Schlagwort: Materialismus

Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Max Frisch: Homo faber – Ein Bericht (1957)

Tristesse des alternden, egozentrischen Materialisten – Ohne konstruktive Perspektive

Der Roman „Homo faber“ von Max Frisch zeigt den Schweizer Ingenieur Walter Faber im Alter von 50 Jahren, der für die Unesco Turbinen in Mittelamerika montiert, und der für seine Arbeit in New York wohnt und dabei auch nach Paris zu Konferenzen fliegt. Technisches Jet-Set sozusagen. Das Wort „faber“ bedeutet auf Lateinisch Handwerker oder Arbeiter.

Ein Hauptthema des Buches ist die bloß rationale, technische Intelligenz des egozentrischen Protagonisten. Für Faber gibt es praktisch keine Gefühle. Er ist immer sachlich. Alles ist planbar und erklärbar. Der Mensch ist für ihn eine schlecht konstruierte biologische Maschine. Roboter werden bald vieles besser können als der Mensch. Wenn nicht alles. Abtreibung ist für ihn eine Notwendigkeit zur Geburtenregelung, moralische Fragen nur sachfremd und störend. Literatur liest er keine. Er ist der perfekte Praktiker und Materialist. Die Welt des Geistes ist ihm verschlossen. Damit ist er natürlich auch etwas egozentrisch.

Das Buch ist als endloser Monolog gestaltet, den Walter Faber mit sich selbst führt, während er die Ereignisse aus der Erinnerung heraus nacherlebt. Dabei geht es immer praktisch zu. Und alles ist von einer gewissen Tristesse. Faber sieht das Schöne und Interessante nicht. Immer nur die Sache. Wir erleben die Tristesse des Fliegens und der Flughäfen, die Tristesse des mexikanischen Niemandslandes, wo seine Maschine notlandet, die Tristesse des Regenwaldes im Grenzgebiet von Mexiko und Guatemala, die Tristesse des Zusammenlebens mit dem geistlosen Mode-Flittchen Ivy in New York, die Tristesse der Party mit Arbeitskollegen. Immer wieder werden auch ekelhafte Bilder eingestreut, so z.B. die Zerreißung eines Eselkadavers durch Zopilote-Vögel.

Die geordnete Welt von Faber bekommt aber Risse: Die Tristesse richtet sich auf Erinnerungen und wird dann melancholisch. Seinen Jugendfreund Joachim trifft er erhängt im Regenwald von Guatemala. Wie er erfährt, hatte dieser einst seine Jugendfreundin Hanna geheiratet. Es kommen ihm Erinnerungen an das Aneinandervorbeireden mit Hanna, die Philologie studierte und ihn „homo faber“ nannte. Und wie Hanna – die Irrationalität in Person – ihn nicht heiraten wollte und sie schließlich voneinander schieden mit der Entscheidung, dass das gemeinsame Kind abgetrieben werden sollte. Außerdem beginnt der zuverlässige Ingenieur Faber, vor seinen Pflichten zu fliehen: In Houston versucht er spontan, das Flugzeug absichtlich zu verpassen. In Mexiko fährt er spontan zu seinem Jugendfreund statt zur Montage. In Rom begleitet er spontan das Mädchen Sabeth auf ihrem Trip nach Südfrankreich, Italien, Griechenland, wo deren Mutter lebt. In Avignon schläft er einmal mit ihr. Faber erlebt halbwegs frohe Tage.

Das zweite große Thema des Buch ist das Altern. Faber ist 50 geworden, und versucht mit Sabeth eine Art zweiten Frühling. Doch er bemerkt, dass er die Jugend nicht mehr richtig versteht. Es gibt keinen zweiten Frühling. Zweimal heißt es: Wir können nicht unsere eigenen Kinder heiraten. Man kann nicht unverändert leben, das Altern gehört zum Leben dazu.

In Griechenland erleidet Sabeth einen unnötigen Unfall und stirbt. Es stellt sich heraus, dass sie das nicht abgetriebene gemeinsame Kind mit Hanna war, die er nun in Griechenland wiedertrifft. Hanna arbeitet als Archäologin und Faber staunt, dass man davon leben kann. Die Situation ist schal und trist: Faber war also in seine eigene Tochter verliebt. Und Faber ist zwar nicht wirklich schuld am Tod der gemeinsamen Tochter, doch sein Wiederauftauchen im Leben von Hanna fällt mit diesem Ereignis zusammen. Hanna lässt Faber trotzdem bei sich wohnen. Faber will sein Leben ändern. Es bleibt aber unklar, wie. Schließlich muss sich Faber wegen eines Magenleidens einer Operation unterziehen. Er tut dies in Griechenland, bei Hanna. Zwei gescheiterte Existenzen nähern sich einander an.

