Schlagwort: Kommunismus

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher (2014)

Sehr persönlicher Einblick in jüngere jüdische Geistesgeschichte

Dieses Buch erzählt die Geschichte von Chimen Abramsky. „Chimen“ ist dabei eine verballhornte Schreibung von Shimon. Er wurde geboren in Russland, wo jüdische Kultur und Gelehrsamkeit jahrhundertelang im Ansiedlungsrayon blühte, bis Pogrome und Holocaust dem ein Ende bereiteten. Er war Sohn eines international bedeutenden jüdischen Gelehrten, dessen Familie aus Russland nach London floh und an dessen Beerdigung in Israel zehntausende orthodoxer Juden teilnahmen. In London heiratete Chimen in eine jüdische Buchhandlung ein, und wurde aus Angst vor dem Nationalsozialismus Kommunist, ja sogar Stalinist. Später bekehrte er sich zu einer liberaleren Weltsicht und war mit Isaiah Berlin befreundet.

Chimen Abramsky baute in seinem Privathaus im Hillway 5 in London eine gewaltige Sammlung von Manuskripten und Büchern zu den Themen Sozialismus und Judentum auf. Chimen war ein weltweit anerkannter Experte für alte Schriften und Drucke, wurde zum Ratgeber für Sotheby’s, und schließlich Hochschulprofessor, ohne je selbst studiert zu haben. In seinem Haus trafen sich ohne Unterlass Intellektuelle, Künstler und Gelehrte, immer gut bewirtet von seiner Ehefrau Mimi.

Erzählt wird uns dies alles von einem Enkel von Chimen Abramsky. Wir dürfen auf diese Weise teilhaben an einem sehr persönlichen und erhellenden Blick auf jüdische Schicksale und jüdisches Denken (und Umdenken) im 20. Jahrhundert. Es ist bedenkenswert, wenn der Autor die Gelehrsamkeit des (Ex-)Kommunisten Chimen Abramsky mit der Gelehrsamkeit der jüdischen Religionsgelehrten aller Jahrhunderte vergleicht. Oder bei der Bewirtung der zahllosen Gäste im Hillway durch dessen Ehefrau Mimi an die Salons jüdischer intellektueller Damen im 19. Jahrhundert denkt. Es ist interessant zu sehen, wie im Hillway jüdische Speisevorschriften u.a. religiöse Rituale beachtet wurden, obwohl Chimen und Mimi gar nicht religiös waren. Nach seinem Abfall vom Kommunismus findet Chimen nicht mehr zu einer geschlossenen Weltanschauung zurück, und bleibt ein Wanderer zwischen den Welten. Eine Tendenz zu Spinozas Pantheismus war erkennbar.

Chimen scheint es mit dem Sammeln von Büchern teils übertrieben zu haben. Fotos zeigen das Haus in einem Zustand, der an das Phänomen des „Messie“ erinnert. Bezeichnend ist auch, dass Chimen trotz seines anerkannten Wissens praktisch nicht in der Lage war, sein Wissen zu ordnen und in Buchform zu bringen. Chimen scheint eine sehr assoziative, ungeordnete und sprunghafte Geistesorganisation gehabt zu haben, also ein Mensch, der in vielem nicht rational war, und Rationalität vielfach auch gar nicht anstrebte, sondern – vielleicht – lieber träumte.

Auch die Themen Krankheit und Tod werden bearbeitet. Gerade in diesen Passagen ist es ein sehr persönliches Buch.

Leider ist es sehr journalistisch geschrieben. Manchmal ist die Sprache flapsig und unangemessen. Leider ist die Darlegung auch sehr unsystematisch und assoziativ. Man findet zu ein und demselben Thema immer wieder ein paar Brocken hie und da verstreut im Buch, wo man sich eine systematische Darstellung gewünscht hätte. Vor allem am Anfang des Buches stört das sehr. Unpassend ist auch die Kritik des Autors an der geheimdienstlichen Überwachung von Chimen Abramsky im nachgetragenen Vorwort. Immerhin war Chimen damals ein in der Wolle gefärbter Stalinist und ein intellektuell einflussreiches Mitglied der kommunistischen Partei Großbritanniens mitten im Kalten Krieg!

Das Nachwort von Philipp Blom zu Bibliotheken von Exilanten ist zunächst bedenkenswert, dann aber einfach nur unakzeptabel: Dass ein direkter Weg von Kant zu den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts führt, ist Unsinn.

Fazit

Mit etwas Toleranz für die Schwächen des Buches ist es eine sehr, sehr lesenswerte und bereichernde Lektüre.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Mai 2018)

Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders – Eine Schulgeschichte (1980)

Der Sohn eines Nazis – Mörder des Klassischen Humanismus

Die kurze Erzählung „Der Vater eines Mörders“ von Alfred Andersch ist mitsamt ihrem Nachwort zu einer Ikone linksliberaler Kulturkritik, zu einem literarischen Kronzeugentext gegen den klassischen Humanismus geworden. Unter dem klassischen Humanismus, der in der Erzählung immer nur kurz als Humanismus angesprochen wird, sei hier jener Humanismus verstanden, der aus der Beschäftigung mit den Texten und Sprachen der griechisch-römischen Antike entspringt. Er ist die hauptsächliche Grundlage unserer westlichen Kultur.

