80er Jahre und das Milieu des Bildungsbürgertums

Mit seinem Roman „Der Turm“ hat Uwe Tellkamp ein doppeltes Denkmal gesetzt: Zum einen für die Verhältnisse und die Atmosphäre in der späten DDR der 1980er Jahre, zum anderen für das deutsche Bildungsbürgertum in der DDR, das in seinen Nischen zu überleben versuchte. Beide Themen sind in diesem Roman glänzend gestaltet worden und sind auf diese Weise für die Nachwelt bewahrt worden: Die Verhältnisse in der DDR als Dokumentation der Wahrheit gegen alle spätere Verfälschung und als Warnung. Und die Verhältnisse des deutschen Bildungsbürgertums als Vorbild und Mahnung für eine Zeit, die noch nicht einmal mehr weiß, was ein Bildungsbürger überhaupt ist und die glaubt, Schreiben, Lesen und die Aneignung von Wissen hätten sich im Zeitalter der KI erledigt.

Literarische Form

Der Roman besteht aus einzelnen Szenen, die – jede für sich – liebevoll gestaltet wurden. Die Szenen verbinden sich anfangs noch nicht zu einer durchgängigen Geschichte, wachsen dann aber langsam zu einem Geflecht und einer Geschichte zusammen. Dennoch enthalten die Szenen bis zum Schluss lauter Eigenheiten, die die Geschichte nicht vorantreiben, wohl aber für Atmosphäre sorgen. Die Atmosphäre von damals literarisch einzufangen, das ist eines der großen Hauptanliegen dieses Romans.

Dabei kommt eine Vielfalt von literarischen Formen zum Einsatz: Dialoge, Briefe, Tagebucheinträge, Protokolle, Rückblicke. Teilweise verschwimmen die Texte zu psychedelischen Assoziationen. Viele Dinge werden nicht mit ihrer wahren Bezeichnung in der DDR angesprochen, sondern mit Chiffren wie z.B. „Turm“ oder „Kohleninsel“.

Wiederkehrende Themen

Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie Hoffmann. Richard Hoffmann ist Arzt, sein Sohn Christian will später Medizin studieren. Deshalb kommen immer wieder medizinische Themen vor. Man erhält tiefe Einblicke, wie Mediziner reden und denken, wenn kein Patient im Raum ist. Wer selbst Mediziner ist, wird sich gut getroffen fühlen, und vielgeplagte Patienten werden manche wertvolle Einsicht über die „Götter in Weiß“ mitnehmen.

Da der Roman hauptsächlich in Dresden spielt, ist auch viel Dresdner Geschichte und Lokalkolorit in den Roman eingeflochten worden („Dresden … in den Musennestern wohnt die süße Krankheit Gestern“). Ein ebenfalls immer wiederkehrendes Thema sind Uhren und Zeit: Wanduhren, Standuhren, Seemannsuhren, Turmuhren, Uhren aller Art, die die Zeit anzeigen und die Stunde schlagen.

Das Thema des Archipels und vieler einzelner Inseln durchzieht den Roman wie ein roter Faden. Die Anlehnung an „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn ist offensichtlich. Bei Tellkamp bezeichnen die einzelnen Inseln die Schattenwelt, die die DDR zur DDR machte: Die Kohleninsel ist die Bürokratie, die die Bürger unerbittlich knebelte. Die Kupferinsel ist das Regierungsviertel in Berlin. Die Gelehrteninsel ist der Verlag, der Zensur ausübte. Die Askanische Insel, wo die Rechtsanwälte ihre Büros hatten. Die Karbidinsel das Karbidwerk, wo Sträflinge und Soldaten arbeiten mussten. Usw. usf.

Diese zweite Wirklichkeit unter der Oberfläche wird auch „Atlantis“ genannt. Das Thema Atlantis wird immer wieder angedeutet, teils ohne Atlantis explizit zu nennen. So z.B. durch die Erwähnung des „Goldenen Topfes“ von E.T.A. Hoffmann, in dem Atlantis eine Chiffre für die Phantasiewelt des Dichters ist. Oder es wird beiläufig erwähnt, dass auf dem Schreibtisch von Meno die beiden Dialoge „Timaios“ und „Kritias“ von Platon lagen: Es sind die beiden Atlantisdialoge Platons. Die Absicht des Autors scheint einigermaßen klar: Atlantis ist jene Insel, die eines Tages plötzlich unterging, weil ihre Bewohner nicht richtig gelebt hatten: Es ist eine Chiffre für die DDR. Etwa so, wie Viktor Ullmann in seiner Oper „Der Kaiser von Atlantis“ Atlantis als Chiffre für das untergehende Habsburgerreich verwendete.

Und natürlich ist Bildung ein wiederkehrendes Thema.

Bildungsbürgertum und Bildung

Dem Milieu des Dresdner Bildungsbürgertums hat Uwe Tellkamp mit diesem Roman ein wahres Denkmal gesetzt. Auch hier ist der Roman stark autobiographisch, denn Uwe Tellkamp wuchs selbst als Sohn eines Arztes im Dresdner Villenviertel „Weißer Hirsch“ auf. Dieses Thema setzt diesen Roman von allen anderen Werken der (Ex-)DDR-Literatur deutlich ab.

Im Roman wird das Villenviertel am Hang über Dresden mit der Chiffre „Der Turm“ angesprochen. Die weitere Familie sowie Verwandte und Bekannte wohnen in verschiedenen benachbarten Villen, die jede einen eigenen Namen, eine eigene Chiffre hat: Tausendaugenhaus, Karavelle, Haus Abendstern, usw. Dabei ist jede dieser Villen für sich mit ihrer Geschichte und ihrer Ausstattung ein Stück Bildung, sei es durch ihre Jugendstil-Ornamente oder durch die in das Glas der Türen geschliffenen Schiffe. Die Bewohner sind Mediziner, Literaten, Naturforscher, Künstler, Historiker und sonstige Gelehrte im weitesten Sinn.

Das ganze Buch hindurch werden immer wieder Bildungsinhalte reflektiert. Der junge Christian wird immer wieder angespornt: Was siehst Du hier? Beschreibe es genauer! Schau genau hin! Die „Türmer“ treffen sich, tauschen ihr Wissen aus, veranstalten Vorträge.

Bildung heißt konkret vor allem literarische Bildung. Goethe steht ganz oben, auch der Zauberlehrling wird erwähnt, und mit „Walpurgisnacht“ wurde Goethe ein ganzes Kapitel gewidmet. Den Anfang des Hildebrandsliedes kann man auswendig, sunufatarungo, Jakob Böhme und Empedokles sind nicht unbekannt, aber auch westdeutsche Autoren kommen vor: Hermann Hesse, Ludwig Uhland und sogar Walahfried Strabo, als Vertreter einer seltenen Traditionslinie, in der Dichtung und Wissen eine Einheit bilden: Das ist es, darum geht es. Christian liest als Schüler wie verrückt. Der Verlagsmitarbeiter Meno weiß viel von der Leipziger Buchmesse und den Begegnungen mit Westverlagen zu berichten. Von Ossip Mandelstam kann ein Gedicht über Homer auswendig gesagt werden. – Dann ist Bildung auch naturwissenschaftliche Bildung: Käfer, Zoologie, überhaupt Biologie. Haeckel als nützlicher Narr. Museen als Orte der Bildung. Und natürlich Medizin. Aber auch technisches und physikalisches Wissen. – Nicht zuletzt Musik. Schallplatten waren wahre Schätze in der DDR und wurden mit Ehrfurcht gehört. – Grundsätzlich ist ein „Türmer“ an allem (!) interessiert. Bildung ist universal und lässt sich keine Schranken auferlegen. Und seien es Ausgrabungen in Babylon.

