Schlagwort: Maßlosigkeit

Ludwig Erhard: Wohlstand für alle (1957)

Was soziale Marktwirtschaft wirklich ist – und was nicht

Das Buch „Wohlstand für Alle“ von Ludwig Erhard ist das Grundlagenwerk der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Hier gibt der Vater der sozialen Marktwirtschaft persönlich Auskunft, und jeder, der sich auf das Schlagwort der sozialen Marktwirtschaft berufen will, muss sich an diesem Buch messen lassen.

Die zentrale Botschaft lautet: Das Soziale an der sozialen Marktwirtschaft ist die Marktwirtschaft selbst. Wo immer ein echter Markt mit freiem Wettbewerb herrscht, werden die Ressourcen und kreativen Potentiale einer Volkswirtschaft optimal genutzt, und es entsteht größtmöglicher ökonomischer Nutzen. Deshalb hat für Ludwig Erhard das Kartellrecht eine zentrale Bedeutung, denn nur dadurch wird sichergestellt, dass tatsächlich Wettbewerb herrscht. Ein regelloser Kapitalismus mit Monopolbildungen wäre keine Marktwirtschaft; ein Nachtwächterstaat ist nicht das Ziel.

Die zweite Priorität ist die Stabilität der Preise. Die Stabilität der Preise ist sowohl für die Unternehmer wichtig, weil sie Planungssicherheit haben, aber auch für die ausländischen Kunden von Exportgütern, und schließlich auch für die Verbraucher, weil ihnen das Geld nicht durch Inflation aus der Tasche gezogen wird. Zur Erhaltung der Preise setzt Erhard auch auf staatliche Lenkungsmaßnahmen wie die Eindämmung einer überhitzten Konjunktur und im Idealfall auf die psychologische Wirkung seiner Aussagen.

Die dritte Komponente ist die Umverteilung des Wirtschaftswachstums an alle durch Lohnsteigerungen (oder durch Preissenkungen). Eine Umverteilung der Zuwächse ist politisch viel einfacher durchzusetzen als eine Umverteilung des bestehenden Vermögens, und setzt keine Fehlanreize. Ludwig Erhard spricht sich klar dagegen aus, die Sozialstruktur der Vorkriegszeit mit wenigen Reichen, einer breiten Unterschicht und einem schwachen Mittelstand fortzuführen. Lohnsteigerungen dürfen aber niemals die Produktivitätssteigerungen übertreffen, da es sonst zu Preissteigerungen kommt, die die Lohnerhöhung sinnlos sein lassen.

Vollbeschäftigung ist für Ludwig Erhard ein nachgeordnetes Ziel, das sich durch die höheren Ziele quasi von selbst erfüllen wird. Wichtig ist vor allem der Aufbau von Arbeitsplätzen, die sich ökonomisch selbst tragen. Einen Ausbau der sozialen Sicherungssysteme sieht Erhard skeptisch: Sie nehmen den Menschen die Freiheit und gaukeln eine Sicherheit vor, die es so nicht gibt.

Im Detail argumentiert Erhard, dass ein echtes Unternehmertum gar keine Kartelle wollen kann, will es nicht zur planwirtschaftlichen Bürokratenkaste verkommen. Auch Handwerksordnungen und andere bürokratische Regulierungen können Kartellcharakter annehmen, wenn sie den Markteintritt von Konkurrenten erschweren.

Der Export ist für Ludwig Erhard ein Schlüssel zum Erfolg. In diesem Zusammenhang äußert sich Erhard auch dazu, wie man Europa nicht integrieren darf, nämlich durch „Harmonisierung“ oder gar feste Wechselkurse zwischen den Staaten (erinnert an die heutige EU und das heutige Euro-System). Vielmehr wird sich die ökonomische Integration unterschiedlich leistungsfähiger Ökonomien durch eine freie Preisbildung und durch die Konvertibilität der Währungen ergeben. Alles andere würde zu einer schlimmen Desintegration führen, meint Erhard.

Stellenweise wird Ludwig Erhard philosophisch. So z.B., wenn er die These ablehnt, dass die Marktwirtschaft materialistisches Denken fördere. Vielmehr führe ein wachsender Wohlstand dazu, dass die Menschen durch die Marktwirtschaft mehr Freizeit für ihre geistig-seelische Erbauung haben, statt nur für ihren Broterwerb arbeiten zu müssen. Insoweit sei die Marktwirtschaft „ein Gott wohlgefälliges Beginnen“. Bedenken von Oberschichten, dass der Wohlstand die einfachen Menschen dekadent mache, weist er zurück: Man solle anderen gönnen, was man selbst hat. Eines Tages sei es sogar möglich, dass man bewusst auf Wirtschaftswachstum verzichte, um mehr Lebensqualität zu gewinnen – doch so weit sei man noch lange nicht. Ludwig Erhard warnt auch vor der Maßlosigkeit als einem typisch deutschen Charakterzug (S. 268). Freiheit und Demokratie sind für Ludwig Erhard untrennbar mit der Marktwirtschaft verknüpft. Hingegen lesen sich die zitierten Reden der SPD aus damaliger Zeit wie Honecker-Reden: Ihnen fehlt ganz offensichtlich jeder Glaube an die Kraft der Freiheit.