Zunächst handelt die autobiographische Skizze einfach nur davon, wie der Schulrektor Himmler, der Vater des späteren Reichsführers SS Heinrich Himmler, zwei Schüler in einer Griechisch-Stunde vor versammelter Klasse auf autoritäre Weise demütigt und schließlich des Gymnasiums verweist. Einer davon war Alfred Andersch. Wie die Erzählung zeigt, beschränkt sich der Humanismus von Vater Himmler offenbar darauf, auf der griechischen Grammatik herumzureiten. Andersch nennt ihn eine „alte, abgespielte und verkratzte Sokrates-Platte“, doch das ist schon zuviel gesagt, denn Vater Himmler äußert sich in diesem Buch ausschließlich zu griechischer Grammatik und Lautlehre, mit keinem Wort aber zu den Gedanken des Sokrates. Andersch berichtet, dass es kein Wunder sei, dass sich der Sohn Heinrich Himmler von diesem Vater abgewendet und einer anderen weltanschaulichen Orientierung zugewendet hatte. Am Ende erfährt man, dass Schulrektor Himmler Alfred Andersch vermutlich gerade deshalb von der Schule verwies, weil der Vater von Andersch mit dem abtrünnigen Sohn von Himmler politisch verbunden war.

Soweit könnte diese Erzählung ein hilfreiches Lehrstück über den autoritären Charakter und über Väter und Söhne sein. Doch dabei bleibt das Buch leider nicht stehen. Im Nachwort holt Alfred Andersch zum Schlag gegen den klassischen Humanismus aus, indem er auf die Feststellung, dass Heinrich Himmler „in einer Familie aus altem, humanistisch fein gebildetem Bürgertum“ aufgewachsen ist, die vielzitierte, anklagende Frage folgen lässt:

„Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“

Mit diesen Worten klagt Andersch den Humanismus nicht nur an, kein Schutz vor der Verirrung des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Es ist mehr: Andersch unterstellt auf subtile Weise eine direkte Verbindungslinie vom klassischen Humanismus zum Nationalsozialismus. Dies geschieht auf folgende Weise: Die Feststellung, dass Heinrich Himmler in einem humanistischen Haus aufgewachsen sei, und die anschließende Frage, ob Humanismus denn vor gar nichts schützt, impliziert unausgesprochen, dass Heinrich Himmler ebenfalls ein Humanist gewesen sei, und trotz (oder vielleicht gerade wegen?) seines Humanismus zum Nationalsozialisten wurde. Denn die Frage nach dem Schutz durch den Humanismus stellt sich natürlich nur solange, solange der Mensch sich als Humanist versteht. Diese Passage ist zu einem Kronzeugen geworden für die Anklage an den klassischen Humanismus, dass er gewissermaßen eine Propädeutik des Nationalsozialismus gewesen sei, eine Vorschule für autoritäre Charaktere. Klassischer Humanismus war anscheinend ein guter Nährboden und Wurzelgrund für den Nationalsozialismus, so lautet die Logik.

Diese Passage mit ihrer anklagenden Frage „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ wird von linksliberal verblendeten Menschen wieder und immer wieder zitiert, um gegen den klassischen Humanismus und den altsprachlichen Unterricht zu Felde zu ziehen.

Doch Alfred Andersch betrügt seine Leser mit dieser Passage in mehrfacher Hinsicht. Zum einen fällt es jedem aufmerksamen Leser sofort auf, dass Andersch hier plötzlich von einem „humanistisch fein gebildetem“ Bürgertum spricht – eine Aussage, die auf Vater Himmler, so wie Andersch ihn viele Seiten lang portraitierte, gewiss nicht zutrifft! Heinrich Himmler war also gar nicht der Sohn eines „fein gebildeten“ klassischen Humanisten, sondern der Sohn einer autoritären Persönlichkeit, deren „Humanismus“ sich offenbar in griechischer Grammatik erschöpfte. – Zum anderen ist es in diesem Fall völlig unzulässig, eine direkte Verbindungslinie von Vater zum Sohn zu ziehen, also die humanistische Bildung des Vaterhauses für die nationalsozialistische Verirrung des Sohnes verantwortlich zu machen. Denn wie Andersch selbst schreibt, hatte sich Heinrich Himmler von seinem Vater abgewendet, und damit natürlich auch vom Humanismus, den der Vater – wenn auch schlecht – verkörperte! Heinrich Himmler verstand sich selbst definitiv nicht als klassischen Humanisten, sondern bevorzugte bekanntlich nordische Mythen und inhumane Ideologien. Wie also sollte der Humanismus einen Menschen schützen können, der sich von ihm abgewendet hat?