Dieses Bildungsverständnis ist dem Rezensenten als Sohn eines Libellenforschers und einer Buchhändlerin nur allzu gut bekannt. Die Familie väterlicherseits kam einst aus dem Osten in den Westen: Ob sich mit diesem Bildungsverständnis auch hier unvermutet ein östliches Erbe entfaltet hat? Es scheint so. Hermann Hesse und Walahfried Strabo grüßen vom schönen Bodensee.

Elend und Niedergang

Doch die „Türmer“ bewohnen die Villen nicht allein. Die Villen sind von der Wohnbehörde säuberlich in Zimmer, Flure, Balkone und Kellerräume aufgeteilt worden, und jede Villa wird von mehreren Parteien bewohnt, die jede nach einem säuberlichen Schlüssel dieses oder jene Zimmer zugeschlagen bekommen hat. Manchmal wird auch ein Zimmer durch eine künstliche Wand geteilt, um den Schlüssel zu erfüllen. Die Bäder und Gärten werden gemeinsam benutzt. Durch diese erzwungene Hausgemeinschaft werden sonst fremde Menschen zum intimen Zusammenleben gezwungen.

Renovationen finden praktisch nicht statt. Die „Türmer“ müssen selbst reparieren oder mit kaputten Heizungen und Fenstern leben lernen. Generell finden den ganzen Roman hindurch immer wieder irre Tauschgeschäfte um seltene Waren statt, um Dachpappe, Bleistifte, Autoersatzteile, Weihnachtsbäume, Dresdner Christstollen, medizinische Produkte.

Telefone sind Mangelware, wer eines hat, lässt die anderen am eigenen Apparat telefonieren. In der Klinik kommt es zu einem dramatischen Stromausfall. Später dann zu einem Stromausfall in der ganzen südlichen DDR. Überall wird mit alten Geräten gearbeitet, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammen, bis sie nicht mehr repariert werden können. In der Produktion werden Sträflinge und Soldaten eingesetzt, um dem Personalmangel zu begegnen.

Über die sogenannte „Dunkelsteuerung“ der Karbid-Schmelzöfen heißt es: „In den Hauptlastzeiten, tagsüber, war oft wenig Energie vorhanden, die Öfen wurden zurückgefahren, dienten, ähnlich wie Pumpspeicherwerke, als Puffer für das öffentliche Netz – fuhren jedoch in den energiegünstigen Nacht- und Sonntagsstunden mit der vollen Last, um die Produktionsausfälle wieder aufzuholen.“ (S. 839)

Der Alltag

Der Roman ist reich an Alltagsszenen. Es wird geheiratet und Geburtstag gefeiert. Es werden beliebte Sendungen des DDR-Fernsehens genannt („Willi Schwabes Rumpelkammer“). Weihnachtsbräuche werden beschrieben. Weihnachtsbäume gestohlen. In einer der Villen ist im Keller eine Badeanstalt eingerichtet, wo den „Türmern“ Duschen und Badewannen mit heißem Wasser zur Verfügung stehen: Hier begegnet man sich, und es kommt zu Smalltalk und spontanen Tanzeinlagen.

In den Urlaub fährt man auf Hiddensee, in ein Wohnheim, dessen Plätze selten zugeteilt werden. Im Wohnheim geht es bräsig zu wie überall in der DDR, aber man ist am Meer. Als Arzt kann man einen Platz ergattern, indem man Arztdienste am Strand leistet.

Christian wird im Laufe des Romans erwachsen. Er ist vor allem an Bildung interessiert und versteht das dumme Getue der Mädels und anderer Jungs nicht. Sehr gut die Frage: Ist das jetzt Liebe? Weil ihm die Motivation fehlt, die Spielchen mitzuspielen, wird Christian zum Außenseiter. Die Mädels nennen ihn arrogant. Das wird sich wohl nie ändern.

Richard hat eine Affäre mit einer Krankenhausmitarbeiterin. Und mit einer Studentin. All das unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus. Schon Biermann klagte einst, dass er hinterher gar nicht mehr wisse, wie er das mit der Liebe in der Diktatur eigentlich geschafft hatte. Die Stasi nutzte solche menschlichen Schwächen natürlich aus.

Schließlich muss Christian zum Militär. Dort geht es recht derb zu. Die Vorgesetzten sind zynisch. Es kommt zu sexueller Gewalt. Bei einer Übung zur Flussdurchquerung ertrinkt der Panzerfahrer von Christians Panzer, weil das Gerät schlecht ist und Wasser eindrang.

Hier lohnt sich ein kleiner Vergleich zum Wehrdienst in der Bundeswehr 1991/92: Derb ging es auch dort zu, die Sprache war für den literarisch gebildeten Rekruten gewöhnungsbedürftig. Aber Gewalt gab es keine. Erst recht keine sexuelle Gewalt. Auch eine „Taufe“ gab es nicht. Und Vorgesetzte waren halbwegs vernünftig und von ihrem Tun überzeugt, ohne Zynismus. Es ging ziemlich fair zu, muss man sagen. Allerdings hörte man, dass es früher einmal auch in der Bundeswehr Gewalt gab. Vermutlich vor 1991/92, und nicht in diesen Einheiten. Ach ja, die ABC-Schutzmaske eines Kameraden hatte einen undichten Kohlefilter, so dass er Kohlestaub einatmete und auf die Intensivstation musste: Schlechtes Gerät auch hier, so scheint es. Zudem gab es einen verrückten Anti-Nazi-Fimmel. Wir durften z.B. nicht „Gasmaske“ sagen, „wegen der Geschichte“. Einmal gab es in der wöchentlichen Truppeninformation einen lächerlich lobhudelnden Film über die USA, der an Dämlichkeit nicht zu überbieten war. Es regte sich lebhafter antiamerikanischer Protest, der die Dummheit des Films spiegelte. Sowas hätte es in der DDR-Armee mit Bezug auf die „Freunde“, die Sowjetunion, natürlich nicht gegeben. In den kleinen Dingen gab es viele Ähnlichkeiten, bis hin zu den unvermeidlichen Hängolin-Gerüchten.

Für einen Wessi oder auch einen Spätgeborenen wird es nicht immer leicht sein, alle Andeutungen und Chiffren aus den Alltag der DDR richtig zu entschlüsseln oder auch nur zu erkennen. Hier haben Literaturhistoriker ein reiches Arbeitsfeld vor sich. Bekannt ist immerhin, dass die „unvermeidliche Tschaikowski-Melodie“ die Erkennungsmelodie der „Stimme der DDR“ war. Auch der Minol-Pirol und das Sandmännchen sind bekannt.

Die Repression

Auch die Repression in der Diktatur, die die DDR war, kommt in epischer Breite zur Sprache. Wichtig ist, dass es fast nie zur Konfrontation mit der Staatsmacht kommt. Denn alle wissen, dass sie dabei nur den Kürzeren ziehen würden. Deshalb versuchen alle, die Konfrontation von vornherein zu vermeiden. Sie haben eine Schere im Kopf. Auch die Staatsmacht schlägt keinesfalls sofort zu, sondern redet scheinbar fürsorglich mit ihren Bürgern: Sie wollen doch nicht, dass wir Ernst machen müssen? Alle lügen und verbiegen sich dann, aber es ist unendlich demütigend, und in dieser Demütigung liegt der Kern der Repression. Es ist der Gesslerhut auf der Stange. Und es gibt kein Entkommen. All das geschieht durch Vorgesetzte, Offiziere oder Schuldirektoren. Die Stasi bleibt unsichtbar.

