Schlagwort: Mythos

Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz (1973)

Ein weises Buch von geradezu mythischer Kraft

Dieses Buch ist ganz anders als andere Bücher von Astrid Lindgren. Weniger lustig. Ernster. Trauriger. Aber auch tröstend. Und unsagbar weise. Zudem Hoffnung und ein gewisses Urvertrauen gebend.

Das Buch erzählt die Geschichte von Krümel, dem kleinen Bruder von Jonathan, der an einer Krankheit jung sterben muss. Zuvor erzählt ihm Jonathan davon, dass man nach dem Tod nach Nangijala gelangt, dem Land der Abenteuer, Sagen und Lagerfeuer. Durch ein Unglück stirbt Jonathan noch vor seinem kleinen Bruder, und beide treffen sich bald im Kirschtal in Nangijala wieder. Doch das Paradies, das sie dort erwartet, entpuppt sich als eine Welt mit Problemen, und ein Abenteuer auf Leben und Tod beginnt. Am Ende stehen beide Brüder wieder vor dem Tod, und Jonathan erzählt von Nangilima, dem Land, in das sie als nächstes kommen werden.

Diese Geschichte erscheint märchenhaft, sie wird aber in einer so einfachen, elementaren und bildkräftigen Weise erzählt, und spricht so elementare Themen an, dass dieses Buch bei aufnahmefähigen Naturen eine geradezu mythische Kraft entfalten kann: Ein Gewinnen von Erkenntnissen über die Welt und sich selbst, was Realismus und den „kleinen“ Mut fördert, und eine Hoffnung und ein Urvertrauen, dass es Unglück, Versagen, Verlust, Scheitern und Tod geben kann, dass dies aber dennoch nicht das Ende sein muss – durch mythischen Mitvollzug und Aufgehen in der Geschichte.

Auch ich habe es nach Jahrzehnten noch einmal als Erwachsener gelesen, wie so viele hier, und war gerührt und überrascht, wieviel darin steckt, wieviel man daraus mitgenommen hatte. Ein erstaunliches Phänomen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Juli 2018)

Margaret Atwood: Die Penelopiade – Der Mythos von Penelope und Odysseus (2005)

Ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber eben doch nur ein Pamphlet

In der „Penelopiade“ erzählt Margaret Atwood die Geschichte der Odyssee aus Sicht von Penelope, der Ehefrau des Odysseus, und zwar im Rückblick nach ihrem Tod aus dem Hades heraus. Atwood gestaltet dieses Werk als ein Pamphlet, mit dem sie feministische und sozialkritische Themen in literarischer Form transportiert. Literarisch ist dieses Werk ein Erlebnis, doch inhaltlich kann es nicht überzeugen. Es handelt sich um ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber es ist eben doch nur das: Ein Pamphlet.

Kritik am feministischen Aspekt

  • Der feministische Ansatz, man müsse die Odyssee doch auch einmal aus weiblicher Perspektive, also aus Sicht der Penelope, erzählen, übersieht, dass die Odyssee des Homer von einem Sänger erzählt wird. Zudem geht es über lange Strecken der Odyssee hinweg nur um Penelope und die Situation in Ithaka, nicht aber um Odysseus. Wenn man nun Penelope selbst zu Wort kommen lässt, ist das in Wahrheit eine Bevorzugung der Frau, und nicht etwa eine nachgeholte Gleichberechtigung.
  • Atwood unterlegt die Geschichte mit viel Zynismus, vor allem gegen Männer: Gegen das Extrem einer rein romantischen Darstellung mit wahrer Liebe und echtem Heldentum stellt sie das andere Extrem von berechnenden Hintergedanken und bloß gespielter Tugend, hinter der sich Laster und List verbergen. Als clever gilt, wer zynisch ist. Tugend ist naive Dummheit. Doch auch hier ist die originale Odyssee besser: Denn sie geht einen Weg zwischen beiden Extremen. Penelope ist eben nicht die brave, dumme Ehefrau, die zuhause bleiben und dienen muss, während der Ehemann in die Welt zieht und das Leben kennenlernt. Dieses Klischee wird hier beschworen. Zugleich wird dieses Klischee konterkariert durch die Aussage, dass Penelope natürlich heimlich reihenweise mit den Freiern ins Bett gegangen wäre, denn wieso sollte nur der Mann Anspruch auf Laster haben? Es ist ein Feminismus, der die Parole ausgibt: Wir Frauen wollen endlich auch so schlecht sein, wie wir uns die Männer immer vorgestellt haben! Nicht gerade verlockend.
  • Atwood lässt Penelope ans Publikum appellieren, es ihr nicht gleichzutun! Bloß nicht tugendhaft sein! Die Botschaft ist also: Lebe Deine Lust aus, sei lasterhaft, sei nicht treu! Doch davon wollen wir allen Leserinnen (und Lesern) gründlich abraten. Tugend ist keine historische Worthülse, auch wenn jede Zeit die genauen Umrisse von Tugend neu bestimmen muss. Tugend kommt von innen, wirkt nach innen, und zahlt sich aus. In eigener seelischer Balance, in sozialer Balance, und auch sonst. Die „alten Regeln“ gelten trotz allem noch, wenn auch in stark erneuertem Gewand.
  • Irgendwie ist dieser Odysseus, den Atwood zeichnet, trotz allem sympathisch. Er ist klug, Penelope ist es auch. Die Hochzeitsnacht ist für damalige Verhältnisse wirklich ganz passabel. Beide haben Spaß aneinander und erzählen sich gerne Geschichten. Ich meine, dass Atwood bei allem Zynismus nicht darum herumgekommen ist, das Gute an Odysseus, das auch im Original steckt, durchscheinen zu lassen.
  • Atwood bürstet einen 3000 Jahre alten Stoff feministisch gegen den Strich und zielt mit ihrer Botschaft sichtlich auf ihre Gegenwart (das Buch wurde 2005 veröffentlicht). Doch die Sitten der Männer (und Frauen) vor 3000 unterscheiden sich doch erheblich von den Sitten in unseren Tagen. Auf diese Weise verfehlt Atwood beide Zeithorizonte: Sie ist einerseits nicht fair zur Gegenwart, aber sie ist andererseits auch nicht fair zur Vergangenheit, denn man kann moderne Maßstäbe nicht 1:1 an alte Zeiten anlegen. Atwood quetscht etwas in diese Geschichte hinein, was dort nicht hineinpassen will.
  • Atwood verbreitet die pseudowissenschaftliche Idee, dass es in der Vorzeit ein Matriarchat gegeben habe, das von patriarchalen Männern, für die Odysseus urbildlich steht, gestürzt worden sei. Diese Idee hat sie ganz offensichtlich von Robert von Ranke-Graves, denn sie nennt ihn als Inspirationsquelle für zahlreiche Aspekte ihres Werkes (allerdings nicht für diesen, seltsam). Die Wissenschaft hatte diese Idee schon zu Zeiten von Ranke-Graves verabschiedet, warum muss Atwood das 2005 immer noch verbreiten?

Kritik am sozialkritischen Aspekt

Neben dem feministischen Aspekt gibt es aber auch einen stark sozialkritischen Zug. Die niedere Stellung der Mägde gegenüber den Oberen Odysseus und Penelope, ihre Abhängigkeit und ihre Ermordung zur Rettung der Ehre ihrer Herrin Penelope zieht sich durch das ganze Buch durch, angefangen von der Geburt der Penelope. Die Mägde treten auch immer wieder als Chor verkleidet auf und singen Matrosen-Shantys und andere kommentierende Moritaten, die zu den literarischen Höhepunkten des Werkes zählen.

  • Durch diese zweite, sozialkritische Botschaft wirkt das Werk überfrachtet. Es gibt kein dominierendes Thema, und die beiden Themen Feminismus und Sozialkritik stehen sich gegenseitig im Weg herum und lassen den Leser ein wenig ratlos zurück, was Atwood jetzt genau sagen wollte. Eine solche Überfrachtung mit Themen ist auch in anderen Werken Atwoods zu beobachten.
  • Wie schon beim Feminismus wird auch bei der Sozialkritik eine moderne Interpretation an ein 3000 Jahre altes Geschehen angelegt, die unpassend ist.

Literarische Qualität

Auf literarischem Gebiet überzeugt Margaret Atwood sehr viel mehr: Es fällt dem Leser auf, dass sie Homers Odyssee sehr genau gelesen hat, denn sie greift geschickt Details auf, die von den meisten überlesen werden. Es beeindruckt die Vielzahl literarischer Formen: Prosa, Lieder, eine dramatische Gerichtsverhandlung. Auch das Angebot einer mythologischen Paraphrasierung des Geschehens gegen Ende ist interessant. Die Songs der Mägde sind jedoch das Größte. Es sind wahre Ohrwürmer voll saftiger Ironie und Sarkasmus.

Fazit

Das Ziel von Margaret Atwood war es offensichtlich, mit der Odyssee einen Grundlagentext unserer Kultur zu konterkarieren, indem sie ihn scheinbar „realistisch“ ausdeutete, nämlich respektlos zynisch und lächerlich, um auf diese Weise seine Autorität infrage zu stellen. Denn Atwood sieht in der Odyssee einen Grundlagentext des Patriarchats, gegen das sie anschreibt. Doch ihr Pamphlet verfehlt die Wirklichkeit der Odyssee ebenso wie die Wirklichkeit unserer Tage. Es ist eine Rebellion der Unvernunft gegen die Sinnhaftigkeit der Tradition selbst. Eine solche Perspektive wird den alten Texten grundsätzlich nicht gerecht und verfehlt deren Weisheit, die trotz ihres Alters noch in ihnen steckt. Man enthebt sich der Mühe, diese Weisheit zu entdecken und für die Gegenwart zu aktualisieren. Darum müsste es eigentlich gehen. Im Grunde befasst sich Atwood gar nicht mit der Überlieferung, sondern drückt umgekehrt der Überlieferung etwas aufs Auge, was gar nicht in dieser drin steckt. Was bleibt ist ein literarisch gelungenes Pamphlet. Am Ende entpuppt sich Margaret Atwood als mindestens genauso listenreich wie jener Odysseus, den sie uns vor Augen führt: Die allzu listenreiche Autorin kritisiert den allzu listenreichen Odysseus – und es fällt auf sie zurück.

Bertolt Brecht

Der naheliegendste literarische Vergleich ist Bertolt Brecht. Auch Brecht war literarisch genial und hatte ein politisches Anliegen, mit dem er letztlich auf dem Holzweg war. Auch bei Brecht finden wir diesen Zynismus, aber auch solche Lieder wie in Atwoods „Penelopiade“. Einen direkten Vergleich können wir in Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ sehen. Dort fragt Brecht u.a.: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ – Es ist dieselbe Respektlosigkeit vor der Überlieferung wie bei Atwood. Es ist wahnsinnig sozial gedacht, geht aber an der Wirklichkeit völlig vorbei. Denn Alexander und Caesar waren jeweils der „spiritus rector“ ihrer Feldzüge, und nicht ihre Soldaten. Es ist ein Anschlag auf die Überlieferung, im Grunde eine Lächerlichmachung. Caesars Gallienfeldzug war eine echte Leistung von Caesar, in vielerlei Hinsicht – und dann kommt der respektlose Herr Brecht, der wischt das alles beiseite, und fragt pseudo-realistisch nach dem Koch, und dass die eigentliche Leistung doch von den Legionären erbracht worden sei. Was so eben nicht stimmt. Aber ja … auch Brecht war literarisch genial, kein Zweifel.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Mai 2020)

Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig: Nie zweimal in denselben Fluss (2018)

Versuch einer sachlichen Rezension – Kein gutes Urteil

Über Björn Höcke wird viel Unsinn geschrieben. Meistens erklärt man ihn mit haltlosen Gründen zum Rechtsradikalen. So meinten anfangs manche, Höcke wäre deshalb als Rechtsradikaler erkennbar, weil er davon sprach, dass Deutschland schon 1000 Jahre alt sei und noch 1000 Jahre Bestand haben möge. Sie sahen darin eine Anspielung an das „tausendjährige Reich“. Das ist so natürlich Unsinn, denn Deutschland ist tatsächlich 1000 Jahre alt, und wenn das alles wäre, was seine Gegner gegen ihn ins Feld führen könnten, dann wäre Höcke natürlich kein Rechtsradikaler. So dachte damals auch der Autor dieser Rezension, der sich in diesem Urteil auch dadurch bestärkt sah, dass der vermeintliche Konservative Alexander Gauland Björn Höcke „meinen Freund“ nannte.

Inzwischen ist wesentlich mehr von Björn Höcke bekannt, und auch Alexander Gauland wurde als ein pseudo-konservativer Preußenfeind erkannt (siehe die Rezension zu dessen Konservativ-Buch). Es bleibt die Aufgabe, eine Rezension zu Björn Höcke zu schreiben, die versucht, ohne Zorn und Eifer herauszuarbeiten, dass es tatsächlich Probleme mit Björn Höcke gibt, und welche es sind – dennoch ist natürlich auch diese Rezension letztlich ein persönlicher Kommentar. Der Leser wird wie bei jeder Rezension sehen müssen, wo er mitgehen kann und was er davon mitnimmt.

Wo Höcke Recht hat und Sympathien sammelt

Das vorliegende Buch ist ein Marathon-Interview mit Björn Höcke, das sich entlang seiner Lebensgeschichte von Thema zu Thema hangelt, von der Kindheit und Jugend über die Zeit als Lehrer bis zum Engagement als Politiker, um schließlich mit der Frage nach Höckes Zukunftsvisionen für Deutschland und Europa zu enden.

Wie jede Biographie hat auch die Lebensgeschichte von Björn Höcke jenseits der Politik manchen sympathischen und menschlichen Zug zu bieten. Darauf werden wir hier nicht weiter eingehen, aber um das Bewusstsein nicht zu verlieren, dass hinter dem Politiker auch ein Mensch steht, lohnt sich die Lektüre. Darüber hinaus streut Höcke natürlich viel berechtigte Kritik an den etablierten Parteien und deren Politik ein. Darum soll es in dieser Rezension aber gerade nicht gehen, denn dass die etablierten Parteien der AfD viele wichtige und richtige Themen überlassen und sie auf diese Weise stark gemacht haben, ist jedem Beobachter sowieso klar. Die eigentliche Frage, um die es nur gehen kann, ist, ob Björn Höcke und seiner AfD zu trauen ist: Sind sie demokratisch oder sind sie rechtsradikal?

Höcke zeigt sich belesen und intellektuell und jongliert mit zahlreichen Namen namhafter Denker aller Couleur. Darunter sind z.B. Karl Popper (S. 57), Dietrich Bonhoeffer (S. 60, 77, 291), Theodor Fontane (S. 63), Carl Gustav Jung (S. 63), Jakob Böhme (S. 72), Schopenhauer (S. 73), Ludwig Klages (S. 77), Martin Heidegger (S. 77), Martin Luther (S. 212), Caspar David Friedrich (S. 80), Martin Buber (S. 83 ff.), Thomas Hobbes (S. 119), Georg Christoph Lichtenberg (S. 123), Ortega y Gasset (S. 148), Josef Isensee (S. 152), Macchiavelli (S. 226), Friedrich Naumann (S. 281) sowie Goethe, Schiller, Herder, Fichte, Schelling und Hegel (S. 75). Neben Klassikern ist auch vielfach von der Antike die Rede, so z.B. von Vergil (S. 62) oder von der antiken Idee, dass sich die Verfassung eines Staates in Zyklen entwickelt (S. 225). Das Wandern wird als die deutsche Form der antiken griechischen Peripatetiker bezeichnet (S. 80), und schließlich wird die Bildung als solche „klassisch“ genannt, und dass man sich für alle Sichtweisen offenhalten sollte (S. 148).

Viele Themen werden sehr „weich“ gehandhabt. Patriotismus wird z.B. als eine psychologisch notwendige Selbstbefreundung, die zudem unspektakulär sein sollte, vorgestellt (S. 121). An solchen Thesen ist nichts auszusetzen.

Erster Widerspruch: Dialog oder Durchregieren?

Generell versprüht Björn Höcke in diesem Buch viel jugendliche Lebensfreude, Optimismus und Gestaltungskraft, und immer wieder betont er – ganz wohlwollender Lehrer und Pädagoge – dass er sich mit seinen politischen Gegnern offen aussprechen möchte, um zu gemeinsamen Lösungen und zu einem Ausgleich zu kommen (z.B. S. 85, 249). Hier beeindrucken vor allem auch seine Ausführungen zum dialogischen Wesen des Menschen nach Martin Buber (S. 83 ff.). Höcke will angeblich Reformen, keine Revolution (S. 213) und gestaltet lieber, als immer nur dagegen zu sein (S. 287). Ein einzelner Führer könne die nötige Umgestaltung nicht bewerkstelligen, sondern dazu bedürfe es der Pluralität und der Abstimmung mit dem Volk (S. 286). Parteien seien ihrem Namen nach – pars – immer nur Teil, nie das Ganze (S. 149). Der nötige Neubau der Gesellschaft könne nicht von oben angeordnet werden, sondern müsse in Aussprache ermittelt werden (S. 265).

Doch hier stoßen wir zum ersten Mal auf einen unaufgelösten Widerspruch in Höckes Ausführungen. Denn während er immer wieder seinen Willen zum Dialog betont, betont Höcke gleichzeitig auch immer wieder seine Kompromisslosigkeit. Höcke träumt von einem „konsequenten Durchregieren“ (S. 234) und legt sich fest: „Ein wie auch immer geartetes Arrangement wird es mit mir nicht geben“ (S. 221). Wenn es nicht friedlich gehen wird, dann „wird ein neuer Karl Martell vonnöten sein, um Europa zu retten.“ (S. 252). Mit denen, die aus seiner Sicht das gemeinsame Haus komplett abreißen wollen, will er nicht diskutieren (S. 95). Für Höcke gehören eine „gewisse Unbedingtheit, Kühnheit und Wirklichkeitsverachtung“ dazu (S. 61). Eine Zusammenarbeit gibt es nur bei einer grundlegenden Richtungsänderung im Sinne Höckes (S. 224). Höcke kokettiert auch mit der Eigenschaft der Deutschen, Dinge ohne Rücksicht auf Verluste radikal bis zum Ende durchzuziehen (S. 258, vgl. auch S. 215), statt diesen Charakterzug zu kritisieren. Politik versteht Höcke nach dem Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt (S. 274). Nach dem gelungenen Machtwechsel will Höcke aber „Gnade“ walten lassen (S. 223): Das impliziert natürlich eine Art von Unterwerfung, denn Gnade übt man nur bei Besiegten, nicht unter gleichrangigen Partnern.

Der Widerspruch zwischen einem Regieren durch Dialog oder einem Durchregieren zieht sich durch das ganze Buch hindurch und bleibt bis zuletzt unaufgelöst bestehen.

Ebenfalls bedenklich ist die Aussage gegen eine „falsche konservative Loyalität zu Institutionen, die die Zukunft unseres Volkes gefährden“ (S. 239) als Antwort auf Bedenken, dass die AfD extremistisch sei. Hier hätte an erster Stelle ein Bekenntnis zur Erhaltung der Demokratie und ihrer grundlegenden Institutionen stehen müssen. Es mag zwar auch institutionellen Reformbedarf im Detail und in Randbereichen unserer Demokratie geben, z.B. Amtszeitbegrenzungen oder die Medienordnung, aber wo die Frage nach dem Extremismus gestellt wird, muss ein Bekenntnis zur Demokratie und ihren Kerninstitutionen an erster Stelle stehen. Und das ist hier nicht der Fall.

Moralisch bedenkliche Aussagen

Auch mit der Moral hat Björn Höcke offenbar gewisse Schwierigkeiten, wie vor allem einige Passagen auf den Seiten 254 und 255 zeigen. Dort wird eine „wohltemperierte Grausamkeit“ angekündigt, die „so human wie irgend möglich, aber auch so konsequent wie nötig“ ist. Die Regierenden, die solche Anordnungen treffen, würden laut Höcke „schwere moralische Spannungen“ auszuhalten haben, weil sie „Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“.

Hier stellt sich zunächst die Frage, wovon Höcke eigentlich konkret spricht? Denn die gesetzlich vorgeschriebene Ausweisung von Illegalen im Wege normaler polizeilicher Maßnahmen, um ein konkretes Beispiel zu nennen, mag vielleicht manchmal „hart“ sein, doch „grausam“ ist sie keinesfalls, und „Grausamkeit“ ist dazu auch gar nicht nötig. Auch „schwere moralische Spannungen“ entstehen durch solche Maßnahmen nicht. Höcke muss etwas anderes meinen, sagt aber nicht, was.

Höcke sieht offenbar einen Widerspruch zwischen Konsequenz und Humanität, sonst würde er nicht von moralischen Spannungen sprechen. Er hat also keine Vorstellung von Humanität und Moral, die auch dann noch trägt, wenn es hart auf hart kommt und Entscheidungen im Sinne eines kleineren Übels getroffen werden müssen. Denn auch die Entscheidung für ein kleineres Übel ist immer noch eine moralische Entscheidung, die moralische Grenzen kennt. Statt dessen sind für Höcke „Grausamkeiten“ gegen das „eigentliche moralische Empfinden“ denkbar. Der Terminus „Grausamkeit“ für sich allein genommen wäre vielleicht noch kein Problem, weil man auch umgangssprachlich von „Grausamkeiten“ spricht. Aber indem diese „Grausamkeiten“ als Gegensatz zu „humanem“ Vorgehen verstanden werden, sowie in Kombination mit der Aussage, dass gegen das „eigentliche moralische Empfinden“ gehandelt werden soll, kann man sich nur noch schlecht mit einer bloß sprichwörtlichen Bedeutung im übertragenen Sinn herausreden. Zumal der vorliegende Text kein spontanes Presseinterview ist, sondern ein gedrucktes Buch. Wenn das eine unglückliche Formulierung war, dann war sie sehr, sehr unglücklich.

