Schlagwort: Krieg

Ricarda Huch: Urphänomene (1946)

Vergewisserung der klassischen christlichen und humanistischen Bildungsinhalte inmitten der Doppelkatastrophe von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus

Das Buch „Urphänomene“ von Ricarda Huch stellt die These in den Raum, dass es gewisse unverlierbare Grundtatbestände des Menschlichen gibt, eben die Urphänomene. Diese Urphänomene werden in einer Reihe von Kapiteln besprochen, deren Überschriften eine christliche Schlagseite deutlich werden lassen:

  • Familie.
  • Geburt und Tod.
  • Gott.
  • der gestirnte Himmel.
  • die Jungfrau mit dem Sohne.
  • Dreieinigkeit.
  • Satan.
  • der Gottmensch.
  • der Prophet.
  • Gewissen und Recht.
  • Freiheit.
  • Schönheit.
  • Musik.
  • Liebe.

Zu jedem Urphänomen wird eine lange Reihe von Mythen, Philosophien, Dichtungen und Überlieferungen aufgelistet, quer durch die Menschheitsgeschichte und quer über alle Kulturen hinweg. Der Schwerpunkt dieser Aufzählungen liegt aber eindeutig auf der westlichen Kultur, und hier wiederum deutlich mehr auf dem Christentum als auf der philosophischen Tradition.

Mehr als diese Aufzählungen wird praktisch nicht geboten. Die Autorin macht nichts aus diesen Aufzählungen und zieht keine neuen oder originellen Schlussfolgerungen. Es wird auch nicht versucht, abstrakte Gemeinsamkeiten hinter kulturellen Ähnlichkeiten zu suchen. Die Autorin bleibt recht oberflächlich bei der bloßen These der Urphänomene und bei bloßen Aufzählungen stehen. Das enttäuscht zunächst. Wer eine gute Allgemeinbildung hat, für den ist das meiste nichts neues. Welchen Sinn hat dieses Buch?

Der Sinn dieses Buches

Man muss Ricarda Huchs „Urphänomene“ von seinem Sitz im Leben her interpretieren. Die Autorin schrieb dieses Buch unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Jena in der Sowjetischen Besatzungszone. Es erschien 1946. Es geht in diesem Buch gar nicht darum, irgendetwas Neues oder Originelles auszusagen. Sondern es geht darum, sich der „alten“ Werte zu versichern, angesichts von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus. Und diese „alten“ Werte sind eben die Urphänomene: Sie bestehen im Wesentlichen in den Elementen einer klassischen Bildung, d.h. einer christlichen und humanistischen Bildung.

Deshalb wird auch wenig erklärt. Das Buch liest sich vielmehr wie eine Checkliste, die in kurzen Stichworten eine Inventur durchführt. Und ja, es ist eine Inventur von zutiefst menschlichen Themen, die den Wurzelgrund einer klassischen Bildung ausmachen, und die kulturelle Gemeinsamkeit und Vertrautheit in einer Gesellschaft stiften. Ein solches Buch benötigt kein „Ergebnis“, sondern die Vergewisserung an sich ist bereits das Ergebnis.

Der moderne Leser kennt solche Aufzählungen von esoterischen Werken: Auch dort werden die verschiedensten kulturellen Phänomene aufgezählt, um sie dann assoziativ zu einer esoterischen Ideologie zu verschwurbeln. Nicht zufällig fand sich das gelesene Exemplar in den Regalen des anthroposophisch angehauchten Antiquariats BuchKultur Opitz in Konstanz am Bodensee. Doch eine solche Verschwurbelung geschieht hier nicht. Es geht nicht um neue Ergebnisse, es geht um eine Vergewisserung der Grundlagen.

Dass es um Vergewisserung geht, wird auch im Nachwort deutlich. Ein ewiger Kampf um die Wahrheit wird beschworen. Und vor falschen Propheten gewarnt. Diese falschen Propheten sieht die Autorin erstaunlicherweise in allen, die über das Christentum hinauswachsen möchten. Auf den Nationalsozialismus trifft diese Beschreibung kaum zu, denn der Nationalsozialismus kann kaum als ein Hinauswachsen über das Christentum beschrieben werden. Diese Beschreibung trifft viel eher auf den Sozialismus der sich soeben herausbildenden DDR zu. Damit ist das Buch „Urphänomene“ weniger eine Vergewisserung im Gefolge der moralischen Niederlage des Nationalsozialismus, als vielmehr eine Vergewisserung gegen den aufstrebenden DDR-Sozialismus.