Nebenthemen

Der Deutsche Herbert blamiert sich als Nachkriegsdeutscher vor dem Schweizer. Walter Faber mag die Deutschen nicht.

Es gibt antiamerikanische Passagen: Die Amerikaner würden angeblich die Welt kolonisieren und aus allem einen Highway machen. Sie seien fett, ungebildet, und herrschten mit ihren Dollars. Amerikaner seien geschminkt, und ihre Leuchtreklame bloße Kulisse und Kitsch. „Aber wir leben von ihren Dollars.“ – Intelligente Kritik an Amerika gibt es in diesem Buch nicht.

Mindestens zweimal wird das intuitive Verhalten von Frauen „weibisch“ genannt. Für die Toilettenfrau am Flughafen in Houston und für die Huren in Havanna wird das Wort „Neger“ verwendet. Damit wäre auch Max Frisch für den aktuell herrschenden hysterischen Zeitgeist nicht mehr akzeptabel.

Kritik

Literarisch und sprachlich ist das Buch sehr gut gelungen. Jeder Satz sitzt. Jede Stimmung wird verlässlich eingefangen. Rück- und Vorblenden sind geschickt ineinander verwoben. Unpassend vielleicht, dass das Zusammentreffen mit Sabeth ein literarisch schlecht motivierter, unglaubwürdiger Zufall ist, nachdem Faber bereits zuvor durch einen ebensolchen Zufall auf seinen alten Jugendfreund gestoßen war.

Die Frage ist, was das Buch aussagen will. Die Bearbeitung des Themas Altern ist zumindest nicht originell. Besser steht es um die Kritik an der allzu praktischen, materialistischen Einstellung des Protagonisten. Aber auch hier werden Alternativen nur angedeutet. Die Irrationalität der Frauen, speziell von Hanna, wird auch keiner Lösung zugeführt. Beide sind gescheiterte Existenzen, Faber und Hanna: Der eine ist an seiner ausschließlichen Rationalität, die andere ist an ihrer ausschließlichen Irrationalität gescheitert. Ein gelungenes Leben wäre es gewesen, so liest sich dieser Roman ex negativo, wenn sie geheiratet und das gemeinsame Kind gemeinsam aufgezogen hätten. Doch das ist nicht mehr rückholbar und alle leiden nur noch melancholisch daran, anstatt konstruktiv zu werden.

Das Buch hinterlässt den Leser eher ratlos als bereichert. Da hilft auch die literarische Qualität nicht. Max Frisch scheint ein guter Beobachter aber ein schlechter Denker zu sein. Etliche Elemente des Romans sind offensichtlich autobiographisch motiviert. Das Leben von Max Frisch liefert genauso gutes Anschauungsmaterial und ist genauso wenig überzeugend wie dieser Roman.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 08. August 2020)

Fjodor Dostojewski: Die Brüder Karamasow (1879/80)

Dostojewskis größtes Werk: Der Seelenzustand Russlands vor Gericht

Der Roman „Die Brüder Karamasow“ ist der letzte und zugleich der großartigste Roman von Fjodor Dostojewski, in dem alle Themen seiner früheren Romane wiederkehren und zu neuen Höhen geführt werden.

Ort der Handlung ist eine russische Kleinstadt mit ihren Bewohnern, in denen sich Russland wiederspiegelt. Russland spiegelt sich auch in der Familie Karamasow wieder, die aus dem Vater Fjodor Pawlowitsch, den drei Söhnen Dimitri, Iwan und Alexei, sowie dem unehelichen Sohn Smerdiakov besteht. Die Mütter sind bereits alle verstorben. Im Vater zeigt sich der Verfall der russischen Familie, die ihre Kinder vernachlässigt. Dimitri (Mitja) ist die unverfälschte russische Seele in all ihrer Widersprüchlichkeit, ein Schuft und ein Ehrenmann zugleich. Iwan ist der Intellektuelle, der von der westlichen Aufklärung zu Materialismus, Sozialismus und Zynismus verführt wurde und über den daraus folgenden Konsequenzen in seiner Seele zerrissen ist und nervlich zu Tode erkrankt. Smerdiakov ist ungeliebt, herabgesetzt, halbgebildet und selbstverliebt, und begeht den Mord an seinem Vater, nachdem er sich von Iwan auf psychologisch subtile Weise dessen unbewusstes Einverständnis besorgt hat. Alexei (Aljoscha) ist schließlich eine sanfte und offenherzige Seele, ein Gottesnarr, der immer nur das Gute will und immer nur die Wahrheit sagt. Von ihm heißt es, er habe sich in einer Fluchtbewegung vor den Schrecken der Aufklärung dem Glauben der russischen Orthodoxie zugewandt. Seine Gefahr sei es deshalb, dem Mystizismus und Chauvinismus (Nationalismus) zu verfallen, was vielleicht noch schlimmer sei als die Irrtümer der westlichen Aufklärung, wie es im Roman heißt.