Wie würden es Konservative sagen? Vergleichen wir anhand des konkreten Beispiels der Abschiebung Illegaler. Für Konservative bleiben Humanität und Moral immer Grundlage der Abwägung, doch Höcke sieht hier einen Gegensatz zur Humanität. Das hört sich an, wie wenn es hier zu Entgleisungen und Grenzüberschreitungen kommen würde. Und genau diese werden von Höcke ja auch explizit angedeutet, nämlich durch „Grausamkeiten“, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“. Ein Konservativer würde so etwas niemals sagen. Ein Konservativer würde von „Härte“ und „Konsequenz“ sprechen, die „moralisch geboten“ ist (und deshalb immer noch moralische Grenzen kennt), und keinesfalls von „Grausamkeiten“, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“ (so dass also keine moralischen Grenzen mehr da sind, denn die sind ja dann schon überschritten).

Höcke bestätigt diese Deutung durch eine weitere Argumentation: Denn Höcke will die Schuld für die „Grausamkeiten“, die dem moralischen Empfinden zuwiderlaufen, einfach auf andere abwälzen, nämlich auf die verfehlte Politik der Etablierten, die solche Maßnahmen notwendig werden ließen (S. 255). Doch auch das ist sichtlich nicht moralisch gedacht. Denn es ist zwar wahr, dass die verfehlte Politik die Verantwortung für die Zuspitzung der Lage trägt, und es ist wahr, dass eine zugespitzte Lage harte Maßnahmen erfordert. Doch auch in einer zugespitzten Lage bleibt die Moral in Geltung und die handelnden Personen dürfen zwar im Rahmen eines moralischen Kalküls durchaus vieles aber nicht alles tun, um die Lage zu bewältigen. „Grausamkeiten“ gegen das moralische Empfinden sind keine Option.

Zwei historische Beispiele: In der AfD wurde einmal debattiert, ob man zur Schließung von Grenzen von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfe. Weniger gebildete AfDler meinten, das sei so, auch weil man eine Grenze sonst nicht schließen könnte. Der politmediale Mainstream bestärkte diese weniger gebildeten AfDler in dieser Auffassung nach Kräften und diese fielen darauf herein. Die Pointe ist, dass der Gebrauch der Schusswaffe gar nicht nötig ist, um eine Grenze effektiv zu schließen, sofern man es nicht mit bewaffneten Banden zu tun hat! Ob Spanien, Ungarn, Mazedonien oder Griechenland: Alle sind perfekt dazu in der Lage, ihre Grenzen zu schließen, ohne dafür einen einzigen Schuss abgeben zu müssen. – Ein anderes historisches Beispiel ist der Völkermord an den Armeniern durch die Türkei im Ersten Weltkrieg. Zwar ist es richtig, dass die Armenier teilweise eine Art „inneren Feind“ innerhalb der Landesgrenzen der damaligen Türkei darstellten. Doch war ein Völkermord natürlich eine weit über jedes legitime Ziel hinausschießende Maßnahme zur Lösung des Problems.

Es gibt immer moralische Grenzen, auch in zugespitzten Situationen, und wer allen Ernstes sagt, dass er gegen das moralische Empfinden handeln will, muss sich kritische Fragen gefallen lassen. Merken wir am Rande noch kritisch an, dass Moral hier wie ein Gefühl behandelt wird. Moral ist aber mehr als nur ein Gefühl, sondern vor allem auch harte Rationalität, die man nicht einfach beiseite schieben kann. Moral ist nur für Romantiker ein Gefühl.

Politische Philosophie: Edgar Jung

Wir sahen, dass Höcke z.B. Karl Popper, Martin Buber oder die Klassiker Goethe und Schiller anführte. Doch auf die Frage, welche Denker des 20. Jahrhunderts ihn geprägt haben, nennt er diese vier Namen: Ludwig Klages, Edgar Jung, Dietrich Bonhoeffer, Martin Heidegger (S. 77). Dietrich Bonhoeffer und Ludwig Klages scheinen unproblematisch. Zu Martin Heidegger sagt Höcke nur wenig (S. 59, 77-79). Man könnte kritisieren, dass Höcke das rechtsradikale Gedankengut von Heidegger ungerechtfertigt kleinredet (S. 78). Aber dem Fass den Boden schlägt der Name Edgar Jung aus. Denn Edgar Julius Jung (1894-1934) war eindeutig ein Rechtsradikaler!

Laut Wikipedia gehörte Edgar Jung der Bewegung der „Konservativen Revolution“ an, die bekanntlich mehr revolutionär als konservativ war. Jung wirkte bei der Ermordung des Präsidenten der Autonomen Pfalz Franz Josef Heinz mit. Er traf Adolf Hitler persönlich und verhandelte über seinen Beitrtt zur NSDAP, wozu es wegen Differenzen nicht kam. Den Rassegedanken der Nationalsozialisten lehnte Edgar Jung ab, weil er auf den Gedanken des Volkstums setzte. Edgar Jung strebte die Verhängung des Ausnahmezustandes unter Einbeziehung von Hitler und Göring an, die er für weniger radikal hielt als andere NS-Größen. Edgar Jung war gegen die Demokratie, weil sie alle Stimmen gleich zählt, polemisierte gegen Juden, weil diese in seinen Augen für Aufklärung und Individualismus standen, war gegen eine bürgerliche Elite, weil er das Leistungsprinzip ablehnte, und wollte eine neue Aristokratie errichten. 1934 wurde Edgar Jung im Zuge des Röhm-Putsches von den Nationalsozialisten ermordet.

Doch der Sachverhalt bleibt in diesem Buch völlig undiskutiert! Der Name Edgar Jung wird lapidar genannt, sonst nichts. An einer anderen Stelle wird noch eine ungefährliche Binsenweisheit von Edgar Jung zitiert (S. 28). Das war’s.

So geht es nicht. Das ist hochgradig unglaubwürdig. Wenn Höcke ehrlich mit seinen Lesern hätte sein wollen, hätte er den Rechtsradikalismus von Edgar Jung zum Thema machen und sich dazu erklären müssen.

Politische Philosophie: Nietzsche und Schopenhauer

Ebenfalls zentral für Höckes Denken ist ausgerechnet Friedrich Nietzsche. Höcke berichtet, wie er im Alter von 17 Jahren Nietzsche entdecke: „Mich beeindruckte, wie Nietzsche … alles gnadenlos hinterfragte: die Moral, die Tradition, die Philosophiegeschichte. In seinem Voluntarismus fand ich meinen eigenen Tatendrang und Optimismus wieder, ebenso die Verachtung gegenüber dem Erstarrten und Verkrusteten.“ (S. 56 f.) Höcke bekennt, dass er Nietzsche lesen wird, solange er lebt (S. 73).

Doch Nietzsche ist ein gefährlicher Denker. Er reißt alles nieder, was die westliche Welt ausmacht. Auch die Vernunft. Und an die Stelle Gottes tritt der Übermensch. Auch als Atheist sollte man da Fragen haben. Nicht zuletzt lässt sich auch der aktuelle Wokismus über die französische Postmoderne bis zu Nietzsche zurückverfolgen. Auf kritische Nachfragen des Interviewers meint Höcke, dass er eben nicht nur konservativ sei (S. 58) und dass er kein „Nietzsche-Jünger“ sei, sondern lediglich gewisse geistige Impulse von Nietzsche empfangen habe (S. 74). Die Frage nach der Irrationalität Nietzsches wiegelt Höcke genauso wie beim Thema Romantik ab: Seiner Meinung nach sei Nietzsche gar nicht so irrational (S. 75).

Durch Nietzsche sei Höcke dann auf Schopenhauer gestoßen, und auch hier ging es Höcke vor allem um Widerstand gegen Autoritäten und Kritik am Establishment (S. 76). Von Schopenhauer habe Höcke auch die Mitleidsethik übernommen, sagt er. Wie der Optimismus, der ihn bei Nietzsche faszinierte, mit dem Pessimismus von Schopenhauer zusammenpasst, sagt Höcke nicht.

Politische Philosophie: Romantik

Ein weiterer weltanschaulicher Schwerpunkt Höckes ist die Romantik. Für Höcke ist sie die „fruchtbarste geistig-literarische Epoche unserer Kulturgeschichte“ (S. 156), womit er die Klassik von Goethe und Schiller auf die Plätze verweist. Höcke wendet sich gegen die Generalkritik an der Romantik, dass sie irrational sei. Für Höcke ist Romantik eine Form der Weltzugewandtheit (S. 25).

Romantik gründe auf der platonischen Erkenntnis, dass es eine Wirklichkeit hinter den Dingen gibt (S. 158). Doch Platon war einer der Begründer des Rationalismus, der die Sphäre des Mythischen, des Unbekannten, durch die Vernunft einhegen wollte, und eine klare Absage an haltlose Irrationalität und Schwärmerei formulierte. – Höcke kritisiert die Aufklärer, die bemängelten, dass Mythen nicht wahr sind: Denn darauf käme es nicht an, meint Höcke, sondern darauf, dass die Mythen Identiät stiften! Mythen müssten nur „authentisch“ sein, im Sinne von George Sorel, und das beschreibt Höcke als die Ermöglichung verschiedener Lesarten (S. 159 f.). Doch seit Platons Zeiten kommt alles darauf an, dass Mythen gut und wahr sind. Die Taten und Worte der Vergangenheit, auf die eine Gemeinschaft ihre Identität stützt, sollten real sein, nicht erfunden. Denn wer, der bei Verstand ist, sollte das dann glauben? Wer sollte es ernst nehmen? Und eine Offenheit für verschiedene Lesarten macht alles nur noch schlimmer, denn wie soll dann eine gemeinsame Identität zustande kommen?!

Höcke meint, dass die Deutschen auch als Romantiker bereits ökonomischen Erfolg gehabt hätten, ohne die Übernahme der Ideen der Angelsachsen, die er „smarte Praktikusse“ nennt (S. 157). Doch das ist sehr fraglich, denn vor der Romantik kam bekanntlich die Klassik mit Goethe und Schiller, und auch die Aufklärung mit Friedrich dem Großen und Immanuel Kant. Preußen wurde durch seine Rationalität bekannt und erfolgreich, nicht durch seine Romantik. Das gilt auch für die Ökonomie. Außerdem stand Preußen damals mit England im Bunde. Schließlich hat Höcke beobachtet, dass auch die Naturwissenschaften sich von einem rein materialistischen Weltbild abwenden und zur Verzauberung der Welt zurückkehren (S. 162 f.). Das ist nicht falsch, doch findet diese „Verzauberung“ natürlich unter den strengen Auspizien der Rationalität statt.

Gegen Romantik wäre nichts einzuwenden, wenn sie unter der klaren Prämisse der Rationalität stünde. Klassik geht vor Romantik. Dann wäre die Gefährlichkeit der Irrationalität gebändigt. Doch genau diese Einhegung der Romantik findet sich bei Höcke nicht.

Politische Philosophie: Antimodernismus

Für Höcke ist der Inbegriff der Moderne die Entstrukturierung, die totale Auflösung von allem, bis hin zur Auflösung von Nationen und Geschlechtern. Die Moderne ist für ihn die Verfallsform der Neuzeit (S. 261-263). Deshalb will er die Moderne beseitigen und eine Nach-Moderne anstreben (S. 258). Er möchte von der Dekomposition zur Re-Komposition kommen (S. 264).

Die Kritik an der völligen Auflösung aller Strukturen in Ehren, aber ist die Zuschreibung der Verantwortung für diese Auflösung ausgerechnet an die Moderne wirklich berechtigt? Die Moderne als Verfallsform der Neuzeit beginnt für Höcke anscheinend mit der Aufklärung und ihrer analytischen Rationalität. Diese Analytik sieht er vermutlich als „auflösend“. So genau sagt er das nicht.

Aber ist es wirklich so, dass der Aufklärung der Drang zur Auflösung aller Strukturen innewohnt? Ist es aufgeklärt und rational, nützliche und sinnvolle und begründbare Gegebenheiten wie Nationen oder Geschlechter aufzulösen? Ist es nicht vielmehr anti-rational und unaufgeklärt? Steckt dahinter nicht etwa die Moderne, sondern vielmehr der sogenannte Postmodernismus und Wokismus? Diese Ideologien formulieren eine Absage an die Vernunft. Für diese Ideologien ist die Rationalität eine koloniale, „weiße“ Beherrschungsstrategie. Dahinter steckt Nietzsche und dessen irrationale Ablehnung von allem, was wahr, gut und schön ist. Jener Nietzsche, von dem Höcke so fasziniert ist.

Und wie will Höcke etwas re-komponieren, wenn nicht mithilfe der Vernunft? Ist es nicht die Vernunft, mit deren Hilfe wir die Welt ordnen? Ist nicht z.B. der Nationalstaat bereits eine Art von Re-komposition der voraufgeklärten Wirklichkeit, die wir der Aufklärung verdanken, also der Moderne?

Politische Philosophie: Nur ein Humanismus des Gefühls?

Höcke schreibt sich selbst eine humanistische Gesinnung zu: „In der irdischen Welt sind Licht und Schatten wild miteinander verwirbelt. Durch alles – also auch durch uns selbst – geht ein ‚tragischer Riss‘. … … … Aus dem Wissen und dem Gefühl über dieses gemeinsame Schicksal speist sich mein tief verankerter Humanismus. Diese Einheit des Menschseins in Anbetracht der inneren Wunde ist elementar.“ (S. 62 f.)

Doch Höcke definiert seinen Humanismus nur vom Gefühl her. Wie wir oben sahen, geht es Höcke um das menschliche Leiden (Schopenhauer) und um moralisches Empfinden (wohltemperierte Grausamkeiten), aber es geht immer nur um Gefühl. Rationalität hingegen findet in Höckes Humanismus eher keine Erwähnung und spielt eine sichtlich zurückgesetzte Rolle. Höcke schwärmt für die Romantik und für Nietzsche, während Klassik und Aufklärung ganz offensichtlich nicht so sehr sein Ding sind. Die Moderne gilt ihm gar als Verfallserscheinung. Platon deutet Höcke nicht als Rationalisten, und ob Mythen auch wahr sind, ist für Höcke nicht entscheidend. An einer Stelle spricht Höcke sogar von „Wirklichkeitsverachtung“ (S. 61).

Ein klassischer Humanist würde das nicht tun, denn ohne Rationalität geht es nicht. Auch wenn Höcke durch name-dropping wiederholt in Richtung Klassik und Vernunft „blinkt“, biegt er doch sichtlich in die andere Richtung ab.

Einzelthemen: Staatsbegriff

Höcke strebt einen Staat in „neuzeitlich-klassischer Form“ an. Es ist „das von uns präferierte Modell eines erneuerten Nationalstaates – von dessen klassischen Modell des 19. Jahrhunderts sicher einiger Ballast abgeworfen werden muss“ (S. 269 f.). Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts ist also nicht (!) das Modell, sondern Höcke geht weiter zurück in der Geschichte. Das entspricht auch seiner Gegnerschaft zur Moderne, die er als Verfallsform der Neuzeit deutet. Die Staaten der Neuzeit waren die ständisch und absolutistisch verfassten Staaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Es bleibt etwas nebulös, wie sich Höcke einen solchen Staat konkret vorstellt.

Jedenfalls möchte Höcke, dass der Staat „bändigend, ordnend und gestaltend“ wirkt; er will also eine „politisch gesteuerte Nationalökonomie“ und einen „starken Staat“, um die „zerstörerischen Kräfte der Emanzipation in produktive Bahnen zu lenken“ (S. 259-261). – An anderer Stelle meint Höcke, dass der Staat sich auf die Grundlinien der Politik beschränken sollte, und dass Staat und bürgerliche Gesellschaft getrennt sein sollten (S. 272). Auch gehört zu seinem Bild des neuzeitlichen Staates die Entfesselung von Wissenschaften, Technik, Ökonomie und Kultur (S. 259).

Es bleibt unklar, wie diese beiden Ideale von Staat miteinander vereinbar sein sollen, die sich gegenseitig widersprechen: Auf der einen Seite ein steuernder und starker Staat, auf der anderen Seite ein beschränkter Staat, der Freiheit entfesselt.

Einzelthemen: Volkskirche

Höcke möchte eine „neue Volkskirche, die wie das alte Gotteshaus im Dorf in der Mitte der Gemeinschaft steht.“ (S. 268) Diese Volkskirche „müsste die tradierte Volksfrömmigkeit, die sich bis heute in verschiedensten Bräuchen und Ritualen erhalten hat, mit der idealistisch-romantischen Vorstellung einer beseelten Natur und dem ursprünglichen spirituellen Impuls des Christentums verbinden – ohne gleichzeitig im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu geraten.“ (S. 268). Die neue Volkskirche müsste „mit Schopenhauer den allegorischen Charakter der hergebrachten Religion“ akzeptieren und sollte sich ausschließlich auf das Seelenheil konzentrieren, also klar aus der Politik heraushalten (S. 268).

Diese Ideen sind hochproblematisch. Zunächst dürfte es schwierig sein, in einer halbwegs freien Gesellschaft eine gemeinsame Volkskirche aufzubauen, in der alle Mitglied sind. Egal wie attraktiv die Lehre dieser Volkskirche auch sein mag, eine solche religiöse Einheit dürfte freiheitlich kaum herstellbar sein. Das nächste Problem ist der vorgeschlagene Synkretismus: Eine Totgeburt! Denn wer soll eine solche Konstruktion religiös glauben? Höcke meint offenbar, dass der allegorische Charakter genüge, ganz im Sinne seines Glaubens, dass es bei Mythen egal sei, ob sie wahr sind (s.o.). Aber so funktioniert Religion nicht. Religionen wurden zwar schon immer politisch verbogen, aber immer nur graduell und ausgehend von einem bereits vorhandenen Glauben. Die Vorstellung, dass Politik Religion beliebig konstruieren könnte, ist grundfalsch. Es ist nicht ohne Ironie, dass Höcke hinzufügt, dass man „immer die conditio humana im Auge behalten“ müsse, „die sich nicht endlos ohne böse Folgen verbiegen lässt.“ (S. 269) Ohne eine solche Verbiegung wird eine solche Volkskirche nicht möglich sein.

Übrigens führt auch dieser Gedanke einer Volkskirche ideengeschichtlich hinter die Aufklärung zurück, ganz im Sinne von Höckes Deutung von der Moderne als einer Verfallserscheinung der Neuzeit. Für die Staaten der Neuzeit galt „cuius regio eius religio“, d.h. es gab eine einheitliche Religion im ganzen Staatsgebiet. Wer andersgläubig war, musste auswandern, wie z.B. die französischen Hugenotten oder die Salzburger Protestanten.

In einem Punkt hat Höcke allerdings Recht: Ein Gemeinwesen kann sich nicht in Materialismus erschöpfen (S. 162). Der Mensch braucht eine sinnstiftende Weltanschauung. Und eine Gemeinschaft benötigt eine „große Erzählung“, sie benötigt Symbole, Rituale und Mythen. Die Lösung kann aber nicht in einer Volkskirche bestehen, sondern müsste einerseits pluraler ansetzen, andererseits partielle Gemeinsamkeiten suchen.

Die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen ist nicht hintergehbar. Man müsste allerdings damit aufhören, nur ganz bestimmte Anschauungen zu fördern, andere aber zu vernachlässigen. Das würde schon viel helfen. Die Gemeinsamkeit liegt ebenfalls auf der Hand: Sie liegt im Humanismus, den es in allen großen Religionen und Weltanschauungen bereits gibt. Die große Forderung müsste deshalb sein, dass sich alle Religionen und Weltanschauungen darum bemühen, ihre Lehre nach humanistischen Maßstäben zu entfalten, d.h. mit Rationalität und Mitgefühl. Entscheidend ist nicht, welche Religion oder Weltanschauung es ist, sondern entscheidend ist die humanistische Perspektive. Fanatismus jeder Art, ob religiös oder atheistisch, muss hingegen geächtet werden. Der Staat wiederum sollte seine Geschichte und seine Verfassung symbolisch und mythisch zelebrieren. Stichwort Zivilreligion. Natürlich nur mit Mythen, die gut und wahr sind. Unsere Geschichte ist voll davon.

Einzelthemen: Frauen

Es ist in Ordnung, konservative Lebensentwürfe von Frauen und das Familienleben wieder aufzuwerten, aber Björn Höcke bleibt dabei in gewissen Klischees stecken (S. 112-117). Es ist in Ordnung, Männern „Wehrhaftigkeit, Weisheit und Führung“ und Frauen „Intuition, Sanftmut und Hingabe“ zuzuschreiben, aber für sich allein klingt das einfach zu holzschnittartig (S. 115). Das Thema endet mit dem Zitat „Die Frau ist stärker als der Mann, wenn sie einen hat.“ (S. 117)

Das ist für einen modernen Konservativismus einfach zu wenig. Höcke befürwortet Emanzipation dort, wo sie „sinnvoll“ ist, was sich nach einer Einschränkung anhört (S. 113). Wenn es ein Islamist wäre, den man so über Frauen reden hören würde, würden sämtliche Alarmglocken schrillen.

Einzelthemen: Islam

Zum Islam nennt Höcke die Islam-Broschüre von Dr. Michael Henkel, die Höckes Thüringer AfD-Fraktion im Jahr 2016 herausgab (S. 174). Die darin enthaltenen Grundthesen werden auch hier von Höcke wiedergegeben: Höcke wendet sich gegen eine „Verwestlichung“ des Islam, sondern vielmehr müsse man das Andersartige achten (S. 196). Die Lösung für die Probleme mit dem Islam in Europa ist für Höcke ganz einfach: „Wir können uns also im Grunde die ganze Islam-Debatte sparen: Hätten wir nicht die Massen an Orientalen und Muslimen in Europa und Deutschland, hätten wir auch kein elementares Problem mit dem Islam.“ (S. 197 f.)