Und das nicht ohne Grund: Als das Manuskript dieses Buches 1946 von Jena an den Atlantis-Verlag im Westen geschickt wurde, kam auf ungeklärte Weise ausgerechnet das Kapitel „Freiheit“ abhanden; es wurde erst in der dritten Auflage 1966 abgedruckt. Im Jahr 1947 musste Ricarda Huch dann selbst in den Westen fliehen, nachdem sie noch als Alterspräsidentin des Thüringer Landtages fungiert hatte:

Es sei dem Lande Thüringen beschieden,
Dass niemals mehr im wechselnden Geschehen
Ihm diese Sterne untergehen:
Das Recht, die Freiheit und der Frieden
.

Leider hat Ricarda Huch mit ihrer Definition der falschen Propheten und ihrer Lehren als Versuchen, über das Christentum hinauszuwachsen, jede Form des Hinausdenkens über das Christentum verdammt. Das ist schon sehr konservativ. Damit würden dann auch Friedrich der Große und Goethe zu den falschen Propheten zählen. Ebenso Thomas Mann. Aufgrund der Knappheit des Büchleins bleibt unklar, ob dies wirklich ihre Meinung war, oder ob diese Schärfe nur der klaren Abgrenzung gegen den Sowjetsozialismus geschuldet war.

Einzelnes

Die Einteilung in Kapitel ist ein wenig willkürlich. Die Ehelosigkeit ist im Kapitel zur Familie mit enthalten, statt in einem eigenen Kapitel abgehandelt zu werden, was sie durchaus verdient hätte. Neben dem gestirnten Himmel hätte man z.B. auch das Meer, Gebirge und endlose Ebenen als menschliche Urphänomene nennen können. Es fehlen natürlich auch Krieg und Frieden. Ebenso Vernunft. Und der Unterschied zwischen einem Gottmenschen und einem Propheten wird nicht ganz klar. Der philosophischen Tradition gemäß hätte man außerdem ein Kapitel über den Weisen schreiben müssen, aber dazu ist dieses Buch zu christlich.

Zum Thema Familie fällt auf, dass sich Ricarda Huch positiv zur patriarchal geführten Familie äußert. Diese würde funktionieren, weil der Mann als Oberhaupt der Familie Verantwortung übernimmt, während der Abbau der Vorrechte des Mannes zur Instabilität der Familie geführt hätte. Daran mag manches richtig sein, es erscheint aber sehr konservativ gedacht.

Das Kapitel zur Liebe ist sehr christlich gehalten. Auch hier wurde zu wenig Mühe darauf verwendet, Ähnlichkeiten in der philosophischen Tradition zu finden. So hätte man z.B. den guten Gott Platons nennen können, während das Christentum den Begriff Liebe teilweise überzieht und verkitscht. Generell gilt: Ordnung und Liebe gehören eng zusammen.

Das Kapitel zur Freiheit stellt allein auf die innere Freiheit im Sinne des Paulus ab. Um äußerliche, gar um politische Freiheit, geht es kaum. Man fragt sich, warum ein sozialistischer Zensor dieses Kapitel entfernt haben soll? Doch die Zensur achtet oft wenig auf intellektuelle Inhalte, sondern wendet sich gegen Plakatives und gegen Schlüsselworte. Und „Freiheit“ ist natürlich ein Schlüsselwort, das unerwünscht war. Deshalb wohl.

Absolut wertvoll und wider Erwarten doch noch etwas Eigenständiges findet sich im Vorwort: Hier philosophiert die Autorin darüber, dass das Weltbild des Einzelnen und das öffentliche Weltbild immer auseinanderfallen werden, und was das für Konsequenzen hat. Sehr interessant!

Zuletzt fällt auf, dass die wenigen lateinischen Sentenzen in diesem Buch nicht übersetzt werden. Daran sieht man, welchen Bildungsanspruch die Autorin gegenüber ihren Lesern hatte.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch (1668)

Lebenserfahrung und Wissensordnung des 17. Jahrhunderts

Der Simplicissimus von Grimmelshausen ist kein Schelmenroman und kein Entwicklungsroman, in dem ein Dorfdepp durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges stolpern würde – das ist nur der Anfang, der zum falschen Inbegriff des ganzen Buches wurde, weil der Verdacht offenbar mit Recht besteht, dass viele Leser das wegen seiner altertümlichen Sprache nur mühsam zu lesende Buch schon bald wieder aus der Hand legten und deshalb nur dessen Anfang bekannt war. Es ist ein wahres Glück, dass nun diese gelungene Übersetzung von Reinhard Kaiser in einem modernen, lesbaren Deutsch vorliegt, die diesen verkannten Schatz der deutschen Literatur wieder ans Licht des Tages befördert hat!