Dennoch ist Aljoscha die heilste Seele von allen. Von seinem geliebten Staretz, der zu Beginn der Handlung verstirbt, wird Aljoscha angewiesen, nicht Mönch zu werden, sondern in der Welt zu leben. Den ganzen Roman über eilt Aljoscha von Ort zu Ort, um sich mit diesem oder jenem zu treffen und etwas zu besprechen. Immer hat er noch etwas zu erledigen und muss schnell weiter. Es ist offensichtlich, dass Aljoscha die Rolle eines Vermittlers und Heilers einnimmt, an dessen Wesen Russland genesen soll. Deshalb umgibt sich Aljoscha auch mit Kindern, die eine große Rolle in diesem Roman spielen. Die Kinder sind die Zukunft, und die Erinnerung an schöne Erlebnisse in der Kindheit sind ein Mittel zur Rettung vor dem Bösen, das ist ganz klar die Botschaft. Nicht umsonst wird Aljoscha schon im Vorwort als der eigentliche Held des Romans angekündigt, gerade weil er in seiner Naivität etwas sonderlich ist, und obwohl der heilende Effekt seines Wirkens unbestimmt erscheint.

Nach einer sehr langen Vorbereitung kommt es in diesem sehr langen Roman schließlich zu einem Mord und zu einem Gerichtsprozess gegen den Angeklagten Dimitri: Es ist klar, dass hier Russland vor Gericht steht. Die Plädoyers von Ankläger und Verteidiger sind präzise Analysen der russischen Seele der damaligen Zeit anhand der Brüder Karamasow. Der Angeklagte steht unschuldig vor Gericht, und wird zu Unrecht verurteilt, doch das Urteil des Autors fällt milde aus: Trotz mancher Schuld und einigen Ungestüms hat kein Mord stattgefunden.

Im Rahmen dieser weit gespannten Handlung finden sich zahllose größere und kleinere Szenen, die diesen Roman zu einem Füllhorn an Gedanken machen, an denen man sich ein Leben lang abarbeiten kann, so z.B.:

  • Der Staretz, das Klosterleben, das einfache russische Volk. Die russische Orthodoxie als solche: Die Kirche muss zum Staat werden, nicht der Staat zur Kirche. Die Idee, dass die Rettung des Christentums aus dem Osten kommt. Der Katholizismus, in dem der römische Staat weiterlebt und die Kirche in sich abgetötet hat, sei hingegen schuld an der westlichen Aufklärung, die von Dostojewski kurzerhand mit Materialismus und Sozialismus in eins gesetzt wird.
  • Die Rede des Staretz über seinen kranken Bruder, und dass alle Menschen Schuld aneinander haben. Dazu die Geschichten von dem seltsamen Duell und von dem Fremden, der seine Schuld offenbaren muss, um davon frei zu werden. Dass alle Menschen Schuld aneinander haben, erkennt später auch Dimitri voller Reue. Ein Grundthema bei Dostojewski.
  • In Smerdiakov kehrt die Figur des Raskolnikov wieder: Er mordet aus zynischem Kalkül, kann aber mit seiner Tat nicht leben. Reue verspürt er dabei keineswegs und begeht Suizid, ohne seine Schuld zu bekennen.
  • Im Stabskapitän und dessen sterbenden Sohn Iljuscha wird das völlige Scheitern, die völlige soziale Erniedrigung und die völlige Hoffnungslosigkeit gezeigt. Sehr berührend. Und doch lässt Dostojewski aus dem vergeblichen Aufstand des kleinen Iljuscha am Ende die Gemeinschaft von Aljoscha mit den Kindern erwachsen.
  • Kolja Krassotkin ist der Prototyp des „verdorbenen“ Jugendlichen, d.h. eines altklugen, ideologisch früh verblendeten, hochnäsigen, gnadenlosen Menschen, der alle rücksichtslos quält und nur an sich denkt. Mathematik und Naturwissenschaften findet er sinnvoll, das Studium der Weltgeschichte und der klassischen Sprachen hält er hingegen für überflüssig (ist aber gut in Latein!): Sehr bezeichnend. Er ist Sozialist und wäre sicherlich ein gnadenloser Funktionär geworden, wenn er nicht durch Aljoscha pädagogisch gerettet worden wäre.
  • Miussoff ist ein selbstgefälliger, egoistischer Liberaler, Rakitin ein weiterer zynischer Sozialist.
  • Erkenntnis: „Heutzutage fürchten sich fast alle begabten Menschen am meisten vor der Lächerlichkeit“. Und: „…nur soll man nicht so sein, wie alle sind, das ist es!“
  • Lise, Gruschenka: Liebenswerte Frauen, die plötzlich aus einer Laune heraus auf böse „umschalten“.
  • Der „russische Candide“: Iwan rechnet in seiner „Empörung“ mit den sinnlosen Verbrechen ab, die in der russischen Gesellschaft an unschuldigen Kindern geschehen, die darüber vergeblich im Glauben Schutz suchen.
  • Iwans Poem „Der Großinquisitor“. Eine Polemik gegen die katholische Art des Christentums, aus dem Dostojewski die westliche Aufklärung mit Materialismus und Sozialismus entspringen sah. Aber nicht nur das.
  • Der Alptraum Iwans: Die Aufdeckung seiner Seele durch den Teufel, den seine seelische Krankheit als Abspaltung seiner selbst ins Zimmer projiziert.
  • Viele offenherzige Reden, in denen Menschen ihr Herz ausschütten, wie Marmeladow in „Schuld und Sühne“. Unübertroffen Frau Chochlakowa, die ständig neben sich steht und so manche Wahrheit über das Verhältnis von Männern und Frauen zu verkünden hat.
  • Es gibt auch einiges zu lachen in diesem Roman.
  • Wiederholt wird Schiller zitiert, ganze Passagen aus: Die Räuber. Das Eleusische Fest. Ode an die Freude.
  • Einige Seitenhiebe gegen die Deutschen und ihre Kultur: Die Deutschen seien autoritätshörig, aber gut in Wissenschaften. Deutsche Kleidung habe ein schmutziges Aussehen. Der deutsche Witz ist kartoffelig und fröhlich-selbstzufrieden.
  • Thomas Mann hat sich für seine Romane, speziell für den „Zauberberg“ offensichtlich bei Dostojewski bedient: Parallelen sind u.a. ein Duellant, der nicht schießen will, oder Träume, die Erkenntnis bringen, oder eine Romanfigur als Repräsentant eines Landes und seiner Seele.

Fazit

In seinem geistigen Kampf gegen den Materialismus ist Dostojewski in diesem Roman noch einmal zur Hochform aufgelaufen und hat zugleich ein wenig Optimismus für die Zukunft gewagt. Die Analysen und Warnungen Dostojewskis sind natürlich richtig und haben sich in der Zeit der kommunistischen Diktatur vielfach bewahrheitet. Auch heute ist die Gefahr keineswegs gebannt, weshalb der Roman auch für unsere Zeit gültige Wahrheiten und Warnungen zu bieten hat.

Allerdings hat Dostojewski für unsere Zeit – und wohl auch schon für seine Zeit – zu wenige konstruktive Vorschläge zu machen. Ein Zurück zur christlichen Religion und speziell zur russischen Orthodoxie ist weder intellektuell redlich vertretbar noch sind die Probleme des organisierten Christentums übersehbar, und das nicht nur bei der von Dostojewski so schwer kritisierten katholischen Kirche. – Der Gedanke, dass alle voreinander schuldig sind, ist zwar richtig, aber für sich allein genommen nicht zielführend sondern nur erdrückend. Hier ist Albert Schweitzer mit seiner Maxime „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ vielleicht zielführender. – Schließlich ist die Sicht auf die Aufklärung zu einseitig. Ja, die Aufklärung hat auch Materialismus und Sozialismus hervorgebracht. Sie hat aber noch viel mehr hervorgebracht. Die geistige Bewegung der Aufklärung kann nicht über einen Kamm geschoren werden.

Immerhin finden sich folgende konkrete Punkte: Zum einen die klassische Bildung, konkret werden Schiller, das Studium der Geschichte und der klassischen Sprachen genannt, aber immer wieder auch russische Klassiker. Zum anderen die Familie als Ort der gegenseitigen sittlichen Bildung von Mann, Frau und Kindern in Liebe. Und vielleicht könnte man Dostojewski mit der Aufklärung versöhnen, wenn man sie als nahtlose Fortsetzung des klassischen Humanismus deuten würde? Auf dieser Grundlage ließe sich dann leichter unterscheiden, welche Aspekte der Aufklärung humanistisch sind, und welche nicht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. November 2021)