Was ist das für eine Frage: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ in bezug auf einen Menschen, der gar kein Humanist ist, gar kein Humanist sein will, und gar nicht aus einem „fein gebildeten“ humanistischen Elternhaus stammt? Es ist eine von jenen heimtückischen Anklagen, die einen eingängigen – aber falschen – Zusammenhang konstruieren und über eine Anklage moralisieren und emotionalisieren. Es erfordert viele Worte, um den falschen Zusammenhang sichtbar zu machen, doch wer hört schon geduldig zu, wo die Emotionen hohe Wellen schlagen? Zudem kann sich der Ankläger jederzeit damit herausreden, dass er ja „nur“ eine Frage gestellt habe, ja, dass er damit nirgendwo explizit ausgesprochen hat, dass er eine Verbindungslinie zwischen klassischem Humanismus und Nationalsozialismus sieht. Diese anklagende Frage „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ ist nichts anderes als ein Stück äußerst gelungener Propaganda.

Aber sagt Alfred Andersch in seinem Nachwort nicht auch, dass er nicht wisse, „dass und wie der Unmensch und der Schulmann miteinander zusammenhängen“? – „Oder ob sie einander gerade nicht bedingen“? Doch das ist nur die Vortäuschung von Objektivität. Denn in Wahrheit hat Andersch bereits durch den Titel der Erzählung „Der Vater eines Mörders“ die ganze Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass hier doch wohl ein Zusammenhang sein müsse, und ohne diese Frage würde die ganze Erzählung keinen Sinn mehr machen. Die Frage so zu stellen, wie Andersch es mit dieser Erzählung tut, lässt nichts anderes als eine positive Antwort zu. Andersch argumentiert nicht sachlich, er argumentiert überhaupt nicht, er ist einfach nur suggestiv.

Halten wir also fest, dass man keinerlei Schlüsse aus der von Andersch skizzierten Episode über den klassischem Humanismus ziehen kann. Man erfährt nur etwas über das Drama zwischen einem autoritären Vater und seinem Sohn, der vor seinem Vater in eine andere weltanschauliche Orientierung flüchtet – im Falle von Heinrich Himmler leider zum Nationalsozialismus. Aber Alfred Andersch sah das offenbar ganz anders, und seine linksliberalen Leser bis heute auch. Alfred Andersch ist mit seinen unzulässigen Unterstellungen, subtilen Anklagen und suggestiven Fragen gewissermaßen zu einem heimtückischen Mörder des klassischen Humanismus geworden, der doch der Urgrund unserer Kultur ist.

Aber warum hat Alfred Andersch das getan?

Ein Blick in den Text hilft uns weiter. Denn dort ist nicht nur von dem Vater von Heinrich Himmler die Rede, sondern auch noch von einem weiteren Vater – dem Vater von Alfred Andersch! Und dieser Vater ist ein Anhänger von Ludendorff. Ein überzeugter Antisemit. Ein Kamerad von Heinrich Himmler im Reichskriegsflaggenbund. Schon 1920 wurde er Mitglied der NSDAP. Kurz: Im Gegensatz zu Vater Himmler, der konservativ und katholisch war und den Schülern Sowjetsterne und Hakenkreuze gleichermaßen verbot, war der Vater Andersch ein echter Nationalsozialist! Von diesem Vater hat sich der Sohn Alfred Andersch später natürlich nun seinerseits abgewendet. Und nun war es Alfred Andersch, der vor seinem Vater flüchtete – und auch er wählte für seine Flucht bedauerlicherweise eine radikale weltanschauliche Orientierung: 1930 trat Alfred Andersch der KPD bei. Hier sind wir am Kern der Sache: Es entspricht einem typisch unaufgeklärten linken bzw. später linksliberalen Weltbild, der klassischen Bildung eine Mitschuld am Nationalsozialismus zu unterstellen. Alles, was nicht links war, wurde und wird in diesem Sinne unter NS-Verdacht stellte. Das ist die Erklärung, wie es dazu kam, dass der Sohn eines Nazis gewissermaßen zum heimtückischen Mörder am klassischen Humanismus werden konnte.

Aperçu am Rande: Alfred Andersch outet sich hier als begeisterter Leser von Karl May, während der Schulrektor Himmler geäußert haben soll: „Karl May ist Gift!“ Das ist eine interessante Ironie angesichts der Tatsache, dass Karl May, der eine eminent humanistische Botschaft hatte, in linksliberalen Kreisen als NS-verdächtig abgetan wird. Vielleicht stehen so manche Linksliberale dem autoritären Charakter von Schulrektor Himmler näher, als sie glauben. Heute ist die Erzählung „Der Vater eines Mörders“ eine bei Lehrern beliebte Schullektüre. Ob sie ihren Schülern heute die irrigen Suggestionen von Alfred Andersch einpauken, so wie einst Vater Himmler seinen Schülern die griechische Grammatik? Übrigens legt der Schüler Alfred Andersch in dieser Erzählung eine so überaus erstaunliche Faulheit und Unwissenheit an den Tag, dass man nicht völlig ohne Verständnis für den Zorn des Schulrektors Himmler ihm gegenüber bleiben kann, auch wenn dessen Pädagogik natürlich indiskutabel ist. Doch das nur am Rande.