Beim Simplicissimus handelt es sich in Wahrheit um einen autobiographisch gehaltenen Roman, dessen drei Hauptthemen die folgenden sind:

a) Lebenserfahrung – wie es so zugeht in der Welt; wie vieles nicht so ist, wie es zu sein scheint. Man spürt, dass der Autor aus eigener und echter Lebenserfahrung schöpft, die einiges zeitloses Gewicht bis in unsere modernen Tage hinein hat.

b) Lebensweisheit – worin das wahre Glück besteht. Hier wird viel in christlicher Sprache formuliert, aber es lässt sich auch alles nichtchristlich denken und deuten.

c) Wissensordnung – was man als Mensch des 17. Jahrhunderts alles wissen konnte über Religion und Gläubigkeit, antike Literatur, Geographie, Geologie, Medizin, Alchemie, zeitgenössische Literatur, Sitten der Völker, Torheiten und Laster und vieles andere.

Die bereisten Länder und Städte sind u.a.: In Deutschland: Spessart und Hanau, Magdeburg, Soest in Westfalen, Lippstadt, Köln, Wien und ein Kurort mit „Sauerbrunnen“ im Schwarzwald. Außerdem geht die Reise nach der Schweiz: Einsiedeln, Schaffhausen, Bern. Nach Paris in Frankreich. Nach Moskau, die Tartarei, Korea, Macao, Indien, Konstantinopel, Venedig, Rom. Nach Ägypten: Alexandrien. Schließlich nach einer südlichen Insel irgendwo bei Madagaskar. Die Rollen, in die Simplicius im Verlauf seines Lebens schlüpft, sind u.a.: Dorfdepp, Schüler, Narr, Soldat, Draufgänger und Jäger, Frauenheld, Ehemann, begehrter Schauspieler und Beau, Alchemist, Freund, Landwirt, Eremit, Pilger, Paradiesinselbewohner.

Einige der Abenteuer sind übertrieben phantastisch: Dreimal hat Simplicius es mit Geistern zu tun, jedesmal übrigens im Zusammenhang mit einem verborgenen Schatz. Einmal fährt er auf einer verhexten Bank zu einem Hexensabbat. Der Autor zwinkert mit den Augen dazu. In der Nachschrift schaut Simplicius die Hölle mit Lucifer. In der Mummelsee-Passage taucht Simplicius bis zum Mittelpunkt der Erde; das dabei geschilderte System von Wasserverbindungen von der Erdoberfläche zum Mittelpunkt der Erde könnte durch den Platonischen Mythos über das Schicksal der Seele nach ihrem Tode inspiriert worden sein (Dialog Phaidon 107d – 115a). Schließlich macht Simplicius zwei Fernreisen, einmal über Moskau bis Korea, dann nach Ägypten.

Der Leser wird zahlreiche Redewendungen wieder erkennen, die bis heute in der deutschen Sprache vorhanden sind und unsere Sprache lebendig machen. Man entdeckt auch ein entwickeltes deutsches Nationalbewusstsein; dieses ist also nicht erst im Gefolge der französischen Revolution entstanden. Für Grimmelshausen sind die Nationalstaaten klar abgesteckt, die typischen Eigenarten anderer Völker werden treffsicher beschrieben. Die Vision des Jupiter von einem Europa unter deutscher Führung kommt hinzu.

Das Buch ist auch sehr sozialkritisch. Man meint, ein Buch aus der Zeit der französischen Revolution in der Hand zu haben, wenn man die gesellschaftliche Hierarchie am Bild eines Baumes gezeigt bekommt, auf dem die Adligen hocken und um Karriere kungeln. Sehr modern wirkt auch die bereits angesprochene Vision des Jupiter über die Idealzukunft Europas, hier unter deutscher Führung. Ebenfalls verblüffend modern ist der Schluss des Buches: Simplicius flieht vor der Welt auf eine einsame Insel, wo er in Genügsamkeit paradiesisch lebt. Wer dächte da nicht an gewisse moderne westliche Menschen, die die Einfachheit weniger entwickelter Völker für das wahre Glück halten? Auch der Stil ist teils extrem modern. Das Buch scheint wie ein Verschnitt aus den Sonetten des Andreas Gryphius und den geistig weiten Überlegungen eines Montaigne.