Die ersten 160 Seiten des Buches bilden eine Art politischer Autobiographie, die minutiös die politische Situation des ersten Jahrzehnts von Bizone und BRD durchgeht. Ludwig Erhard erklärt, warum er jeweils welche Entscheidung traf, und wie er mit der Militärbehörde bzw. der politischen Opposition um seine Ziele ringen musste. In diesem Teil bekommt der Leser allein durch die Praxis einen Begriff davon, was soziale Marktwirtschaft ist. Dabei schreibt Ludwig Erhard nicht lehrbuchmäßig, sondern präsentiert seine Maximen in Form von kurzen Faustregeln. Erhard wehrt sich gegen den Vorwurf, dass er amerikanische Befehle ausgeführt hätte (S. 194 f.).

Das erste Jahrzehnt von Bizone und BRD war geprägt von kriegsbedingten, großen Ungleichgewichten und Turbulenzen, von Kapitalmangel, Rohstoffmangel, Bevölkerungszuwachs durch Flüchtlinge und vielen anderen Problemen. Ludwig Erhard glaubte fest daran, dass eine wahrhaft freie Marktwirtschaft, beginnend mit der Einführung der Deutschen Mark in der Währungsreform von 1948, von ganz von selbst dazu führen würde, dass sich die Ungleichgewichte ausbalancieren würden. Und er hat Recht behalten. Auftauchende Probleme und Knappheiten überwand Erhard nicht durch ängstliches Zurückschrecken, sondern durch forsches Herauswachsen aus der Krise. Den Begriff „deutsches Wunder“ (heute: „Wirtschaftswunder“) lehnt Erhard ab, denn für ihn sei die Entwicklung alles andere als ein Wunder gewesen.

Das Buch ist leicht zu lesen, da es in lauter kleine Unterkapitel eingeteilt ist.

Fazit

Ein ökonomisch aufklärendes, fast schon weises Buch voller zeitloser Grundwahrheiten, das mit vielen seiner Aussagen gerade auch heute wieder verblüffend aktuell ist, nicht zuletzt mit seinen Warnungen, wie man es nicht machen sollte: Denn genau so wurde es in den letzten Jahrzehnten leider gemacht. Wir sind von dem vorgezeichneten, guten Weg Ludwig Erhards weit abgekommen, und alle warnenden Vorhersagen Ludwig Erhards haben sich bewahrheitet.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung ohne Fazit auf Amazon am 16. Mai 2016)

Anhang:
Zitate in Auszügen über richtige und falsche Arten der Integration Europas

Es scheint heute allenthalben eine gewisse Scheu vor dem Wettbewerb vorzuherrschen, der notwendigerweise mit der Schaffung von größeren Markteinheiten verbunden ist bzw. durch sie ausgelöst wird. Man wähnt, daß die Bedingungen für einen freien Wettbewerb bei einer derartigen Integration zu ungleich wären, als daß dieses Ordnungsprinzip der Marktwirtschaft gesetzt werden dürfte. Man sollte daher – so meinen manche Wirtschaftskonstrukteure – zuerst einmal alle diese Unterschiedlichkeiten ausgleichen bzw. sie alle auf ein gleiches Niveau bringen, ehe man den freien Wettbewerb eröffnet.

Solche Versuche könnten zwar in engen Grenzen zu einem bescheidenen Erfolg führen; es ist aber völlig illusionistisch, anzunehmen, daß man in dieser Welt, d.h. in einer konkurrierenden, in Wettbewerb stehenden Welt, in bezug auf die einzelnen Kostenfaktoren gleiche Startbedingungen herbeiführen könnte. Dieses Ziel auch nur anstreben zu wollen, müßte einen Dirigismus und Dilettantismus sondergleichen auslösen, der von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt wäre.

Nur der Preis, in welchem dann naturgemäß auch die Qualität Berücksichtigung und Ausdruck findet, ist der ökonomische Maßstab zur Beurteilung von Leistungen. … Integration bedeutet für jeden Einsichtigen daher freien und umfassenden Wettbewerb, bedeutet wirtschaftliche Zusammenarbeit auf einer funktionell höheren Ebene.

Diese kritische Anmerkung gilt natürlich auch gegenüber solchen Vorstellungen, die ebenso abwegige Gedanken unter einem anderen Motto, dem der „Harmonisierung“, verfolgen und unter dieser Flagge eine Gleichmacherei aller ökonomischen Verhältnisse betreiben wollen. Wollte man den Versuch unternehmen, alle betriebswirtschaftlichen Kostenelemente von Land zu Land und über einen größeren Bereich von Ländern hinaus so zu harmonisieren, d. h. auszugleichen, daß der Wettbewerb keine „störenden“ Wirkungen zeitigen kann, bedeutet dies nicht Integration, sondern eine Desintegration schlimmsten Ausmaßes.