PS 16.12.2023

Im Jahr 1993 warf W.G. Sebald in einem Artikel der Zeitschrift „Lettre International“ die Frage auf, inwieweit Alfred Andersch sein Leben vor 1945 schön gefärbt und verfälscht hatte. Inzwischen sind zahlreiche Belege aufgetaucht, die diesen Vorwurf stützen. Ohne in die Untiefen dieser Debatte einsteigen zu wollen, sei festgehalten: Es zeigt sich einmal mehr, dass Alfred Andersch kein wahrhaftiger Mensch war. Und das ist der entscheidende Vorwurf.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 2014; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden.)

Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? (1966)

Schon 1966 klare Warnung vor Parteienoligarchie – gültig bis heute!

Das Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ des bekannten Philosophen Karl Jaspers erschien 1966 und wurde zu einem politischen Bestseller wie vielleicht in unseren Tagen das Buch von Thilo Sarrazin. Im Zentrum der Analyse steht die Erkenntnis, dass die BRD schwerwiegende demokratische Defizite aufweist.

Das Grundgesetz und das Wahlgesetz beruhen auf einem ausgesprochenen Misstrauen dem Volk gegenüber, und installieren eine Parteienoligarchie. Der Begriff „Parteienoligarchie“ wurde durch Jaspers Buch geprägt. Der Wähler hat in diesem System so gut wie keinen Einfluss. Die Parteien halten im Zweifelsfall gegen den Wähler zusammen. Wichtige Entscheidungen werden nicht nur nicht durch das Volk entschieden, sie werden häufig noch nicht einmal öffentlich diskutiert und zu Bewusstsein gebracht.

Neue Parteien haben praktisch keine Chance. Das Wahlsystem, die Parteienfinanzierung u.a. Mechanismen sichern die Macht der Altparteien. Es gibt eine Tendenz zu einer indirekten Zensur, und Intellektuelle werden kritisiert, sobald sie unabhängige Gedanken in den Massenmedien äußern. Jaspers äußert Verständis für Menschen, die keine Hoffnung mehr sehen und auswandern.

Die BRD ist eine Gründung „von oben“, durch die Westalliierten, die ihre wahre demokratische Gründung durch die Bewusstwerdung des Volkes als Souverän erst noch zu leisten hat. Das will Karl Jaspers aber nicht gegen das Grundgesetz, sondern mit dem Grundgesetz erreichen, das er als gute Ausgangsbasis ansieht, und dessen Grundrechtekatalog er hoch schätzt. Jaspers will u.a. die 5%-Klausel abschaffen und einen Ombudsmann für Meinungsfreiheit einsetzen. Politische Bewegungen aus dem Volk heraus will Jaspers fördern, doch die Forderung nach Volksbegehren und Volksentscheid fehlt seltsamerweise: Sie wird noch nicht einmal diskutiert! Wie das, fragt sich der Leser?

Das Buch äußert sich auch zu konkreten Einzelthemen der damaligen Politik. In seiner Opposition gegen Fehlentwicklungen schießt Jaspers aber häufig über das Ziel hinaus und formuliert eine radikale Gegenposition, die genauso falsch ist, bzw. er scheitert daran, eine differenzierte Sicht richtig zum Ausdruck zu bringen, oder er verwickelt sich in Widersprüche. Außerdem ist der Schreibfluss teilweise ungeordnet und es kommt zu störenden Wiederholungen. Wo es nicht um Freiheit und Demokratie, sondern um einzelne Themen geht, ist Jaspers vielfach schwach. Dennoch ist manche Anregung dabei, die auch heute noch wert ist, beachtet zu werden:

Notstandsgesetze:
Für Jaspers drohen die damals diskutierten Notstandsgesetze zur Überleitung von der Parteienoligarchie zur Diktatur zu werden.

Schuldfrage:
Zwar ist Jaspers gegen eine Kollektivschuld der Deutschen am Nationalsozialismus, aber seine Schuldzuweisungen sind dennoch maßlos und zelebrieren fast eine Art „Schuldseligkeit“. Allein dass man überlebt hat, gilt praktisch schon als Schuld. Jeder, der nicht sein Leben daran gesetzt habe, den Nationalsozialismus zu bekämpfen, sei schuldig. Von allen Deutschen seien vielleicht 500.000 ohne Schuld, meint Jaspers. Gleichzeitig nimmt Jaspers aber z.B. den einfachen Soldaten in Schutz, weil er nur Befehlsempfänger war. – Jaspers bedauert, dass sich der Bundestag nur zu einer rechnerischen Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen um wenige Jahre durchringen konnte, nicht aber zu einer dauerhaften Aufhebung der Verjährung als politisch gewollter, rechtssetzender Tat.