Alles in allem macht das Buch einen wunderlich aufgeklärten Eindruck, der Autor zeigt eine sehr gesunde Skepsis und viel gesunden Menschenverstand, den er ohne Anleitung eines anderen benutzt. Er denkt auch nicht nur oberflächlich dahin, sondern macht sich tiefer seine Gedanken, jedoch immer aus der „Froschperspektive“ des Einzelnen; ein alternativer Gesellschaftsentwurf entsteht nicht. Zahllose Anspielungen auf antike Autoren sind eingeflochten, ebenso einige Verweise auf zeitgenössische Autoren. Der Autor muss extrem belesen und gut bekannt mit der antiken Geisteswelt gewesen sein, was seine Aufgeklärtheit besser verstehen lässt. Nett auch, wie er den Raimundus Lullus beurteilt, das muss man selbst gelesen haben und versteht es nur, wenn man sich selbst schon mit Lullus beschäftigt hat.

Dennoch bricht der Autor noch nicht aus dem Korsett des christlichen Weltbildes aus, sondern benutzt es, um in ihm seine Gedanken zu entfalten. Man muss hinter der Frage nach der christlichen Moral und der christlichen Glückseligkeit auf Erden dieselben Fragen in säkularisierter Form erkennen, sonst würde das Buch für moderne Leser unerträglich sein.

Die Bedeutsamkeit des Buches und sein Einfluss müssen als sehr hoch eingeschätzt werden. Es stellt sich z.B. die Frage, inwieweit Goethes Faust davon beeinflusst war: Auch dieses Werk ist eine Summe von Lebenserfahrung und Lebensweisheit, auch dies eine Wissensordnung, und auch hier wird vieles in christlichen Bildern ausgedrückt. Es gibt überhaupt zahlreiche Parallelen zwischen Goethes Faust und dem Simplicissimus des Grimmelshausen. Ein wahrhaft unergründliches und unerschöpfliches Werk!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

Leo Tolstoj: Krieg und Frieden (1868/69)

Trotz allem ein echter Klassiker über Mensch und Gesellschaft, der bleiben wird

Der Roman „Krieg und Frieden“ von Tolstoj beschreibt den Werdegang mehrerer Familien und ihres Umfeldes rund um die Zeit des Russlandfeldzuges Napoleons. Obwohl man zunächst den Eindruck hat, einem eher oberflächlichen Werk wie etwa einem Roman von Alexandre Dumas gegenüber zu stehen, zeigt sich bald, dass der Roman reich an Einsichten ist, die teils implizit, teils fast aufdringlich explizit vermittelt werden.

Zunächst bietet sich eine Fülle an Material, um seine Menschenkenntnis zu schulen und Einsichten in das gesellschaftliche Leben zu gewinnen. Zahlreiche Charaktere und ihre Veränderung und Entwicklung nach Situation, Stimmung und Zeitläuften werden genauestens nachgezeichnet: Da ist der Besonnene, der Tatkräftige, der Heißsporn, der Vorsichtige, der Praktische, der Karrierist, der Vater, die Mutter, die Kinder, die Brüder, die Schwestern, der naive Intellektuelle, der Reiche, der Alte, der Bauer, der Adelige, die Gesellschafterin, der Hauslehrer, der Kutscher, der General, der Skeptiker, die Gläubige usw. Diese Charaktere sind aber nicht stereotyp gezeichnet, sondern durchlaufen eine Entwicklung. Es handelt sich auch keineswegs um Randfiguren: Tolstojs „Krieg und Frieden“ hat nicht zwei oder drei Hauptpersonen, sondern gleich ein ganzes Dutzend davon.

Als Folie für diese Figuren entfaltet sich in epischer Breite ein gewaltiger Bilderbogen verschiedenster typischer Szenen des gesellschaftlichen Lebens: Die Salonrunde, der Ball, die Jagdgesellschaft, das Militärleben, die Schlacht, das Duell, der Gottesdienst, die Begegnung mit dem Kaiser, die Eheanbahnung, die Geburt, die Sterbeszene, die Bauernrevolte, das vertraute Zwiegespräch unter Eheleuten, die Rituale der Freimaurer usw.

Damit ist dieser Roman auch ein ausgezeichnetes Dokument dieser Zeit. Der moderne Leser wird viel Geduld mitbringen müssen, um diese aufmerksam beschriebenen Szenen genießen zu können; wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt. Lediglich in der zweiten Hälfte des Romans nehmen die Beschreibungen des größeren geschichtlichen Verlaufs einen deutlich zu großen Raum ein, sie führen zu weit weg von den betrachteten Personen – hier muss man als Leser eben durch.