Unter dem Stichwort „Harmonisierung“ ging das Ansinnen sogar so weit, daß am Ende der Übergangsperiode die Lohnniveaus der einzelnen Mitgliedsstaaten angeglichen und ihre Gesamtarbeitskosten „äquivalent“ sein müßten. Man könnte über diese Forderung hinweggehen, weil sie volkswirtschaftlich einfach nicht realisierbar ist, denn von Sizilien bis zum Ruhrgebiet kann es keine gleiche Produktivität und mithin auch keine gleichen Arbeitskosten geben. Die Praktizierung dieses Grundsatzes müßte gebietsweise sogar zu einem wirtschaftlichen Massensterben führen.

Niemand kann glauben wollen, daß es möglich sein könnte, in allen beteiligten Ländern quer durch alle Industriezweige einen gleichen Produktivitätsstandard zu setzen und einen gleichen Produktivitätsfortschritt zu erzielen. Selbst wenn durch künstliche Manipulationen an einem bestimmten Stichtag gleiche Startbedingungen gesetzt werden könnten, würden am Tage danach schon wieder Veränderungen Platz greifen, weil die Vorstellungen und das Verhalten der Menschen und auch der Völker hinsichtlich ihres Sparen-und-Verbrauchen-Wollens, des Leistungsstrebens, ihres Fleißes u.ä.m. auch in einem gemeinsamen Markt niemals auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können.

Jene Forderung beruht also auf einer völlig illusionären Verkennung ökonomischer Gesetze und Tatbestände, aber sie charakterisiert zugleich eine geistige Haltung, die sich in einem integrierten Europa unter keinen Umständen durchsetzen darf, wenn nicht menschliche Initiative und schöpferische Kraft, ja das Leben selbst, erstickt werden sollen.

Es ist also eine Illusion, die hinter diesen Vorstellungen steht, der Wahn, zu glauben, man könnte die natürlichen Gegebenheiten korrigieren und die strukturellen Bedingungen von Land zu Land mit künstlichen Mitteln so weit ausgleichen, daß jedes Land in jedem Bereich mit gleichen Kosten arbeitet. Ich halte dies – von der Unmöglichkeit, daß man dieses fragwürdige Ziel jemals wird erreichen können, einmal abgesehen – auch in keiner Weise für erstrebenswert.

Dann gäbe es auch keinen Hinderungsgrund mehr, wieder in die nationale Isolierung zurückzufallen, denn wenn jeder Mann jede Ware zu den gleichen Kosten anbieten kann, warum – so frage ich – soll ich sie dann anderwärts kaufen? Hier verliert der zwischenstaatliche Güteraustausch seinen letzten und eigentlichen Sinn. Das ist doch gerade der Witz, daß alle Länder unter verschiedenen Bedingungen arbeiten, daß bei dem einen die Gunst auf dieser, bei dem andern auf jener Seite liegt, daß der eine da und jener dort leistungsfähiger ist. Gerade hieraus erwächst ja die Notwendigkeit der gegenseitigen Ergänzung und die Fruchtbarkeit eines solchen Bemühens.

Wer dieser Harmonisierungstheorie folgt, darf nicht der Frage ausweichen, wer die Opfer bringen und womit die Zeche bezahlt werden soll. In der praktischen Konsequenz muß ein solcher Wahn naturnotwendig zur Begründung sogenannter „Töpfchen“ führen, d. h. von Fonds, aus denen alle diejenigen, die im Nachteil sind oder es zu sein glauben, entweder entschädigt oder künstlich hochgepäppelt werden. Das aber sind Prinzipien, die mit einer Marktwirtschaft nicht in Einklang stehen. Hier wird nicht die Leistung prämiiert, sondern das Gegenteil getan, es wird der Leistungsschwächere – aus welchen Gründen auch immer – subventioniert.

Gegenüber diesen Theorien habe ich zu wiederholten Malen darauf hingewiesen, daß ich jene „Sozialromantik“, die hier zum Ausdruck kommt, für außerordentlich gefährlich halte. Dagegen trete ich dafür ein, daß gemeinsame Mittel nach strukturellen und soziologischen Maßstäben einer echten Produktivitätssteigerung sowie für die Erhaltung lebensfähiger Wirtschaftszweige nutzbar gemacht werden. Die Geister scheiden sich nicht in der Fragestellung, ob ein gemeinsamer Markt sobald als möglich entstehen soll oder nicht; es geht ausschließlich um die Ordnungsprinzipien und die geistige Ausrichtung.

Ein bürokratisch manipuliertes Europa, das mehr gegenseitiges Mißtrauen als Gemeinsamkeit atmet und in seiner ganzen Anlage materialistisch anmutet, bringt für Europa mehr Gefahren als Nutzen mit sich.

