Schlagwort: Lehrjahre

Elif Shafak: Der Architekt des Sultans (2013)

Erzählter Traum von einer besseren Türkei

Der Roman „Der Architekt des Sultans“ von Elif Shafak ist weniger ein realistischer Historienroman, der die wahre Historie trickreich mit einer spannenden Geschichte hinterlegen würde. Vielmehr ist es ein fast schon märchenhaftes Geschehen, das sich vor dem nur blass gezeichneten Hintergrund der Geschichte Istanbuls im 16. Jahrhundert entfaltet. Im Zentrum steht die Geschichte des Jungen Jahan, der als Elefantenführer nach Istanbul kommt und dort Schüler des berühmten Hofarchitekten Sinan wird.

Zentrale Themen des Buches sind Liebe, Vertrauen und Wohlwollen, dann auch Wissen und Bildung, und als Gegensatz dazu Hass, Verbitterung und religiöse Engstirnigkeit. Da ist zunächst die Liebe des Jungen zu seinem klugen Elefanten. Dann die mordende Geldgier des Kapitäns, der ihn nach Istanbul brachte. Dann der Hofarchitekt, der seine Schüler seltsamerweise danach aussucht, ob sie seelisch heilungsbedürftig sind. Die Sultane, die ihre Konkurrenten um den Thron ermorden lassen. Der schwelende Hass diverser Romanfiguren auf das Osmanische Reich, weil es ihr Land erobert und ihre Familien ermordet hat. Der Forscherdrang des Hofastronomen. Die Engstirnigkeit der Religionsgelehrten. Die Buchhändler voller Weisheit. Die Zusammenarbeit von Menschen verschiedener Religion und Herkunft. Eine islamische Gläubigkeit getragen von Liebe und Barmherzigkeit. Idyllische Zigeuner mit dem Herz am rechten Fleck. Usw. usf.

Shafaks Roman ist im Grunde ein Märchen, das auf die heutige Türkei abzielt, in der dieselben Kräfte wie im Roman immer noch schwer miteinander ringen.

Erzählerisch ist der Roman stark, die Sprache angenehm und gefällig. Man ist durch jede einzelne Episode aufs neue gefesselt. Eine Schwäche ist jedoch, dass der Roman nur einen dünnen roten Faden hat, in den viele kleine Nebenerzählungen eingewoben sind, die nicht dazu beitragen, die Geschichte voranzutreiben, und die teilweise so dramatisch sind, dass man jeweils einen eigenen Roman daraus hätte machen können. Auch die Auflösung diverser Verwicklungen am Schluss des Romans kommt etwas überraschend und hat sich eher nicht im Verlauf des Romans abgezeichnet. Auch die dramatische Eingangsszene wird im Roman dann eher beiläufig abgearbeitet, und auch der Prolog mit dem „Mittelpunkt des Universums“ ist am Ende nicht so zentral für diesen Roman, wie man erwarten könnte. Der Roman krankt ein wenig daran, dass er zu viele „zentrale“ Themen aufmacht, so dass am Ende keines davon mehr wirklich „zentral“ ist.

Eine weitere Schwäche ist eine teilweise zu sehr zur Schau gestellte Freundlichkeit und Rücksichtnahme. Im wirklichen Leben geht es manchmal doch robuster zu, ohne dass es weniger herzlich wäre. Hier ist man versucht, das Wort vom „Frauenroman“ zu bemühen. Schließlich wurde das ganz am Anfang des Romans angeschlagene Gegensatzpaar „Liebe“ vs. „Liebe zum Lernen“ bzw. zur Wahrheit nicht wirklich bearbeitet. Richtig ist, dass Jahan kein Glück in der Liebe hat. Aber der Grund dafür scheint mir keineswegs seine Liebe zum Lernen und zur Wahrheit zu sein, die übrigens nur recht selten im Roman aufscheint. Beide Dimensionen bleiben unverbunden nebeneinander stehen, und stoßen sich nicht gegenseitig. Aus diesem Thema hätte man mehr machen können.

Eine kleine Liste weiterer Themen, die der Roman bearbeitet:

  • Das Verhältnis von Meister und Schüler.
  • Ein Leben voll begeisternder Arbeit, über der das Leben selbst zu kurz kommt.
  • Unerfüllte Liebe. Einsamkeit.
  • Abschied, Tod, Verlust, Verrat.
  • Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft, Verkleidung als Mann.
  • Studienreisen von osmanischen Architekten nach Rom.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juli 2017)

Charles Dickens: David Copperfield (1849/50)

Heiter-ironischer Entwicklungsroman von herausragender Bedeutung

Mit „David Copperfield“ hat Charles Dickens einen heiter-ironisch gestimmten Entwicklungsroman geschrieben, der ein wahres Lesevergnügen ist und der auf viele spätere Autoren Einfluss ausgeübt hat.