Die Eltern von Christian sorgen sich darum, dass ihr Sohn etwas Falsches sagen könnte, und unterweisen ihn, was er nicht sagen darf. Meno befragt Christian über seine Lehrer, welche davon wohl politisch gefährlich sind, und wie man sich verhalten muss, um nicht anzuecken. Eine Schülerin tut einmal etwas Verbotenes: Sofort wird eine Konferenz von Lehrern und FDJ-Jugendleitern einberufen, und auch hier das Schema: Du meintest das doch gar nicht so, oder? Die Schülerin gibt klein bei.

Auch am Arbeitsplatz immer dasselbe Spiel: Andeutungen, dass man auch anders könne, und schon spurt man. Ebenso im Verlag: Ständig arbeitet man darauf hin, mit Texten gar nicht erst anzuecken, um die Texte auf diese Weise durch den Zensor bringen zu können. Die DDR-Presse empfängt ihre Weisungen ohnehin vom Politbüro und pfeift auf Werte wie Vernunft oder Wahrhaftigkeit. Statt dessen lautet die Maxime: „Wichtigstes Kriterium der Objektivität ist die Parteilichkeit, Genosse! Objektiv sein heißt Partei ergreifen für die historische Gesetzmäßigkeit, für die Revolution, für den Sozialismus!“ (S. 965) – Aber als Judith Schevola einmal ein Buch bei einem Westverlag herausbringt, wird sie aus dem Kulturverband ausgeschlossen und zum Arbeiten geschickt, wo sie als Säuferin versackt. Erstaunlich dabei, dass es auf der Sitzung des Kulturverbandes zu einer ziemlich offenen Aussprache kam und einige sich für ihren Verbleib aussprachen. Judith Schevola verzeiht ihren Richtern: Sie wisse, dass sie so abstimmen mussten, um ihre eigene Haut zu retten. Das Opfer hat Verständnis für die Täter.

Ausreisen werden willkürlich gewährt oder verweigert. Wer ausreisen darf, muss das Land blitzartig innerhalb von 24 Stunden verlassen. Verrückt. Als ein Kollege von Richard mit Fluchtplänen auffliegt, wird auch der liebevoll von Richard gepflegte Oldtimer, ein Hispano-Suiza, der in derselben Werkstatt stand, von der Staatsmacht zertrümmert. Daran ein Zettel: Mit sozialistischen Grüßen. Selbstmorde geschehen recht häufig und sind auf das willkürliche Handeln der Staatsmacht zurückzuführen. Ein Arzt nimmt sich das Leben, als man ihm mit Renteneintritt seine gute Wohnung wegnehmen will.

Christian erhebt eine Axt gegen seinen Vorgesetzten beim Militär, nachdem sein Panzerfahrer ertrunken war. Doch im Zentrum der Anklage steht, was er dabei sagte: So etwas könne es nur in diesem Scheißstaat geben! Die Verunglimpfung des Staates wurde nach Paragraph 220 schwer bestraft. Es ist gewissermaßen der Gesslerhut-Paragraph der DDR gewesen.

Einmal stehlen russische Soldaten ein Baby aus dem Kinderwagen. Eine Strafverfolgung scheitert, denn die Russen sind in der DDR tabu. Der Höhepunkt der Repression ist jedoch dies: Das ganze Buch hindurch sorgt sich Richard, dass seine Frau von seinen Affären erfährt bzw. er überlegt, wie er es ihr beichten kann. Doch am Ende hat die Ehefrau es selbst herausbekommen und nimmt es ganz gelassen ….. und prostituiert sich bei einem DDR-Anwalt, damit ihr Sohn seinen Studienplatz wieder bekommt. Es erinnert an Voltaires „L’ingénu“: Erst macht man die Leute zu Affen, dann lässt man sie tanzen.

Die Kommunisten

Die überzeugten Kommunisten und Funktionäre werden bei Uwe Tellkamp differenziert dargestellt. Vor allem wird ihre Motivation für ihre Überzeugung vom Sozialismus herausgearbeitet: Da ist der hochgebildete Jochen Londoner, dessen ganze Familie von den Nazis ermordet wurde, während er im Exil in London überlebte. Oder der „Alte vom Berge“, der sich ständig traumatisch an seine Erlebnisse an der Ostfront erinnert. Der Oberfunktionär Barsano zeigt sich am Ende überraschend offen gegenüber den Reformen von Gorbatschow.

Die Funktionäre und Privilegierten wohnen übrigens in einem eigenen Stadtviertel direkt neben dem „Turm“, das man nur über eine Brücke und Wachtposten erreichen kann. Die Chiffre des Romans für dieses Viertel lautet „Ostrom“. Man denkt als Leser sofort an Byzanz und byzantinische Verhältnisse.

Als die Wende naht, entlarven sich die Kommunisten als ratlos resignierende Zyniker: Der sonst hochgebildete Jochen Londoner meint allen Ernstes, die Flüchtlinge über Prag und Ungarn wären wie eine Abszessentlastung. Eschloraque und Barsano meinen, ihr Irrtum hätte darin bestanden, zu glauben, dass die Menschen von Natur aus gut seien. Damit ist implizit gemeint, dass sich in dem Freiheitswillen der Menschen ihre Schlechtigkeit zeige, denn „gut“ ist nur der, der willig am Sozialismus mit aufbaut, auch wenn es schwierig wird. Eschloraque meint zudem, dass die Zeit des Teufels sei, weil sie Veränderung bringe. Der völlige Stillstand der Gesellschaft ist also sein sozialistisches Ideal, also die Erstarrung. Von Erich Mielke wird der berühmte Satz zitiert, den er am Abend der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR über den Umgang mit Demonstranten gesagt haben soll, nachdem Gorbatschow die Feierlichkeiten verlassen hatte: „Jetzt ist Schluss mit dem Humanismus!“ Damit wird einmal mehr klar, dass es den Funktionären nicht wirklich um Humanismus ging.

Schließlich meint einer, dass die Deutschen ein Volk von Faschisten sind. Das deutsche Volk also als intrinsisch schlecht, ein böser Lümmel, der ständig erzogen werden muss und niemals in die Freiheit entlassen werden darf. Hier schließt sich der Kreis zum Ungeist der westdeutschen Shitbürger, die nach der Analyse von Ulf Poschardt alle Deutschen als Nazis ansahen, obwohl – oder gerade weil – sie doch selbst beim Nationalsozialismus munter mitgemacht hatten.

Die Wende

Naturgemäß kann ein Roman, der sich hauptsächlich auf die Zeit vor der Wende bezieht, die Wende nur knapp bearbeiten. Man liest, wie die Vorgänge in Moskau von den „Türmern“ zur Kenntnis genommen werden, aber noch ohne Anteilnahme oder Begreifen, dass dies Konsequenzen haben wird. Die „Türmer“ verschließen sich sogar noch mehr als zuvor.

Doch dann schlagen die Uhren, und die „Türmer“ treten aus ihren Rollen heraus: Sie sagen offen ihre Meinung, weichen nicht mehr in vorauseilendem Gehorsam vor der Staatsmacht zurück. Man organisiert sich, verteilt Druckschriften, der Pfarrer macht einen Aushang, den er auch auf Druck hin nicht mehr abhängen will, und die Dinge nehmen ihren Lauf. – Von einigen heißt es jedoch, dass sie bei all dem hinter ihren Gardinen blieben.