Neben den politischen Gefahren, die mit der sogenannten sozialen Harmonisierung verbunden sind, ist diese Konzeption wissenschaftlich überhaupt nicht diskussionsfähig. Die soziale Harmonisierung steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Integration; sie ist nicht durch gequälte Konstruktionen zu verwirklichen, sondern durch eine Angleichung der Lebensformen und Lebensvorstellungen im Rhythmus der fortschreitenden Integration. Obwohl ich also einen gemeinsamen Markt bejahe, bin ich doch der Auffassung, daß auch in einem solcherart integrierten Europa die Lebens- und Produktionsbedingungen niemals einheitlich sein werden. In gewissem Sinne beruht die Funktion des Gemeinsamen Marktes ja gerade umgekehrt auf der Möglichkeit und Notwendigkeit einer fruchtbaren Ergänzung der einzelnen Länder nach Maßgabe ihrer besonderen und unterschiedlichen Leistungskraft und der Vielfältigkeit der naturgegebenen und strukturellen Bedingungen.

Es ist eine fast tragische Erkenntnis, glauben zu müssen, daß wir innerlich bereits derart verkrampft sind, Ordnung nur noch in der Vorstellung der „Organisation“ begreifen zu können. Wir haben den Sinn für echte Ordnung verloren, die gerade dort am stärksten ist und dort am reinsten obwaltet, wo sie als solche überhaupt nicht bemerkt und verzeichnet wird. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich europäischen Bindungen grundsätzlich widerstrebe. Ich möchte vielmehr die Voraussetzung hierfür schaffen, wenn ich zuvörderst die innere Ordnung der einzelnen Volkswirtschaften sichergestellt wissen will, weil sonst die Integration zwangsläufig zu einem übernationalen Dirigismus führen müßte.

Europa ist nicht mit kleinen Mittelchen zu bauen; es ist nur als eine komplexe, ökonomische und politische Funktion zu verstehen. Die Vorstellungen, daß fortschreitend einzelne Sachbereiche der nationalen Souveränität entzogen und supranationaler Verwaltung übergeben werden sollten und daß dann von einem bestimmten Augenblick an das Gewicht des supranationalen Einflusses automatisch zu einer totalen Überwindung nationaler Zuständigkeiten führen würde, erscheint mir wenig realistisch und hält einer wirtschaftstheoretischen Durchleuchtung nicht stand.

Die Ganzheit der volkswirtschaftlichen Funktion läßt sich nicht in Zuständigkeiten aufspalten. Jeder derartige Versuch müßte dahin führen, daß alle Volkswirtschaften zwischen den Stühlen sitzen, und niemand mehr weiß, wer Koch oder Kellner ist.

Meine Befürchtung bleibt deshalb bestehen, daß wir allzusehr geneigt sein könnten, die europäische Integration zu sehr auf die Schaffung von Institutionen abzustellen, d. h. also, daß wir das Institutionelle gegenüber dem Funktionellen überbewerten

In diesem Zusammenhang mag auch ein Wort zu der Hoffnung mancher Planwirtschaftler gesagt werden, sie könnten ihre Ideen und Ideologien, die sie im nationalen Raum nicht durchzusetzen vermochten, nunmehr auf der europäischen Ebene verwirklichen. Nach unseren Erfahrungen im nationalen Raum bedarf es keiner Erklärung mehr, warum die Prinzipien der Plan- und Lenkungswirtschaft nicht geeignet sind, nun etwa im weiteren Raum die Produktivkräfte Europas zu entwickeln. Diese Wirtschaftsauffassung ist nicht einmal geeignet, auch nur zu den primitivsten Formen einer Arbeitsteilung, geschweige denn zu einer fruchtbaren und reibungslosen Zusammenarbeit der Volkswirtschaften zu gelangen.

Meiner Auffassung nach steht uns gar kein anderer Weg offen, als in allen Fragen des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, des Geld- und Kapitalverkehrs, der Behandlung der Zollpolitik und hinsichtlich der Freizügigkeit der Menschen in raschem Fortschreiten zu immer umfassenderen Freiheiten zu gelangen und auf dem Wege dorthin auf alle staatlichen Manipulationen zu verzichten, die diesen Prinzipien zuwiderlaufen. Wo institutionelle Einrichtungen zur Durchsetzung dieser Prinzipien der Freiheit unvermeidlich sind, trete auch ich für sie ein. Mir will scheinen, daß derjenige ein wahrhaft guter Europäer ist, der diese Gemeinsamkeit des Handelns und Verhaltens zur Verpflichtung aller Beteiligten erhoben wissen will.

[Fußnote zur Ausgabe von 1964:] Die geistige Grundhaltung, die damals für die Beurteilung der Integrationsbemühungen ausschlaggebend war, muß aber auch in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen bestimmend sein und in Zukunft bestimmend bleiben.