Bündnis mit den USA:
Die Tatsache, dass die beiden Großmächte USA und Russland militärisch uneinholbar sind, zwingt die anderen Staaten in Schutzbündnisse mit einer der beiden Großmächte. Neutralität ist nicht mehr möglich, weil Neutralität heute nicht mehr verteidigt werden kann. Dabei übertreibt es Jaspers allerdings mit der Unterwürfigkeit gegenüber den USA, er merkt aber auch richtig an, dass die Hegemonie nur in der Politik gegenüber dem äußeren Feind gilt, nicht jedoch in der Politik der freien Staaten untereinander. Jaspers sieht das Bündnis zu den USA als bedeutend wichtiger an als das Bündnis zu Frankreich. Charles de Gaulle ist für Jaspers ein weltfremder Romantiker.

Souveränität:
Jaspers will, dass die Deutschen aus Vernunft auf ihre Souveränität verzichten. Jaspers versäumt es jedoch, den Gedanken zu formulieren, dass man in einem Bündnis souverän bleibt, wenn man die Gestaltung und Mitgliedschaft des Bündnisses jederzeit neu verhandeln kann. Allerdings stellte sich die Frage nach der Souveränität der BRD vor 1990 ganz anders als heute.

Europäische Einigung:
Jaspers verwendet auf dieses Thema nicht mehr als einen Absatz. Er ist grundsätzlich dafür, glaubt aber nicht daran, dass Europa jemals eine große Macht wie USA oder Russland sein könnte.

Atomkrieg, Friedenspolitik:
Jaspers opfert praktisch die Freiheit auf dem Altar des Friedens. Weil ein Atomkrieg das Ende sei, müsse man alles (!) tun, um den Frieden zu erhalten. Wenn man das konsequent zu Ende denkt, hieße das Unterwerfung unter den Kommunismus, doch so weit denkt Jaspers nicht. Jaspers hat nicht verstanden, dass der Satz „Si vis pacem para bellum“ auch und gerade im Atomzeitalter Geltung hat. Damals war die Angst vor dem Atomkrieg allerdings sehr viel realer als heute – obwohl die Gefahr nach wie vor besteht.

China:
Jaspers verwendet mehrere Seiten darauf, vor dem aufstrebenden China zu warnen, und plädiert dafür, die Atomanlagen Chinas zu zerstören. China ist für Jaspers kein berechenbarer Gegner wie die Sowjetunion.

DDR-Politik:
Jaspers wünscht, dass die BRD die DDR ökonomisch unterstützt, auch wenn man damit das Ulbricht-Regime stabilisiert. Jaspers hofft, dass eine Vertrauensbildung irgendwann dazu führen wird, dass die Sowjets abziehen, weil die DDR dann auch freiwillig ein kommunistischer Staat bleiben würde. Man sieht, dass Jaspers hier die Realität krass verkennt. Gerade auch angesichts der bewunderswerten Verve, mit der Jaspers für die BRD freiheitlichen Geist fordert, ist es erstaunlich, dass die DDR-Bürger sich mit kleinen persönlichen Freiheiten und Konsum abfinden sollen, anstatt für die Freiheit zu kämpfen. Für den Frieden opfert Jaspers einfach alles, und das ist falsch.

Deutsche Teilung und Vertreibung aus Ostgebieten:
Jaspers formuliert mit Recht, dass der status quo anerkannt werden muss, um den Frieden zu wahren. Jaspers versäumt es aber zu formulieren, dass die Freiheit für die DDR-Bürger automatisch die Wiedervereinigung bedeuten würde, und dass die Vertreibung Unrecht war, auch wenn sie nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann. Bei Jaspers spürt man große Kälte und Unverständnis gegenüber den Vertriebenen, und wiederum eine unmenschliche Schuldseligkeit, die Jaspers dazu führt, Vertreibung und Teilung als legitime Folgen der deutschen Aggression anzusehen: Hier rechnet er ein Verbrechen gegen das andere auf, und das darf man nicht.

Bundeswehr:
Jaspers wendet sich gegen eine Traditionsbildung der Bundeswehr, die an NS-Generäle anknüpft, und würde lieber eine Bundeswehrtradition sehen, die auf preußische Vorbilder wie Gneisenau, Scharnhorst, Clausewitz oder Moltke aufbaut. Den 20. Juli hält Jaspers nicht für würdig und betrachtet ihn als eine fadenscheinige Legitimierung der Bundeswehr durch die Adenauerregierung. An anderer Stelle jedoch lobt Jaspers einen General, der die Opfer des 20. Juli gewürdigt wissen will, und kritisiert, dass die Bundeswehr von Offizieren aufgebaut wurde, die gegen den 20. Juli waren. Eine typisch Jaspersche Unausgegorenheit.