Fazit

Der Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp ist ein wichtiges Werk der neueren deutschen Literatur, das ein bleibendes Denkmal für die Zeit der späten DDR und für das Milieu der Bildungsbürger in der DDR und deren Bildungsverständnis geschaffen hat. Die Schilderung der Verhältnisse ist eine bleibende Warnung: Die Diktatur zeigt sich nicht erst in Verhaftungen, sondern viel früher, mit der Schere im Kopf. Zugleich wurde ein bleibendes Beispiel dafür gesetzt, was echte Bildung ist und wie sie den Geist des Widerstandes erweckt. Denn echte Bildung ist universal und zeitlos und lässt sich keine Schranken auferlegen. Sie ist auch nicht zynisch und verbohrt, sondern wird von der Liebe zu den Menschen getragen. Nur so ist echter Humanismus denkbar. In diesem Sinne kann dieser Roman als ein wahrer Klassiker Hoffnung auf eine neue Zeit machen, die sich diese Lehren zu Herzen nimmt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Arnold Bennet: Hotel Grand Babylon (1902)

Vergnügliches Krimi-Abenteuer und der Charme nationaler Klischees

Der Roman „Hotel Grand Babylon“ von Arnold Bennett ist eine vergnügliche Kriminalgeschichte um einen amerikanischen Milliardär, der spontan ein Hotel in London kauft, um seiner Tochter einen Gefallen zu tun. Bald muss er feststellen, dass sein Hotel der Schauplatz einer schlimmen Intrige ist, und ein turbulentes und liebenswert erzähltes Abenteuer beginnt.

Der Roman bezieht seinen Charme aus einer sympathischen Verwertung altbekannter nationaler Klischees: Die Engländer sind Prinzipienreiter und Traditionalisten. Die Schweizer sind arbeitsam und ordentlich. Die Deutschen sind gläubige Monarchisten von einer so großen Einfalt, dass es schon wieder respektabel ist. Die Bosnier greifen hitzköpfig zu Entführung und Mord als Methoden. Die Amerikaner sind reich, pragmatisch und haben immer ihre Revolver dabei (benutzen sie aber dann nicht: sehr human!). Die Tochter des US-Milliardärs ist zudem uneuropäisch modern und frei von jeder damenhaften Attitüde und statt dessen von einem ungeniert zupackenden Wesen. Daher wohl auch der Name des Hotels: Babylon als das Symbol für das verwirrende Aufeinandertreffen der verschiedenen Nationen. Außerdem sind die Bösewichter wahre Schurken, die am Ende zur Strecke gebracht werden, wie es sich gehört.

Normalerweise stoßen Klischees eher ab. Hier jedoch werden sie mit viel Sympathie entfaltet und zum Guten und nicht etwa zum Schlechten ausgelegt (die Bosnier mal ausgenommen, aber die waren damals weit weg, und wenn man an den Beginn des Ersten Weltkriegs denkt, war Bennett regelrecht hellsichtig). Nationale Eigenheiten haben auch etwas Liebenswertes, und genau auf dieser Klaviatur wird hier gespielt. Es erinnert an die Romane von Jules Verne, in denen immer wieder die Vertreter verschiedener Nationen unverhofft zur Teambildung gezwungen werden, und vereint durch einen ungetrübten Aufklärungsoptimismus und den Glauben an den Fortschritt der Wissenschaft gemeinsam Abenteuer bestehen, indem jeder seine Stärken einbringt.

Diese wohlwollende Einstellung zu nationalen Identitäten und ihren Vorzügen und Schrullen ist derzeit bei vielen Menschen in der westlichen Welt, aber speziell in Deutschland gründlich verloren gegangen, und durch eine Hermeneutik des Verdachts gegen alles Nationale ersetzt worden. Man überlässt die nationale Identität derzeit den Rechtsradikalen und glaubt, man könne ein Europa gegen die Nationen statt mit den Nationen bauen. Inmitten dieses Wahns, der zwangsläufig den entsprechenden rechtsradikalen Gegenwahn hervorruft, tut es deshalb gut, durch Autoren wie Arnold Bennett oder Jules Verne daran erinnert zu werden, wieviel Liebenswürdigkeit, Humanität, Charme und unverlierbare Wahrheit in nationalen Eigenheiten liegen kann.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. Juli 2019)

Israel Finkelstein / Neil A. Silberman: Keine Posaunen vor Jericho – Die archäologische Wahrheit über die Bibel (2001)

Sehr, sehr grundlegendes Allgemeinwissen für jedermann

Ich zähle „Keine Posaunen vor Jericho“ (Englisch: „The Bible Unearthed“) von Finkelstein und Silberman zu den 20 wichtigsten Sachbüchern, die man gelesen haben sollte. Warum? Weil darin sehr grundlegendes Wissen über unsere Weltwirklichkeit mithilfe der historisch-kritischen Methode vermittelt wird.

Das Buch legt verständlich aber fundiert den derzeitigen Stand der Wissenschaft dar, was der reale Hintergrund für die Entstehung des grundlegenden Teiles der Bibel war: Es handelt sich weniger um Berichte von realen Ereignissen, als vielmehr um Texte, die in theopolitischer Absicht komponiert wurden, zusammengesetzt aus Historie, Mythen, Legenden, Wunschdenken und Zielvorstellungen, geschrieben zur Erreichung eines bestimmten Zwecks in einer konkreten Situation in der damaligen Gegenwart.

Was profitiert man davon?

Zunächst wird man von der Illusion befreit, die biblischen Geschichten seien wörtlich wahr. Dies ist für das persönliche Weltbild wichtig, da diese Geschichten immer noch in Kindergarten, Schule und Literatur erzählt werden, wie wenn sie historisch wahr seien.

Auch wenn man nie selbst an diese Geschichten glaubte, kann man mithilfe dieses Wissens die christlich-jüdisch-islamisch geprägten Kulturen besser verstehen. Und diese Kulturen prägen die gesamte Welt.

Man erwirbt sich die grundlegende Kompetenz, auch bei anderen Texten historisch-kritisch zu hinterfragen, ob sie denn wahr sein könnten und was die wahre Absicht ihrer Verfasser war. Das einmal kennengelernte Prinzip kann auf jeden anderen Text übertragen werden: Auf das Neue Testament, auf den Koran, auf antike Philosophen und Historiker, bis hin zu modernen Texten und Filmen und ihren Hintergründen.

Man bekommt auch ein Verständnis dafür, dass eine Entmythologisierung nicht unbedingt die Entwertung eines Mythos nach sich ziehen muss. Was nicht wörtlich wahr ist kann dennoch im übertragenen Sinn von Bedeutung sein. Und manchmal entpuppt sich ein Mythos auch als historische Wahrheit. Eine blindwütige Bilderstürmerei ist nicht angesagt.

Einladung an gläubige Leser

Gläubige Leser sollten dieses Buch nicht zuerst als Angriff auf ihren Glauben lesen. Die Erkenntnis, dass ein heiliger Text nicht wörtlich wahr ist, entwertet diesen noch lange nicht als Grundlage für eine Religion. Natürlich bringt dieses Buch Erschütterungen für den Glauben mit sich, aber Erschütterungen können auch heilsam sein! Jedenfalls lehren alle Religionen das Vertrauen in die Vernunft, und dieses Vertrauen sollte man aufbringen. Gläubige Leser sollten sich insbesondere auch nicht gezwungen fühlen, gleich für alles eine Erklärung zu haben, sei es pro oder contra. Vernunft braucht Zeit. Man kann die Erkenntnisse dieses Buches auch erst einmal distanziert zur Kenntnis nehmen und mit ihnen gedanklich spielen. Nach einer Weile wird sich dann ganz zwanglos herauskristallisieren, was sich bewährt, und wo umgedacht werden muss, und wie dieses Umdenken zu einem neuen Ganzen führt. Ganz falsch wäre es sicher, die Ideen dieses Buches bewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dann hätte man gegen die Religion gehandelt, weil man nicht auf die Vernunft vertraute.