[Gegen ein System starrer Wechselkurse in Europa:]

Ich muß immer wieder dieselbe Feststellung treffen: Es ist schon ein merkwürdiger, um nicht zu sagen grotesker Zustand, daß trotz der so unterschiedlichen Preisentwicklung in den einzelnen Volkswirtschaften die Wechselkurse dieser Länder starr geblieben sind, so als ob zwischen diesen beiden Größen überhaupt keine innere Beziehung bestünde. Aus einer derartigen widerspruchsvollen Politik müssen sich notwendigerweise erhebliche Verschiebungen der Exportchancen ergeben: Jedenfalls ist das ein wesentlicher Grund dafür, daß die Bundesrepublik immer größere Außenhandelsüberschüsse erzielt, die nach der negativen Seite hin die Bändigung der innerdeutschen Konjunktur erschweren.

Der Verzicht auf die von mir immer und immer wieder geforderte Konvertibilität mußte fast naturnotwendig zu dieser Entwicklung führen. Nur durch die freie Konvertierbarkeit der Währungen kann meines Erachtens die gedeihliche Grundlage für einen wirklich funktionsfähigen freien Weltmarkt geschaffen werden. Nur auf solche Weise wird nach aller praktischen Erfahrung eine einheitliche und auf Stabilität ausgerichtete Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Nationalwirtschaften erzwungen werden. Damit wäre aber auch den gegenwärtigen Verzerrungen wie den extremen Zahlungsbilanzpositionen der Boden entzogen.

Die umfassende Funktion konvertierbarer Währungen wird niemals in einer auch nur ähnlich vollendeten Weise durch andere Maßnahmen ersetzt werden können. Alle diesbezüglichen Versuche fahren sich meist schon in den Anfängen fest, immer bleiben sie Stückwerk.

Auszüge aus: Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle, 1957, letzte Fassung von 1964, S. 285-293, 322 f.

Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein – Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft (2014)

Interessanter Vordenker des Konservativismus – doch ohne optimistische Vision

Der Brite Roger Scuton (1944-2020) gilt international als einer der ganz großen Vordenker des Konservativismus in unserer Zeit. Sein Buch How to be a Conservative, deutsch: Von der Idee, konservativ zu sein, liefert einen Einblick in sein umfassendes Denken. Die Grundlagen werden dabei in den Kapiteln am Anfang und am Ende des Buches dargestellt, während der Mittelteil des Buches der originellen Idee folgt, jeweils die Berührungspunkte konservativen Denkens mit konkurrierenden Ideologien aufzuzeigen: Mit dem Nationalismus, dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Multikulturalismus, dem Ökologismus und mit dem Internationalismus.

Lokales soziales Gewebe

Wie kein anderer weist Roger Scruton darauf hin, wie bedeutend und unersetzlich das soziale Gewebe ist, das sich lokal und auf unterster Ebene der Gesellschaft spontan und von selbst herausbildet (vulgo: Graswurzelprinzip). Dieses Gewebe kann nicht ökonomisch oder sozial oder sonstwie optimiert werden. Staatliche Eingriffe können es nur beschädigen. Die Zahl der ungeschriebenen Gesetze ist viel größer als alle geschriebenen Gesetze. In diesem Gewebe ist alles beschlossen: Geborgenheit und Heimat, aber auch die Motivation und die Kraft, alles nur erdenklich Gute zu schaffen in der Gesellschaft: Ob ökonomisch, sozial, ökologisch, pädagogisch, oder was immer man für erstrebenswert hält.

Grundlegend ist „We the people“ vor aller Verfassung. Die Römer sprachen von pietas, Frömmigkeit vor allem den Ahnen gegenüber. Die Verbundenheit und Verantwortung auch den Vor- und Nachfahren gegenüber ist für Roger Scruton sehr wichtig. Im Griechischen ist es oikophilia, Liebe zum Heim. Das englische common law (Gewohnheitsrecht) ist Ausdruck der gewachsenen Traditionen. Als Vordenker wird Michael Oakeshott und dessen Idee der civil association genannt. Scruton plädiert für möglichst viel Autonomie auf unterster Ebene, z.B. in Schulen (vulgo: Subsidiaritätsprinzip). Auch das Militär erwächst idealerweise aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus, ebenso die Polizei mit dem lokalen Police Constabler.

Für die Herstellung des sozialen Gewebes benötigen die Bürger außerdem die Kunst der Konversation sowie Arbeit und Muße. Eine gute Konversation sollte nicht missionieren, sondern deliberativ und offen verlaufen. Arbeit und Muße geben dem Leben Struktur und Sinn. Werte definiert Scruton als erfahrene Werte, die einem im Leben begegnen: Liebe, Familie, Verwirklichung in Arbeit, usw. Wahre Werte entstehen, während man lebt. Sie sind nicht austauschbar, nicht künstlich herstellbar.

Roger Scruton unterstützte in diesem Sinne auch Dissidenten im kommunistischen Ostblock, deren Widerstand aus dem lokalen sozialen Gewebe der Menschen erwuchs, das die Kommunisten zu vereinnahmen oder zu unterdrücken versuchten.