Bildung:
Für die Bildung möchte Jaspers auf die Antike zurückgreifen: „Der Abendländer soll in griechischer und römischer Welt und in der Bibel zu Hause sein. Das ist möglich auch ohne Kenntnis der alten Sprachen, zumal bei der heute gegenüber früheren Zeiten unvergleichlichen Zugänglichkeit guter Übersetzungen in billigen Ausgaben. Es ist als ob wir durch die Tiefe und Einfachheit des Großen in der Antike wie in eine neue Dimension unseres Lebens gelangen, den Adel des Menschen erfahren und Maßstäbe gewinnen. Wer nicht von der Antike weiß, ist noch nicht erwacht und bleibt barbarisch.“ (S. 202 f.) Die Geschichte „lässt uns heimisch werden in der eigenen Herkunft, in dem Leben der Völker und der Menschheit.“ (S. 203)

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 28. Juni 2015)

Einige Zitate:

„Das Volk ist dem Namen nach der Souverän. Aber es hat keinerlei Einwirkung auf die Entscheidungen außer durch Wahlen, in denen nichts entschieden, sondern nur die Existenz der Parteienoligarchie anerkannt wird. Die großen Schicksalsfragen gehen nicht an das Volk. Ihre Beantwortung muss das Volk über sich ergehen lassen und merkt oft gar nicht, dass etwas und wie es entschieden wird.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 134)

„Wenn die Opposition nicht anerkannt wird als produktive Macht und als für den Staat unentbehrlich, dann ist sie nur negativ beurteilter, staatsfeindlicher, daher eigentlich verwerflicher Gegner. Wenn die Opposition keine eigenen, durchdachten und das Denken der Bevölkerung ergreifenden Zielsetzungen und Wege hat, dann erscheint sie der herrschenden Partei ähnlich. … Mit der Aufhebung des Spiels der Opposition als unentbehrlichen Faktors der politischen Willensbildung des Staates hört die demokratische Freiheit auf. Denn der politische Kampf im Denken der Bevölkerung hört auf.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 138)

„Demokratie heißt Selbsterziehung und Information des Volkes. Es lernt nachdenken. Es weiß, was geschieht. Es urteilt. Die Demokratie befördert ständig den Prozess der Aufklärung. Parteienoligarchie dagegen heißt: Verachtung des Volkes. Sie neigt dazu, dem Volke Informationen vorzuenthalten. Man will es lieber dumm sein lassen. Das Volk braucht auch die Ziele, die die Oligarchie jeweils sich setzt, wenn sie überhaupt welche hat, nicht zu kennen. Man kann ihm statt dessen erregende Phrasen, allgemeine Redensarten, pompöse Moralforderungen und dergleichen vorsetzen. Es befindet sich ständig in der Passivität seiner Gewohnheiten, seiner Emotionen, seiner ungeprüften Zufallsmeinungen.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 140)

„Die Tendenz, eine Zensur auszuüben im Interesse der autoritären politischen Herrschaft, nimmt zu. Sie zeigt sich heute durch indirekte Maßnahmen.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 153)

„Die Freiheit aber muss durch Erziehung, Überlieferung, Übung und Wagnis stets neu erworben werden.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 169)

„Es gibt für uns [Deutsche] noch immer keinen politischen Ursprung und kein Ideal, kein Herkunftsbewusstsein und kein Zielbewusstsein, kaum eine andere Gegenwärtigkeit als den Willen zum Privaten, zum Wohlleben und zur Sicherheit.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 178 f.)

„Die Wirtschaft kann sich selbst ruinieren, wenn sie nicht unter ethischen Impulsen steht, die zuerst bei den Unternehmern, die durch ihr Vorbild den Geist ihres Betriebes erzeugen, dann bei den Arbeitern das ganze Leben tragen.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 192)

„Einige Vorschläge: … Abschaffung 5%-Klausel, des konstruktiven Misstrauens-Votums, der Finanzierung der Parteien aus der Staatskasse. Der Sinn ist: Durchbrechung der Parteienoligarchie. Eine Gefahr, dass bei Anarchie der Parteien eine Hitlerdiktatur sich wiederhole, besteht nicht. Wohl aber besteht die Gefahr, dass aus der Parteienoligarchie ein autoritärer Staat und aus ihm die Diktatur erwächst. Diese Gefahr wird erhöht, wenn man die Angst vor der nicht bestehenden andern Gefahr festhält.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 194)

„Heute brauchen wir vor allem eine Geschichte der Freiheit in den deutschen Gebieten im Rahmen der abendländischen Geschichte, deren Glied wir sind.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 204)

„Dies muss mit Deutlichkeit betont werden. Die Verbindung mit den freien Staaten unter der Hegemonie der USA ist zwar notwendig zur Selbstbehauptung der Freiheit. Aber dieses Bündnis gilt nur außenpolitisch gegenüber der nicht freien Welt. Innenpolitisch hat jeder Staat, jedes Volk seine Freiheit. Dazu kommt eine gemeinsame ‚Innenpolitik‘ der freien Staaten unter sich, vor allem in Wirtschaftsfragen. Hier gilt keine Hegemonie.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 250)

„Wer als Deutscher alt geworden ist, hat es zweimal erlebt (1914 und 1933) und fürchtet, dass es sich zum dritten Mal wiederholen könnte. Es ist in allem Wandel der Erscheinung etwas unheimlich Bleibendes. Nur die Deutschen, die sich dessen bewusst werden, können es überwinden.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 281)

Anna Seghers: Das siebte Kreuz (1942)