Diese Einstellung ist natürlich in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig. Zunächst entspricht diese Haltung dem bekannten Satz des Methusalix aus dem Asterix-Band XXI (Geschenk des Caesars, S. 17): „Nein! Mich stören Fremde nicht, solange sie bleiben wo sie hingehören.“ Diese Einstellung ist dann doch etwas zu plump. Und sie löst auch unsere Probleme nicht. Oder will Höcke etwa ausnahmslos alle Muslime, also auch die Muslime aus der Generation der Gastarbeiter, wieder wegschicken? Höcke will nach eigener Auskunft die Remigration von nicht integrierbaren Migranten (S. 284). Doch je länger die Einwanderung dieser Migranten zurückliegt, desto unglaubwürdiger und schwieriger wird eine Remigration zu bewerkstelligen sein.

Indem Höcke den Islam überhaupt nicht kritisieren sondern sogar „achten“ will, solange er uns fern bleibt, verrät Höcke auch unsere westlichen Werte – oder verrät er unfreiwillig etwas über seine wahren Werte? Jedenfalls enthält der unreformierte Islam in seiner traditionalistischen Form Elemente, die von uns unmöglich geachtet werden können, sondern deutlich kritisiert werden müssen! Jemand, der das unkritisiert lässt, muss sich fragen lassen, wo er selbst steht.

Unsere westlichen Werte sind nämlich nicht nur für den Westen gut, sondern sie sind für alle Menschen gut. Davon sind wir überzeugt, sonst hätten wir diese Werte nicht. Westliche Werte sind keine westliche Folklore, die nur im Westen ihren Platz hätten. Und es geht auch nicht um den Wokismus. Woke Werte sind nicht die westlichen Werte, von denen hier die Rede ist. Ein erfolgreich reformierter Islam wäre in großen Teilen gewiss immer noch so konservativ wie die katholische Kirche.

Mehr noch: Auch das Christentum ist erst durch Reformen „genießbar“ geworden. Es begann mit der Wiederentdeckung der antiken Philosophen und der Erkenntnis, dass Vernunft und Glaube nicht im Widerspruch zueinander stehen können. Früher wurden Hexen und Ketzer einfach verbrannt, das Gottesgnadentum der Könige war kirchlich legitimiert, und natürlich wurde auch die Bibel wesentlich wörtlicher genommen als das heute der Fall ist, bis hin zum Abhacken der Hände von Dieben. Heute bedeckt keine christliche Frau mehr ihr Haupt, obwohl es im Neuen Testament so geboten wird. Die historisch-kritische Lesart überlieferter Texte, auch religiöser Texte, ist ein großer Fortschritt in der richtigen Welterkenntnis und eine zentrale Errungenschaft unserer westlichen Zivilisation. Diesen ganzen Reformprozess verleugnet Höcke implizit durch seine Einstellung zum Islam. Warum sollte man Reformen in der christlichen Welt als große Errungenschaft und unbedingte Notwendigkeit begrüßen, in der islamischen Welt aber mittelalterliche Verhältnisse „achten“, ohne den geringsten Versuch, etwas daran zu verbessern? Das passt logisch nicht zusammen.

Mit der These, dass der Islam zu „achten“ ist, wie er ist, also in seiner aktuell vorherrschenden traditionalistischen und islamistischen Form, ist die AfD keine islamfeindliche Partei mehr, ja sie ist noch nicht einmal mehr eine islamkritische Partei. Im Gegenteil. Mit dieser Grundeinstellung stehen alle Türen für eine Zusammenarbeit der AfD mit Traditionalisten und Islamisten offen! Und mehr noch: Die AfD hält auch nichts von der Unterstützung von Islamreformern, weil sie ja von Islamreformen generell nichts hält („Verwestlichung“). Dabei müsste das doch die klare Entscheidung auf der Grundlage unserer westlichen Werte sein, auch in unserem eigenen, langfristigen Interesse: Der islamischen Welt dabei zu helfen, dieselben Reformprozesse zu durchlaufen, die auch die christliche Welt durchlaufen hat. Genau wie beim Christentum auch, sind die Grundlagen dafür in den islamischen Traditionen selbst zu finden. Im Mittelalter war die islamische Welt sogar zeitweise fortschrittlicher als die christliche Welt.

Natürlich sollte man sich von Islamreformen keine Wunder erwarten. Aber es gibt nicht den geringsten Grund, diesen wichtigen Baustein im Umgang mit dem Islam zu vernachlässigen. Auch und gerade, um uns selbst treu zu bleiben.

(PS 25. April 2024: Der Co-Autor dieses Buches, Sebastian Hennig, konvertierte selbst im Jahr 1990 zum Islam. Er sieht den Islam in Opposition zur rationalen Moderne.)

Einzelthemen: Ökonomisch links

Höcke propagiert bekanntlich einen „Sozialpatriotismus“. In diesem Buch präsentiert sich Höcke als „Antikapitalist“ (S. 250 ff.). Über die Marktwirtschaft spricht er ungefähr so wie Sarah Wagenknecht: Zwar hätte er nichts gegen die Marktwirtschaft, aber dann wird doch deutlich, dass es um einen sehr stark steuernden Staat geht. Davon sprach er ja auch bei seinem Staatsverständnis (s.o.). Höcke erstrebt eine post-kapitalistische Wirtschaftsordnung, „ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen.“ (S. 265 f.) Dem Leser drängt sich hier der Gedanke an einen Sozialismus „neuer Machart“ auf.

Höcke erzählt auch, wie er als Jura-Student in Bonn in einschlägige Kneipen ging, um mit Linksradikalen zu diskutieren (S. 144). Der Lebensabschnitt von Höckes Jura-Studium bleibt im ganzen Buch seltsam blass. Sollte Höcke als junger Mensch etwa eine „linke“ Phase gehabt haben? Doch das ist Spekulation.

Einzelthemen: Antiamerikanismus

In zahlreichen Äußerungen Höckes wird deutlich, dass er von den USA nicht viel hält und sich politisch von ihnen absetzen möchte. So spricht er z.B. vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ (S. 39), was zumindest sehr einseitig ist. Oder dass die Alliierten Deutschland 1945 angeblich als Völkerrechtssubjekt hätten ausschalten wollen und nur wegen des Kalten Krieges nicht dazu kamen (S. 65), was einfach falsch ist, und zwar gerade was die gutmütigen und optimistischen Amerikaner anbelangt. Laut Höcke hätte US-Präsident Roosevelt gesagt, dass man „gegen die Deutschen an sich“ kämpfe (S. 216). Ein entsprechendes Zitat war nicht zu finden. Eine solche Aussage wäre im Kontext der Emotionalisierung des Weltkrieges auch nicht allzu verwunderlich. Die USA haben jedenfalls nicht in diesem Sinne gehandelt. Schließlich spricht Höcke auch noch von dem „alten Wirtschaftskrieg der Seemächte Großbritannien und USA gegen den Kontinent im 20. Jahrhundert“ (S. 279) Der Satz wäre vielleicht noch verständlich, wenn es nur um den Ersten Weltkrieg ginge. Aber der Bezugsrahmen ist das 20. Jahrhundert. Damit wird auch der Zweite Weltkrieg als Wirtschaftskrieg gedeutet. Das will doch etwas gewagt erscheinen.

Höcke hält die deutsche Bundeswehr für völlig fremdbestimmt, sie sei nie eine genuin deutsche Armee gewesen (S. 53). Wie es dann möglich ist, dass diese Bundeswehr durch einsame Entscheidungen von Kanzlerin Merkel gegen den Willen der Amerikaner heruntergewirtschaftet wurde, sagt Höcke nicht. Und dass ein Mangel an deutschem Selbstbewusstsein spätestens nach Ende des Kalten Krieges keine Fremdbestimmung mehr war, sondern selbstverschuldet, fällt bei dieser Analyse auch unter den Tisch.

Höcke wettert gegen die amerikanischen Neocons und deren angebliche Destabilisierungspolitik, und spricht von einer „bewusst geförderten muslimischen Masseneinwanderung nach Europa“ (S. 195). Diese Analyse will doch recht undifferenziert erscheinen: War das Ziel der Neocons wirklich die Destabilisierung? Wenn überhaupt, dann war es ein ungewollter Effekt. Sind alle Amerikaner Neocons? Wohl kaum. Hat z.B. Obama stabilisierend gewirkt, als er den Bürgerkrieg in Syrien anheizte und die Truppen aus dem Irak abzog? Eher nicht. Aber Obama war kein Neocon, und das ist der Punkt. Und waren es nicht Tsipras und Merkel, die 2015 die Migranten nach Europa und Deutschland hereinließen? Oh doch! Und war es nicht Hillary Clinton, eine amerikanische Spitzenpolitikerin, die meinte, die Deutschen sollten die massenhafte Aufnahme von Migranten besser wieder beenden, doch Merkel hörte nicht auf sie? Die Amerikaner schauen genauso staunend auf die „verrückten Deutschen“ wie alle anderen auch. Höcke hat damit eine völlig falsche Analyse der Wirklichkeit. Höcke will jedenfalls keine „Nibelungentreue zur US-geführten NATO“ (S. 279). Schließlich träumt Höcke vom Rückzug der Amerikaner aus Europa (S. 54).

Paradox, dass in diesem Buch auch erwähnt wird, dass die CIA schon 2008 vor diversen Szenarien warnte, die Höcke heute beklagt (S. 204). Wie ist das möglich, wo doch die USA an allem schuld sein sollen? Und selbst Höcke muss einräumen, dass die USA mit Donald Trump sogar einen Präsidenten hatten, der sich gegen manche zeitgeistige Verirrung wandte (S. 207).

Die Frage, wie es möglich sein soll, dass das kleine Deutschland sich in einer Welt von Großmächten souverän behauptet, ohne vereinnahmt zu werden, beantwortet Höcke an keiner Stelle. Die Idee, dass Deutschland sich einer der Großmächte anschließen muss, und dass die USA trotz allem die beste Wahl für einen Hegemon sind, bleibt undiskutiert.

Einzelthemen: Pro Russland und Islamische Welt

Höcke möchte zu einem „dauerhaften Ausgleich mit Russland“ kommen, weil es „einen dauerhaften Frieden in Europa niemals gegen Russland, sondern nur mit Russland geben kann.“ (S. 281) Wie das mit dem Kalten Krieg und der Notwendigkeit, die Freiheit gegen Russland zu verteidigen, zusammenpasst, sagt Höcke nicht. Auch nichts dazu, dass Russland keinen „Ausgleich“ will, sondern Herrschaft, und dass man diesem Bestreben etwas entgegensetzen muss.

An einer Stelle hört es sich sogar so an, als ob Höcke bereits 1945 ein Zusammengehen mit der Sowjetunion gegen die USA befürwortet hätte: „Ein Zusammengehen mit der Sowjetmacht war nach den schrecklichen Begleiterscheinungen des russischen Einmarsches in Ostdeutschland im Volk nicht vermittelbar.“ (S. 38) Ein seltsamer Satz, denn es hört sich tatsächlich so an, als würde sich Höcke wünschen, dass ganz Deutschland zu einer Groß-DDR unter der Führung der Sowjetunion geworden wäre. Man beachte auch, dass die schrecklichen Verbrechen der russischen Armee an der deutschen Zivilbevölkerung als „Begleiterscheinungen“ verharmlost werden, während Höcke gleichzeitig vollmundig vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ (S. 39) spricht.

Höcke träumt von geopolitischen Großräumen, in denen „raumfremde“ Mächte ein Eingriffsverbot haben (S. 283). Hier übersieht Höcke, dass Verbote nicht helfen. Mächte setzen sich durch, oder eben nicht. Auf „Raumfremdheit“ wird dabei leider keine Rücksicht genommen. Nicht Räume sondern Mächte bestimmen, was geschieht, und Deutschland ist ohne die Hilfe der USA an Russland ausgeliefert. Paradoxerweise erwähnt Höcke die Kooperation der osteuropäischen Visegrad-Staaten als Beispiel für die Durchsetzung nationaler Interessen (S. 283). Dass aber die osteuropäischen Staaten aus Angst vor Russland sehr an dem Bündnis mit den USA interessiert sind, sagt Höcke nicht.

Aber auch zur Türkei will sich Höcke in ein gutes Verhältnis setzen, denn sowohl mit Russland als auch mit der Türkei würden wir auf einem Doppelkontinent zusammenleben (S. 279). Mit der islamischen Welt strebt Höcke nach einem „modus vivendi, aber die intransigente Außenpolitik der USA, an die wir sklavisch gekettet zu sein scheinen, verhindert das.“ (S. 194) Höcke sieht eine „Anti-Islam-Koalition“, aus der er gern aussteigen würde (S. 195).

Einzelthemen: Der große Plan der Eliten?

Es ist sicher richtig, dass es einen Zeitgeist gibt, der in bestimmten Milieus besonders wirkt und auch von einem Teil der weltweiten Eliten geteilt und vorangetrieben wird. Ob Klima, Massenmigration, Wokismus oder Transhumanismus. Aber bei Höcke bekommt diese Analyse einen verschwörungstheoretischen Drive. Bei Höcke ist es kein Zeitgeist, sondern ein geheimer Plan, es sind nicht bestimmte Milieus und Teile der Eliten, sondern es ist „die“ Elite, und manche spontane Entscheidung wird zur lange geplanten Absicht umgedeutet.

Höcke sieht eine „geschlossene transatlantische Politelite“ (S. 201), wobei die politische Klasse als „Dienstklasse“ der wahren Eliten dahinter anzusehen ist (S. 206). Diese Politelite habe ein „hartes politisches Programm“, nämlich „die Entnationalisierung der europäischen Völker und die Umwandlung der bisherigen Nationalstaaten in multi-ethnische Gebilde“ (S. 201). Die Politik der Masseneinwanderung sei gezielt gewollt, es gehe um die Minorisierung der autochthonen Völker (S. 185, 187). Die Ereignisse des Jahres 2015 wären nicht geplant gewesen, aber die Eliten hätten die Gunst der Stunde genutzt (S. 206), um ihre Pläne durchzusetzen. Die Globalisten wollten eine Art „ethnische Säuberung“, nämlich den reinen Menschen ohne nationale Identität und ohne Tradition (S. 203).

Höcke spricht nicht davon, dass im Zuge der Euro-Krise 2015 der linksradikale Tsipras an die Regierung in Griechenland kam und daraufhin die EU-Außengrenzen rigoros öffnete, die bis dahin von den griechischen Grenzschützern gut bewacht worden waren. Das ist der wahre Hintergrund von 2015. Aber Tsipras besuchte kurz vorher noch Putin und das möchte Höcke wohl eher ungern diskutieren. – Zwei Beispiele von Aussagen der UN, die Höcke als Beleg für seine Thesen anführt (S. 205, 222), belegen eher etwas anderes: Nämlich dass die Eliten unglaublich naiv sind bezüglich der Integrationsfähigkeit von massenhaft ins Land kommender Zuwanderer.

Diese unglaubliche Naivität und Weltfremdheit von Teilen der Elite, sowie das Konglomerat an sekundären Interessen vieler Nutznießer des Systems, die den Zirkus trotz seiner Sinnlosigkeit am Laufen halten, hätte Höcke analysieren müssen, um zum wahren Kern der Probleme vorzustoßen. Eine Verschwörung von Eliten ist maximal die halbe Wahrheit.

Einzelthemen: Völkisches Denken? Biologismus?

Auf die heikle Frage, wie Höcke „Volk“ versteht, werden einige Seiten des Interviews verwendet (S. 126-134). Höcke versteht ein Volk im wesentlichen kulturell und wendet sich gegen einen „biologischen Reduktionismus“, doch Abstammung sei nun einmal eine biologische Tatsache, die weitgehend innerhalb einer Gruppe geschehe (S. 128). Ein Volk sei aber nicht nur Verwandtschaft (S. 132). Biologistisches Denken gäbe es gerade bei Deutschlandhassern (S. 131).

Soweit hört sich das gut an, doch es ist nicht gut genug. Denn gegen einen biologischen „Reduktionismus“ zu sein heißt nicht, das Biologische für irrelevant zu erklären; erst recht nicht, wenn man gleich hinterherschiebt, dass Abstammung eine Tatsache sei und Gruppen sich angeblich so gut wie nicht mischen würden – was vielleicht so sein mag, doch mit Biologie kann und darf nationale und kulturelle Identität nichts zu tun haben! Auch der Satz, dass ein Volk „nicht nur“ Verwandtschaft sei, betont die Verwandtschaft doch immer noch sehr.

Man hätte sich einen klaren Satz gewünscht, dass allein die Kultur zählt, und die Biologie im Grunde völlig irrelevant ist, jedenfalls für die nationale Identität (für die Vererbung von Intelligenz mag sie eine gewisse Rolle spielen: Ein Thema, das Höcke interessanterweise nirgends anschlägt). Man hätte sich einen Satz gewünscht, dass z.B. ein asiatisches oder schwarzes Waisenkind, das von einer deutschen Familie adoptiert und erzogen wurde, allein aufgrund seiner kulturellen Assimilation vollkommen deutsch ist, ohne wenn und aber und radikal unabhängig von der Biologie. Doch ein Satz in dieser Klarheit fehlt.

Statt dessen finden sich einige Aussagen, die begründet vermuten lassen, dass Höcke der Biologie doch eine größere Rolle bei der Identität von Menschen zuschreibt. Von den USA sagt Höcke, dass sich die Weißen und die Schwarzen vor ihrer Einwanderung nach Amerika „aus mehreren hochdifferenzierten Völkern mit eigenen Identitäten zusammen“ setzten, doch „jetzt sind sie in einer Masse aufgegangen. Diesen Abstieg sollten wir als Europäer vermeiden und die Völker bewahren.“ (S. 133) Hier ignoriert Höcke völlig, dass die Amerikaner in den USA zu einer neuen Nation zusammengewachsen sind, mit eigenen Mythen und eigener Identität, die unseren europäischen Nationen in nichts nachsteht. Und Höcke ignoriert, dass die spezifischen Probleme mit den Schwarzen in den USA natürlich darauf zurückzuführen sind, dass diese erst einmal als Sklaven nach Amerika geholt wurden. Doch Höcke sieht die Vermischung von Menschen verschiedener Herkünfte zu einer neuen Nation anscheinend als ein grundsätzliches Problem und als eine Ursache für „Abstieg“ an. Höcke spricht von „Masse“. Doch sind die USA abgestiegen und identitätslos vermasst? Nein, denn es ist eine der reichsten und mächtigsten Nationen auf Erden, und sie hat nicht weniger Selbstbewusstsein als irgendeine andere Nation!

Höcke meint auch, dass bei einem Versuch, Trumps Veränderungen wieder zurückzudrehen, „ein Aufstand der weißen Arbeiterklasse“ drohe (S. 209). Da fragt man sich: Warum ausgerechnet der „weißen“ Arbeiterklasse? Die US-Republikaner sind jedenfalls immer sehr stolz darauf, dass Trump gerade auch bei den Schwarzen und Latinos der Arbeiterklasse gute Wahlergebnisse erzielt hat, weil es Trump gelungen wäre, das Narrativ der Demokraten zu durchbrechen, dass es Rassenprobleme gäbe, wo es in Wahrheit doch vor allem soziale Probleme seien. Höcke scheint das anders zu sehen.

Schließlich präsentiert Höcke für den Fall eines siegreichen Multikulturalismus die Dystopie des Rückzugs der Deutschen in „gallische Dörfer“ auf dem Land, wo sie gewissermaßen überwintern und eines Tages von dort aus die „Rückeroberung“ starten (S. 253). Das Problem, das hier deutlich wird, ist die völlig Ablehnung jeder kulturellen Veränderung durch Vermischung.

Natürlich bringt der ungesteuerte und ideologisch verblendete Multikulturalismus einen Niedergang der gewachsenen deutschen Kultur mit sich, der ungerecht und schlimm für alle ist, auch für die Zuwanderer. Es ist ja gerade nicht wie in Amerika, wo die Menschen verschiedener Herkünfte eine neue gemeinsame Zukunft, eine neue gemeinsame Nation errichteten, sondern Multikulti heißt, dass jeder seiner Herkunft verhaftet bleibt und unverbundene Parallelgesellschaften entstehen. Ein Land wie Syrien oder der Balkan würde das Ergebnis sein, wo verschiedene Religions- und Volksgruppen sich dermaßen misstrauen, übervorteilen und ja: auch bekämpfen, dass der Gemeinsinn darüber verloren geht. Deshalb muss der Untergang einer gemeinsamen und organisch fortentwickelten, deutschen Kultur zum Wohle aller verhindert werden. Im Idealfall würde die deutsche Kultur durch Zuwanderung so bereichert werden, wie einst Preußen durch die zugewanderten Hugenotten. Das wäre ein lohnendes, gemeinsames Zielbild für Deutsche und Zuwanderer. Dazu müssten sich aber auch die Deutschen ein wenig konstruktiv einbringen. Davon ist bei Höcke aber absolut nichts zu sehen.