Abgehobene Eliten

Eine der größten Bedrohungen des sozialen Gewebes unserer Zeit ist die Dominanz ökonomischen Denkens. Dieses hat sich bei den Eliten in Politik und Medien herausgebildet, die völlig abgehoben vom „wirklichen“ Leben der kleinen Leute und deren kleinen sozialen Gewebe leben. Heute, 2024, könnte man sagen, dass sich bei den Eliten wieder ein ganz anderes Denken festgesetzt hat, nämlich der Wokismus, der bei Scruton nur am Rande als Postmodernismus vorkommt.

Scruton beschreibt, wie es dazu kommt, dass sich solche abgehobenen Eliten herausbilden. Linke machen ihren Weg durch Gewerkschaften und irgendwelche Nichtregierungsorganisationen. Konservative steigen häufig bei Beratungsfirmen auf. Unerwähnt bleiben Jugendorganisationen von Parteien und eine High Society, die ihre Kinder auf teure Internate schickt und auch sonst unter sich bleibt.

Oft treiben die Medien heute die Politik vor sich her und bestimmen so die politische Richtung. Die politische Opposition wird dabei oft gar nicht mehr zu Gehör gebracht (vulgo: polit-medialer Komplex). (S. 256-264)

Überschießen guter Grundideen

Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Liberalismus, Multikulturalismus, Ökologismus und Internationalismus beruhen für Scruton durchaus auf anerkennenswerten, guten Grundwerten, die jedoch ohne Rücksicht auf jeweils andere Werte verabsolutiert werden und deshalb über das Ziel hinausschießen (vulgo: Maßlosigkeit). Es sind die Traditionen und die über lange Zeiträume gewachsenen Gebräuche des sozialen Gewebes, die den überschießenden Ideen Einhalt gebieten, meint Scruton.

Die Nation ist praktisch die Erweiterung des sozialen Gewebes der Familie. Der Sozialismus hat erkannt, wie die Menschen aufeinander angewiesen sind. Beide Aspekte werden in Nationalismus und Sozialismus jedoch heillos übertrieben und wenden sich gegen die Autonomie des lokalen sozialen Gewebes.

Der Kapitalismus habe seinen guten Ursprung im Austausch von Gütern bei lokalen Kleinhändlern, werde jedoch durch Derivatehandel und Warenfetischismus pervertiert. Ein Grundübel unserer Zeit sei außerdem die einseitige Anwendung des ökonomischen Denkens in allen Lebensbereichen unter Vernachlässigung anderer, nicht weniger wichtiger Aspekte.

Der Liberalismus sichert das Recht des Einzelnen gegen die Übergriffigkeit des Staates und besteht auf einer vernunftgeleiteten Debatte. Doch in sozialen Menschenrechten, die der Idee des Empowerment von Armen und Minderheiten folgen, sieht Scruton ein Überschießen des Liberalismus, das zu neuer Unfreiheit und Ungerechtigkeit führt.

Der Multikulturalismus hat gut erkannt, dass der Unterscheidung Hegels zwischen Kultur und Zivilisation folgend nicht die verschiedenen Kulturen, sondern die gemeinsame Zivilisation das Entscheidende sein sollte. Doch übersieht der Multikulturalismus, dass sich Zivilisation immer nur durch Kultur entfaltet, weshalb die Trägerkultur der Zivilisation unersetzlich ist. Und der Multikulturalismus schießt auch dort über das Ziel hinaus, wo er die westliche Zivilisation mit Demokratie, Menschenrechten und Vernunftorientierung nur noch als eine Kultur unter mehreren gelten lässt, ganz zu schweigen von den schrecklichen Verirrungen der Postmoderne, die die Vernunft gänzlich abschaffen will.

Der Umweltschutz wird durch den Wunsch der Bürger, ihre direkte, lokale Umwelt zu schützen, am besten motiviert. Globale Institutionen bedrohen hingegen die lokalen Schutzinteressen und führen durch Abstraktion zu einer Abnahme von Motivation. Letztlich könne globaler Umweltschutz nur durch Techniken realisiert werden, die auf Akzeptanz stoßen, weil sie besser und billiger sind, meint Scruton (S. 161). Es ist erstaunlich, wie hellsichtig Scruton in Sachen Umweltschutz den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das Scheitern des Multilateralismus in Sachen Klima steht uns heute klar vor Augen.

Der Internationalismus wird mit Kant als eine Rechtsbeziehung unter Republiken definiert. Doch besteht das Problem darin, dass die Vertragspartner vielfach keine rechtsverlässlichen Republiken sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention hält Scruton für völlig aus der Zeit gefallen. Letztlich müssten Problemlösungen immer auf lokaler Ebene geschehen, egal wie grenzübergreifend ein Problem auch ist.

Kritik: Liberalismus statt Konservativismus?