Kommunistisches Zerrbild der NS-Verfolgung – dennoch lesenswert

In Anna Seghers Roman „Das Siebte Kreuz“ geht es um einen Kommunisten namens Georg Heisler, der mit sechs Mithäftlingen aus einem KZ bei Mainz ausbricht und quer durch die Rhein-Main-Region flieht, bis ihm schließlich die Flucht aus Deutschland mithilfe von ehemaligen Genossen gelingt, während die anderen sechs wieder gefangen genommen und an für diesen Zweck vorbereitete „Kreuze“ geschlagen werden: Das siebte Kreuz aber bleibt leer, die Diktatur ist nicht unbesiegbar. – Georg Heisler begegnet auf seiner Flucht den Deutschen in ihrem Alltag im Nationalsozialismus und erlebt, wie sie sich mit der Diktatur arrangieren und wie sie sich verhalten, wenn sie vor eine risikoreiche Gewissensentscheidung gestellt werden. Von der inneren Emigration über gedankenloses Mittun in der Diktatur bis hin zum überzeugten Nazi ist alles vertreten.

Kritik

Der Roman zeigt Kommunisten nur von ihrer Schokoladenseite, d.h. als idealistische Kämpfer mit einem ungebrochenen humanitären Anspruch. Doch das ist grober Unfug.

  • Seghers stellt Kritik an Stalins Sowjetunion (wo Millionen verfolgt wurden und sterben mussten) als dummes Nachgeplapper von antikommunistischer Propaganda hin (S. 239).
  • Seghers begann diesen Roman 1938 in Frankreich zu schreiben, also genau in der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, der u.a. zur Folge hatte, dass die Kommunisten in Frankreich den Einmarsch der Deutschen unterstützten. Aber kein Wort davon im Roman.
  • Viele sehen eine Quintessenz des Romans darin, dass Heisler im Gegensatz zu den anderen sechs Geflohenen die Flucht gelang, weil er Hilfe von seinen Genossen bekam. Da erhebt sich aber die Frage, warum die Genossen nur den Genossen halfen? Wäre es nicht human gewesen, wenn sie jedem geholfen hätten, ob Genosse oder nicht?
  • Mehrfach wird der Traum beschworen, nach Spanien zu fliehen, und dort im Spanischen Bürgerkrieg mitzukämpfen. Aber auch dort zeigte der Kommunismus seine hässliche Seite: Massenhaft Morde an Zivilisten, Morde z.B. an Priestern nur weil sie Priester waren, Morde an „Verrätern“, und überhaupt der Kampf nicht etwa für eine „Republik“, wie es oft heißt, sondern natürlich für die Diktatur, eben für eine kommunistische Diktatur. Auch Genosse Erich Mielke ging einst nach Spanien, nachdem er in Deutschland zwei Polizisten ermordet hatte, und begann dort seine Karriere als Stasi-Schnüffler, indem er „Verräter“ ans Messer lieferte.
  • Die überzeugte Kommunistin Anna Seghers floh 1941 nach Mexiko. In Mexiko wurde aber nur ein Jahr zuvor der kommunistische Dissident Leo Trotzki von den Häschern Stalins aufgespürt und brutal ermordet. Seghers schrieb da immer noch an diesem Buch. Hätte die Sensibilität einer Literatin nicht dazu führen müssen, dass sich diese Untaten im Namen des Kommunismus irgendwie in ihren Werken niederschlagen?

Kurz: Als Demokrat, der dem antitotalitären Grundkonsens verpflichtet ist, und ausnahmslos jede radikale Ideologie ablehnen muss, kann man diesen Roman nicht wirklich ernst nehmen. Da bekommt man also vorgeführt, wie die Genossen sich gegen eine inhumane Verfolgung wehren und sich als Idealisten rühmen, aber in Wahrheit sind sie selbst zu genau derselben Verfolgung von politisch missliebigen Personen fähig und bereit und haben sie auch aktiv begangen: Tausendfach, millionenfach, in der Sowjetunion, in Spanien, in Deutschland, weltweit.

Die Widmung des Buches an alle „toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands“ klingt da wie reiner Hohn. Denn Erich Mielke ist da mitgemeint. Nicht zufällig spielte Anna Seghers in der stalinistischen DDR-Diktatur später eine wichtige Rolle. Die Schwere ihrer Schuld gegenüber den Opfern der DDR-Diktatur vernichtet jeden Anspruch von Anna Seghers auf eine humane Gesinnung.

Die Judenverfolgung spielt in diesem Roman übrigens eine erstaunlich harmlose Rolle. Ganz am Rande der Handlung erfährt man, dass mit einem jüdischen Arzt rücksichtslos umgegangen wird. Mehr aber nicht: Keine Verhaftung, kein Berufsverbot. Und man liest von jüdischen Tuchhändlern, die ihren Laden ausverkaufen und auswandern. Tatsächlich gab es in den 1930er Jahren zunächst „nur“ eine Diskriminierung, aber noch keine Verfolgung der Juden in Deutschland. Die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden begann erst 1938. Also genau in dem Jahr, in dem Seghers ihren Roman zu schreiben begann! Hätte man da nicht erwarten können, dass Seghers das Schicksal der Juden etwas mehr bearbeitet? Im Roman sieht es so aus, als ob die Kommunisten die Hauptleidtragenden des Nationalsozialismus gewesen wären.