Doch auch im Falle von Höckes Dystopie, dass der Multikulturalismus die deutsche Kulturnation zerstören wird, liegt Höcke falsch: Denn irgendwann, nach langen und schlimmen Turbulenzen, werden sich die Bewohner dieses Landes zeitlich und kulturell so weit von ihren Wurzeln entfernt haben, dass sie zu einer neuen Nation, vielleicht auch mehreren neuen Nationen, verschmelzen können. Das wird dann keine deutsche Nation mehr sein, und es mag Jahrhunderte dauern und viele leidvolle Umwälzungen über die Menschen bringen, aber es wird wieder eine Nation sein. Die Geschichte bleibt nicht stehen. Wenn die deutsche Kulturnation tatsächlich verloren sein wird, wird diese Vision die nächstbeste Perspektive sein. Doch ausgerechnet Höcke, der sich immer so gerne konstruktiv einbringen möchte, will sich nicht konstruktiv in diese neu entstehende Nation einbringen, sondern er will sich trotzig in „gallische Dörfer“ auf dem Land zurückziehen, von wo nach Jahrhunderten unvermischte Deutsche zu einer „Rückeroberung“ aufbrechen sollen. Das ist schon ein ziemliches groteskes Bild. In der Praxis würde es wohl darauf hinauslaufen, dass diese zurückgezogenen Deutschen die ewigen Hinterwäldler bleiben und irgendwann aussterben.

Die Geschichte ist kein Wunschkonzert und sollte uns lehren, wie wertvoll die Kultur ist, die wir haben. Sie ist viel leichter zerstört als wieder aufgebaut. Angesichts des Wahnsinns in der Welt ist es überhaupt ein Wunder, wie die westlichen Nationen mit ihren humanistisch entwickelten Nationalkulturen, mit Rationalität, Wissenschaft, Demokratie und Marktwirtschaft, entstehen konnten.

Einzelthemen: Nationalsozialismus

Wir sahen bereits oben, dass sich Höcke Edgar Jung sehr verbunden sieht (S. 77), einem Denker der „Konservativen Revolution“, der mit Hitler über seinen Beitritt zur NSDAP verhandelte. Anders als die Nationalsozialisten lehnte Jung den Rassegedanken ab, weil er auf den Gedanken des Volkstums setzte. Er war zudem undemokratisch und antisemitisch. Man mag Edgar Jung mit einiger Spitzfindigkeit nicht für einen Nationalsozialisten halten, ein Rechtsradikaler war er jedoch in jedem Fall. Wie gesagt, unterbleibt eine genau Diskussion des Verhältnisses von Höcke zu Jung.

Das ganze Buch hindurch kommt es zu einem name-dropping von mehr oder weniger „rechten“ Autoren, so z.B. Carl Schmitt (S. 274, 287), Alain Finkielkraut (S. 201), David Engels (S. 203), Wolfgang Caspart (S. 105), oder eben Edgar Jung (S. 28, 77). Das allein kann aber kein Vorwurf sein. Schon seltsamer ist, dass Höcke vom Faschismus sagt, dass er „eine geschichtlich und räumlich begrenzte Erscheinung gewesen“ sei und „heute in Deutschland nur als bizarrer Fremdkörper existieren“ könne (S. 141). Man beachte, dass es um Faschismus geht, nicht um Nationalsozialismus. Man beachte auch, dass der Faschismus für Höcke „heute“ ein Fremdkörper wäre – damals nicht?

Eine direkte Kritik des Nationalsozialismus wird nicht formuliert, wohl aber eine Kritik am „NS-Imperialismus, der eine Missachtung des Selbstbestimmungsrecht der Völker war und anstelle der nationalen Identitäten das Prinzip der Rasse favorisierte.“ (S. 283) Das ist aber nur eine Kritik an der Außenpolitik des Nationalsozialismus, nicht an dessen Innenpolitik. Und das Wort „favorisierte“ formuliert keine völlige Absage an den Rassegedanken. Außerdem ist auch das nationale oder völkische Prinzip von übel, wenn man es als oberstes Prinzip definiert. Die Nation ist sicher ein hohes Gut, aber es gibt doch noch ein paar Dinge, die noch wichtiger sind. Bei Höcke ist die Nation oder das Volk aber immer oberstes Prinzip.

Für die Deutschen 1945 sieht Höcke einen „Vorsprung der Besiegten“ (S. 64). Damit meint er, dass die Besiegten genötigt sind, an sich zu arbeiten und dadurch aufsteigen, durch einen „Erkenntnisgewinn“, so Höcke – während die Sieger sich satt auf ihren Lorbeeren ausruhen und deshalb abfallen. Doch ist das wirklich die Situation von 1945? Damals war Deutschland nicht nur ökonomisch und militärisch besiegt, sondern insbesondere auch moralisch. Der Erkenntnisgewinn der Deutschen war praktisch gleich null, denn wie Helmut Schmidt treffend formulierte, wusste er auch schon vor dem Nationalsozialismus, dass man nicht töten soll. An dieser Stelle wird implizit deutlich, dass Höcke den Charakter der Niederlage von 1945 nicht verstanden hat. Es hat zwar der Stärkere den Schwächeren besiegt, ja, aber das ist nicht der Punkt.

Ebenfalls höchst peinlich ist Höckes Aussage, dass der Nationalstaat „in Preußen und Österreich“ vorbildlich funktioniert habe (S. 259). In Preußen ja. Aber in Österreich? Ganz gewiss nicht! Österreich zerfiel an der Herausbildung der Nationalstaaten und blockierte sie, solange es ging, was ein Grundübel dieser Zeit war. Wie kommt Höcke dazu, so etwas zu sagen? Man kann eine Absicht erkennen, wenn man sich ansieht, dass Höcke hier von Preußen und Österreich als „den beiden deutschen Hauptmächten“ spricht. Es geht ihm also um Deutschland. Und da gehört Österreich für ihn offenbar dazu. Um Österreich in diese Aussage mit aufnehmen zu können, begeht Höcke sogar die historische Unwahrheit, dass der Nationalstaat in Österreich gut funktioniert hätte. – Höcke hätte besser daran getan zu sagen: Mit Preußen war der Nationalstaat in Deutschland erfolgreich. Punkt. Und wenn überhaupt, dann hätte er dies hinzufügen sollen: Österreich gehört seit dem Zeitalter der Nationalstaaten nicht mehr zu Deutschland, wird nie mehr dazu gehören, und war als Nationalstaat im 19. Jahrhundert auch nicht erfolgreich. Aber das war offensichtlich nicht das, was Höcke sagen wollte.

Wenn wir in einem Brainstorming in aller Kürze einige Vergleichspunkte von Höckes Ideenwelt mit dem Nationalsozialismus durchgehen, dann haben wir bis jetzt folgendes gefunden: Zunächst Edgar Jung, der völkisch, antidemokratisch und antisemitisch ist. Einen höheren Wert als die Nation nennt Höcke nicht. Biologistisches Denken wird zwar in die zweite Reihe verbannt, jedoch nicht völlig abgelehnt. Der Humanismus von Höcke ist rein romantisch-gefühlig, keinesfalls vernünftig und aufgeklärt zu verstehen. Höcke will eine post-kapitalistische Wirtschaftsordnung, ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen. Was sich wie nationaler Sozialismus anhört, nennt er Sozialpatriotismus. Gegen anti-humanistische Strömungen im Islam möchte Höcke keine Einwände erheben und sie „achten“. Nietzsche und die Romantik sind für Höcke sehr wichtig. Und eine Volkskirche soll errichtet werden, die ein wenig an das „positive Christentum“ aus Hitlers Parteiprogramm erinnert.

Und an dieser Stelle erhebt sich die Frage, wie der Titel des Buches eigentlich zu verstehen ist: „Nie zweimal in denselben Fluss“. Höcke beschreibt, wie er von seinem Vater lernte, „dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne, und es also ein unmögliches Unterfangen darstelle, vergangene Zustände zu wiederholen“ (S. 24). Wenn wir diesem Gedanken die Aussage Höckes gegenüberstellen, dass der Faschismus „heute“ ein bizarrer Fremdkörper wäre, drängt sich einem der Gedanke auf, dass der Buchtitel wohl sagen soll: Wir sind dieselben von damals, und wir wollen im Grundsatz dasselbe wie damals, aber unter den veränderten historischen Umständen kommen wir mit denselben Grundsätzen zu anderen Schlussfolgerungen und zu einer anderen Politik. Nie zweimal in denselben Fluss eben.

Einzelthema: Preußen

Immer wieder und wieder rekurriert Höcke auf Preußen als ein großes Vorbild. Es sind mindestens fünfzehn Stellen. An einer Stelle des Buches ist von der „Re-Preußifizierung“ Deutschlands die Rede: Für Höcke soll zwar nicht nur aber eben auch der Geist Preußens eine besondere Rolle bei der Rekonstruktion Deutschlands spielen (S. 288). Doch Höcke zeichnet ein höchst einseitiges Bild von Preußen: Bei Höcke geht es vor allem um Härte, Entbehrung und Pflichterfüllung, oder um den Staatsapparat, die Armee und das Bildungswesen (z.B. S. 36, 213, 287-290). Friedrich der Große wird mehrfach dazu herangezogen, um Positionen Höckes zu legitimieren, so z.B. seinen Agnostizismus (S. 50) oder seine Polemik gegen das Links-Rechts-Schema (S. 136). Wobei Friedrich der Große eigentlich kein Agnostiker war, sondern ein philosophischer Theist, aber das nur am Rande.

Völlig ungesagt bleibt, dass Friedrich der Große die Aufklärung in Deutschland maßgeblich vorantrieb, und dass der preußische Philosoph Immanuel Kant den kritischen Rationalismus etablierte. Auch von Wilhelm und Alexander von Humboldt hören wir bei Höcke nichts. Insbesondere hören wir auch nichts zu der glücklichen Rezeption der griechisch-römischen Antike in jener Zeit, ganz im Sinne Goethes. Preußen war eben Klassik und keine Romantik, also das Gegenteil dessen, was Höcke bevorzugt.

Dass Preußen „die Vernunft und das klassische Maß“ repräsentiert, weiß und sagt Höcke auch an einer Stelle (S. 75). Wie das mit seinem Hang zur Romantik zusammenpasst, sagt er jedoch nicht. Schlimmer noch: An genau dieser Stelle wurde die Frage nach der Irrationalität Nietzsches und der Deutschen insgesamt aufgeworfen, und Höcke nennt die Klassik und Preußen als Beispiele, dass die Deutschen doch sehr vernünftig seien – doch Klassik und Preußen sind nur dann ein Gegenmittel gegen Irrationalität und Romantik, wenn man sie der Irrationalität und der Romantik als das Bessere gegenüberstellt! Aber genau das tut Höcke hier nicht. Höcke missbraucht vielmehr die Klassik und Preußen an dieser Stelle, um Bedenken gegen Irrationalität und Romantik zu zerstreuen, indem er von der Existenz irrationaler Strömungen wie der Romantik ablenkt und auf die Klassik und Preußen verweist, wie wenn es Nietzsches Irrationalität und die Romantik nicht gäbe! – Gegen Ende des Buches strebt Höcke eine Synthese des Geistes von Potsdam mit dem Geist von Weimar an (S. 290). Auch diese Forderung bleibt völlig oberflächlich, da unklar bleibt, wie sie mit den Tiefenschichten von Höckes Denken zusammengeht.

Höcke stellt auch die bekannte preußische Toleranzformel, dass jeder nach seiner Façon selig werden soll, auf den Kopf. Er wendet sie nämlich auf traditionalistische und islamistische Formen des Islams an, die wir „achten“ sollten (S.197). Wie wir oben schon sahen, können wir dies nicht, wenn wir unsere eigenen Werte ernst nehmen. Wir können verschiedene Anschauungen nur insoweit tolerieren, insoweit sie humanistischen Maßstäben genügen, also z.B. ein Islam im Sinne der islamischen Humanisten, die es ja gibt. Dass Höcke die preußische Toleranzformel zitiert, um Respekt vor antihumanistischen Vorstellungen einzufordern, ist sehr unpreußisch. Damit werden auch andere Erwähnungen der preußischen Toleranz in diesem Buch fragwürdig, weil man nicht stillschweigend voraussetzen kann, dass Höcke auf dem Boden des preußischen Humanismus steht (S. 31, 32, 288).

An einer Stelle wird deutlich, welche Rolle Preußen für Höcke tatsächlich spielt. Auf die Frage, ob man denn anstelle des „harten“ Nationalsozialismus nicht eine „weiche“ Variante von Faschismus propagieren sollte, zieht Höcke die Parallele zur faschistischen Casa-Pound-Bewegung in Italien, die dort seit 2003 als „soziale Bewegung“ für die Propagierung des Faschismus agiert, und sagt: „Eine ‚Casa Pound-Bewegung‘ … brauchen wir Deutschen aber nicht: wir haben Preußen als positives Leitbild.“ (S. 142)

Damit ist klar: Für Höcke spielt Preußen die Rolle eines ideologischen Bahnbrechers. Höcke rekurriert auf Preußen, weil er darin ein ideales Vehikel sieht, um seine Ideen zu transportieren. Darum geht es. Etwas schärfer formuliert, könnte man die Frage stellen, ob Höcke Preußen nicht einfach als „unverbrannten“ Platzhalter nach vorne schiebt, weil man den Faschismus heute in Deutschland in keiner Form mehr propagieren kann? Im Grunde würde es sich dann wie mit der Reichskriegsflagge der kaiserlichen Marine verhalten: Ursprünglich war die Reichskriegsflagge überhaupt nicht rechtsradikal konnotiert, doch da man die faschistischen Symbole nicht mehr zeigen konnte, suchten sich die Neonazis Ausweichsymbole, und so verfiel man auf die Reichskriegsflagge.

Für Höcke geht es bei Preußen nicht um Preußen, soviel scheint klar. Preußen ist für Höcke nur eine Chiffre, die er benutzt und nach eigenem Gutdünken mit Bedeutung auflädt. Das wird einerseits daran deutlich, dass Höcke eher ein Freund von Nietzsche und der Romantik als der Klassik und Preußens ist. Es wird daran deutlich, was Höcke in Preußen sieht und was nicht (s.o.). Und es wird daran deutlich, dass Höcke an keiner Stelle sagt, dass er Preußen als Bundesland wiederherstellen möchte. Denn das wäre das naheliegendste für jeden Preußenfreund. Doch dazu kein Ton. Es wäre auch verwunderlich. Das reale Preußen würde Höcke gar nicht in den Kram passen. Das reale Preußen wäre keine Chiffre mehr, die man nach Belieben aufladen kann. Zudem wendet sich Höckes Freund Gauland vehement gegen die Wiederherstellung Preußens. Gauland hätte es lieber gesehen, wenn Österreich und nicht Preußen die deutsche Einheit hergestellt hätte. Auch Höckes spiritus rector Götz Kubitschek scheint in dieser Frage Gauland nahe zu stehen. Wir erinnern hier noch einmal an die oben besprochene Aussage Höckes, dass der Nationalstaat „in Preußen und Österreich“ vorbildlich funktioniert habe (S. 259). Kein Preußenfreund würde so einen Unsinn verzapfen.

Höcke missbraucht Preußen, und dieser Missbrauch Preußens wird auch durch den folgenden Umstand sehr deutlich: Wie gesehen, will man Deutschland re-preußifizieren. Doch kein Mensch, der Deutschland verstanden hat, wird Deutschland re-preußifizieren wollen! Denn Deutschland ist in Länder gegliedert, und jedes Land hat seine ganz eigenen Traditionen. Die Bayern würden sich über eine Re-Preußifizierung schön beklagen! Schon Kaiser Wilhelm II. echauffierte sich über die Nationalsozialisten, weil sie nicht begreifen wollten, dass man Deutschland nicht als zentralen Einheitsstaat regieren kann. Was man re-preußifizieren müsste, wäre natürlich Preußen selbst, als ganz normales Bundesland, bestehend aus den Gebieten, die in der ehemaligen DDR liegen – aber genau das kommt bei Höcke nicht vor. Wo Höcke von Preußen spricht, spricht er immer nur von ganz Deutschland, nie von Preußen. Niemand, dem es um Preußen ginge, würde das tun.

Über dieses Buch hinaus

Björn Höcke hat immer wieder durch Reden auf sich aufmerksam gemacht, bei denen er beinahe etwas sagte, es dann aber doch nicht ganz sagte – aber irgendwie doch recht auffällig in eine bestimmte Richtung tendierte. Am Anfang waren es die 1000 Jahre. Für sich allein genommen völlig unauffällig. Dann folgte 2015 eine Rede, in der Afrikanern aufgrund der Evolution ein anderes Fortpflanzungsverhalten unterstellt wurde. Evolution konnte man allerdings auch sozial verstehen, und die Forderung nach einer Veränderung der Politik in Afrika unterstrich, dass es nicht genetisch gemeint war. In seiner sehr bekannt gewordenen Dresdner Rede 2017 sprach Höcke vom Holocaust-Denkmal doppeldeutig als dem „Denkmal der Schande“, und forderte eine 180-Grad-Wende der Vergangenheitspolitik. Im Jahr 2020 wollte Höcke dann unliebsame Parteifreunde aus der AfD „ausschwitzen“. Und 2021 schloss Höcke dann eine Rede mit dem SA-Wahlspruch „Alles für Deutschland“. Jeder einzelne Fall ist für sich allein genommen harmlos oder könnte auch als Versehen oder Doppeldeutigkeit gedeutet werden. In der Serie wird dann aber doch recht deutlich, wohin die Reise geht. Die Methode wird natürlich erst nach einer Reihe von Vorfällen durchschaubar.

An einigen Stellen des Buches verteidigt sich Höcke gegen diverse Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden. Doch leider nicht erfolgreich. Nicht Höcke, sondern der Interviewer wiegelt Vorwürfe mit der rhetorischen Frage ab: „Wer ist wirklich schon einmal einem echten Nazi begegnet?“ (S. 90) Das ist nun wirklich keine valide Verteidigung. Seine Dresdner Rede versucht Höcke dadurch zu verteidigen, dass er seine 180-Grad-Wende in der Gedenkkultur nicht wörtlich gemeint habe (S. 66 f.). Doch dass eine 180-Grad-Wende eine Wende ins Gegenteil ist, ist allgemein bekannt. Auch die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Denkmal der Schande“ unterschlägt Höcke (S. 68). Höcke betreibt die Verteidigung des Einzelfalls, unterschlägt aber, dass es eine Serie von Einzelfällen ist, die eine Absicht erkennbar werden lässt.

Höcke versucht auch immer wieder, das politische Links-Rechts-Schema auszuhebeln (S. 136, 138, 143 ff., 146 ff.). Mit dieser Technik laviert er sich regelmäßig um die Frage nach seiner Radikalität herum, die ihm auch in diesem Buch gestellt wurde, und vermeidet auch sonst jede Festlegung. Richtig ist allerdings, dass der historische Nationalsozialismus auch nicht einseitig für links oder rechts erklärt werden kann. Er hatte Aspekte von beidem. Aber Höcke wird doch nicht dem historischen Nationalsozialismus nacheifern wollen?

Höcke betont das ganze Buch über seine Verbundenheit zur Pegida-Bewegung (S. 110 f., 113, 210, 233 f., 238). Pegida machte am Anfang mit höchst legitimen Forderungen auf sich aufmerksam, entpuppte sich dann aber als eindeutig zu rechts. Frauke Petry war damals zu einem Gespräch mit den Pegida-Organisatoren gegangen und von dort ernüchtert zurück gekommen. Höcke ist Pegida treu geblieben. – Von Höckes Verbindung zu Götz Kubitschek ist im ganzen Buch nicht die Rede. Kubitschek wird nur einmal beiläufig zitiert (S. 93). Wie so oft, ist auch hier das Schweigen Höckes bezeichnend.

Manche versuchen ein gutes Bild der AfD zu retten, in dem sie Björn Höcke als Einzelfall darstellen. Höcke sei zwar schlimm, die AfD aber im ganzen in Ordnung. Doch Björn Höcke ist nicht irgendwer in der AfD, er ist nicht nur der Platzhirsch in Thüringen. Höcke ist einerseits die beherrschende Figur im sogenannten „Flügel“, einer informellen (und angeblich aufgelösten) innerparteilichen Sammlungsbewegung des rechten Flügels in der AfD. Andererseits nennt Alexander Gauland Björn Höcke immer wieder „seinen Freund“. Und nicht zuletzt ist Höcke eng verbunden mit Götz Kubitschek, den rechten Vordenker, der von Schnellroda die Strippen zieht. An diesen drei, am Flügel, an Alexander Gauland und an Götz Kubitschek kommt in der AfD heute niemand mehr vorbei, und damit nicht an Björn Höcke.

Aufruf zur Selbsterkenntnis

Der ideologische Hauptgegner von Björn Höcke und der AfD sind angeblich die Grünen. Deshalb mag es erkenntnisfördernd sein, darauf aufmerksam zu machen, dass die Grünen und die AfD bzw. Björn Höcke sich ähnlicher sind, als beide Seiten wahrhaben wollen. Sie sind perfekte Spiegelbilder und teilweise sogar auf gleicher Linie.