Vierteilige TV Doku

Zum Buch gibt es eine sehr gut gemachte vierteilige TV-Doku von 4 x 50 Minuten, die die Inhalte des Buches gut und umfassend präsentiert und mit Bildern von Ausgrabungen, Papyri, Keilschrifttexten usw. unterlegt, sowie Interviews mit an der Forschung beteiligten Wissenschaftlern zeigt. Sie wird unter verschiedenen Titeln auf DVD vertrieben, z.B. „Die Enthüllung der Bibel“ oder „Was die Bibel verschweigt“. Empfehlung!

Auf Englisch aktuell auf Youtube z.B. unter „The Bible Unearthed (Full Version)“ zu finden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. März 2011)

Aischylos: Die Perser (472 v.Chr.)

Ein Grundstein der Weltliteratur und des Griechentums

Durs Grünbein hat mit den „Persern“ von Aischylos eine Übersetzung vorgelegt, deren Worte die Kraft haben, die Vergangenheit für die Gegenwart erinnerlich zu machen, bei der, anders als bei modernistischen Übersetzungen, jede Zeile sitzt und bewusst macht, dass dem Leser hier aus alter Zeit das unverändert Menschliche entgegenweht.

Diese älteste aller griechischen Tragödien, eine einzige handlungsarme Wehklage der Perser über den Verlust des Krieges mit den Griechen bei Salamis und Plataiai, wartet mit einer großen Überraschung auf und versetzt dadurch in Staunen: Die Sieger bringen die Besiegten in ihrem menschlichen Jammer auf die Bühne, ohne Spott, ohne Häme und mit großem Ernst. Es ist den griechischen Zuschauern klar: So hätten um ein Haar auch wir wehklagen müssen, wären wir nicht Sieger geblieben. Damit sprengt diese Tragödie durch das Mitleiden der Zuschauer jede nationale Engstirnigkeit und lenkt den Blick auf die Menschlichkeit aller Menschen, und sei es der Feind – gleichzeitig demonstriert der Plot aber auch die Überlegenheit des griechischen Weges: Wo sonst wäre solches zu zeigen möglich als in Athen?

Sehr anregend auch die kenntnisreichen Nachworte von Durs Grünbein. Widersprochen werden muss seiner zuletzt geäußerten Auffassung, dass die Verbindung zu den Gefallenen vergangener Kriege abreiße, sobald sich die Ideologie ändere oder die Nation auflöse. Dies ist nicht der Fall. Denn die Nachfahren werden immer das Bewusstsein in sich tragen, dass es Menschen waren wie sie selbst, die in ihrer Zeit mit sich und dem Schicksal gerungen haben, wie dies jeder Mensch tun muss. Und es fragt sich jeder: Hätte ich es anders getan als die Vorfahren? Die Vorfahren stecken in uns, ohne dass ein Abreißen der Tradition möglich wäre.

Das Erscheinen des Dareios im Stück signalisiert auch nicht das Abreißen einer Tradition, sondern im Gegenteil die Wiederaufnahme und Rückbesinnung auf eine Tradition, nämlich die Beschwörung des Besten, was Persien bislang hervorgebracht hatte, nämlich die Weisheit des Dareios gegen Hybris und Unvernunft.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Oktober 2010)

Edith Wharton: The House of Mirth (1905)

Drama eines erwachenden Menschen in einer kalten, langweiligen Gesellschaft

Oberflächlich betrachtet ist dieser Roman ein feministisches Buch, in dem eine Frau daran zugrunde geht, dass Frauen in der Welt von 1900 nur durch Männer an Geld kommen. Doch diese Betrachtungsweise greift entschieden zu kurz. In diesem Roman sind auch Frauen Täter und Männer Opfer, wie explizit gesagt wird. Und die besondere Konstellation der Protagonistin ist ein zeitloses Problem: Ein Mensch wird durch seine Eltern auf ein bestimmtes Gleis gesetzt, doch nach und nach bemerkt dieser Mensch, dass der für ihn vorgesehene Weg falsch und für ihn nicht gangbar ist.

Der Roman spielt im New York um 1900, und es geht um die Gesellschaft des Geldadels von New York. Die High Society trifft sich mal auf diesem, mal auf jenem Landsitz, oder fährt mit der eigenen Jacht nach Monte Carlo. Wer eingeladen ist, ist dabei, und die schöne und intelligente Lily Bart ist ständig eingeladen. Ohne eigenes Vermögen wurde sie von ihrer Mutter auf das Lebensziel hin erzogen, einen Millionär zu heiraten. Doch Lily schreckt immer im letzten Moment zurück. Sie kann es nicht. Sie liebt diese Männer nicht. In Lawrence Selden hat sie einen Komplizen, der die Gesellschaft durchschaut hat. Sie hat Gefühle für ihn. Doch er ist kein Millionär. Und er respektiert ihre Ziele.

Weil sie dauerhaft keinen Mann findet, beginnt Lily Bart „Fehler“ zu machen und sich in dem Haifischbecken dieser „feinen“ Gesellschaft aus Intrigen, Ansprüchen, Neid, Begehrlichkeiten und übler Nachrede zu verlieren. Männer, die ihr finanziell aushelfen, erwarten Gegenleistungen, die sie nicht erbringen will, was sie in Schulden stürzt. Frauen, die sie zur Ablenkung ihrer Männer benutzen, machen sie hinterher zum Sündenbock, was zu ihrer Ausladung aus der Gesellschaft führt. Lily beginnt, die soziale Leiter herabzusteigen, bis zu Armut und Elend. Dabei erkennt sie immer mehr, welchen gedankenlosen Irrtümern sie als Mitglied der High Society unterlegen war.

Lily erhält zwar Hilfe von Freunden, doch es fällt ihr schwer zu erkennen, dass das für sie vorgesehene Lebensziel falsch war. Die Liebe zwischen Lily und Selden kommt bis zuletzt nicht zum Durchbruch, bis es zu spät ist.

Das Buch ist in einer sehr schönen Sprache geschrieben und enthält zahlreiche Dialoge und Situationen, die grundlegende Einsichten mit Esprit gestalten, und zum Merken und Wiederlesen einladen. Es gibt zwar einige Zufälle in diesem Buch, die allzu zufällig sind, aber um der Parabel willen, die das Buch ja sein soll, kann man sich das gefallen lassen. Teilweise werden die Ursachen dafür, dass jemand gesellschaftlich in Ungnade fällt, nur angedeutet, was das Verständnis manchmal etwas erschwert; es ist wirklich eine „hochfeine“ Gesellschaft. Aber allein um einen Einblick in diese Gesellschaft zu erhalten, ist der Roman absolut lesenswert, der sie in allen Details und allen ihren Funktionen und Fehlern beschreibt. Überhaupt handelt es sich um ein wohlkonstruiertes Stück Literatur, ein Drama von antiker Qualität, ein Meisterwerk eigener Art.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. September 2019)

Arthur Conan Doyle: Die Maracot-Tiefe (1927-1929)

Genre-prägende Verarbeitung des Atlantis-Themas

Wir kennen Sir Arthur Conan Doyle als den Schöpfer des berühmten Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Hier jedoch könnte man meinen, einen der klassischen Science-Fiction-Romane von Jules Verne in Händen zu halten: Ein international besetztes Team von Wissenschaftlern taucht in die tiefsten Tiefen des Meeres hinab, und erlebt dort Abenteuer, deren Grundlage ein intelligentes Ausphantasieren des damaligen Standes der Wissenschaft ist. Der Grundton ist optimistisch, sowohl was die internationale Zusammenarbeit der Wissenschaftler anbelangt, als auch was den Fortschritt der Wissenschaft und der Aufklärung anbelangt. Es ist eine Lust, das zu lesen.