Heiter-ironisch soll heißen: Der angeschlagene Ton macht von Anfang an klar, dass die Geschichte gut ausgehen wird. Der Protagonist blickt wohlwollend und weise auf die Höhen und Tiefen seines Lebens zurück. Teilweise nimmt der Roman den Charakter eines Schelmenromans an. Aber auch traurige, erschreckende, unglückliche und schmerzvolle Ereignisse kommen vor, deren Schrecklichkeit durch den Grundton gemildert und im Hinblick auf das erwartbare gute Ende aufgehoben ist.

Entwicklungsroman soll heißen: Es wird das Leben von David Copperfield von seiner Kindheit bis ins mittlere Alter erzählt. Dabei werden verschiedene Themen behandelt, darunter: Die Ausgeliefertheit des Kindes an die Erwachsenenwelt. Die Unsicherheiten und Tölpelhaftigkeiten und Unbeholfenheiten eines Kindes und jungen Mannes. Böse Stiefeltern und gute Tanten. Spießige, unironische Menschen. Schule im Kasernenhofstil. Freundschaften und Enttäuschungen. Berufswahl und Berufsweg. Liebschaften und Ehen. Wiederholt das Thema Einsamkeit, Sinnverlorenheit und Unbehaustheit.

Die jeweiligen Stationen sind in vielen Aspekten so exemplarisch und archetypisch erzählt, dass sich wohl jeder Leser ein wenig in ihnen wiederfinden kann. Dickens kann die psychologische Lage jeder Situationen gut darstellen. Eine ganze Reihe von Lebenseinsichten werden in der Handlung demonstriert und dann auch explizit formuliert: Etwa, dass ein Ehepartner Anteil an den Gedanken des anderen Ehepartners nehmen sollte. Oder dass Nachlässigkeit und allzu große Gutmütigkeit eine Verführung der Mitmenschen zum Ausnutzen derselben sind. Oder dass, wer an sich selbst glaubt, sich für gewöhnlich nicht selbst lobt.

Der Roman hilft dem Leser dabei, das Leben unter der Perspektive eines heiteren Grundtons zu sehen, und Menschlichkeit und Herzlichkeit zu bewahren. Es lässt sich vorstellen, dass dieses Buch für denkende junge Menschen ein guter Begleiter, Seelentröster und Ratgeber sein könnte.

Skurrilität als Nebenthema: Im Laufe seines Lebens begegnet David Copperfield einer ganzen Reihe von äußerst skurrilen Typen. Diese sind sehr liebevoll gestaltet und erhöhen das Vergnügen an diesem Roman erheblich. Man erkennt hier auch ein wenig das Thema des englischen Exzentrikers.

Sozialkritik als Nebenthema: Schul- und Gefängniswesen werden heftig kritisiert. Auch die Pädagogik, die Charaktere wie den schmierigen Uriah Heep hervorbringt, wird aufs Korn genommen. Gerichts- und Parlamentswesen werden nicht verschont. Diese Kritik taucht aber nur am Rande auf. Eine kleine antisemitische Spitze zu Wechselgeschäften ist enthalten. Und dann ist da noch „der Türke“ als Urbild eines Menschen, dem das Wohl seiner Familie egal ist. Solche Stereotypen schrieb man damals sorglos.

Die Romanhandlung ist bei Lichte besehen ein wenig unglaubwürdig. Einerseits ereignen sich doch recht viele Unglücksfälle, andererseits findet der Protagonist immer wieder Menschen, die ihm aus der Patsche helfen. David Copperfield wirkt dadurch manchmal (nicht immer) ein wenig wie ein Passepartout, ein Stehaufmännchen, bei dem Schmerz und Leid keine Spuren hinterlassen. Am Ende rundet sich alles, und alle Fäden kommen zu einem guten und gerechten Ende. Die Wirklichkeit sieht leider oft anders aus. Daraus eine Kritik an diesem Roman zu machen, wäre allerdings ein Missverständnis: Der Roman scheint auch mit der Absicht geschrieben worden zu sein, seine Leser aufzumuntern, damit sie trotz Widrigkeiten nicht am Leben verzweifeln. Diesen Zweck hat der Autor bestens erfüllt.

Da es ein sehr guter Roman ist, blieb er nicht ohne Folgen. Man teilt die englische Literaturgeschichte gemeinhin in die Zeit vor Dickens und die Zeit nach Dickens ein. Der Einfluss von „David Copperfield“ reicht von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, in dem Skurrilität und Sprachspiele („begin at the beginning“) auf die Spitze getrieben wird, bis zu Joanne K. Rowlings Harry Potter, wo zahlreiche Anleihen bei „David Copperfield“ in Stil und Thematik nachweisbar sind. Aber auch weltweit haben sich Autoren beeindrucken und beeinflussen lassen, so z.B. Tolstoj.

Fazit

Ein Klassiker wie er sein soll: Immer noch ein sehr großes Lesevergnügen, immer noch sehr lehrreich, und man erkennt, welche Spuren er hinterlassen hat.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. September 2018)