  • Die Grünen mögen die Rationalität nicht. Sie setzen lieber auf Emotionen. Aber das finden wir auch bei Höcke wieder: Romantik und Nietzsches Irrationalität liegen Höcke mehr als die Klassik und die Rationalität Preußens.
  • Höckes Lieblingsphilosoph Nietzsche ist über das Zwischenglied der Postmoderne der große Vordenker des heutigen Wokismus. Es klingt in der Tat sehr woke, wenn Höcke eine gewisse „Wirklichkeitsverachtung“ fordert (S. 61). Man fühlt sich an Robert Habeck erinnert, der sich „von Wirklichkeit umzingelt“ sieht.
  • Sowohl Grüne als auch Rechtsradikale wollen keine Integration von Ausländern. Die Grünen wollen es nicht, weil sie auf Multikulti bzw. „Vielfalt“ setzen, und jede Anpassung von Zuwanderern als Zumutung betrachten. Deshalb sprechen die Grünen heute oft auch von „Inklusion“ statt von „Integration“: Teilhabe ohne jede Anpassung. Die Rechtsradikalen wollen keine Integration, weil sie nur die beiden Extreme Assimilation oder Abschiebung kennen.
  • Beim Islam wollen die Grünen und Höcke von Reformen nichts wissen. Wir Deutschen müssten das Fremde achten wie es ist, lautet die Forderung von beiden. Islamkritik, und sei sie noch so konstruktiv, gilt beiden ein Zeichen mangelnden Respekts vor dem „Fremden“. Islamreformer sind für die Grünen wie für Höcke böse Menschen, die den Islam „verwestlichen“ wollen.
  • Die Grünen und Höcke möchten ansonsten mit dem Islam einfach nichts zu tun haben. Der Unterschied ist lediglich dies: Während Höcke den Islam komplett aus Deutschland verbannen möchte, möchten die Grünen den Islam in eine Parallelgesellschaft in Deutschland verbannen. Alles „Fremde“, was Grüne an einem unreformierten Islam tolerieren möchten, würden sie in ihrem eigenen Umfeld niemals dulden. Und so kommt es, dass es dort, wo die typischen Grün-Wähler wohnen, nur wenig Muslime und keine Moscheen gibt.
  • Die Grünen und Höcke träumen beide von einer Absage an Kapitalismus und Konsum. Beide wollen dazu den starken Staat. Höcke spricht davon, „die Bescheidung im Materiellen“ mit „der Vertiefung des Immateriellen“ zu kompensieren (S. 271). Ein Grüner hätte es nicht besser sagen können.
  • Mit Heidegger ist Höcke gegen „Technikgläubigkeit“ und tritt für die Bewahrung der Natur ein (S. 79). Grüner als grün geht nicht.
  • Und so, wie die Grünen ihre „große Transformation“ der Gesellschaft mit jener unbelehrbaren Rücksichtslosigkeit vorantreiben, die schon immer einer der schlechtesten Charakterzüge des deutschen Wesens war, und so, wie auch Angela Merkel ihre Migrationspolitik auf einem CDU-Parteitag am 14.12.2015 rücksichtslos mit den Worten vorantrieb: „Wie kann sie sagen, wir schaffen das? Und ich antworte Ihnen, ich kann das sagen, weil es zur Identität unseres Landes gehört, Größtes zu leisten“, so kokettiert auch Höcke mit diesem schlechten deutschen Charakterzug, „keine halben Sachen“ zu machen (S. 258; vgl. auch S. 215), statt die deutsche Kultur zu mehr Rationalität und Skepsis zu entwickeln: Denn das ist es, was jemand tun müsste, der Deutschland und die deutsche Kultur liebt.

Folgende Ratschläge können dem Leser dieser Rezension zur Überwindung der Irrtümer gegeben werden:

  • Rationalität und Klassik müssen den unbedingten Vorrang vor Romantik und Irrationalität haben. Romantik und Phantasie sind erlaubt und nützlich, aber nur, wenn sie von Rationalität eingehegt stattfinden.
  • Der heilsame Einfluss der griechisch-römischen Antike auf unsere Kultur, mithin der klassische Humanismus, ist vollauf anzuerkennen, noch vor dem Einfluss des Christentums oder irgendeiner anderen traditionellen Religion oder Philosophie.
  • Es muss belletristische Literatur gelesen werden! Nicht nur Philosophen und Politiker. Und wenn Philosophen, dann auch antike Autoren, nicht nur moderne.

Dann wird man wie von selbst auf die richtigen Schlüsse kommen:

  • Nationalismus, Rassismus, Sozialismus, Faschismus, Nationalsozialismus: Alles nur Mist.
  • Antikapitalismus und Antiamerikanismus sind olle Kamellen von anno ’68, die abzulegen sind.
  • Die westlichen Werte sind wertvoll und universal und keinesfalls mit Multikulti und Wokismus zu verwechseln.
  • Deutschland wird am ehesten durch Preußen definiert. Weniger durch Sachsen oder Bayern. Und gar nicht durch Österreich. Österreich ist eine eigenständige Nation geworden, die nicht mehr zu Deutschland gehört. Genau wie die Schweiz auch.
  • usw. usf.

Großes Fazit

Kehren wir am Ende dieser Besprechung an den Anfang des Buches zurück, zur Kindheit Björn Höckes (S. 41 f.). Wir lesen, dass Björn Höcke „kein Bücherwurm“ war, „und wenn dann nur sehr unfreiwillig Stubenhocker.“ Er bevorzugte es, in einem Kleinkrieg von Kinderbanden den Bandenführer zu spielen. Er „verbrachte viele Stunden … im Kampf“ und als „Draufgänger“, und wurde von der Kindergärtnerin zur Strafe in die Ecke geschickt. Sie hatte „den Lausbuben“ aber doch ins Herz geschlossen. Wir lesen außerdem immer wieder, dass Björn Höcke „anarchische“ Züge hatte: Autoritäre Verhältnisse waren ihm immer zuwider (S. 47). Auch über seine Zeit bei der Bundeswehr sagt Höcke: „Der Kommiß mit seiner Hierarchie lag mir nicht sehr.“ (S. 52). Und auch an Nietzsche faszinierte den jungen Höcke, „wie Nietzsche … alles gnadenlos hinterfragte: die Moral, die Tradition, die Philosophiegeschichte. In seinem Voluntarismus fand ich meinen eigenen Tatendrang und Optimismus wieder, ebenso die Verachtung gegenüber dem Erstarrten und Verkrusteten.“ (S. 57) Auch bei Schopenhauer ging es Höcke vor allem um den Widerstand gegen Autoritäten und um Kritik am Establishment (S. 76).

Es scheint, als seien wir hier ganz nah am wahren Wesen von Höcke: Höcke war nie ein Bücherwurm, nie ein Mensch der Ordnung, sondern ein Tunichtgut, ein Lausbub, voller anarchischem Tatendrang. Dieses Wesen seiner Kindheit scheint sich Höcke bewahrt zu haben, nur dass er es jetzt polit-philosophisch zu legitimieren weiß. Heute beschwört Höcke eben Nietzsche und die Romantik, und mit Ordnung und Hergebrachtem weiß er auch heute nicht viel anzufangen.

Zum Schluss ein Fehler: Dem Buch ist ein Sinnspruch von Theoderich dem Großen vorangestellt: „Es gilt der Heimat, auch wenn wir nur zu spielen scheinen.“ Im Original lautet dieses Zitat wie folgt: „Sit ergo pro re publica et cum ludere videmur.“ (Cassiodor Variae I 45) Es geht im Original also gar nicht um „Heimat“, was sehr romantisch klingt, sondern um die „res publica“, also um das „Gemeinwesen“ bzw. den „Staat“, was sehr klassisch und preußisch gedacht ist. Wenn der Grundirrtum schon in der Widmung zum Vorschein kommt, ist Umdenken ernstlich angezeigt!

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

Paul Veyne: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft (1983)

Glaubt Paul Veyne eigentlich an seine eigenen Mythen?! Postmoderne Hardcore-Ideologie statt lehrreicher Mythenforschung

Wer sich mit Deutung und Funktion von Mythen befasst, wird immer wieder über eine ganz bestimmte Literaturangabe stolpern: Paul Veyne, „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“. Der geneigte Leser erwartet bei einem solchen provokant-launigen Titel einerseits kundige Anleitung und Aufklärung über das schillernde Phänomen der Mythen und deren variationsreiche Wahrnehmung schon zu Zeit der alten Griechen, andererseits aber auch einen vergnüglichen und geistreichen Essay zum Thema, dessen Lektüre die reine Freude ist. Manche Literatur empfiehlt diese Schrift ganz in diesem Sinne, womit offenbar zugleich die Bildung und Gelehrsamkeit des Empfehlenden demonstriert werden soll.

Doch je weiter man in dieses Büchlein hineinliest, desto krasser die Enttäuschung des Lesers. Es handelt sich nicht um das erwartete lehrreiche Lesevergnügen, sondern – o Schreck! – um die Deklaration einer postmodernen, anti-rationalistischen und sogar anti-humanistischen Hardcore-Ideologie. Das eigentliche Thema des Buches, die Mythen der alten Griechen, dient offenbar lediglich als Kulisse zur Manifestation dieser Ideologie, und wird dieser brutal untergeordnet. Soviel Unsinn zur Antike wie hier hat man selten gelesen. Und dem philosophisch Gebildeten rollen sich sämtliche Fußnägel auf.

Daran, dass dieses Büchlein in den Literaturangaben zum Thema Mythologie immer wieder „mitgeschleift“ wird, obwohl praktisch kein Autor auf die eigentlichen Aussagen Veynes eingeht, kann man erkennen, dass die wenigsten es gelesen haben, und dass das Büchlein nur wegen seines schönen und interessanten Titels angeführt wird, und vielleicht deshalb, weil man dem Autor einen gewissen Ruf zubilligt, ohne Näheres über ihn zu wissen. Es scheint bislang nur recht kurz angebundene Rezensionen zu geben, die dieses Büchlein kritisch in den Blick nehmen. So z.B. die deutlich ablehnende Rezension von Simon Goldhill vom King’s College, Cambridge, in „The Classical Review“ von 1990. Es ist also Zeit für eine gründliche Besprechung.

Worin besteht die Ideologie von Paul Veyne?

Paul Veyne glaubt, dass die Menschen – schon immer, jetzt, und für alle Zukunft – in völlig willkürlichen Illusionen leben, die sich allein und ausschließlich der Einbildungskraft verdanken. Ob etwas Realität oder Fiktion sei, liege allein im Auge des Betrachters (S. 33 f.). Die „Wahrheit“ umschließe sowohl Mythos als auch Fiktion (S. 27). Der Glaube an „Alice im Wunderland“ beim Lesen dieses Buches wird gleichgesetzt mit dem Glauben an die Erkenntnisse der Physik (S. 34). Statt von Wahrheit spricht Veyne lieber von Wahrheitsprogrammen oder Wahrheitspalästen, die viel größer sind als die Gegensätze von Wahrheit und Irrtum, Vernunft und Mythos, Imagination und Wirklichkeit; obwohl sich die Wahrheiten der verschiedenen Wahrheitspaläste vielfach widersprechen, widersprechen sie sich doch nicht, denn in sich sei jeder von ihnen vernünftig und wahr (S. 105, 146 f.). So Paul Veyne.

Die Realität zählt bei der Feststellung von Wahrheit nicht. Mit Nietzsche sagt Paul Veyne: „Die Tatsachen existieren nicht“ (S. 52 f.), denn Tatsachen existieren nicht für sich allein, sondern müssen immer interpretiert werden. Die Wahrheit stamme nicht aus der Realität (S. 105). Paul Veyne meint, dass Husserl irre, wenn er Imaginäres und Erfahrung zu trennen versuche, denn das Imaginäre sei letztlich genauso wahr (S. 108). Zwar gäbe es tatsächlich eine materielle Wirklichkeit, so Veyne, doch diese werde immer interpretiert oder ignoriert (S. 129). Für ihn steht alles auf einer Stufe: Religiöser Glaube, ein Roman, oder die physikalischen Theorien Albert Einsteins; Empirismus sei eine Größe, die man vernachlässigen könne, meint Veyne (S. 140).

Auch die Vernunft sei ganz nutzlos und eine Illusion. Statt der Vernunft würden die Menschen von ihren Interessen geleitet. Alle Wahrheiten kämen von der Einbildungskraft her, nicht von der Vernunft (S. 35). Deshalb entschuldigt Veyne auch das interessegeleitete Lügen, und es sei ganz falsch, einen Gegensatz von Philosophie und Rhetorik zu sehen, denn auch die Philosophie folge weder der Vernunft noch der Wahrheit, sondern allein dem Interesse (S. 72). Das sei auch dann so, wenn wir uns über uns selbst täuschen und unsere eigenen interessegeleiteten Motive nicht erkennen würden (S. 72). Es würden auch niemals Argumente miteinander ringen, sondern immer nur verschiedene Wahrheitsprogramme. Es gäbe gar keine Vernunft, sondern nur Interessen (S. 102-104). Auch hinter den Mythen oder den Menschenrechten stünden nur Interessen bzw. „Kräfte“; das alles habe keine Wahrheit sondern sei rein geschichtlich, das Denken des Menschen gehorche dem Willen zur Macht, womit Veyne wieder bei Nietzsche ist (S. 110). Wahrheit sei zu nichts zu gebrauchen, sie entspräche nur unseren Vorlieben, sie sei nur ein Deckmantel für den Willen zur Macht (S. 153).

An manchen Stellen nennt Paul Veyne statt Interessen und Vorlieben plötzlich den Zufall als die Ursache unserer Wahrheitspaläste, ohne diesen Widerspruch aufzulösen. Der Prozess der Geschichte sei eine Abfolge von Zufällen und basiere nicht auf Vernunftgründen oder den Produktionsverhältnissen (S. 142 f.). Alle geschichtlichen Prozesse jenseits von Ökonomie und Ideologie, also Mythos, Kunst und Wissenschaft, könne man nur beschreiben, wenn man Rationalität und Wahrheit fallen lasse; und auch die Sozial- und Ökonomiegeschichte sei ohne Wahrheit und Vernunft (S. 143 f.). Alles sei irrational, es gäbe keinerlei Determinismus, die Geschichte ist eine zufällige Abfolge von Wahrheitspalästen, ohne Vernunft (S. 145 f.; 153 f.).

Diese Verhältnisse bezieht Paul Veyne immer auf „uns“, also auf alle Menschen. Alle Menschen würden diesen Gesetzen quasi willenlos unterliegen, ohne Ausnahme. Wir alle würden nur Interessen verfolgen, auch wenn wir uns selbst über unsere Motive täuschen würden (S. 72). Unser Geist tue es ohne Unterlass, das sei unser Alltagsleben (S. 105 f.). Unsere Wahrheitsprogramme veränderten sich ohne unser Wissen, der Mensch sei kein denkendes Schilfrohr im Wind (S. 141). Damit ist gemeint: Das Schilfrohr kann sich nur passiv im Wind neigen, und der Mensch wisse noch nicht einmal, dass er nur wie ein Schilfrohr sei. Veyne meint auch, dass es gar nicht unaufrichtig sei, verschiedene Wahrheitsprogramme im Kopf zu haben, die sich widersprechen, denn auch das würden wir alle so tun; unser Geist täte dies ohne Unterlass (S. 105 f.).

Warum das falsch ist, und wie es eigentlich ist

Diese Grundideologie von Paul Veyne ist natürlich extrem zynisch und sinnleer. Man muss sich das nur einmal vorstellen! Aber natürlich ist diese Grundideologie vor allem auch einfach nur falsch. Es beginnt damit, dass Paul Veyne die Empirie für vernachlässigbar hält. Das ist natürlich Unsinn. Die Erfahrung lehrt uns alle, dass diese Welt kein Wunschkonzert ist. Wenn wir uns nicht gemäß der Realität verhalten, dann werden wir hart mit der Realität zusammenstoßen. Die Empirie erkennt diese Realität, und die Vernunft ordnet die einzelnen Erkenntnisse, so dass wir uns orientieren können, um es einmal ganz einfach auszudrücken. Und nicht nur die Umwelt, sondern auch das Wesen des Menschen selbst ist teilweise vorgegeben. Realität ist nicht beliebig konstruierbar. Das „Ding an sich“ von Immanuel Kant ist zwar letztlich nicht erkennbar, aber es ist vernünftig anzunehmen, dass es doch existiert. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“, dichtete schon Friedrich Schiller im Wallenstein.

Natürlich ist es vernünftig anzunehmen, dass es eine Realität gibt, und damit auch eine echte Wahrheit. Und zwar genau eine in sich konsistente Wahrheit, und nicht zwei Wahrheiten, die sich widersprechen. Natürlich kennen wir alle die eine, echte Wahrheit nicht, und wir alle sind immerzu auf dem Weg, uns der Wahrheit anzunähern, und natürlich begehen wir dabei auch Irrtümer, die uns wieder von der Wahrheit entfernen, aber deshalb ist es noch lange nicht vernünftig, Vernunft und Wahrheit kurzerhand ganz fallenzulassen. Das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Ja, die Tatsachen existieren nicht „einfach“, sondern bedürfen der Interpretation, das ist schon richtig. Aber das ist kein Grund, die Existenz der Tatsachen selbst anzuzweifeln. Zudem: Würde es weder Vernunft noch die Annahme einer gemeinsamen, anstrebbaren Wahrheit geben, dann würde der Diskurs unter den Menschen unmöglich werden, der eine wesentliche Eigenschaft des Menschen und der menschlichen Gesellschaft ist. Veyne stellt hier die Menschlichkeit des Menschen infrage.

Natürlich wird menschliches Denken und Handeln vielfach durch Interessen und durch Zufall bestimmt, und natürlich ist das dem denkenden Menschen oft nicht bewusst – aber zu behaupten, dies sei immer und grundsätzlich so, ist entschieden zuviel behauptet. Es ist doch gerade die Bildung, die den Menschen über sein bloßes materielles Dasein hinaus erheben möchte. Es ist doch ein Kennzeichen von Bildung, sekundäre Motivationen wie Interessen und Vorlieben zu erkennen, und die Vernunft besser und richtiger zu benutzen. Bildung ist es, an sich selbst zu arbeiten und innere Widersprüche im eigenen Denken aufzudecken und auszuräumen. Doch Paul Veyne tut so, als seien alle Menschen nur ungebildete, bornierte Kleinbürger. Aber selbst diese sind noch reflektierter als Veyne es zugeben möchte, deshalb noch niedriger: Als seien alle Menschen – alle! – Menschen nicht viel besser als Tiere, die nur ihren Reflexen gehorchen. Wer nach Vernunft und Moral strebe, der täusche sich nur über seine wahren Motive, meint Veyne. Für Veyne ist der gute, nach Vernunft, Moral und Wahrheit strebende Mensch praktisch nur ein unaufgeklärter Idiot, über den er müde lächelt. Veyne untergräbt hier die Grundlagen von Bildung und Kultur, und rührt mit diesem Weltbild auch an die Grundfesten des Humanismus. Es ist einfach nur verantwortungslos und falsch.

Das zynische Geschichtsbild von Paul Veyne

Auf der Grundlage der dargestellten Ideologie ist dann auch das Geschichtsbild von Paul Veyne einfach nur zynisch und sinnlos zu nennen. Es gäbe keine Kausalität im Ablauf der Geschichte, sie sei unvorhersagbar, meint Veyne. Alle Versuche, den Lauf der Geschichte im Nachhinein zu erklären, seien unglaubwürdig, weil selektiv. Es sei geradezu verwunderlich, dass es so etwas wie geschichtliche Kontinuitäten gäbe. Man müsse jedes geschichtliche Ereignis als Einzelereignis für sich allein betrachten, und dann könne man auch keine Erklärung mehr dafür geben.(S. 49-54)

Geschichtsschreibung sei ein Mittel der Glaubensbildung, wie – so Veyne – der Journalismus auch (S. 15). Reporter würden nicht glaubwürdiger, wenn sie die Quellen ihrer Recherchen nennen würden, meint Veyne (S. 21). Was sei die geschriebene Geschichte? Es sei einfach die Politik von früher (S. 82). Wo die Moderne in der Geschichte ein Ringen um Aufklärung sieht, sieht Paul Veyne nur ein rationales Mäntelchen zur Fortsetzung des Wunderbaren (S. 62).

Das Ideal der Geschichtsschreibung des Historikers Paul Veyne besteht darin, den zufälligen Verlauf der Geschichte nachzuzeichnen. Es ginge darum zu beschreiben, was die Menschen sich jeweils als Wahrheitspalast errichtet hätten, und wie sie die materielle Realität selektiv wahrgenommen hätten (S. 150). Die Menschen könnten aus der Geschichte aber nichts lernen; eine reflexive Analyse führe nicht zu einer Annäherung an die Wahrheit, sondern nur zu einem anderen Wahrheitsprogramm (S. 150). Die Reflexion des Historikers ist somit nicht als ein Licht auf dem Weg zu verstehen, ein Blick zurück in die Geschichte würde in keiner Weise dabei helfen, den richtigen Weg zu finden (S. 153 f.). Die Wahrheit sei, dass die Wahrheit veränderlich sei, und das könne man ohne Selbstwiderspruch sagen, meint Paul Veyne (S. 141, 152). Die Aufgabe des Historikers sei es, Wahres über Wahrheitspaläste zu sagen (S. 152).

Man fragt sich natürlich, was eine solche Geschichtsschreibung noch für einen Sinn macht. Lernen soll man also nichts können aus der Geschichte. Soll der Geschichtsschreiber dann also mit einer Tinte schreiben, die sich sofort wieder selbst auslöscht, und nur leere Seiten bleiben, wie beim „Alten vom wandernden Berge“ in der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende? Oder soll man sich den Geschichtsschreiber wie Sisyphos vorstellen, als einen glücklichen Menschen mit sinnloser Aufgabe? Und der Gipfel ist ja, dass Paul Veyne für sich als „Geschichtsschreiber neuen Typs“ in Anspruch nimmt, er könne echte Wahrheiten über die Pseudo-Wahrheiten aller anderen aussagen, und dass das kein Widerspruch sei. Sein hilfloser Versuch, dies mit dem Dilemma „Alle Kreter lügen, sagte ein Kreter“ zu begründen, verfängt nicht beim gebildeten Leser, der den Unsinn von Paul Veyne an dieser Stelle schon längst nicht mehr mit gnädigen Augen liest. Er, Paul Veyne, stehe also irgendwie über den Dingen, und wenn er in diesem Buch ständig von „wir“ und „uns“ spricht, die wir alle ungebildet und dumm unseren tierischen Reflexen folgen, dann hat er sich selbst immer ausgenommen? Aha. Ist das jetzt das „Interesse“ und der „Wille zur Macht“ von Paul Veyne?