Die Genialität und Kreativität, mit der hier das Atlantis-Thema verarbeitet wurde, war offenbar so eindrucksvoll, dass sich eine ganz neue Perspektive auf das Atlantis-Thema ausgeprägt hat, die seitdem in immer neuen Variationen wiederkehrt. Die Merkmale dieser Perspektive auf das Atlantis-Thema sind:

  • Atlantis existierte vor 12000 Jahren. Damals hatte Atlantis einen „bösen“ Herrscher, durch den es unterging.
  • Es gab aber auch dessen „guten“ Gegenspieler, der ein Fortleben der Atlanter unter Wasser durch seine Genialität ermöglichte.
  • Das wurde ermöglicht durch eine Technik, die fortschrittlicher ist als die Technik der Gegenwart (Atomspaltung, Gedankenkino), bzw. durch übernatürliche Kräfte, Kristalle usw.
  • Wiedergeburt und Erinnerung an ein früheres Leben spielen eine Rolle. Ebenso Unsterblichkeit oder Weiterleben als Geistwesen, das inspiriert.
  • Irgendwann (nach langen geologischen Zeiträumen) wird Atlantis wieder auftauchen.
  • Wissenschaftler werden nach Atlantis verschlagen und begegnen auf dem Weg dorthin einem Ungeheuer der Tiefsee.
  • In Atlantis werden sie mit archaischen Sitten konfrontiert (Sklaverei, Tötung von Mischlingen).
  • Erneut muss der Kampf Gut gegen Böse bestanden werden.
  • Der Kampf wird mit übernatürlichen Kräften geführt, die u.a. durch List besiegt werden müssen.
  • Je nach Ausgang bleibt Atlantis bestehen oder geht unter.
  • Am Ende gelingt den Wissenschaftlern die Rückkehr in unsere Welt.

Die Motive wurden z.B. aufgegriffen in Walt Disney Comics, in denen die Atlanter im Laufe der Zeit zudem Fischschwänze entwickelt haben, oder der Walt Disney Zeichentrick-Film „Atlantis: The Lost Empire“ von 2001. Ein Atlantis, das unter Wasser fortbesteht, über hohe Technologie verfügt und eines Tages wieder auftauchen wird, ist auch zu einer typischen Vorstellung eines pseudowissenschaftlichen Atlantis geworden. Die fortentwickelte Technik taucht allerdings schon in Francis Bacons „New Atlantis“ auf und wurde hier von Sir Arthur Conan Doyle offenbar erneut literarisch verarbeitet.

Alles in allem ist die „Maracot Deep“ ein geniales Stück Literatur, das jeder Atlantis-Interessierte und Jules-Verne-Fan gelesen haben sollte, dessen Science-Fiction-Charakter aber immer klar sein sollte.

PS: Zum genauen Ort der Maracot Deep: Auf der einen Seite spricht der Roman wiederholt von einem Ort 27N28W, auf der anderen Seite spricht er wiederholt von einem Ort 200 Meilen südwestlich der Kanaren. Das passt nicht zusammen, denn 27N28W liegt ca. 650 Meilen westlich der Kanaren. Beide Orte zeigen keinerlei bemerkenswerte Vertiefung im Meeresboden. Es ist also alles Fiktion.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15. Januar 2017)

Theodor Gomperz: Griechische Denker – Eine Geschichte der Antiken Philosophie (1896-1909)

Aufklärung über die Aufklärung anhand der griechischen Aufklärung

Das Werk

Obwohl Gomperz‘ dreibändiges Werk über die „Griechischen Denker“ in den Jahren 1896-1909 veröffentlich wurde, ist es dennoch erstaunlich modern: Der Grund dafür ist, dass der Verfasser politisch-weltanschaulich ein klassischer Liberaler war, der auch mit den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit bestens vertraut war, die bis heute die Grundlage unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes bilden: Evolutionstheorie, Psychologie, Religionskritik, Ethnologie, Ökonomie, Atomphysik und Astrophysik, bis hin zu den Gedanken, dass hinter den Atomen noch kleinere Teilchen stehen könnten oder dass es im Weltraum noch andere Planeten mit Leben geben müsste. Teilweise stand der Autor mit den Vordenkern der Moderne in persönlichem Kontakt, etwa mit Sigmund Freud oder dem Physiker Ernst Mach. Aber auch unter historisch-kritischen Gesichtspunkten ist Gomperz immer noch modern genug: Eine gläubige Verklärung der Antike findet sich bei ihm nicht, auch wenn er noch nicht jede Hinterfragung kennt, von der wir heute, 100 Jahre später, wissen.

Das Werk nimmt mit seiner Eindringtiefe in den behandelten Stoff eine Mittelstellung zwischen kurzer Einführung und tiefgehender Einzelabhandlung ein. Dadurch kann Gomperz etwas bieten, was es heute so nicht mehr gibt: Neben der Behandlung der großen und bekannten Denker wie Demokrit, Platon oder Aristoteles, geht Gomperz einerseits auch auf viele „kleinere“ Denker ein, von denen man sonst eher selten liest, so z.B. die Megariker, die Kyrenaiker und die Kyniker, oder Theophrast und Straton. Andererseits kann Gomperz so viel besser die Entwicklungszusammenhänge zwischen den Denkern aufzeigen, so z.B. die Einteilung der Vorsokratiker in die Ionischen Naturphilosophen, die Eleaten und spätere komplexere Denker, oder die Entstehung der Stoiker und Epikureer aus den Kynikern und Kyrenaikern, über die man nur selten liest. Gomperz breitet den ganzen Horizont vor seinen Lesern aus: Nicht nur Philosophen im engeren Sinne, sondern das ganze geistige Umfeld wird erfasst: Er beginnt mit Religion und Mythos, und vergisst nicht den wesentlichen Einfluss von Dichtern und Geschichtsschreibern. Gleichzeitig verliert sich Gomperz aber auch nicht in Teilproblemen, wie dies Spezialabhandlungen tun. Gomperz geht teilweise recht tief, bleibt dabei aber doch immer klar.

Gomperz bringt die Dinge auf den Punkt, und zwar ihren eigenen Punkt. Wo andere eher beschreiben als erklären, oder ihre moderne Ideologie in der antiken Philosophie wieder entdecken wollen, dort ist Gomperz ein Meister in der Kunst, den entscheidenden Punkt, die innere Motivation, die tiefere Triebkraft herauszuarbeiten, die hinter den antiken Entwicklungen steht. So erst werden Inhalte und Entwicklungen der antiken Philosophie wirklich verständlich.

Wer Gomperz lesen will, muss vor allem Geduld und Konzentration mitbringen. Pausen empfehlen sich. Notizen ebenfalls. Man wird später auch immer wieder noch einmal nachlesen, was Gomperz sagte, und dabei immer noch neues entdecken. Man hätte sich eine bessere Gliederung des Stoffes in einer Hierarchie von Unterkapiteln wünschen können, um dadurch einenn besseren Überblick und eine mnemotechnisch nützliche Wissensordnung zu haben. Besonders ungünstig ist die Kapiteleinteilung im dritten Band, aber auch im ersten Band ist z.B. das Kapitel über Demokrit und die Atomlehre ungünstig gehalten. Die Sätze sind manchmal etwas verwickelt und altertümlich, hier hilft lautes Lesen.