Es stimmt auch nicht, dass der Roman die ganze deutsche Gesellschaft in allen ihren Schichten abbildet, wie manche meinen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den kleinen Leuten, den Bauern, Schäfern, Handwerkern, Fabrikarbeitern, Umzugspackern und deren Ehefrauen, die fast immer Hausfrauen und sonst nichts sind. Die Mittelschicht wird höchstens gestreift. Die Oberschicht kommt nicht vor. Völlig abwesend sind auch Liberale und Konservative und deren Widerstand gegen die Diktatur. Man hört nichts von Christen, Monarchisten, Adligen, Gutsbesitzern, Beamten, Militärs und Unternehmern, die gegen den Nationalsozialismus sind. Man hört auch nichts von SPDlern, nichtkommunistischen Gewerkschaftern, Intellektuellen, Journalisten, Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern.

Das ganze Buch ist bei näherem Hinsehen ein viel zu simples Schwarz-Weiß: Auf der einen Seite die kleinen, „proletarischen“ Leute und die edelmütigen Kommunisten, auf der anderen Seite der Rest …. und der Rest zählt offenbar nicht, oder wird kurzerhand gleich ganz den Nazis zugerechnet. Dieses Zerrbild der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus ist völlig unakzeptabel!

Anna Seghers lebte von 1933 an im Exil. Das bedeutet, dass ihre Darstellung der Zustände im nationalsozialistischen Deutschland nicht auf ihre eigene, unmittelbare Erfahrung zurückgeht. Bei literarisch „aus der Ferne“ geschriebenen Werken besteht immer die Gefahr, dass Dinge verzerrt und über- oder auch unterzeichnet werden. Und wie wir sahen, ist bei Anna Seghers in der Tat eine ganze Menge verzerrt und über- bzw. unterzeichnet.

Es gibt wahrlich genügend Autoren, die ihre realen Erlebnisse schildern. Es wäre besser, sich an diese Autoren zu halten. Ein gutes Beispiel ist hier Françoise Frenkel mit ihrem bewegenden Buch „Nichts, um sein Haupt zu betten“: Eine jüdische Polin, die eine französische Buchhandlung in Berlin betrieb, vor den Nazis nach Frankreich floh, dort mit der Hilfe guter Menschen (nein, keine Kommunisten) der Verfolgung durch die französischen Behörden entkam und schließlich in die Schweiz fliehen konnte. Mit der Realität kann keine Fiktion mithalten.

Dennoch lesenswert

Es gibt dennoch gewisse Gründe, warum man dieses Buch lesen sollte:

  • Zunächst ganz einfach deshalb, weil das Buch heute vielgelesen und vielgerühmt ist. Man sollte wissen, was da gelesen und gerühmt wird. Das ist natürlich kein rühmlicher Grund, dieses Buch zu lesen.
  • Die Zeichnung des gehetzten Denkens eines Fliehenden und des vorsichtige Ratens und Ertastens, ob ein Gegenüber ebenso denkt wie man selbst und auch in Gefahr verlässlich ist, ist literarisch gut gelungen.
  • Die Zeichnung der kleinen Leute und ihres häufig sehr irrationalen Denkens und ihres oft eigenwilligen Arrangements mit der Obrigkeit ist literarisch gut gelungen und sehr lehrreich, allerdings unabhängig von der speziellen Situation der NS-Diktatur. Denn die kleinen Leute sind immer so, unabhängig von dem System, in dem sie leben. Sie machen auch Witze über andere Herrscher, und ducken sich gleichermaßen vor ihnen. Sie arrangieren sich auch mit der Demokratie nicht etwa deshalb, weil sie überzeugte Demokraten wären. Kleine Leute haben keine Überzeugungen von dieser Art. Dieses Denken der kleinen Leute wird von Anna Seghers recht gut eingefangen. Zum Vergleich könnte man etwa „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen, das dieselben kleinen Leute unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zeigt. Sie machen immer noch ihre Witze, sie arrangieren sich immer noch, sie haben immer noch keine echte Überzeugung.

Aperçu: „Neger“-Debatte

Auch in Anna Seghers Buch „Das Siebte Kreuz“ taucht das Wort „Neger“ auf. Es dient zur Beschreibung der rußgeschwärzten Gesichter von Schweißern in einer Werkstatt, Zitat: „… Blicke, aus schrägen Augen, in denen sich die weißen Augäpfel drohend zu rollen schienen, wie die Augen von Negern, …“ (S. 331)

Interessanterweise ist aber noch niemand auf die Idee gekommen, dieses unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Political Correctness äußerst delikate Zitat aus diesem Buch tilgen zu wollen. Man vergleiche mit dem harmlosen „Negerkönig“ aus Pippi Langstrumpf. Ob es wohl daran liegt, dass Anna Seghers eine Säulenheilige der Linken ist?

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Juli 2018)