Falsche und zynische Darstellung der antiken Geschichtsschreibung

Nach einer langen, langen Einleitung kommen wir in dieser Rezension jetzt zum ersten Mal auf die Antike zu sprechen, um die es ja eigentlich gehen sollte, aber offensichtlich nicht geht. Noch vor den Mythen widmet sich Paul Veyne der antiken Geschichtsschreibung. Dreiviertel der Texte antiker Geschichtsschreiber gingen allein auf deren Einbildungskraft zurück, meint Veyne allen Ernstes (S. 124). Bei der antiken Geschichtsschreibung habe es sich um ein Mittel der Glaubensbildung gehandelt (S. 15). Das Wort „historia“ wird von Veyne als „Ermittlung“ im Sinne einer schlechten journalistischen Recherche gedeutet (S. 20).

Das kritische Denken, das wir bei Autoren wie Herodot sehr wohl finden, wird von Paul Veyne niedergemacht und schlechtgeredet, ohne Herodot beim Namen zu nennen (S. 18 f.). Die Aussage von Herodot, dass er sich verpflichtet fühle, die Dinge so wiederzugeben, wie er sie hörte, auch wenn er selbst nicht daran glaube, wird von Veyne nicht als ein Fortschritt von Vernunft und Kritik gefeiert, sondern als angebliches Eingeständnis, dass alles, was Herodot bis zu diesem Punkt berichtet habe, eine unkritische Wiedergabe der Quellen gewesen sei (S. 23). Paul Veyne hegt eine ganz grundsätzliche Skepsis gegen die guten Absichten von antiken Geschichtsschreibern (S. 101 f.).

Die Bitte Ciceros, dass man seine Taten propagandistisch aufwerten möge, ohne dabei allzusehr auf die Regeln der historischen Gattung zu achten, wertet Veyne als Hinweis auf die Verlogenheit der Zeit, übersieht aber völlig, dass in dieser Bitte die Aussage enthalten ist, dass die historische Gattung Regeln kennt (S. 24). Und die Kritik, die Cicero und Livius an den Überlieferungen der Frühzeit üben, sei in keiner Weise eine historische Kritik, meint Veyne (S. 67). Der Geschichtsschreiber, der die Genealogie der Könige von Arkadien niederschrieb, habe wie ein Romanautor gehandelt, glaubt Veyne zu wissen (S. 125).

Wir können uns dieser zynischen, schiefen und falschen Sichtweise auf die antike Geschichtsschreibung natürlich nicht anschließen. Es tut weh, diesen üblen und unfairen Rabulismus auf Autoren wie Herodot angewandt zu sehen.

Schief und falsch verwendete Begriffe senden unterschwellige Botschaften

Während der Lektüre fällt immer wieder auf, dass Paul Veyne bestimmte Worte nicht gemäß ihrer eigentlichen Bedeutung verwendet. Seine teils schiefe, teils falsche Verwendung von Begriffen ist nicht etwa bloße Ungeschicklichkeit, und auch kein abkürzendes, „faules“ Sprechen, wie es dem Leser beim Beginn seiner Lektüre noch erscheinen will, sondern offenbar ganz bewusst so gewählt, um den Leser dadurch zu manipulieren. Zum einen verschwimmen die verschiedenen Begriffe in ihrer Bedeutung, so dass die Klarheit der Bedeutung der Begriffe unterminiert wird. Auf diese Weise wird dem Leser Glauben gemacht, die Begriffe hätten keine hinreichend klare Bedeutung, so dass die Glaubwürdigkeit von Veynes vernunftwidrigen Thesen bei weniger gebildeten Lesern erhöht wird. Zum anderen werden durch die falsche Verwendung der Begriffe unterschwellige Botschaften transportiert. Wahres und Gutes erscheint als verlogen und schlecht, Schlechtes und Verlogenes als gut und wahr, ganz wie es die Ideologie von Paul Veyne fordert. Und nein: Diese Phänomene verdanken sich nicht einer schlechten Übersetzung; sie sind auch im französischen Originaltext vorhanden.

So spricht Veyne z.B. gerne kurzerhand in absoluter Weise von „Wahrheit“, wo er besser von „damals geglaubter Wahrheit“ gesprochen hätte (S. 9 f., 105). Ob mit dem Wahrheitsbegriff die Realität oder eine Bedeutung im übertragenen Sinn gemeint ist, wird von Veyne ebenfalls nicht unterschieden (S. 32 f.). Mit Nietzsche sagt er kurzerhand: „Die Tatsachen existieren nicht“ (S. 52 f.). Aber um genau zu sein, hätte er besser davon gesprochen, dass sie nicht „einfach“ existieren, sondern – obwohl sie nämlich sehr wohl existieren – nicht ohne Interpretation zu haben sind. Vom Mythos meint Paul Veyne, dass er weder wahr noch falsch sei (S. 41). Aber das kann man so nicht sagen. Denn natürlich gibt es Mythen, die einfach nicht wahr sind, und dann gibt es wiederum Mythen, die einen beachtlichen wahren Kern haben. Aber Veyne interessiert das offenbar nicht. Dann meint Veyne, dass eine Lüge im Mythos solange nicht als Lüge gelte, solange der Erfinder der Lüge daraus keinen Vorteil ziehe (S. 41). Das ist eine sehr ungewöhnliche Definition von Lüge, die dem allgemeinen Verständnis von Lüge zuwiderläuft. Für gewöhnlich knüpft man das Wesen der Lüge an das Bewusstsein des Autors, ob er denn weiß, dass er lügt.

Völlig gegen das allgemeine Verständnis wird auch das Phänomen des Fälschers aufgefasst. Paul Veyne nennt auch das eine Fälschung, was ihr Autor völlig ernst meinte, und erst später als falsch erkannt wird (S. 126). Der Vorgang des Fälschens wird konsequent relativiert: Eigentlich sei doch jeder der Fälscher eines anderen Wahrheitsprogrammes, meint Veyne (S. 128). Der Fälscher sei gewissermaßen ein Fisch im falschen Gefäß (S. 130), und überhaupt seien die Grenzen zwischen Information und Unterhaltung reine Konvention (S. 125). Man könne einfach nicht zwischen dem Imaginären und dem Wirklichen unterscheiden, das ginge gar nicht, meint Veyne (S. 124). Paul Veyne vermeidet konsequent, den zentralen Gedanken des Fälschens auszusprechen: Dass sich ein Fälscher nämlich bewusst sein muss, dass er eine Unwahrheit produziert. Dass es so etwas überhaupt geben könnte, dass jemand bewusst fälscht und deshalb mit Recht ein Fälscher genannt wird, und dass jemand, der nicht bewusst fälscht, auch nicht Fälscher genannt zu werden verdient, egal wie falsch seine Worte auch immer sein mögen, diese Idee wird bei Paul Veyne konsequent ausgeblendet, sie existiert gar nicht. Für Paul Veyne sind Fälscher und Lügner Menschen, die die Wahrheit sprechen, nur in einem anderen Bezugssystem. Was für ein Unsinn.

Für einen Historiker wie Paul Veyne besonders bezeichnend ist die ständig wiederholte Verwendung des Wortes „Geschichte“, wo man besser von „Geschichtsschreibung“ gesprochen hätte (z.B. S. 15, 125 f.). Dahinter steckt natürlich seine Idee, dass es keine echte Wirklichkeit gibt, sondern nur Wahrheitspaläste, die mit einer empirischen Realität nicht das Geringste zu tun haben. Das allgemeine Verständnis des Wortes „Geschichte“ als dem, was wirklich passiert ist, wird deshalb von Veyne mit der Bedeutung des Wortes „Geschichtsschreibung“ überschrieben, also dem, was die Leute glauben, dass angeblich passiert sei. – Auch die Vernunft erleidet bei Paul Veyne dieses Schicksal: Überall dort, wo er eigentlich von einer „Rationalisierung“ sprechen müsste, nämlich einer rationalisierenden Deutung von Mythen, spricht Veyne konsequent von „Rationalismus“ (z.B. S. 84, 134). Nun ist aber nicht jede rationalisierende Deutung von Mythen auch rational(istisch). Im Gegenteil, oft ist eine rationalisierende Deutung von Mythen falsch und irrational. Aber für Paul Veyne gibt es ja keinen echten Rationalismus, und so spricht er kurzerhand von „Rationalismus“, wo er Rationalisierung meint. Dadurch wird die Rationalität, die Vernunft selbst, der Lächerlichkeit preisgegeben, und von ihrer eigentlichen Bedeutung entfremdet.

Ähnliches geschieht auch, wo Paul Veyne von den „verantwortungsbewussten“ Leuten spricht, die im Glauben an die vermeintlich gute Sache mit der Wahrheit nicht pingelig sind (S. 98). Natürlich sind Menschen, die es mit der Wahrheit nicht genau nehmen, alles andere als „verantwortungsbewusst“. Solche Leute halten sich vielleicht selbst für verantwortungsbewusst und sie stellen sich vielleicht selbst als verantwortungsbewusst heraus (man vergleiche den Unbegriff des „Gutmenschen“), aber sie sind natürlich nicht wirklich verantwortungsbewusst. Paul Veyne hätte das Wort „verantwortungsbewusst“ an dieser Stelle in Anführungszeichen setzen müssen, um Ironie deutlich zu machen. Aber er hat es nicht getan. Denn für ihn ist es keine Ironie. Für ihn ist es ernst. – Und schließlich wird so auch der Begriff des „Patriotismus“ unterminiert. Paul Veyne verwendet das Wort „Patriotismus“ konsequent im Sinne von „Nationalismus“ (S. 100, 151). Auf diese Weise wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen einem Menschen, der sein Land liebt, und einem hässlichen Nationalisten. Für Paul Veyne ist das offenbar dasselbe. Wie primitiv.

Die Gefährlichkeit der Ideologie von Paul Veyne

Der gebildete Leser hat natürlich längst erkannt, wie gefährlich die Ideologie von Paul Veyne ist. In ihr ist das Potential zu jedem beliebigen Unsinn und damit zu jedem beliebigen Verbrechen angelegt. Wir sind jedoch nicht darauf angewiesen, solche Auswüchse lediglich theoretisch zu schlussfolgern, nein, Paul Veyne präsentiert uns noch in demselben Büchlein mehrere bedauerliche Anwendungsfälle seiner Ideologie, wo es richtig gefährlich wird.

Zunächst steht die Ideologie von Paul Veyne jeder Form von Wissenschaft diametral entgegen. Wenn es keine Annäherung an die Wahrheit geben kann, keinen Rückbezug zur Empirie, und alles nur frei schwebende Illusion ist, dann kann es auch keine Wissenschaft geben. So meint Paul Veyne denn auch konsequenterweise, dass religiöser Glaube, ein Roman, oder die physikalischen Theorien Albert Einsteins auf einer Stufe stünden (S. 140). Die Erfindung des Mikroskops durch Leeuwenhoek und die dadurch möglich gewordene Entdeckung der Mikroben seien nach Meinung von Paul Veyne außer zur Konversation zu nichts gut gewesen (Fußnote 215). So spannt er auch das naturwissenschaftliche Prinzip der Auffindung immer besserer Erkenntnisse in das Prokrustes-Bett seiner Ideologie und spricht auch hier von der „wissenschaftlichen Wahrheit, die dauernd provisorisch ist“, obwohl das Wort „Wahrheit“ hier natürlich nicht hingehört, das ist der springende Punkt, und er spricht vom „Mythos der Wissenschaft“ (S. 138). An einer Stelle verteidigt Veyne auch eine rhetorisch interessegeleitete Lüge von Galen (S. 72), und wie gesehen gibt es für Paul Veyne eigentlich keine Fälscher. Letztlich stellt Paul Veyne damit auch seine eigene Profession infrage, denn wie will er unter diesen Voraussetzungen Geschichtsschreibung als Wissenschaft betreiben?

Zum Nationalsozialismus finden wir bei Paul Veyne besonders unappetitliche Aussagen. Auch der Nationalsozialismus war nach Meinung von Paul Veyne eine „Erfindung“ aus heiterem Himmel, und lasse sich nicht auf auf wesentliche Gründe und Ursachen zurückführen, sondern sei in keiner Weise vorhersagbar gewesen (S. 52), woran kleine Kausalitäten nichts ändern, die Paul Veyne immerhin doch sieht. Ganz so aus heiterem Himmel wurde der Nationalsozialismus dann aber wohl doch nicht „erfunden“, wie Veyne meint, auch wenn eine starke Kausalität ebenfalls eine Übertreibung wäre. Da Veyne die Empirie für vernachlässigbar hält, kommt er konsequent zu der Ansicht, dass allein das Interesse, nicht an Auschwitz glauben zu wollen, genüge, um alle Zeugnisse über Auschwitz unglaubwürdig werden zu lassen (Fußnote 8). Folgerichtig wird dann der Holocaustleugner Faurisson nicht als Fälscher gedeutet – wir sahen oben schon, dass es für Veyne gar keine Fälscher im eigentlichen Sinne gibt – sondern als Mythenmacher (!), dessen Fehler allein darin bestand, zu argumentieren, und eben nicht, wie es ein guter Mythenmacher im Sinne von Paul Veyne hätte tun sollen, einfach apodiktische Behauptungen zu verbreiten (S. 127 f.). Paul Veyne findet es zudem angebracht, einen dummen Witz über den Holocaustleugner Faurisson zu reißen: Auch der Fälscher selbst sei eine Fälschung gewesen, denn es gäbe gar keine Holocaustleugner, wenn man nur aufhören würde, an die Existenz solcher mythischen Wesen zu glauben (S. 126 f.). Aber da müssen wir mit Bertrand Russell kontern: Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört daran zu glauben. Schließlich witzelt Veyne auch noch dumm über das Thema Verantwortung herum: Verantwortungslosigkeit sei ja sooo schlimm, und deshalb „sicherlich“ auch falsch; Diodor könne das bestätigen, meint er nur sarkastisch-ironisch (S. 142). Mit anderen Worten: Das ganze Geschwätz von der Verantwortung ist genauso Unfug wie das Geschwätz über geschichtliche Wahrheit, denn beides gibt es für Veyne nicht. Gott sei Dank geht es darum ja gar nicht, meint Paul Veyne. Das ist nur logisch: Wo es keine Wahrheit gibt, kann es keine Verantwortung und auch keine Schuld geben. Wir müssen uns Paul Veyne als glücklichen Kollaborateur des Vichy-Regimes vorstellen – oder was sollte man von jemandem erwarten, der Wahrheit und Vernunft beiseite wischt und statt dessen vom „Willen zur Macht“ spricht?

Wir sahen oben schon, dass die Ideologie von Paul Veyne – horribile est dictu – ein Angriff auf den Humanismus ist. Wenn es keine Wahrheit gibt und die Empirie vernachlässigbar ist, dann kann der Mensch auch nichts lernen, und es sind auch keine vernünftigen Diskurse unter den Menschen möglich. Auch Wissenschaft ist ohne Humanismus nicht möglich. Der Gedanke, dass es gerade die Bildung ist, die den Menschen über seine Abhängigkeiten, über seine Interessen und Vorlieben erhebt und zu einem selbstbestimmten, vernunftgeleiteten Menschen macht, fehlt bei Paul Veyne völlig. Für Veyne muss man gleich ein „Genie“ sein, um aus einem Wahrheitsprogramm, in dem man sich befindet, wieder herauszukommen (S. 141). Bloße Bildung reicht offenbar nicht bzw. existiert in Veynes Welt nicht. Es gibt natürlich auch keine Moral. Allein die moralische Grundfrage, was denn zu tun ist, sei schon verfehlt; nur der Anthropozentrismus glaube an eine Antwort auf diese Frage, so Veyne (S. 151). Die meisten Jahrhunderte hätten sich diese Frage zudem gar nicht gestellt, meint Veyne (S. 151). Wirklich? Da haben wir die Geschichte aber ganz anders verstanden. Veyne meint auch, dass es keine der Natur der Dinge einbeschriebene Struktur gäbe, die eine Moral begründen könnte: Auch Kritiken wie Entmystifizierung, Sprachkritik und Ideologiekritik seien nur Romane (S. 151). Vorstellungen von Sinn und Moral seien immer Fälschungen und als solche leicht erkennbar: Sie verströmen menschliche Wärme, und das sei per se schon falsch (S. 151). Wahrheit sei einfach zu nichts zu gebrauchen (S. 153). Im vorletzten Absatz des Buches schreibt Veyne: „der Mensch ist eben kein denkendes Schilfrohr. Habe ich deshalb dieses Buch auf dem Lande geschrieben? Ich beneidete die Tiere um ihre Gelassenheit.“ (S. 154) Das ist eine unmissverständliche Absage an den Humanismus, in Form der Bevorzugung des Nichtdenkens der Tiere.

Der ideologische Hintergrund

Paul Veyne kommt oft auf Nietzsche zu sprechen, erwähnt hin und wieder Max Weber, lobt den Rationalismus-Gegner Paul Feyerabend (Fußnote 166), und nennt einmal die Kontroverse zwischen Rationalismus und Irrationalismus, konkretisiert in der Auseinandersetzung von Habermas und Foucault (S. 143). Hier sind wir genau beim Punkt. Das postmoderne Denken von Michel Foucault ist die Quelle von Paul Veynes Ideologie. Es war Foucault, der statt Vernunft und Wahrheit Interessen und Machtverhältnisse ins Zentrum rückte. Es war Foucault, der Begriffe und Werte beliebig umdefinierte: Wahrheit gab es nicht mehr, Kranke galten nicht mehr als krank, Wahnsinnige nicht mehr als wahnsinnig, Kriminelle nicht mehr als kriminell. Und Foucault stützte sich auf den Nihilismus Nietzsches und dessen radikale Vernunftkritik.

Michel Foucault fand viele Anhänger, stieß aber auch auf heftige Kritik: Schon Sartre warf ihm vor, den Humanismus zu verwerfen und die Grundlagen des aufklärerischen Denkens infrage zu stellen. Foucault wurde vorgeworfen, unklare und konfuse Begriffe zu verwenden und selbstwidersprüchlich zu sein. Außerdem habe er historische Fakten unzuverlässig verwendet. Für den Historiker Hans-Ulrich Wehler war Michel Foucault „ein intellektuell unredlicher, empirisch absolut unzuverlässiger, kryptonormativistischer ‚Rattenfänger‘ für die Postmoderne“.

Auch das Denken von Michel Foucault hatte gefährliche Konsequenzen: So unterstützte bzw. verharmloste Michel Foucault sowohl die Errichtung eines totalitären Gottesstaates im Iran als auch die massenmörderische Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha.

Warum Paul Veyne seine eigene Ideologie nicht glaubt

Es gibt einige Stellen und Aspekte, wo deutlich wird, dass Paul Veyne offenbar nicht wirklich von seiner eigenen Ideologie überzeugt ist. Da ist zunächst der Umstand zu nennen, dass Paul Veyne dieses Büchlein geschrieben hat. Wozu, wenn es keine Wahrheit gibt, an die man sich annähern kann? Wozu, wenn argumentieren nicht hilft? Wozu, wenn man aus der Geschichte nichts lernen kann? Und wozu, wenn Veyne in seinem ganzen Wissenschaftsverständnis nicht ernst genommen werden kann? Im Grunde hat er ja gar kein Wissenschaftsverständnis, sondern das Gegenteil davon: Ein Verständnis, dass Wissenschaft unmöglich und sinnlos ist. – Und dennoch hat Paul Veyne dieses Büchlein geschrieben, das er als wissenschaftlicher Historiker geschrieben hat, und in dem er keine apodiktischen Mythen verbreitet sondern teilweise argumentiert. Wie sollen wir ihm da glauben, dass er an seine eigene Ideologie glaubt?!

Wir sahen schon eine Reihe von Beispielen, wo Paul Veyne selbstwidersprüchlich argumentiert. Aber vielleicht glaubt er ja wirklich an die Möglichkeit seiner Selbstwidersprüche. Interessant ist jedoch, dass er bei der Frage nach der Entstehung des Nationalsozialismus entgegen seiner vollmundigen Thesen, dass Geschichte sich rein zufällig ereigne, und dass der Nationalsozialismus gewissermaßen eine zufällige Erfindung der Geschichte sei, dennoch „kleine kausale Serien“ sehen will (S. 52). Wie das? Woher kommt jetzt diese kleine Kausalität?! So klein sie auch sein mag, ist es doch eine Kausalität. Hier ist Veyne nicht konsequent. – Nachdem Veyne zunächst erklärt hatte, dass die verschiedenen Wahrheitsprogramme sich gar nicht widersprechen könnten, weil es eben nicht um Wahrheit ginge, und ein Mensch auch völlig widerspruchsfrei mehrere sich gegenseitig (dann also wohl nur scheinbar?) widersprechende Wahrheitsprogramme zugleich im selben Kopf haben könne, erklärt Veyne, dass ein vernünftiges Ringen von Argumenten in Wahrheit ein Kampf verschiedener Wahrheitsprogramme miteinander sei (S. 92). Doch wie das, wenn sie sich gar nicht widersprechen? Können sich verschiedene Wahrheitsprogramme nun widersprechen oder nicht? Paul Veyne klärt dieses Rätsel an keiner Stelle auf.

Immer wieder stellt Paul Veyne in diesem Büchlein klare Behauptungen mit Wahrheitsanspruch auf, obwohl es doch seiner Auffassung nach gar keine Wahrheit geben kann. Besonders deutlich in seiner apodiktischen Aussage „Die Wahrheit ist einfacher: ….“ (S. 104, „La verité est plus simple“), die ausgerechnet inmitten einer Orgie von Aussagen getätigt wird, dass es keine Wahrheit gäbe. Auf den Doppelpunkt folgt zudem ein Argument – wie aber kann Veyne argumentieren, wo das doch seiner Auffassung nach nichts bringt? Vom „Patriotismus“ behauptet Veyne, dass er Millionen Tote gefordert habe (er meint natürlich den Nationalismus, aber lassen wird das jetzt), und gibt sich sehr überzeugt davon (S. 151). Der Wahrheitsanspruch ist auch hier nicht übersehbar. Auch der Satz „Die zweite Interpretation ist die einzig richtige“ formuliert eine überraschend klare Wahrheitsbehauptung (S. 131). Und wenn es um Heidegger geht, den er offenbar nicht mag, ist plötzlich wieder Kritik gefragt, obwohl die doch laut Veyne gar nicht möglich ist: „Man hat den Verdacht, dass ein wenig historische und soziologische Kritik besser wäre als noch so viel Ontologie.“ (S. 130).