Tolstoj hebt immer wieder auf die Eigenheiten des russischen Charakters ab. Die Negativfolie dazu ist häufig der deutsche Charakter: Während man den Russen im Krieg zügeln, den Franzosen hingegen in den Krieg prügeln müsse, müsse man dem Deutschen erklären, warum er in den Krieg ziehen solle; die Deutschen seien die einzigen, die Selbstbewusstsein aus einer selbsterfundenen Theorie schöpfen könnten; die Deutschen seien dazu imstande, Verletzte ignorant liegen zu lassen, während sie ihr Hab und Gut retten; der Deutsche wird als „Wurstmacher“ bezeichnet, er spalte sein Korn auf dem Rücken des Beiles, und wenn eine Lokomotive nicht vom Teufel bewegt werde, dann doch sicher „vom Deutschen“.

Das Problem der Unauflöslichkeit der Ehe und der Abtreibung wird am Rande gestreift. Interessante Einsichten vermittelt der Roman auch zum Thema Freimaurer, die als eine Gruppierung dargestellt werden, deren Mitglieder ihre Ideale genauso selbstgerecht verraten, wie die Mitglieder jeder anderen Kirche auch. Tolstoj hat auch einen Blick für die charakterliche Verhärtung und das schlechte Gewissen von Menschen, die ein Verbrechen auf Befehl begehen, und weist vehement den Gedanken zurück, dass ein Verbrechen verzeihlich werde, wenn es auf Befehl großer Männer geschieht. Die Entscheidungsfindung unter Politikern und Generälen wird ebenso kritisch beleuchtet wie der Umstand, dass in der Politik morgen verdammt sein kann, was heute gilt, und umgekehrt.

Ins Zentrum seiner Darstellungen hat Tolstoj jedoch die Erkenntnis gerückt, dass die Geschichte nicht von großen Männern und Denkern gemacht wird, sondern dass die großen Männer und Denker seiner Auffassung nach nur dem Zug der Zeit entsprechen und nicht wirklich nach eigenem Willen handeln und Einfluss nehmen können. Tolstoj hat damit eine Art Chaostheorie der menschlichen Gesellschaft geschaffen: Das chaotische Zusammenwirken vieler Einzelner sei es, das in Strömungen und Gesetzmäßigkeiten zusammenlaufe. In den allerletzten Absätzen des Romans entwickelt Tolstoj daraus die Idee, dass der Mensch in Wahrheit gar keinen freien Willen habe, dass freier Wille eine Einbildung sei.

Die Radikalität dieser Auffassungen verwundert ein wenig, ist aber für Tolstoj typisch. Denn natürlich hat ein großer Mann erheblich mehr Einfluss auf den Gang der Geschichte als ein kleiner Mann, ein vielgelesener Denker mehr als ein schlichter Arbeiter; und der finale Schluss Tolstojs auf die Nichtexistenz des freien Willens ist vollends übertrieben. Verstehen kann man diese Radikalität nur vor dem Hintergrund der damaligen Geschichtsschreibung, die die großen Männer zu sehr ins Zentrum rückte, was Tolstoj natürlich völlig zurecht kritisiert. Unangenehm fällt auf, dass Tolstoj die Idee, dass große Männer den Gang der Geschichte nicht beeinflussen könnten, immer wieder und wieder in stets neuen und anderen Variationen vorträgt, vor allem in der zweiten Hälfte des Buches – der Leser ist dessen bald überdrüssig, Tolstoj hört und hört nicht auf, wieder und wieder die gleichen Gedanken zu wiederholen. Tolstoj stößt auch nicht zu einer allgemeinen Theorie kollektiver Irrtümer vor, sondern bleibt ganz bei diesem einen kollektiven Irrtum stehen, dass Geschichte allein von großen Männern gemacht werde.

Fazit

Tolstojs Roman „Krieg und Frieden“ hat einige auffällige Schwächen, dennoch ist und bleibt er ein lesenswerter Klassiker, der dem Leser viel zu geben vermag. Erstaunlich ist dabei, dass dies nicht so sehr an den explizit formulierten Intentionen des Autors liegt, sondern vielmehr an den zahlreichen Einsichten in das Wesen von Mensch und Gesellschaft, die Tolstoj eher implizit mitteilt. Diese sind es, die das Werk zu einem Klassiker machen: Wer mit den Figuren dieses Romans, mit Andrei, Pierre, Natascha, Boris, Nikolai, Marja usw. mitgefiebert hat, gehört fortan zu einem Kreis von Eingeweihten, die einen gemeinsamen Schatz von Einsichten und Erfahrungen teilen. Es lohnt sich, dazu zu gehören.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 09. Juli 2010; dort ist die Rezension inzwischen verschwunden)