Der Inhalt

Das Hauptthema der Antike ist natürlich der Prozess der Aufklärung und die Gewordenheit unserer heutigen geistigen Welt. Gomperz weiß noch ganz genau, warum die Beschäftigung mit der Antike so wichtig ist, während der Zeitgeist uns weismachen will, die Antike sei von gestern.

Gomperz legt aber nicht nur die Entwicklung der Aufklärung in der Antike dar, sondern zeigt ständig die Zusammenhänge und Parallelen zur modernen Aufklärung und Wissenschaft auf. Er erklärt anhand der Antike die aufklärerischen Prinzipien von philosophischem und wissenschaftlichem Denken im allgemeinen, so dass der der Leser nicht nur die Schritte der Aufklärung der griechischen Denker kennenlernt, sondern auch selbst Schritt für Schritt aufgeklärt wird.

Man kann mit Fug und Recht sagen: Bei Gomperz lernt man das Denken selbst. Dazu gehört nicht nur exakte Berechnung und konsequente Logik, sondern vor allem auch die Fähigkeit der richtigen Einschätzung. Die Kunst des Abwägens. Das Maß der Erkenntnis. Das richtige Interpretieren anhand von Indizien. Man lernt auch, wie Dinge sich entwickeln, und dass vieles nur schrittweise voran geht, dass auch Irrwege nützlich sein können, usw.

Aus heutiger Sicht ist Gomperz erfrischend vernünftig und unideologisch. Die Lektüre dieser 100 Jahre alten Abhandlung ist eine wahre Labsal für die vom Zeitgeist geplagte Vernunft. Gomperz hat in vielen Punkten den richtigen, differenzierten Ansatz, er trifft an den entscheidenden Weggabelungen der Erkenntnis die richtigen Entscheidungen, während ein irriger Zeitgeist die falschen Abzweigungen nimmt und eine schiefe Ideologie entwickelt.

Die Sophisten werden von Gomperz korrekt als eine Stufe des Fortschreitens der Aufklärung gesehen; man darf dabei nur nicht vergessen, dass Sokrates die nächste, höhere Stufe ist: Nach der De-konstruktion kommt die Re-konstruktion. – Bei Platon ist Gomperz ungewöhnlich kritisch: Fast schon respektlos kritisiert er Platon als einen Denker des Absoluten, der in seiner absoluten Präzision oft genug absolut falsch lag. Auch wenn Gomperz hier nicht immer Platons Genialität voll erfasst hat, so ist sein respektlos kritischer Ansatz berechtigt und anregend. – Platon wird bei Gomperz einseitig Demokratie-kritisch und Tyrannen-freundlich gesehen. Hier und in anderen Punkten erliegt Gomperz dem Geist seiner Zeit. – Aristoteles erscheint bei Gomperz als ein Ausbund an Inkonsequenz und kompromisslerischem Pragmatismus. Was für die Philosophie im engeren Sinne eher fragwürdig ist, hat sich für Politik und Wissenschaft jedoch als Segen erwiesen: Hier hat Aristoteles mehr Erfolge bewirkt als Platon. Im letzten dürften sich beide Ansätze jedoch in der Mitte treffen, zumal Platon in den Nomoi bereits den Weg hin zu mehr Pragmatismus zu gehen begonnen hatte, und Aristoteles nicht zufällig ein Schüler Platons war. Diese Erkenntnis deutet sich bei Gomperz an, wird jedoch nicht in dieser Klarheit formuliert.

Der Autor

Erschreckend ist es zu lesen, wie Gomperz kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Auffassung vertritt, die Staaten Europas seien auf einem guten Wege des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes, und würden immer enger zusammenrücken; Krieg sei undenkbar geworden. Im Sinne des „Zauberberges“ von Thomas Mann ist Gomperz ein wahrer „Settembrini“, ein durchaus sympathischer aber vielleicht doch allzu optimistischer klassischer Liberaler mit etwas zu wenig Einfühlungsvermögen in das „absolute“ Denken Platons. Da es aber besser so als andersherum ist, verzeiht man ihm diese Schwäche gern.

Wer ein vernünftiges, rundes, schönes, klares, erhellendes, bildungsbürgerliches, vollständiges, gutes, menschenfreundliches Buch über die antiken Denker lesen möchte, das nicht angekränkelt ist von den Irrtümern unserer Zeit, sondern wesentliche und richtige zeitlose Einsichten als Basis für eigenes Weiterdenken vermittelt, der ist mit den „Griechischen Denkern“ von Gomperz bestens bedient. Sicher eines der Bücher, die man gelesen haben sollte.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juni 2013)

Jack London: König Alkohol (1913)

Lesenswert: Gesellschaftskritik und Weltschmerz eines Alkoholikers

Das autobiographische Buch „König Alkohol“ (original: „John Barleycorn – Alcoholic Memoirs“) von Jack London beschreibt, wie der Lebensweg des Autors aus verschiedenen Gründen immer von Alkohol begleitet war, bis in die Sucht hinein, die den Autor bald nach der Veröffentlichung des Buches im Alter von 40 Jahren in den Tod führen sollte. Überraschenderweise steht dabei weniger die Alkoholsucht als solche im Zentrum des Buches, sondern vielmehr die „verschiedenen Gründe“ für das Trinken. Diese Gründe lassen sich im wesentlichen in drei Themenbereichen zusammenfassen:

Thema (1): Soziale Akzeptanzrituale, die für sich allein betrachtet sinnlos, albern oder sogar schädlich sind (Gessler-Hut-Rituale): In diesem Buch ist es das gemeinsame Trinken von Alkohol, durch das man als „Mann“ anerkannt wird. Aber es sind andere Beispiele von Ritualen aus unserer heutigen Lebenswelt denkbar, die zur Akzeptanz in gewissen Milieus führen: Vom Reden und Prahlen über Fußball und Autos, über die Verfemung von Microsoft, Wehrdienst und George W. Bush, bis hin zum gemeinsamen Bordell-Besuch. Das Problem ist: Entweder man macht mit, oder man bleibt einsam und erfolglos. Und wer mitmacht, gewöhnt sich daran.

Thema (2): Die Entfremdung des lesenden Menschen von den „normalen“ Menschen durch seine Bildung. Das Problem ist: Der Abgrund zu den weniger gebildeten Menschen ist auch durch ein gewolltes Herablassen auf deren Niveau nicht wirklich überbrückbar. Man bleibt innerlich einsam, und wird nur noch von wenigen, einzelnen Mitmenschen wirklich verstanden, die leider schwer zu finden sind.

Thema (3): Desillusionierungen über Gesellschaft, Mitmenschen, Religion und Weltanschauung, die zu einer verschärften Form der Sinnfrage führen (Weltschmerz, Weltekel). Das Problem ist: Entweder man findet neue, eigene Antworten auf die Sinnfrage, oder man endet in Verzweiflung und Zynismus.

Jack London hatte sich als junger Mann dem Ritual des gemeinsamen Alkoholtrinkens hemmungslos hingegeben, um Abenteuer und Kameradschaft zu erleben, was ihn für die Sucht vorbereite. Später wurde ihm die Herablassung auf das Niveau der weniger gebildeten Menschen durch den Alkohol erleichtert. Er hatte aber auch jene wenigen, einzelnen Menschen gefunden, mit denen er sich ganz ohne Alkohol auf Augenhöhe unterhalten konnte, darunter seine Ehefrau. Bis zu diesem Punkt kann noch nicht von einer Sucht gesprochen werden.