Wir erinnern uns auch, dass Paul Veyne sich sehr viel Mühe damit gegeben hatte, den Menschen als von Motiven geleitet darzustellen, über die er sich selbst gar nicht bewusst ist: Nicht Vernunft, Wahrheit und Moral würden den Menschen leiten, sondern Interesse, Vorlieben und Zufälle. Doch in Fußnote 33 erfahren wir plötzlich, dass Kinder, Primitive und Gläubige nicht naiv seien: Sie würden Imaginäres und Wirkliches gar nicht verwechseln, obwohl Veyne uns doch glauben machen wollte, dass man das gar nicht unterscheiden könne. Wir erfahren auch von einem Stamm, der Menschen, die sich aus religiös-rituellen Gründen für Wildschweine halten, klar von echten Wildschweinen zu unterschieden weiß. Sieh an, wer hätte das gedacht! Ist die Empirie also doch nicht vernachlässigbar?!

Und im Schlusssatz dieses Büchleins meint Paul Veyne dann: „Schon beim Lesen des Titels wird jeder, der auch nur die geringste historische Bildung besitzt, vorweg geantwortet haben: ‚Aber natürlich haben sie an ihre Mythen geglaubt!‘ “ Hier nun endlich, im letzten Satz, taucht sie doch noch versteckt auf, die Bildung! Die Bildung, die es angeblich gar nicht geben soll. Die Bildung, die es uns ermöglicht, aus unserem modernen Bezugssystem auszubrechen, in dem die antiken Mythen keine Wahrheit mehr haben, und uns in das Bezugssystem antiker Menschen zu versetzen, die natürlich in verschiedentlichster Weise an ihre Mythen glaubten. Es ist diese Bildung, die diese Transferleistung im Denken ermöglicht, mithilfe der Vernunft und der Wahrheit als Ziel, und man muss dazu noch nicht einmal ein Genie sein, wie Paul Veyne behauptete.

Wir glauben nicht, dass Paul Veyne wirklich ungebrochen an seine eigene Ideologie glaubt. Es ist ein Mythos, dass Veyne im „ungebrochenen Mythos“ seiner Ideologie lebt. Wir glauben dies nicht, erstens, weil dies gar nicht geht. Theoretisch nicht. Und praktisch erst recht nicht. Wir glauben es aber auch zweitens nicht, weil Paul Veyne – wie gezeigt – mehrfach deutlich erkennen ließ, dass er nicht daran glaubt. Die Frage ist, inwieweit sich Paul Veyne darüber im Klaren ist? Wir fühlen uns unwillkürlich an Erich von Däniken erinnert, dessen saftige Selbstironie ja auch nicht zu übersehen ist: Auch er glaubt und glaubt doch nicht wirklich an seine eigenen Mythen. Beide, Paul Veyne und Erich von Däniken, sind in einer bedauernswerten Gemengelage von Irrtum und Durchschauen des Irrtums gefangen. Das Durchschauen des Irrtums hat aber den Durchbruch zur Dominanz im Denken beider nicht geschafft.

Endlich: Das Thema Mythen!

Jetzt endlich kommen wir in dieser Rezension zu dem eigentlichen Thema von Veynes Büchlein, das im Titel angekündigt wurde, und wegen dessen die meisten Leser dieses Büchlein zu lesen begonnen haben werden – zu Ende gelesen werden es aber nur die wenigsten haben, denn es geht, wie gesehen, zuerst um ganz andere Themen, und dann erst um Mythen.

Leider ist Paul Veyne nicht in der Lage, die bei den Griechen entstehende Mythenkritik angemessen zu würdigen. Denn für Paul Veyne gibt es ja keine Annäherung an eine Wahrheit, und man könne auch nichts lernen, und es würde immer nur ein Wahrheitspalast durch einen anderen ersetzt, ohne Beteiligung der Vernunft. Deshalb wohl macht sich Paul Veyne lustig darüber, dass die Griechen die Frage nach der Wahrheit stellten, und redet von „Denkpolizist“ (S. 76). Die geistige Leistung der Griechen und der kulturelle Fortschritt sind für Veyne nur ein Witz. Er meint in unverständlichen Worten, dass die Kritik am Mythos durch die Transformation der Zeitlichkeit entstand, aber wie das zuging, wolle er eigentlich gar nicht wissen (S. 47). Der Leser ist schockiert: Das ist doch genau sein Thema, und er will es nicht wissen?! An anderer Stelle wendet er sich ebenfalls gegen Versuche, die Mythenkritik zu erklären, weil sie ein Ergebnis vieler Zufälle sei (S. 48 f.). In Fußnote 210 erfahren wir dann, dass sich Paul Veyne Hampl anschließe, demzufolge – angeblich – Mythos, Sage und Märchen nicht unterscheidbar seien. Das ist eine weitreichende Aussage, warum nur in einer späten Fußnote? Und nirgendwo finden wir eine saubere Unterscheidung verschiedener literarischer Gattungen: Sage, Legende, Mythos, Märchen, usw. – Wir sehen, dass sich die Ideologie von Paul Veyne äußerst negativ auf seine Behandlung des Themas auswirkt.

Tatsächlich werden alle Fragestellungen, die man zu Mythen haben kann, bei Veyne in der ein oder anderen Weise aufgeworfen und angesprochen. Doch die Perspektive ist häufig schräg, und es wird selten hinreichend differenziert. Oft wird rabulistisch über die verschiedenen Zeiten hinweggegangen, und viel zu weitreichende Pauschalurteile gefällt („die Griechen glaubten …“). Man könnte immerhin sagen, dass Paul Veyne eine Fundgrube für interessante Gedanken zum Thema Mythen ist. Das ja. Man kann dieses Büchlein zur Anregung lesen, um auf Gedanken zu kommen, auf die man sonst nicht gekommen wäre. Wir zählen nur kurz einige Themen auf, die angesprochen werden:

  • Das mythische vs. das historische Zeitalter.
  • Mythos und Logos seien nicht einfach ein Gegensatz.
  • Glaube variiert in Graden und Formen.
  • Glaube variiert nach sozialer Schicht, Bildung.
  • Glaube variiert je nach Jahrhundert, von Homer bis Pausanias.
  • Text ohne Autor; Tradition schafft Autorität.
  • Mythen haben soziale Funktionen.
  • Kriterium Entmythologisierung: Vergangenheit nicht wunderbarer als Gegenwart.
  • Kriterium Entmythologisierung: Wahren Kern herausschälen.
  • Dass Mythen völlig unwahr sind, also Lüge, hätten „die Griechen“ nicht erkannt.
  • Pausanias mache dann den Schritt zur allegorischen Deutung.
  • Der Entmythologisierer begründet selbst einen neuen Mythos.
  • Mythensammler schufen Kanon, Varianten, verursachten einen Kahlschlag der Varianten.
  • Mythen können Chiffren in diplomatischer Sprache sein.
  • Problem der Entmythologisierung wurde nie gelöst, sondern wurde durch Christentum obsolet.

Paul Veyne kommt immer wieder darauf zurück, dass die Griechen nie erkannt hätten, dass die Mythen einfach Lügen seien (z.B. S. 136). Der Leser fragt sich: Kann man das denn so pauschal sagen? – Immer wieder kommt Veyne darauf zurück, dass die heute gültige, moderne Deutung von Mythen die Deutung als Archetypen sei, also eine psychologisierende Deutung im Sinne von C.G. Jung (z.B. S. 26 f., 39, 75, 94). Doch das ist nur eine mögliche moderne Deutung von vielen! Wie kommt Paul Veyne darauf, dass es nur diese eine gäbe?! – Wiederholt meint Veyne, dass die griechische Skepsis, Rationalität und Geschichtsschreibung nicht so sei wie die unsere (S. 13, 115). Doch in welcher Weise? Das ist doch im Kern sehr zu bezweifeln, dass ihre Rationalität eine völlig andere war als unsere. – Einmal sagt Veyne, dass die Griechen bis zur Entmythologisierung unkritisch gläubig und unkritisch skeptisch gegenüber ihren Mythen gewesen wären (S. 26). Ein andermal sagt er, dass man mit Mythen bis zu Nietzsche und Max Weber unkritisch umgegangen sei. Weder das eine noch das andere kann den Leser überzeugen. Hier wird viel zu wenig differenziert. – Veyne behauptet, dass Hesiod seine Werke frei erfunden und zugleich daran geglaubt habe (S. 42). Das kann er einem gebildeten Menschen nicht erzählen. – Cicero hätte nicht an die Götter geglaubt (S. 65). Das bezweifle ich doch sehr. Es kommt darauf an, was man unter „Glaube“ und unter „Göttern“ versteht. – Autoren, die die Wahrheit von Mythen hochhalten, seien wie Philologen, die die erhaltenen Textstellen eines antiken Textes hochhalten (S. 91). Der Vergleich hinkt schwer.

Platon und Mythen

Geradezu dramatisch ist der Umstand, dass Paul Veyne in einem Werk über antike Mythen allen Ernstes glaubt, Platon auslassen zu können: „Doch überschlagen wir dieses Kapitel, vor dem selbst die kühnsten Kommentatoren zurückschrecken würden“; denn Platon mache alles, er deute Mythen allegorisch, oder mit geschichtlich wahrem Kern, oder er mache sogar eigene Mythen (S. 81). Das ist natürlich gar zu schrecklich, sich mit so einem wetterwendischen Wicht wie Platon zu befassen, das lässt man dann lieber gleich bleiben als Wissenschaftler, nicht wahr? Dass Platon eine absolut zentrale Rolle im antiken Diskurs über Mythen spielt, fällt für Paul Veyne offenbar nicht ins Gewicht. Er spricht diesen Umstand noch nicht einmal aus. Auch wegen dieses kühnen Übergehens von Platon ist Paul Veyne einfach nicht ernst zu nehmen. Dabei ist Paul Veynes Furcht nur allzu verständlich, denn Platon steht für alles, was Veyne ablehnt: Für Vernunft und das Streben nach der Wahrheit.

Durch die Hintertür hat sich Paul Veyne natürlich trotzdem mit Platon befasst. Es finden sich ungefähr zehn Stellen in diesem Büchlein, an denen Veyne auf Platon eingeht. Nur gibt Paul Veyne nicht zu, dass Platon wichtig ist. Offenbar will Paul Veyne Platon „vernichten“, indem er ihn lächerlich macht, systematisch fehlinterpretiert und vor allem ausblendet. Das ist dann fast schon kindisch.

Veyne unterstellt, dass Platon geglaubt habe, dass alle Mythen von Dichtern erfunden worden seien (S. 77). Das ist natürlich Unsinn, aber ganz im Sinne von Veyne. – Platons Diktum, dass man die Unwahrheit der Wahrheit so gut wie möglich nachbilden müsse, deutet Veyne so, dass jede Unwahrheit eigentlich nur eine Ungenauigkeit sei (S. 87). Auch das ist falsch, denn es gibt für Platon auch die klare Unwahrheit, Lüge und Fälschung, die kein Annäherungsversuch an die Wahrheit ist. Aber Veyne, für den es keine echten Fälscher gibt, sieht das natürlich anders. – In Platons Aussage zur Kriegstauglichkeit von Frauen deutet Veyne die Aussage zu den Sauromaten so, als würde Platon die Sauromaten als Kern des Amazonen-Mythos deuten (S. 112 f.; Nomoi VII 806ab). Doch das ist falsch. Es wird nur verglichen, „wie die Sauromatinnen“, aber es findet keine Ausdeutung des Mythos im Sinne von Paul Veyne statt. – An einer Stelle meint Veyne, die Griechen hätten sich nie mit dem Problem der Überlieferung befasst (S. 85). An einer anderen Stelle schreibt Veyne, dass man die Prinzipien der Kritik der Überlieferung bei Platon finden könne (S. 68). – Meistens wird die Zeitlichkeit der Mythen mit der Zeit bis zum Trojanischen Krieg angegeben (S. 11, 55, 92 ff.). An einer Stelle wird die Zeitlichkeit der Mythen jedoch lapidar „platonisch“ genannt (S. 40). Die platonische Vorstellung von Zeit war aber eine ganz andere als die der traditionellen Mythologie, nämlich zyklisch, wie Paul Veyne wiederum an anderer Stelle richtig erkannt hat (S. 64). Auch hier also eine flapsige Ungenauigkeit. Für Paul Veyne ist das aber vermutlich egal, und Flapsigkeit völlig gerechtfertigt, da ja ohnehin alles nicht wahr ist, da ja ohnehin kein Wert auf Vernunft gelegt werden kann, usw. usf.

In Fußnote 5 nennt Paul Veyne das Werk „Greece before Homer: Ancient Chronology and Mythology“ von John Forsdyke 1957 als eine seiner Quellen. Wir haben die Vermutung, dass Paul Veyne sich bei der Abfassung seines Büchleins allzu sehr auf dieses Werk gestützt haben könnte. „Allzu sehr“ nicht im Sinne eines Plagiates, aber in dem Sinne, dass auch bei Forsdyke Platon mehr oder weniger ausgeblendet wird, und dass auch bei Forsdyke eine übertriebene Schwerpunktbildung auf Pausanias zu beobachten ist, ganz wie bei Veyne.

Platons Atlantis

In Fußnote 89 kommt Paul Veyne sehr versteckt auch auf Platons Atlantis zu sprechen. Dort heißt es: „Zu den mythischen Zeitaltern bei Platon (Politik [Politeia] 268-269b; Timaios 21a-d; Gesetze 677d-685e), der sie richtig stellt und nicht mehr oder weniger daran glaubt als Thukydides oder Pausanias, vgl. Raymond Weil, Archéologie de Platon, Paris 1959, S. 14, 30, 44.“

Mit den „mythischen Zeitaltern bei Platon“ ist zunächst nur von Platons zyklischem Geschichtsbild die Rede, auch wenn dies eng mit Platons Atlantis zusammenhängt. Doch mit der Stellenangabe Timaios 21a-d, in der nicht von Zeitaltern sondern von Ur-Athen und Atlantis zu erzählen begonnen wird, und dem Verweis auf Raymond Weil, in dessen Werk es zentral um Platons Atlantis geht, ist der Bezug zu Platons Atlantis dann unmissverständlich hergestellt. Und Platons Auffassung über – unter anderem – Atlantis ist Paul Veyne zufolge also, dass Platon „nicht mehr oder weniger daran glaubt als Thukydides oder Pausanias“.

Wir könnten daraus jetzt ohne weiteres ableiten, dass Paul Veyne glaubt, dass Platon seine Atlantisgeschichte völlig ernst gemeint hat. Ohne weiteres könnten wir sagen, dass Paul Veyne damit gegen die Mehrheit der Historiker und Philologen steht, denenzufolge Atlantis eine Erfindung von Platon ist. – Doch halt! Paul Veyne verwischt ja gerade den Unterschied von Erfindung und Wahrheit. Für Paul Veyne gibt es auch keinen Fälscher, sondern nur verschiedene Wahrheitspaläste – die sich aber allesamt wiederum nur unserer Einbildungskraft verdanken. Die Empirie ist für Veyne vernachlässigbar. Wenn man dies bedenkt, dann ist Paul Veyne natürlich wieder ganz anders einzuordnen. Veyne glaubt vielleicht tatsächlich, dass Platon an Atlantis glaubte, aber Veyne glaubt zur gleichen Zeit auch daran, dass Platon Atlantis erfand. Ganz so, wie Veyne es auch für Hesiod sagt (S. 42). Das ist zwar Unsinn, aber Veynes Meinung. Mit anderen Worten: Paul Veyne hat eine Meinung, die wie ein Pudding ist, den man nicht an die Wand nageln kann. Auch der Verweis auf Raymond Weil ist vielsagend. Denn anders als Paul Veyne, demzufolge Platon daran glaubt, auch wenn er es erfunden hat, ist Raymond Weil ein ganz entschiedener Verfechter der These, dass Platon die Atlantisgeschichte sehr bewusst erfunden hat.

Immerhin können wir trotz allem eines ganz klar festhalten: Paul Veyne glaubt gewiss und sicher daran, dass Platon an seine Atlantisgeschichte glaubte. Veyne glaubt zwar zugleich auch, dass Platon die Atlantisgeschichte erfand, doch ändert das nichts daran, dass Paul Veyne sich in ganz klarem Widerspruch zu den meisten Historikern, Philosophen und Philologen befindet, die meistens der Auffassung sind, dass Platon die Atlantisgeschichte sehr bewusst erfunden hat. Wenigstens diesen Widerspruch zur vorherrschenden Meinung können wir aus der Meinung von Paul Veyne herausdestillieren. Da gibt es nichts zu rütteln.

Merken wir noch an, dass Paul Veyne seine Meinung über Atlantis säuberlich in eine Fußnote versteckt hat, und auch innerhalb dieser Fußnote nur implizit durch einen Stellenverweis auf Platons Timaios und den Literaturverweis auf Raymond Weil deutlich werden lässt. Offenbar war es Paul Veyne unangenehm, seine eigene Ideologie auf das Thema Atlantis angewendet zu sehen. Er hätte ja auch ganz einfach explizit schreiben können: Platon glaubte an Atlantis und erfand es zugleich, so wie er es bei Hesiod ja auch macht. Aber vermutlich fürchtete er, es könne ihn jemand beim Wort nehmen: „Platon glaubte an Atlantis“, ohne den ganzen Wahnwitz seiner Ideologie zu erfassen: „und erfand es zugleich“. Es ist doch immer wieder interessant, was Wissenschaftler zum Thema Atlantis nur in Fußnoten zu schreiben wagen.

Formale Kritik

Da wir jetzt schon soviel Text in diese Rezension investiert haben, sollten wir auch vor einer Kritik formaler Aspekte nicht zurückschrecken. Wie viele Autoren hat Paul Veyne zahlreiche Informationen in Fußnoten gepackt, die man gerne im Haupttext gesehen hätte. Angenehm ist aber, dass die Fußnoten nicht für jedes Kapitel, sondern für das ganze Buch durchgängig nummeriert sind. Das erleichtert den Umgang mit ihnen erheblich. Andererseits sind die Fußnoten leider nicht als Fußnoten gesetzt, sondern am Ende des Buches als Endnoten gesammelt. Das erschwert die Arbeit mit ihnen wiederum deutlich.

Einige Kapitel sind mit Überschriften versehen, in denen thematisch etwas ganz anderes zur Sprache kommt, als die Überschrift erhoffen lässt. Es gibt bei Veyne zahlreiche Wiederholungen von Aussagen, was ein Hinweis darauf ist, dass er sein Buch nicht hinreichend durchstrukturiert hat.

Der deutsche Übersetzer hat einige Fehler begangen. So schreibt er z.B. Titus-Livius und Sextus-Empiricus mit Bindestrich. Euhemeros wird zu Ephemerios – wie ephemer? – und Euhemerismus zu Ephemerismus. Auf S. 138 wurde statt mit DNA mit ADN übersetzt.

Wertvolle Gedanken

Es gibt auch einige wenige wertvolle Gedanken in Paul Veynes Büchlein. Die Frage, woher der Brauch kam, seine Quellen anzugeben, wird mit der Kontroverse beantwortet (S. 22 f.). Die Konkurrenzsituation ist es, die den Autor zwingt, seine Belege anzugeben. Das ist auch ganz mein Gedanke zu Herodot: Herodot war deshalb nicht konsequent in der Anwendung seiner Methode (zu der allerdings mehr gehört als nur Quellen anzugeben), weil er noch außer Konkurrenz stand. Thukydides verzichtet allerdings noch weit mehr auf Quellenangaben.

Das Wissen darum, dass man etwas wissen kann, genügt bereits, um dorthin zu gelangen (S. 112). D.h. es gibt zumindest im Prinzip kein unerreichbares Wissen, das nur Privilegierten und Eingeweihten offensteht. – Der Zweck eines Studiums besteht nicht nur darin, die Inhalte eines Fachs zu lernen, sondern auch darin, den Autoritätsglauben bezüglich dieses Faches abzulegen (S. 114). Im Idealfall ja. – Schließlich der Gedanke, dass die Naturwissenschaften grundsätzlich auch nicht seriöser sind wie die Geisteswissenschaften, weil der Umgang mit „Fakten“ kein Erkenntnisprivileg bedeutet, denn auch Fakten müssen interpretiert werden (S. 139).

Schluss

Dies ist ein richtig schlechtes Buch, das das gewählte Thema nicht nur für die Darlegung einer abseitigen Ideologie missbraucht, sondern auch das Thema selbst schlecht darstellt. Statt etwas über Mythen zu erfahren, wird der Leser im Laufe der Lektüre immer tiefer in eine ideologische Wahnwelt verstrickt und hat das Gefühl, einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden. Im Grunde ist es geradezu frech, was Paul Veyne hier vorgelegt hat. Es ist gewissermaßen das Paradebeispiel für ein Produkt der Geisteswissenschaften, das diese wie „Geschwätzwissenschaften“ aussehen lässt. Paul Veyne ist bestallter Professor und wird vom Steuerzahler bezahlt – da hätte man sich etwas mehr Ernsthaftigkeit und Qualität schon erwarten können. Fehlt Paul Veyne der Bezug zu den arbeitenden Menschen, die seinen Posten finanzieren?