Die Ausführungen Roger Scrutons über die Bedeutung des lokalen sozialen Gewebes und dessen möglichst freie und ungestörte Entfaltung sind wichtig und richtig. Allerdings stellt sich die Frage, ob das nicht eher ein liberaler Gedanke ist. Aus dem konservativen Denken erfolgt diese Erkenntnis zumindest nicht unmittelbar: Ein unmoderner Konservativer wird z.B. im 18. Jahrhundert an einer durch Kirche und Adel strukturierten Gesellschaft festgehalten haben, in der nicht viel Freiheit für ein bürgerliches soziales Gewebe war.

Man könnte allerdings mit Fug und Recht behaupten, dass es konservativ ist, an dieser einmal erreichten Errungenschaft eines bürgerlichen, lokalen sozialen Gewebes als einer bleibenden Errungenschaft festzuhalten.

Kritik: Zu viel Gewicht auf Christentum

Roger Scruton sieht die Säkularität und die Moderne als Errungenschaften „der christlichen Zivilisation“ an, und führt dies auf gewisse Aussagen in der Bibel zurück (S. 215 ff.). Das ist natürlich ziemlich falsch. Die Errungenschaften der Aufklärung beruhen vor allem auf der Philosophie der antiken Denker. Diese antike Philosophie wurde zunächst von der christlichen Theologie aufgegriffen, z.B. Aristoteles durch Thomas von Aquin, bis die antike Philosophie schließlich in der Renaissance, der „Wiedergeburt“ der Antike, auch ohne Theologie als eigenständiger Wert wiederentdeckt und bis zur Aufklärung schrittweise etabliert und weiterentwickelt wurde. Nicht wenige Gedanken mussten erst gegen die Kirche und gegen das Christentum erkämpft und etabliert werden.

Scruton kritisiert zurecht den Islam „in seiner heutigen Form“ (S. 217). Er hätte aber gut daran getan, zu sagen, dass auch das Christentum nur „in seiner heutigen Form“ all das zulässt. Die „christliche“ Zivilisation ist keinesfalls die Quelle der westlichen Errungenschaften. Das ganze Mittelalter war christlich, modern war es jedoch nicht (und wo es doch modern war, folgte es bereits antiken Denkern).

Kritik: Verzögerungs- statt moderner Konservativismus

Generell definiert Roger Scruton die Rolle des Konservativismus immer wieder nur im Festhalten und im möglichst langen Hinauszögern des Abbaus und Verfalls gegebener Verhältnisse (z.B. S. 61, 267 ff.). Das ist für einen modernen Konservativismus entschieden zu wenig.

Ein moderner Konservativismus sollte durchaus klare Vorstellungen davon haben, was er für wichtig und richtig hält, und sich nicht ausschließlich relativ zum aktuell Gegebenen und zu dessen Abservierung durch sogenannte „progressive“ Kräfte definieren.

Für Scruton fängt der Konservativismus erst mit der französischen Revolution an. Aber was ist mit den antiken Denkern? Ist Cicero kein Konservativer? Oder Karl der Große? Gibt es nicht unveränderliche Werte, die über alle Zeiten hinweg erhaltenswert sind? Und bleibende Errungenschaften, die, nachdem sie einmal entwickelt wurden, für alle Zeiten zu bewahren sind, soweit möglich? Familie? Klassische und aufgeklärte Bildung? Nation? Menschenrechte? Demokratie? Gewaltenteilung? Marktwirtschaft? All das gibt es bei Roger Scruton, aber nur im Sinne eines Festklammerns, bis es verschwunden ist. Dann ist es weg und verloren.

Kritik: Nihilismus statt optimistische Vision

In einer „Abschiedsrede“ am Ende des Buches werden die Defizite dieser Art von Konservativismus besonders deutlich. Hier referiert Scruton, wie englische Dichter im 19. Jahrhundert den christlichen Glauben bereits verloren hatten, doch immer noch inmitten einer völlig vom christlichen Glauben beherrschten Welt lebten, und wie sie den Mangel an Glauben dadurch zu „flicken“ versuchten, dass sie den christlichen Glauben umso mehr beschworen. So ist auch der Baustil der Neogotik zu verstehen, wie Roger Scruton als Architekturkenner ausführt. Auch die Schönheit der religiösen Bauten wird irrational als Wert an sich verklärt, die bleibe, wenn der Glaube geschwunden ist. Man kann mit dieser Form des Konservativismus durchaus Sympathie haben, denn es ist richtig: Man räumt das Alte nicht einfach ab.

Das Problem daran ist aber, dass ein Mensch, der den christlichen Glauben verloren hat, diesen Verlust nicht durch bloße Imitation „flicken“ kann. Erforderlich wäre gewesen, eine neue Weltanschauung zu entwickeln, die man wieder „echt“ glauben kann, und in die man das Vorhandene transformieren kann. Doch davon bei Scruton kein Wort. Statt dessen bringt er wiederholt Zitate von Nietzsche. Doch Nietzsche ist der denkbar anti-konservativste Denker, den man sich vorstellen kann! Nietzsche räumt den christlichen Glauben nämlich tatsächlich gründlich ab, und ersetzt ihn durch den Übermenschen, der glaubt, es gäbe keinen Gott und keinen echten Sinn in der Welt. Im Grunde ist Roger Scruton damit ein Nihilist, der keine Alternative zum verlorenen Christentum hat, und der sich lediglich davor fürchtet, sich den eigenen Nihilismus einzugestehen. Deshalb auch die Betonung des Festhaltens. Das ist nun wirklich kein moderner Konservativismus.