In die Sucht geriet Jack London durch die Sinnfrage. Jack London war Sozialist und vor allem Materialist. Anders als die meisten Materialisten hatte er die Folgerungen dieser Weltanschauung jedoch konsequent zu Ende gedacht, sowie mögliche Alternativen rigoros abgelehnt, so dass er dem Leben keinen Sinn mehr abgewinnen konnte. Alles wurde schal und sinnlos für ihn, und seine Perspektive auf die Welt und die Menschen wurde zynisch. Es gab offenbar nichts mehr, was seinen Geist durch Sinnhaftigkeit in Stimmung bringen konnte: Kein Streben nach Wissen, kein Suchen nach etwas Unbekanntem, keine Anschauung des Schönen, und zuletzt vielleicht auch kein echter Glaube mehr an die Möglichkeit gesellschaftlicher Verbesserungen.

Um sich gegen Pessimismus und Zynismus immer wieder in Stimmung zu bringen, musste Jack London zur Flasche greifen, und verfiel auf diese Weise schrittweise der schleichenden Sucht.

Man könnte es auch andersherum deuten: Möglicherweise führte der langjährige, „soziale“ Alkoholkonsum zu einer Depression, und diese Depression war es, die eine rationale, positive Antwort auf die Sinnfrage verhinderte („Weiße Logik“ des Alkohols), und das wiederum ließ Jack London am Ende freiwillig zur Flasche greifen. Ob nun eher eine kranke Psychologie (Depression wegen Alkoholkonsum), oder eher eine falsche Philosophie (Materialismus mit allen Konsequenzen) die Ursache für das finale Scheitern waren, wird sich wohl nie mehr ganz klären lassen. Das eine schließt das andere ja keineswegs aus.

Am Ende des Buches behauptet Jack London überraschend, dass er die „Weiße Logik“ überwinden konnte, indem er gelernt habe, der Sinnfrage auszuweichen. Trinken würde er allerdings dennoch hin und wieder, weil er sich daran gewöhnt hatte, Alkohol mit der guten Erinnerung an Geselligkeit und Kameradschaft in Verbindung zu bringen. Das ist alles andere als ein überzeugender Schluss! Denn erstens kann man der Sinnfrage nicht auf Dauer ausweichen. Und zweitens befindet sich Jack London damit immer noch in dem Zustand, Alkohol gerne zu trinken, um eine angenehme Stimmung hervorzurufen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Mai 2018)

Haito und Walahfried Strabo: Visio Wettini (824)

Einblick in Denk- und Lebenswelt der Reichenauer Mönche um 824

Dieses Büchlein bietet sowohl die von Abt Heito verfasste Originalprosafassung der Vision des Mönches Wetti von 824 als auch deren dichterische Bearbeitung durch den jungen Walahfried Strabo, beides in Latein und Deutsch und mit Verweisen aufeinander, sowie einen ausführlichen Einleitungs- und Kommentarteil, der nichts zu wünschen übrig lässt.

Die religiöse Gelehrsamkeit und Frömmigkeit bis hin zum Aberglauben scheint damals eindeutig im Mittelpunkt gestanden zu haben, und weniger das, woran wir heute zuerst denken, wenn wir von der Gelehrsamkeit der mittelalterlichen Mönche sprechen (also z.B. Überlieferung antiker Texte, scholastische Philosophie, Astronomie, Medizin). Diese Art von Gelehrsamkeit drückt sich höchstens indirekt in der lateinischen Gewandtheit des Walahfried Strabo aus. Ebenfalls ein wichtiger Aspekt sind persönliche Beziehungen, z.B. zwischen Lehrer und Schüler (Walahfried Strabo und Wetti), zwischen Mönch und Abt (Walahfried Strabo und Heito und Erlebald), oder zwischen jungem Mann und Förderer (Walahfried Strabo und Grimald, Erzkapellan des Kaisers und später Abt von St. Gallen).

Aufgefallene Einzelaspekte:

  • Die berühmte (aber recht kurze) Beschreibung der Reichenau.
  • Unzucht unter Mönchen scheint ein großes Problem gewesen zu sein.
  • Weltliche Äbtissinnen verdarben die ihnen unterstellten geistlichen Nonnen.
  • Graf Gerold fiel im Kampf gegen die Heiden zur Verteidigung der Kirche und erhielt dafür das ewige Leben: Im Prinzip dasselbe wie der Dschihad im Islam.
  • Bezüge zu Dante: Dante mag die Visio Wettini tatsächlich verwendet haben, einen großen Einfluss hatte sie jedoch offenbar nicht auf sein Werk.
  • Verbreitet war offenbar eher die originale Prosafassung von Abt Heito, weniger Walahfried Strabos dichterische Fassung.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.
(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. Februar 2020)

Niccolò Machiavelli: Der Fürst (1513)

Der erwartete Klassiker mit Einsichten am Rande

Das bekannte Buch von Machiavelli liest sich recht schnell und bietet im Original tatsächlich ungefähr das, was man überall darüber lesen kann: Es ist eine Anleitung für Fürsten, wie sie die Macht erlangen und erhalten, wobei die Wahl der Mittel ohne Rücksicht auf moralische Bedenken geschieht. Auch der immer wieder zitierte Rat kommt vor, dass man den Untertanen nicht an den Geldbeutel oder die Frau gehen soll, was fast schon tröstlich ist, da dadurch eine gewisse Grenze und ein gewisser Schutz für die Untertanen vor ihren Fürsten definiert wird, auch wenn es ein rein egoistischer Rat ist.

Der Gipfel der Skrupellosigkeit ist der Mord von Cesare Borgia an diversen Verschwörern in Senigallia 1502, wohin er sie eingeladen hatte. Machiavelli stellt diese Beseitigung von Rivalen als herrschaftssichernde Maßnahme dar, die sehr erfolgreich und deshalb legitim war.

Interessant ist das „Schachspiel“ der Mächte untereinander: Wer mit wem gegen wen, und wie man jemanden in Schach hält, oder ihn unfreiwillig zur Eroberung einlädt usw. Hier können naive Menschen gut lernen, dass gutgemeinte Taten oft das Gegenteil dessen zur Folge haben, was beabsichtigt war. Man bekommt zudem Einblicke in die politischen Verhältnisse im Italien der damaligen Zeit: Franzosen, Venezianer, der Papst … alle ringen um Einfluss und Herrschaft.

Interessant sind auch die Ratschläge, wie man verschiedene Länder zu einem Land zusammenschließt. Der Fürst sollte entweder Teile der Bevölkerung umsiedeln, oder seine Residenz im neu eroberten Gebiet nehmen. Republiken könne man nur durch Zerstreuung der Bevölkerung dauerhaft in den Griff bekommen, weil die Erinnerung an die einstige Freiheit zu stark ist. Für die Konstrukteure des EU-Überstaates sind hier wertvolle Einsichten zu finden, die zeitlos gültig sind.

Der viel beschworene Begriff der „virtù“ fiel mir bei der Lektüre der Übersetzung nicht auf. Vermutlich fällt er bei Machiavelli in einem eher unscheinbaren Nebensatz, und man muss schon einen Blick dafür haben, dies zu erkennen und die Neuerung im Denken darin zu sehen. Das Denken Machiavells ist sicher eine Befreiung gegenüber einem scholastischen Denken, aber es ist andererseits doch wieder zu zügellos.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Dezember 2017)

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