Fast kann Paul Veyne einem leid tun. Was für ein Selbstbild muss ein Mensch haben, der die Welt so zynisch sieht, dass Vernunft und Wahrheit und Moral absolut gar nichts zählen, sondern nur und ausschließlich Zufälle, Interessen und der Wille der Macht? Oder ist Paul Veyne ein Blender? Müssen wir dieses Machwerk als den „Willen zur Macht“ und als das „Interesse“ von Paul Veyne interpretieren? Oder ist es beides: Paul Veyne glaubt diese Dinge wirklich, aber er hat sie zugleich auch erfunden. Im Sinne der Ideologie dieses Büchleins wird es wohl beides sein, so wie Paul Veyne es auch von Hesiod glaubt (S. 42). Wir erinnern erneut an die oben gezogene Parallele zu Erich von Däniken.

Da ist es tröstlich, wenn wir in diesem Büchlein wenigstens Spuren finden, die uns erahnen lassen, dass Paul Veyne nicht ungebrochen an den Unfug glaubt, den er uns hier aufgetischt hat. Diese Spuren könnten Ansätze zur Heilung von Paul Veyne sein, damit die Einsicht in ihm wächst, dass er auf dem Holzweg ist, und dass sein Büchlein leider nur den Geist der Holzsprache atmet. Wir erwarten Paul Veyne zurück auf dem Pfad der Menschlichkeit, der Vernunft und der ewigen Suche nach der einen Wahrheit.

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Die genannten Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Ausgabe.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Atlantis-Scout im September 2020)

Bibliographie und externe Links

Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft, übersetzt von Markus May, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987. Original: Les Grecs ont-ils cru à leurs mythes? Essai sur l’imagination constituante, Éditions du Seuil, Paris 1983. Englisch: Did the Greeks believe in their Myths? An essay on the Constitutive Imagination, translated by Paula Wissing, The University of Chicago Press, Chicago / London 1988.

Französische Originalversion, teilweise zugänglich:
https://books.google.de/books?id=ZX6BAAAAQBAJ&pg=PT1
Englische Version, teilweise zugänglich:
https://books.google.de/books?id=EpbZLRPGgBsC&hl=de&pg=PP1
Deutsche Version, nicht zugänglich:
https://books.google.de/books?id=q3iYAAAACAAJ

Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller, Postmodernismus: Status quo einer philosophischen Strömung. Einleitung – Überblick der Beiträge, in: Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller (Hrsg.), Kritik der postmodernen Vernunft – Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt WBG, Darmstadt 2007; S. 7-28.

Simon Goldhill, Review of: Paul Veyne, Did the Greeks Believe in their Myths? An Essay on the Constitutive Imagination, translated by Paula Wissing, University of Chicago Press, 1988, in: The Classical Review Vol. 40 Issue 1 (April 1990); S. 172.

Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Veyne

books & ideas: The Curious Monsieur Veyne
https://booksandideas.net/The-Curious-Monsieur-Veyne.html

Thomas Mann: Joseph und seine Brüder (1933-43)

Weltanschauliches Groß-Epos der Humanisierung mit jüdisch-christlicher und politischer Schlagseite

Der Roman „Joseph und seine Brüder“ ist das große weltanschauliche Epos von Thomas Mann. Anhand der bekannten biblischen Episode entfaltet Thomas Mann mehrere große und kleine Themen, die das weltanschauliche Denken des Autors reflektieren. Dabei greift Thomas Mann weit über den engeren Kulturkreis des jüdischen Mythos hinaus.

Hauptthema 1: Mythen

Das ganze Buch handelt von Mythen und ist selbst ein Mythos, es zeigt wie Mythen entstehen, sich entwickeln, und in anderen Mythen aufgehen. Immer wieder und wieder werden Mythen erzählt und immer neu erzählt, dabei variiert und kombiniert. Der Leser erfährt sehr praktisch und am eigenen Leib, was Mythen sind. Das ganze Buch ist in einer episch-altertümelnden Sprache gehalten, die eine sehr glaubwürdige Atmosphäre des Mythischen schafft. Allein das ein Meisterwerk von Thomas Mann.

Mythen sind nichts, was wir ablegen könnten. Sie liegen unserer Kultur zugrunde, ob wir wollen oder nicht. Entweder wir leben die Mythen, oder die Mythen leben uns. Es gibt kein Entrinnen. Zwischen Religion und Mythologie wird hier übrigens nicht unterschieden.

Literarisch geschickt erweitert Thomas Mann den Horizont der Mythen weit über den engeren Kreis des jüdischen Mythos hinaus. Neben der Mythologie der Griechen, der Ägypter, der Babylonier, der Sumerer oder auch der Etrusker (sehr viel verdankt Thomas Mann hier offenbar Egon Friedell) lässt Thomas Mann aber auch teils witzige literarische Reminiszenzen an Form und Inhalt einfließen, u.a. an Goethes Faust, Dante, Karl May, Schneewittchen oder den Golem. Vor allem aber fließt auch der christliche Mythos ein. Je mehr Vorbildung der Leser mitbringt, desto mehr wird er das Werk genießen können.

Wie so viele, so hat auch Thomas Mann in diesem Roman die Erscheinung des Pharao Echnaton in Verbindung mit dem Eingottglaube der Israeliten gebracht. Ein weiterer geschickter und sehr mythischer Topos ist, dass die jeweiligen Vaterfiguren der Geschichte zeitweilig an die Stelle Gottes treten, indem sie milde und belehrend-erziehend wirken: Jaakob, der Karawanenführer, Petepre, der Gefängnisdirekter, Pharao.

Schon hier sei gesagt, dass das Thema Mythen von allen Themen dieses Romans das Gelungenste ist, während die Behandlung der anderen Themen an schweren Defiziten leidet, wie wir unten zeigen werden.

Hauptthema 2: Mythenentwicklung hin zum Humanen

Thomas Mann sieht im jüdisch-christlichen Mythos eine fortschreitende Entwicklung zum Humanen. Der gottessorgende Mensch fühlt den Drang zur Milderung und zur Überwindung althergebrachter Sitte und Weisung. Diese Entwicklung geschieht im Selbstgespräch mit Gott und aus innerem Fühlen und Drängen heraus.

Zwar lässt Thomas Mann ein einziges Mal auch das platonische Thema kurz anklingen, dass Dichtung auch wahr sein müsse, doch sieht er dieses Kriterium darin erfüllt, dass sie von Gottessorge getragen ist (S. 1245-1247). Wahrheit ist demgemäß gar keine Wahrheit im eigentlichen Sinne, sondern das richtige Einfühlen in die Gottessorge, ein gefühliges Ins-Reine-Kommen mit sich selbst und Gott, ein höchst irrationaler Vorgang. Jaakobs Milde wird explizit einem „Wahrheitseifer“ als das Bessere gegenübergestellt (S. 1259).

Der Gott Thomas Manns ist kein rationaler Gott. Er entwickelt sich mit den Menschen mit, lässt sich von Luzifer und Menschen verführen, veranstaltet mit der Menschheit ein großes Gottesspiel, über das man lachen sollte, und am Ende wendet er alles entstandene Leiden doch immer zum Guten. Es ist offensichtlich, dass sich Thomas Mann dem so verstandenen jüdisch-christlichen Mythos auch persönlich verpflichtet fühlt.

Sehr glaubwürdig ist Thomas Manns Schilderung des menschlichen Haderns und Leidens, und der menschlichen Schwäche und Erniedrigung, die aber auch Kraft und Erneuerung aus geistigen Quellen erfahren kann.

Hauptthema 3: Judentum und Christentum

Thomas Mann unternimmt alles, um zu zeigen, dass der jüdische Mythos den christlichen Mythos vorbereitet und praktisch bereits enthält, von der Dreifaltigkeit bis hin zur leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Hier entfaltet Thomas Mann seine ganze sprachliche und erzählerische Meisterschaft, und spielt brilliant mit Worten wie „Ich bin’s“, „Auferstehung“, „leeres Grab“, oder „Sohn Gottes“.

Schließlich gestaltet Thomas Mann in dem Verhältnis von Gottessohn Joseph zu seinen „alten Brüdern“ andeutungsweise auch seine Vision vom wünschenswerten Verhältnis zwischen Christentum und Judentum. War das Gottesspiel auch böse, so war es doch ein Spiel zum guten Zweck, über das man lachen sollte, und allseitige Bitte um Vergebung ist angesagt.

Nebenthema: Erwählung und Leiden

Joseph ist der Erwählte, der Ausgesonderte. Der Liebling und der Schöne. Als solcher ist er naiv und offenherzig, muss für seinen „Frevelmut“ aber büßen durch den Neid der Nichterwählten. Er ist erwählt, muss dafür aber viel leiden, um zum Ziel zu kommen. Er erreicht das Besondere, aber der Segen geht dennoch nicht auf ihn und seine Nachkommen über, sondern auf einen anderen.

Nebenthema: Ökonomie

Anhand von Josephs Wirtschaftssystem in Ägypten zeigt Thomas Mann, wie er sich die Organisation der Ökonomie in seiner Zeit vorstellt (um die Seite 1284):

  • Volksfürsorge für Ärmere.
  • Reichere werden enteignet, Bodenreform.
  • Der Eigentumsbegriff wird relativiert und an die Bewirtschaftung gekoppelt.
  • Eine Flat-Tax für alle.
  • Die Tempel werden geschont, weil das Volk es nicht verstehen würde.

Nebenthema: Klimawandel

Wissenschaftlich völlig korrekt deutet Thomas Mann die Möglichkeit einer zufälligen Aufeinanderfolge von sieben Dürrejahren nicht als Klimawandel, sondern als möglichen Zufall. Noch interessanter ist, dass Thomas Mann für einen Klimawandel die Sonnenflecke verantwortlich macht: „Das hat übergeordnete Gründe, es führt ins Kosmische und zu den Gestirnen, die zweifellos Wind und Wetter bei uns regieren. Da sind die Sonnenflecke – eine beträchtlich entlegene Ursache.“ (S. 1191)

Damit nimmt Thomas Mann eine Erkenntnis vorweg, zu der wir nach dem langen Irrtum der Treibhaus-Hypothese langsam wieder zurückkehren: Maßgeblich für Klimaschwankungen ist immer noch nicht der Mensch, sondern die Sonne.

Nebenthema: Atlantis

Thomas Mann akzeptiert offenbar im Gefolge des von ihm mit viel Zustimmung gelesenen Egon Friedell die pseudowissenschaftliche Annahme einer Urzivilisation namens Atlantis. Während zur gleichen Zeit manche Nationalsozialisten diese Vorstellung von Atlantis zum Herkunftsort der arischen Rasse umzudeuten versuchen, ist Atlantis für Thomas Mann der Herkunftsort sowohl der arischen als auch der semitischen Sprachen. Vermutlich bezieht sich folgendes Wort von Thomas Mann aus einem Vortrag von 1942 über seinen Roman auch auf diesen Sachverhalt: „Der Mythos wurde in diesem Buch dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert, – wenn die Nachwelt irgendetwas Bemerkenswertes daran finden wird, so wird es dies sein.“

Schwäche 1: Thomas Mann ignoriert den Kern unserer aufgeklärten Kultur

Thomas Mann konzentriert sich in seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ allein auf das Mythische und die jüdisch-christliche Tradition. Den Kern unserer Kultur, die griechische Philosophie, übergeht er jedoch vollkommen. Damit muss Thomas Mann in vielerlei Hinsicht scheitern.

Philosophie bedeutet natürlich die Hinterfragung der Mythen, die Einführung der Herrschaft der Vernunft und die Frage nach der Wahrheit. Ohne das ist die menschliche Kultur seit über 2000 Jahren überhaupt nicht mehr denkbar, und Thomas Mann übergeht es vollkommen!

Damit gerät auch das zentrale Projekt, das Thomas Mann mit seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ verfolgte, ins Zwielicht: Denn nicht aus innerem Fühlen und Drängen heraus haben sich die Mythen und Religionen humanisiert, sondern aus dem Drang zur Vernunft heraus. Es gibt keine Garantie dafür, dass das innere Fühlen religiöser Menschen immer in Richtung Humanisierung geht; das Pendel des Fühlens und Meinens kann auch wieder in die gegenteilige Richtung umschlagen. Nur die Vernunft, nur der Humanismus der klassischen Antike ist Garant und wahre Quelle der Humanisierung. Alles andere kann dazu nur eine vorübergehende Vorstufe sein.

Wir müssen feststellen: Thomas Mann war eben leider nur ein Dichter, aber kein Denker.

Schwäche 2: Theologisch verfehlt

Die nächste Schwäche hängt sehr eng mit Schwäche Nr. 1 zusammen: Denn ohne Philosophie und Rationalität ist Theologie gar nicht zu haben. Es ist zu bezweifeln, dass Thomas Mann mit seinem Werk im Denken von jüdischen, christlichen oder islamischen Theologen einhaken kann. Allzu leicht tändelt dieser Gott, und lässt seine Anhänger im Stich, die seine unwiderrufenen Weisungen von gestern noch befolgen. Allzu leicht löst sich für Thomas Mann das Problem des guten Gottes, der Leiden zulässt, auf. Humanisierung auf dem Wege der Theologie schön und gut, aber so geht es nicht.

Ja, schlimmer noch: Die ganze jüdisch-christliche Tradition mit all ihren Mythen wird seit über 2000 Jahren im Spiegel der griechischen Philosophie überliefert und gedeutet und mythologisch weiter entwickelt. Selbst unter rein mythischen Gesichtspunkten hätte Thomas Mann hier also versagt.

Hier ist Thomas Mann dem schwärmerischen Drang zum Wünschenswerten erlegen, der aber die Auseinandersetzung mit der Realität nicht ersetzen kann.

Schwäche 3: Störend ahistorisch

Ein historischer Roman muss historisch nicht genau sein, er ist ja Literatur. Wo aber die beabsichtigte Botschaft eines historischen Romans davon abhängt, wird historische Genauigkeit doch wichtig.

Thomas Mann versetzt eine fortgeschritten humanistische Denkatmosphäre in den Kontext einer religiös-patriarchalischen Stammesgesellschaft: Das funktioniert so leider nicht. Natürlich repräsentieren auch die Geschichten um Jaakob und Joseph ein Stück Humanisierung, aber in einem weit geringeren Maße und einem weit früheren Stadium der Humanisierungsgeschichte, als dass es passen würde. Man darf als Literat durchaus Dinge hinzuerfinden, aber nur, wenn es sich in den vorgegebenen Rahmen einpasst. Sobald dieser Rahmen gesprengt wird, kommt immer etwas entschieden Falsches hinein, eine unauflösliche Dissonanz. Aus dem vorgegebenen Rahmen, der überlieferten Geschichte, wird etwas herausgeholt, was nicht in ihr steckt. Dann hätte der Literat seine Gedanken besser im Rahmen einer anderen Vorlage entwickelt.

Beispiele: Wenn Jaakob und Joseph bei Vollmond am Brunnen sitzen, beschleicht den Leser das unabweisbare Gefühl, hier würde doch eher der väterliche Sokrates mit dem jungen Phaidros am Ufer des Ilissos sitzen, als der Patriarch einer religiösen Stammesgesellschaft mit seinem Sohn. Die Gedanken schweifen viel zu frei. Besonders deutlich wird das Unpassende, wo Thomas Mann hinzuerfindet oder weglässt. Niemals könnte ein echter Patriarch es ohne Blutzoll dahingehen lassen, dass sein Sohn mit einer seiner Ehefrauen schläft. Niemals könnte ein Patriarch eine solche Selbsterniedrigung hinnehmen, wie Thomas Manns Jaakob vor Esaus Sohn Eliphas. Hingegen übergeht Thomas Mann dezent, mit welchen und wievielen Frauen dieser Patriarch Jaakob zu schlafen pflegt.

Schwäche 4: Der Islam fehlt

Nicht nur das Christentum, auch der Islam geht auf die biblischen Patriarchen zurück, und gerade heute wären wir alle höchst interessiert daran zu wissen, wie Thomas Mann den Islam in seine Erzählung eingewoben hätte, so wie er das Christentum auch hineingewoben hat. Doch mehr als den folgenden Satz finden wir nicht: „Da nahm er die ägyptische Magd und zeugte mit ihr einen Sohn und nannte ihn Ismael. War aber ein abwegig Erzeugnis, nicht auf der Heilsbahn, der Wüste gehörig, …“ (S. 1129). Das ist zu wenig, und würdigt weder die Errungenschaften noch die Schwächen des Islam in angemessener Weise, noch gibt es uns Rat, wie wir mit dem Islam umgehen sollen.

Schwäche 5: Allzu linker Linksliberalismus

Thomas Mann wollte den Mythos aus den Klauen der Ideologie befreien und sprachlich für immer humanisieren, doch er hat ihn womöglich doch nur für eine weitere politische Ideologie in Dienst genommen. Das ganze Werk atmet den Geist eines altbackenen, allzu linken Linksliberalismus.

Da ist zunächst die typisch linksliberale weltanschauliche Schwammigkeit, der Verzicht auf Rationalität. Man möchte sich gerne in den überkommenen Mythen wiegen, aber sie glauben möchte man nicht mehr. Alles soll nur noch im übertragenen Sinn gelten, bis vom eigentlichen Sinn nichts mehr übrigbleibt. Man haust offenbar gerne in den Trümmern einer gefallenen Weltanschauung. Die Mühe, eine direkt glaubhafte, konsistente Weltanschauung zu ersinnen, wird geradezu verpönt, und durch ein Schwelgen in überlieferter Bildung ersetzt. Ordnung und Disziplin vor sich selbst sind nicht gefragt. Wahrheit wird nicht gesucht, sondern für gefunden geglaubt, und als Pseudo-Wahrheit in den Dienst einer Sache gestellt, die man längst für ausgemacht hält. Wahre Bildung ist das nicht.

Aber auch die ökonomischen Visionen Thomas Manns zeigen es: Das Eigentum soll relativiert werden, Reiche soll es nicht mehr geben, alle Menschen sollen ökonomisch gleich sein, der gute Staat sorgt für alle. Das ist beinahe schon kommunistisch, denn wo die herausragenden Männer zurückgestutzt werden und der Staat der Übervater ist, dort ist keine Freiheit mehr. Die ökonomische Schonung der Tempel entspricht natürlich einer Schonung der heutigen Kirchen: Hier kommt die weltanschauliche Schwammigkeit eines Festhaltens am Christentum mit dem linken ökonomischen Denken zusammen.

Wenn man bedenkt, dass sich die Kirchen in der Bundesrepublik zu finsteren Horten eines allzu linken Linksliberalismus, eines schwärmerischen Utopismus, entwickelt haben, die sich bis heute an ihre überkommenen Privilegien klammern und darin vom links durchwirkten BRD-Establishment, das früher einmal kirchenkritisch war, maßgeblich unterstützt werden, bis hin zur bedenkenlosen Einführung eines Islamunterrichtes in Zusammenarbeit mit verfassungsfeindlichen Islamverbänden, nur um das analoge Privileg des christlichen Religionsunterrichtes weiter rechtfertigen zu können – wenn man das bedenkt, dann war Thomas Manns Werk in diesem Punkt wahrhaft prophetisch und vielleicht auch unheilvoll wirkmächtig.

Womöglich ist es kein Zufall, dass Thomas Mann gerade zum Islam nichts zu sagen hatte. Denn zum Islam weiß der allzu linke Linksliberalismus bis heute nichts Vernünftiges zu sagen, und glaubt, ihn unverwandelt und ungesiebt in die bestehenden Strukturen einbeziehen zu können. Wie wenn der Patriarch am Brunnen mit seinen zwölf Söhnen sich nahtlos in unsere durch griechisches Denken aufgeklärte Gesellschaft fügen könnte. Nach dem von Thomas Mann vorgegebenen Muster der Ignoranz des griechischen Erbes kollidiert hier Wunschdenken mit Wirklichkeit.

Schwäche 6: Literarische Faux-pas

Teilweise belästigt Thomas Mann den Leser mit einer läppischen Intimität. Wenn man zum soundsovielten Mal von „Dudu dem Ehezwerg“, dem „Hutzel“, gelesen hat, dann hat man davon irgendwann genug und will es nicht mehr sehen.

Längen sind eine Stärke dieses Romans, der alles in buchstäblich epischer Breite darlegt. Doch der Leser atmete sichtlich auf, als die Liebeswehen von Potiphars Weib Mut-em-enet endlich vorüber waren, und die Geschichte wieder an Fahrt aufnahm: Wer diese harte Prüfung bestanden hat, der wird den Roman auch vollends zu Ende lesen.

Fazit

Trotz gravierender Schwächen ist Thomas Mann ein sprachliches Meisterwerk gelungen, das über Mythen und Menschen viel zu sagen weiß, und das zu lesen sich lohnt. Man darf dabei aber niemals vergessen, dass Thomas Manns Weltsicht eine schwere jüdisch-christliche und politische Schlagseite hat, die der kundige Leser in seinem eigenen weltanschaulichen Denken in vielfacher Hinsicht nachkorrigieren muss – dann kann dieses Werk ein Genuss sein.

Ohne diese Korrektur jedoch wird dieses Buch zur Quelle eines unheilvoll mythischen Denkens, zu einem unendlich tiefen Brunnenloch, aus dem die Dämonen der Vergangenheit in die Gegenwart hinaufsteigen können. Ob Thomas Mann das gewollt hätte? Wir glauben nicht: Denn mit Thomas Mann wissen wir, dass die Geschichten sich immer weiter spinnen, und wie sein Gott so hätte auch Thomas Mann inzwischen sicher längst wieder seine Meinung weiter entwickelt und würde jene bestraft sehen wollen, die am „Überständigen“ dieses Romans festhalten wollen: „Denn es ekelt den Herrn das Überständige, worüber er mit uns hinauswill“.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 20. Juli 2014)