Kritik: Verschränkung von göttlichem und weltlichem Recht

Roger Scruton nennt die Trennung von Staat und Religion eine Errungenschaft, hier insbesondere auch das säkulare Recht, das vom göttlichen Recht getrennt ist (S. 68 ff.). Doch hier hat Scruton nicht tief genug gedacht. Denn letztlich wurzelt alles in Weltanschauung. Auch der säkulare Staat und das säkulare Recht ruhen letztlich auf der Weltanschauung der Bürger. Die Menschenrechte und die Verfassung beruhen auf einem Menschenbild, das nur durch Gott oder die Natur der Dinge gerechtfertigt werden kann. In diesem Sinne ist es auch falsch, wenn Scruton schreibt, dass sich religiöses Recht nicht anpassen könnte. Religiöses Recht, insofern es mit Vernunft gedacht wird, schöpft aus unveränderlichen Quellen, wie das säkulare Recht, und passt sich den veränderlichen Situationen der Zeit an, wie säkulares Recht.

Das säkulare Recht und die Weltanschauungen der Bürger sind durchaus aufeinander bezogen, allerdings sind das säkulare Recht und die Weltanschauungen bzw. Religionen der Bürger gewissermaßen „entkoppelt“, insofern das humanistische Menschenbild die Schnittstelle bildet, auf die sich alle (akzeptablen) Weltanschauungen einigen können, und auf dem dann das säkulare Recht aufruht. Gerade ein konservativer Denker sollte diesen Zusammenhang immer klar vor Augen haben. Aber vielleicht ist Roger Scruton hier gar nicht konservativ, sondern mit Nietzsche auf dem Weg zum Übermenschen? Von Humanismus spricht Scruton wenig bis gar nicht. Dann wäre es verständlich, warum er glaubt, das religiöse Recht völlig abhalftern und vom säkularen Recht trennen zu können.

Beobachtungen am Rande

In Großbritannien scheint es einen ähnlichen Debattenverlauf zum Thema Einwanderung und Integration gegeben zu haben wie in Deutschland mit Thilo Sarrazin, nur früher. In Großbritannien war es der Schulleiter Ray Honeyford, der 1984 in einer von Roger Scruton herausgegebenen Zeitschrift praktische und gutgemeinte Vorschläge machte, wie man die Integration von Muslimen verbessern könnte (S. 37). Honeyford wurde als Rassist verfemt.

Interessant, dass die Bildungsreform zu mehr Egalitarismus in Großbritannien in den 1960er Jahren stattfand. Also nicht nach, sondern vor dem ominösen Jahr 1968 (S. 59). Hier zeigt sich wieder, dass 1968 kein Aufbegehren gegen die Altvorderen war, sondern die logische Fortsetzung einer geistigen Bewegung, die von den Altvorderen initiiert wurde.

In Großbritannien begann die Umweltschutzbewegung mit dem Schutz der Wälder, und der Wald ist in Großbritannien ein Mythos (S. 160). Sieh an: Solches hört man doch immer von Deutschland. Dort ist es also nicht anders.

Schließlich eine intelligente Beobachtung zu Massenbewegungen (S. 255): „Solidarische Massenbewegungen erstarken meiner Meinung nach immer dann, wenn sich die Reserven der Vernunft erschöpft haben. Wir gelangen an diesen Punkt, wenn wir aufgehört haben, zu verhandeln, wenn wir aufgehört haben, den anderen das Recht zuzugestehen, anders zu sein, und aufgehört haben, nach den Gesetzen von Demut und Kompromissbereitschaft zu leben. Massenbewegungen spiegeln die Rückfallposition der menschlichen Psyche wider, wenn Angst, Verbitterung und Wut die Macht übernehmen, und wenn keine Gesellschaftsordnung mehr akzeptabel erscheint, ohne die absolute Einigkeit über ein Ziel.“

Fazit

Ein gedankenreiches Buch eines erfahrenen Konservativen, auf dessen Erfahrung man hören sollte. Allerdings zeigt der Konservativismus von Roger Scruton erstaunliche intellektuelle Defizite. Für einen modernen Konservativismus ist das nicht genug. Manches erscheint sogar überhaupt nicht konservativ, sondern im besten Fall liberal, im schlechtesten Fall nihilistisch. Eine konstruktive, optimistische Vision wie in Albert Schweitzers Kulturphilosophie fehlt völlig. Schließlich ist auch die Strukturierung der Themen in und über die Kapitel hinweg nicht sehr glücklich. Nur der Mittelteil mit der Durchsprechung der konkurrierenden Ideologien ist übersichtlich. Alles in allem hätte man sich mehr erwartet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.